Eisige Rache - Elke Schwab - E-Book

Eisige Rache E-Book

Elke Schwab

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Beschreibung

Als im verschneiten Saarland aus dem Hinterhalt auf Autos geschossen wird, beginnt für die Kriminalkommissare Lukas Baccus und Theo Borg eine dramatische Tätersuche, deren Bezüge bis nach Afghanistan reichen. In ihrem dritten Fall geraten sie selbst ins Fadenkreuz des Täters und müssen den Wahnsinnigen stoppen, ohne sein Motiv zu kennen. Je mehr dabei die Presse den Fall aufpeitscht, umso gefährlicher wird das Leben auch für die anderen Menschen in dem eingeschneiten Dorf. Es scheint fast so, als fühlte sich der Schütze dadurch angetrieben, weiter zu töten. So entwickelt sich ein eiskaltes Abenteuer mit kriegsähnlichen Zuständen. Die nur scheinbar beschaulichen Provinz offenbart dabei ungeahnte Abgründe. Elke Schwab verknüpft geschickt einen klassischen Whodunit-Krimi in der Provinz mit dem aktuellen Thema der Kriegstraumata von aus Afghanistan heimgekehrten Bundeswehrsoldaten. Von mittlerweile insgesamt neunzehn Krimis der Saarländerin Elke Schwab ist "Eisige Rache" der dritte Teil der bislang sechsbändigen Krimireihe mit Lukas Baccus und Theo Borg (Prequel "Gewagter Einsatz", "Mörderisches Puzzle", "Eisige Rache", "Blutige Mondscheinsonate", "Tödliche Besessenheit", "Tickende Zeitbombe"). Die beiden übermütigen Kriminalkommissare klären mit lockeren Sprüchen spektakuläre Fälle auf.

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Eisige Rache

Im Nordosten von Frankreich in einem alten elsässischen Bauernhaus entstehen die spannenden Krimis der gebürtigen Saarländerin Elke Schwab. In der Nähe zur saarländischen Grenze schreibt und lebt sie zusammen mit Lebensgefährte samt Pferden, Esel und Katzen. Sie wurde 1964 in Saarbrücken geboren und ist im Saarland aufgewachsen. Nach dem Gymnasium in Saarlouis arbeitete sie über zwanzig Jahre im Saarländischen Sozialministerium, Abteilung Altenpolitik. Schon als Kind schrieb sie über Abenteuer, als Jugendliche natürlich über Romanzen. Später entschied sie sich für Kriminalromane. Vor elf Jahren brachte sie ihr erstes Buch auf den Markt. Seitdem sind elf Krimis und drei Kurzgeschichten von ihr veröffentlicht worden. Ihre Krimis sind Polizeiromane in bester »Whodunit«-Tradition.

Bisher erschienen:

• Blutige Seilfahrt im Warndt – Conte Verlag, 2012

• Mörderisches Puzzle – Solibro Verlag, 2011

• Galgentod auf dem Teufelsberg – Conte Verlag, 2011

• Das Skelett vom Bliesgau – Conte Verlag, 2010

• Hetzjagd am Grünen See – Conte Verlag, 2009

• Kullmanns letzter Fall – Conte Verlag, 2008

• Tod am Litermont – Conte Verlag, 2008

• Angstfalle – Gmeiner Verlag, 2006

• Grosseinsatz – Gmeiner Verlag, 2005

Elke Schwab

EISIGE

RACHE

Ein Baccus-Borg-Krimi

1. Sprado, Hans-Hermann:

Risse im Ruhm.

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2005

ISBN 978-3-932927-26-5

eISBN 978-3-932927-67-6 (E-Book)

2. Sprado, Hans-Hermann:

Tod auf der Fashion Week

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2007

ISBN 978-3-932927-39-3

eISBN 978-3-932927-68-3 (E-Book)

3. Elke Schwab:

Mörderisches Puzzle

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2011

ISBN 978-3-932927-37-9

eISBN 978-3-932927-64-5 (E-Book)

4. Elke Schwab:

Eisige Rache

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2013

ISBN 978-3-932927-54-6 (TB)

eISBN 978-3-932927-72-0 (E-Book)

1. Auflage 2013 / Originalausgabe

© SOLIBRO® Verlag, Münster 2013

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung:

Nils. A. Werner, www.nils-a-werner.de

Coverfoto: Marcel Drechsler / photocase.com

Foto des Autors: Alida Scharf, Köln

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verlegt. gefunden. gelesen.

Die Waffe im Anschlag, die Straße im Visier – die Jagd konnte beginnen.

Er wusste genau, dass sein Opfer hier entlangkommen musste. Nichts hatte er dem Zufall überlassen.

Für ihn war es wichtig, dass es genau hier passierte. Hier hatte seine Hölle begonnen – hier würde er sein Opfer in die Hölle schicken.

Die Straße wand sich vor seinen Augen, bis sie zwischen den Bäumen aus seinem Blickfeld verschwand. Dieses kurze Stück musste reichen.

Das war genau der Streckenabschnitt, der sich wie ein Stigma in sein Hirn eingebrannt hatte. Genau diese verhängnisvolle Kurve sollte heute für sein erstes Opfer zum Verhängnis werden. Es sollte symbolisch sein. Jedoch nur für ihn. Denn sein Opfer würde keine Gelegenheit mehr bekommen, zu verstehen.

Sein Versteck war perfekt.

Er konnte alles sehen, ohne gesehen zu werden.

Als die ersten Schneeflocken vom Himmel fielen, glaubte er an ein Zeichen. Bei diesen Wetterbedingungen würde sich außer ihm und seinem Opfer niemand auf die Straße wagen.

Besser hätte er den Zeitpunkt nicht wählen können.

Lange hatte er darauf hingearbeitet und viel Zeit in seine Vorbereitungen gesteckt. Schließlich musste er Gewissheit haben.

Er hielt die Fäden in der Hand.

Sogar der Schnee fügte sich in seinen Plan. Der würde hinterher alle Spuren zudecken.

Ein Wink des Himmels. Er lachte.

Schon sah er den Wagen kommen.

Er war bereit.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Anzeigenseiten

1

Schnee, so weit das Auge blickte. Alles schimmerte in reinstem Weiß. Die Bäume senkten ihre Äste unter der weißen Last tief über die Straße. Schneeflocken wirbelten durch die Luft. Die Sicht durch die Windschutzscheibe des Toyotas verschwamm, alles verwischte sich mit dem Weiß des Schnees. Die Straße wand sich wie ein weißes Band und verschmolz zu einer Einheit mit der weißen Wüste.

»Mann! So was habe ich seit Kindertagen nicht mehr gesehen«, gestand Kriminalkommissar Theo Borg, der das Lenkrad verkrampft umklammert hielt und seinen Wagen vorsichtig über die zugeschneite Landstraße steuerte.

Lukas Baccus, sein Kollege und Freund, stimmte ihm von der Beifahrerseite aus zu: »Nur doof, dass uns der Schnee ausgerechnet dann überrascht, wenn wir uns mitten in der Pampa befinden.«

»Hätte ich das geahnt, hätte ich den Besuch bei meiner Tante abgesagt.«

»Bis vor ein paar Tagen habe ich gar nicht gewusst, dass du eine Tante hast«, gestand Lukas.

»Sie ist meine einzige Verwandte.«

Lukas stutzte. »Was ist mit deinen Eltern?«

»Wie? Du weißt das nicht?«, fragte Theo erstaunt zurück. »Jetzt hängen wir schon ewig zusammen rum.«

»Vielleicht hast du es ja mal erzählt.« Lukas zuckte mit den Schultern. »Aber ehrlich gesagt, kann ich mich nicht daran erinnern, dass wir jemals über unsre Familien gesprochen hätten.«

»Naja! Ist ja nicht wirklich das, woran man denken will. Sie sind tot! Bei einem Autounfall ums Leben gekommen.«

»Das tut mir leid.«

«Der Unfall ist an einem verschneiten Tag wie heute passiert«, murmelte Theo. »Deshalb fühle ich mich gerade nicht sonderlich wohl.«

»Nur locker bleiben.«

»Was ist eigentlich mit deinen Eltern?«

»Meine Mutter lebt munter und fröhlich in einer kleinen Wohnung in Saarbrücken und nervt die ganze Nachbarschaft«, antwortete Lukas. »Dort fahre ich höchst selten hin, weil sie überall herumerzählt, ich sei der Polizeipräsident vom Saarland.«

Theo lachte.

»Ja! Sie trägt gern dick auf, als wäre ihr Sohn etwas Besonderes. Das kommt vielleicht daher, dass ich ohne Vater aufgewachsen bin.«

»Was ist mit deinem Vater?«

»Den kenne ich nur von Fotos. Der hat sich aus dem Staub gemacht, als es hieß, Klein Lukas ist im Anmarsch.«

»Der wusste wohl warum.«

Die beiden Männer lachten.

»Warum wolltest du deine Tante ausgerechnet heute besuchen?«

»Du warst doch dabei«, konterte Theo genervt. »Sie wollte mich für Weihnachten einladen, weil sie Angst hat, es könnte ihr letztes Weihnachten sein.«

»Zerbrechlich wirkt die alte Dame aber nicht.«

Theo stimmte zu.

»Und warum sollte ich dabei sein?«, bohrte Lukas weiter. »Heute wollte ich eigentlich vor der Glotze hängen und mir ein bisschen Sport reinziehen.«

»Ich hatte Angst, der Besuch bei Tante Katharina könnte todlangweilig werden. Du solltest mich aus den Fängen der Alten retten.«

»Langweilig war Katharina auf keinen Fall!« Lukas lachte bei der Erinnerung an die alte Dame. »Und wie eine Klette hat sie sich auch nicht benommen. Eigentlich hat mir deine Tante richtig gut gefallen.«

»Dann kannst du sie ja wieder besuchen«, schlug Theo vor.

»Das mache ich auch. Ich glaube, sie hat Gefallen an mir gefunden.«

Theo brummte nur, statt darauf zu antworten.

Beide schauten durch die Scheiben hinaus und bewunderten das unendliche Weiß. Im Autoradio liefen die Nachrichten. Das Hauptthema des Tages waren die überfallartigen Schneefälle, die kein Wetterdienst vorhergesagt hatte.

»Seit Kachelmann im Knast hockt, gibt es keinen vernünftigen Wetterbericht mehr«, knurrte Theo.

Mit einem Seufzer gestand Lukas: »Ich finde den Schnee irgendwie schön. Ich kenne ihn ja nur als braunen Matsch im Straßengraben.«

»Du bist wohl noch nie aus Saarbrücken rausgekommen«, resümierte Theo.

»Nein!«

»Dann wurde es ja mal Zeit.« Theo griente.

»Wer weiß, vielleicht komme ich ja schon bald wieder in diese gottverlassene Gegend«, feixte Lukas. »Zu Weihnachten habe ich zufällig noch nichts vor.«

Der Corolla geriet ins Rutschen. Mit hektischen Bewegungen versuchte Theo gegenzulenken, womit er alles nur noch schlimmer machte. Das Auto schlingerte haarscharf an der Leitplanke entlang, bevor es auf die gegenüberliegende Straßenseite rutschte und dort den Abgrund ganz knapp verpasste. Nach einigen Sekunden gelang es Theo, den Wagen wieder in Fahrtrichtung zu steuern, die sich hinter der Kurve in einer kerzengeraden Strecke durch unendliches Weiß offenbarte.

»Verdammt!«, fluchte Lukas. »Erschreck mich doch nicht so!«

Zitternd gab Theo Gas und tuckerte weiter.

»Hast du keine Winterreifen drauf?«

»Nein!«

»Das ist doch jetzt Pflicht«, meinte Lukas.

»Willst du mich anzeigen?«

»Ich denke drüber nach.«

»Blödmann!«

Plötzlich fiel ein Schuss.

Ein Pfeifen folgte, darauf ein Zischen und ein Klirren. Kalte Luft, vermischt mit Schnee, drang ins Innere des Wagens. Vor Schreck verriss Theo das Lenkrad.

Ein weiterer Schuss peitschte, ebenfalls begleitet von einem Pfeifen und Knallen, das sich anhörte, als sei wieder etwas im Auto getroffen worden. Dann folgte eine erdbebenartige Erschütterung.

Theo und Lukas wurden durchgeschüttelt. Fest hingen sie in den Gurten, die ihnen die Luft abschnürten. Dann rutschte das Heck des Autos von der Straße rückwärts in den Graben, bis es mit einem dumpfen Aufprall zum Liegen kam. Die Front des Toyotas ragte in die Höhe.

Lukas und Theo schauten sich mit bleichen Gesichtern an. Sie waren beide unverletzt.

Wieder peitschte ein Schuss. Beide duckten sich so weit hinunter, wie es in dem engen Cockpit möglich war. Sie lösten ihre Anschnallgurte, um sich besser bewegen zu können.

»Ist das eine Treibjagd?«, fragte Lukas mit gepresster Stimme.

»Klar! Die haben meinen blauen Toyota mit einem Wildschwein verwechselt«, knurrte Theo wütend.

Sie bewegten sich nicht. Wieder knallte es.

»Der ging weit an uns vorbei«, stellte Lukas fest.

»Was willst du damit sagen?«

»Dass der Schütze vielleicht gar nicht uns gemeint hat.«

»Der erste Schuss ging aber sehr zielgenau in mein Auto.« Nach einer kurzen Pause fügte Theo an: »Und der zweite auch!«

Lukas reagierte nicht darauf, sondern reckte sich nach oben und sah sich um, soweit das von seinem Platz aus möglich war. »Wir sind aus einer Kurve gekommen. Es könnte doch sein, dass der Schütze tatsächlich ein Wildschwein im Visier hatte und aus Versehen deinen Wagen getroffen hat.«

»Und warum hört er nicht auf, wenn er merkt, dass er etwas anderes getroffen hat?«

»Keine Ahnung«, gab Lukas zu. »Aber es kann doch niemand wissen, dass wir hier in dieser gottverlassenen Gegend sind.«

Theo schaute verdutzt zu seinem Kollegen und nickte. »Du hast recht. Meine Tante lebt allein. Ihre einzigen Kontakte sind die Leute aus der Nachbarschaft. Ich glaube nicht, dass jemand von den Alten ein Motiv hätte, mich zu erschießen.«

»Da siehst du mal wieder: Wir sind nicht das Ziel.«

Theo richtete sich ebenfalls auf, setzte sich auf den Fahrersitz zurück und zog sein Handy aus der Hosentasche. Mit flinken Fingern begann er zu wählen.

»Ich rufe die Kollegen der Bereitschaft an«, sagte er und hielt das Gerät an sein Ohr. Doch so schnell, wie der Hoffnungsschimmer aufgekeimt war, erlosch er auch wieder.

»Kein Netz! Versuch du es mal mit deinem! Vielleicht hast du mehr Glück.«

Lukas zuckte mit den Schultern und gab zerknirscht zu: »Ich habe meins zuhause gelassen. Dort hängt es am Akkuladegerät.«

»Gutes Timing!«

Beide Männer verharrten in Stille. Wind pfiff und trieb Schneeflocken durch die zerborstenen Scheiben. Auf den Sitzen des Wagens verwandelten sie sich ruckzuck in eiskaltes Wasser. Auf dem Boden bildeten sich Pfützen.

Theos Blick wanderte von der Beifahrerscheibe zu den nassen Stellen im Wagen, die immer größer und größer wurden. Im Autoradio wurden die Ergebnisse der Fußballbundesliga bekanntgegeben. Die Stimme des Moderators klang so hektisch und aufgeregt, dass Theo das Gerät ausschaltete.

»Es ist schon lange kein Schuss mehr gefallen«, sagte Theo. »Ob der überhaupt noch da ist?«

Sie schauten sich an.

»Hast du deine Dienstwaffe dabei?«, fragte Lukas.

»Nein! Eine siebenundachtzigjährige Tante in Buweiler besuche ich selten bewaffnet bis an die Zähne.«

»Du hast ja recht«, wehrte sich Lukas schnell. »Ich habe meine auch zuhause gelassen.«

Wieder versanken beide in Schweigen. Lukas schaute sich nach allen Seiten um.

»Mist!«, fluchte er. »Den Rückweg zu deiner Tante können wir vergessen. Da würden wir die idealen Zielscheiben abgeben, weil dort alles auf einer Anhöhe liegt.«

Theo schaute in die Richtung, in die Lukas zeigte, und fand bestätigt, was seinen Kollegen beschäftigte.

»Bleibt uns nur, in den Wald zu laufen, wo wir Deckung finden können, bis die Gefahr vorüber ist.« Theo schaute auf die andere Seite.

»Siehst du: Hier ist ein Graben, der reicht bis zu dem Waldstück«, erklärte Lukas.

»Du meinst, dass wir geduckt bis zum Wald laufen können, wo wir zwischen den Bäumen Sichtschutz haben?«

»Richtig!«

»Glaubst du ernsthaft, man sieht uns nicht? Im Schnee fallen wir mit unseren dunklen Klamotten doch sofort auf.«

»Eben nicht! Die Böschung schützt uns. Das ist unsere einzige Chance«, beharrte Lukas. »Hier im Auto bleibe ich jedenfalls nicht.«

Lukas stieß die Seitentür auf. Schneemassen hatten sich davorgeschoben, weshalb er sie nur einen Spalt breit öffnen konnte. Mühsam schoben sich die beiden Männer hindurch. In geduckter Haltung liefen sie auf den Wald zu. Wieder peitschte ein Schuss. Beide ließen sich auf den Boden fallen.

»Das war aber knapp vorbei!«, stieß Lukas aus.

Eine Weile geschah nichts, bis Theo sich erhob und schimpfte: »Wir haben die Wahl: Tod durch Erfrieren oder Erschießen. Und erfrieren will ich auf keinen Fall.«

»So schnell erfrieren wir schon nicht«, widersprach Lukas.

»Ach was! Ich friere mir jetzt schon alles ab.«

Zwischen den Bäumen angekommen, stellten sie fest, dass dort die Sicht ungetrübt war. Nur vereinzelte Flocken gelangten zwischen den Baumkronen hindurch. Die Äste, die Sträucher und der Boden wirkten hell erleuchtet durch den Schnee. Alles sah sauber und unberührt aus. Sie liefen tiefer in den Wald hinein. Der zugedeckte Waldboden erwies sich als tückisch. Äste verbargen sich unter dem Schnee. Theo und Lukas gerieten häufig ins Stolpern, bis Theo sein Tempo verlangsamte und meinte: »Ich muss aufpassen, dass ich mir nicht den Hals breche.«

Die Dämmerung brach herein. Durch den Schnee blieb die Sicht zwischen den Bäumen gut genug, um alles überschauen zu können. Ständig knirschte es unter ihren Füßen. Kleine Äste unter dem Schnee knackten laut.

»Wo laufen wir eigentlich hin?«, fragte Lukas.

»Keine Ahnung. Ich kenne mich hier nicht aus.«

»Es ist deine Verwandtschaft, die hier lebt. Warum kennst du dich nicht aus?«

»Weil es mir bisher gelungen ist, um jeden Wald einen großen Bogen zu machen.«

»Klingt nicht gut«, schimpfte Lukas. »Der Wald ist die einzige Chance, die wir haben.«

Wieder hörten sie einen Schuss.

»Von wegen Chance«, jammerte Theo, der schon fast keine Luft mehr bekam. Er blieb stehen, stützte seine Hände auf seine Knie und schnaufte. »Der Typ verfolgt uns!«

Lukas stellte sich hinter einen Baumstamm und schaute sich suchend um.

Er hatte Mühe, sein Lachen zu unterdrücken.

Akribisch genau hatte er alles geplant – hatte alle Möglichkeiten und Chancen genau errechnet, um am Ende festzustellen, dass sich im entscheidenden Moment eine Eigendynamik entwickelte, die ihm zum Vorteil gereichte.

Wie von Zauberhand geschah alles vor seinen Augen.

Was vor wenigen Stunden noch als ein mühseliges und ernüchterndes Ringen mit sich selbst begonnen hatte, entwickelte sich zunehmend zu einer Art Selbstläufer. Das Schicksal ächzte unter seiner Last und wand sich mit jeder Stunde, die ungenutzt verstrich. Plötzlich schien es so, als bestünde die Welt nur noch aus Gleichgesinnten. Allerdings täuschte dies, denn viel mehr als blinde, unkoordinierte Wut schien sich kaum auszubreiten.

Deshalb behielt er weiterhin entschlossen die Fäden in den Händen. Alle spielten nach seinen Regeln. Ein Gedanke, der ein Hochgefühl in ihm auslöste, wie er es schon lange nicht mehr erfahren hatte.

So war er nicht einfach nur ein Rächer.

Nein! Er war Gott!

Für ihn war die Zeit gekommen, seine Macht auszuspielen.

Nichts und niemand konnte ihn mehr aufhalten.

Er verließ seinen Standort. Der Schneefall wurde immer stärker. Er konnte sich frei bewegen, ohne selbst gesehen zu werden. Er schaute durch sein Zielfernrohr.

Haargenau sah er ihn – den Rothaarigen.

Da stand er!

Wie eine Zielscheibe.

Wie dumm konnte man sein, sich in dieser Situation so unvorsichtig zu verhalten?

Er legte an.

»Wo steckt der bloß?«, murmelte Lukas. »Wenn er uns sehen kann, müssen wir ihn doch auch sehen.«

Theo beobachtete seinen Freund und meinte dazu: »Wenn du noch lange die perfekte Zielscheibe abgibst, kassierst du höchstens ein Loch zwischen den Augen.«

»Quatsch. Ich sehe niemanden. Also ist er nicht hier.«

»Bis jetzt hat er bewiesen, dass er uns besser sieht als wir ihn«, hielt Theo dagegen. »Komm da weg!«

Ein Schuss peitschte. Lukas riss die Augen weit auf.

Theo stieß einen Schrei aus. Flecken landeten genau in Lukas’ Gesicht. Er fiel nach hinten und landete der Länge nach im Schnee.

»Lukas! Was ist los?«, brüllte Theo, stürzte auf seinen Freund zu und rüttelte an ihm. Ein weiterer Schuss fiel. Theo warf sich auf Lukas und deckte ihn mit seinem Körper zu, als plötzlich ein »Scheiße! Bist du schwer!« unter ihm ertönte.

»Mann, du bist ja unverletzt«, stellte Theo erleichtert fest.

»Ja! Der Typ hat den Baum getroffen – nicht mich.«

»Und was sind das für Spritzer in deinem Gesicht?«

»Baumrinde!«

Theo stöhnte leise, zog Lukas auf die Beine und trieb ihn weiter in den Wald hinein.

»Die verdammte Baumrinde klebt in meinem Gesicht wie festgefroren«, murrte Lukas, während er über jede Unebenheit unter der Schneeschicht stolperte.

»Besser Baumrinde als eine Kugel«, entgegnete Theo, dessen Puls von diesem Schreck immer noch raste.

Sie liefen ziellos weiter. Die Stille, die sie umgab, wurde immer bedrückender. Nur ihre Schritte im Schnee und ihr lautes Keuchen waren zu hören. Sonst nichts.

»Ich glaube, wir haben ihn abgehängt«, schnaufte Lukas, ohne sein Tempo zu verringern.

Plötzlich hoben sich große, dunkle Konturen zwischen den Bäumen und Sträuchern ab. Sie hielten an und starrten darauf.

»Was ist das?«

»Keine Ahnung!«

Neugierig näherten sie sich der mysteriösen Erscheinung, bis sie erkannten, dass sie vor einem Gebäude standen. Verdutzt ließen die beiden ihre Blicke über das hölzerne Gebilde wandern.

Tatsächlich! Vor ihnen auf einer kleinen Lichtung stand eine kleine Blockhütte. Die Seitenwände bestanden aus übereinandergesetzten massiven Holzstämmen. Das Dach war mit einer dicken Schneeschicht bedeckt. Rechts und links befanden sich je ein kleines Viereck und in der Mitte ein großes. Sie setzten sich durch dunkleres Braun von den rötlich schimmernden Stämmen der Seitenwände ab.

»Sind das Klappläden?«, fragte Theo.

»Sieht so aus.«

»Aber ...« Theo wunderte sich. »Die sind ja von außen verriegelt.«

Bei genauem Hinsehen erkannten sie, dass vor den Klappläden lange, dicke Holzbohlen an Eisenstreben festgespannt waren, womit man die Läden geschlossen hielt. Die Tür in der Mitte war auf dieselbe Weise verriegelt.

»Den Riegel kann man nur öffnen, wenn man vor der Hütte steht«, erkannte Lukas.

»Dann können wir sichergehen, dass niemand drin ist.«

Theo trat auf die Tür zu, hob das schwere Eichenbrett an und legte es zur Seite. Die Tür war aus mehreren Schichten mit Holzlatten zusammengezimmert und mit einer Klinke auf der linken Seite ausgestattet. Alles an diesem Gebäude wirkte stabil. Vorsichtig drückte er den Griff herunter. Leise schwang sie nach innen auf.

Lukas stellte sich neben Theo. Neugierig versuchten sie, im Inneren der Hütte etwas zu erkennen. Aber es war zu dunkel.

»Hältst du es für eine gute Idee, dort hineinzugehen?«, fragte Lukas.

Theo schaute sich die Gegend genau an und meinte zögerlich: »Nach meiner Einschätzung schießt nur einer durch die Gegend. Wir könnten uns hier verbarrikadieren und auf ihn warten. Zu zweit schaffen wir es, ihn zu überlisten. Und durch diese Wände geht bestimmt keine Kugel durch.«

»Die Idee ist nicht schlecht. Aber wie willst du dich bei dieser Bauweise verbarrikadieren?«, gab Lukas zu bedenken.

»Es wird etwas drinnen sein, was wir dafür nehmen können.«

»Ich denke, dass wir das vergessen und lieber weiterlaufen sollten«, wandte Lukas ein.

»Der jagt uns bis in die Pfalz.«

»Vorher kommt noch Braunshausen«, korrigierte Lukas. »Und dort ...«

»Ja was? Dort lassen wir den Heckenschützen dann auf die Häuser schießen«, konterte Theo. »Wenn wir Braunshausen überhaupt finden. Ich weiß gar nicht, wo wir hier genau sind.«

Ratlos verharrten sie vor dem Eingang zur Blockhütte.

Ein Schuss knallte in die Stille.

»Okay! Du hast recht«, gab Lukas nach. »Wir machen es so, wie du gesagt hast. Sollte eine ganze Armee da draußen sein, haben wir uns halt verspekuliert.«

»Hört sich das für dich wie eine Armee an?«, fragte Theo gereizt.

»Nein!«

»Also!«

Sie betraten die Hütte und schauten sich in dem spärlichen Licht um, das durch die geöffnete Tür hineindrang. Die Einrichtung war spartanisch, sie beschränkte sich auf einen massiven Holztisch mit einfachen und unbequem aussehenden Stühlen in der Mitte des Raums.

»Damit können wir die Tür von innen versperren«, meinte Theo.

Plötzlich verschwand auch das schwache Licht. Ein leises Knacken schallte durch die Dunkelheit.

Beide Kommissare warfen sich instinktiv auf den Boden und warteten. Nichts geschah. Leise murmelte Lukas nach einer Weile: »Ich glaube, die Tür ist zugefallen.«

»Von allein?«

»Ich will es hoffen.«

Lukas zog eine Taschenlampe aus seiner Jackentasche und hielt den Lichtstrahl direkt auf die Tür. Sie hatte sich tatsächlich von allein in Bewegung gesetzt und war ins Schloss zurückgefallen. Ansonsten wirkte der Raum unverändert. Geräusche waren keine zu hören, weder draußen noch drinnen.

»Wir sehen Gespenster«, murrte Lukas. »Sonst ist wirklich nichts passiert.«

Er erhob sich und ließ den Schein der Taschenlampe weiter durch den Raum wandern. Direkt hinter der Tür stand ein Sofa an die Wand gelehnt. Auf der gegenüberliegenden Seite erkannten sie einen Kamin mit Holzscheiten, die fein säuberlich dort gestapelt waren.

»Welcher Idiot pflegt seine Hütte mit so viel Liebe und sperrt sie nicht ab?«, fragte Theo fassungslos, als er sah, wie aufgeräumt und sauber alles wirkte.

Eine Tür auf der linken Seite weckte seine Aufmerksamkeit. »Was sich dahinter wohl verbirgt?« Mit zögerlichen Schritten ging er auf die Tür zu, drückte den Griff herunter und ließ sie aufspringen. Lukas folgte ihm und leuchtete mit der Taschenlampe hinein.

Vor ihnen lag ein Raum, in dem sich Holzbretter, Werkzeuge, Sägen, Nägel und Eimer stapelten.

»Sieht so aus, als sei das Ding noch nicht fertig.«

Sie kehrten zurück und verharrten eine Weile in der Dunkelheit.

»Es ist schon lange kein Schuss mehr gefallen«, stellte Lukas fest.

Theo steuerte die Tür an und öffnete sie einen Spalt. Inzwischen war es dunkel geworden. Lediglich der Schnee spendete so viel Helligkeit, dass man alles erkennen konnte, was im näheren Umkreis der Hütte lag. Aber dort war nichts.

»Ich denke, wir sollten zu meiner Tante zurück. Den Weg schaffen wir zu Fuß. Und von dort rufen wir die Kollegen und den Abschleppdienst.«

»Okay! Wollen wir?«

Ein Schuss peitschte durch die Dunkelheit. Blitzartig ließen sich beide auf den Boden fallen.

»Scheiße! Der ist immer noch da!«, fluchte Theo.

Die Tür fiel zu. Sie rutschten zu der Seite, auf der das Sofa stand, zerrten daran, um es vor die Tür zu schieben, doch es ließ sich keinen Millimeter bewegen. Frustriert setzten sie sich drauf.

»Wir sitzen hier fest«, murrte Theo und rieb sich verzweifelt übers Gesicht, »und können uns noch nicht mal richtig schützen. Hoffentlich war meine Entscheidung, hier reinzugehen, richtig!«

»Nicht verzagen! Wir finden eine Lösung!« Lukas leuchtete die hintere Wand ab. Er stand vom Sofa auf und folgte dem Lichtkegel, den er durch das Zimmer wandern ließ. Der Tisch war groß, bestand aus massivem Holz und wirkte von Hand gearbeitet. Die Ecken waren unregelmäßig und Splitter bildeten sich an den Kanten.

Auf der Tischplatte lag etwas.

»Hier ist ein Zettel«, rief Lukas.

Theo erhob sich ebenfalls und schaute sich den Zettel an. In dem dürftigen Licht begann er laut vorzulesen: »Der Verein ‚Wanderfreunde Wadern Wandert e. V. ‘bittet alle Vereinsmitglieder um Verständnis, dass die Hütte nicht planmäßig fertiggestellt werden konnte. Gerne dürft ihr zu Hammer und Meißel greifen und uns bei der Arbeit unterstützen, wenn euer Weg an unserem neuen Treffpunkt vorbeiführt. Im Nebenzimmer halten wir alle Werkzeuge für euch bereit. Und bedenkt: Ein Dieb stiehlt sich selten reich. Hier ist nichts Wertvolles zu holen.«

»Das ist ja eine interessante Philosophie«, staunte Lukas. »Aber, wie es aussieht, funktioniert sie. Denn die Hütte ist noch keinem Vandalismus zum Opfer gefallen.«

»Wären uns nicht gerade die Kugeln um die Ohren geflogen, würde ich sagen, hier ist die Welt noch in Ordnung«, bemerkte Theo nachdenklich.

»Also, nehmen wir den Tisch, um die Tür zu verbarrikadieren«, schlug Lukas vor.

Gemeinsam packten sie das schwere Teil und wollten es verschieben. Doch auch dieses Möbelstück ließ sich keinen Millimeter bewegen.

»Der ist am Boden festgeschraubt«, stellte Theo frustriert fest. »Ganz so blauäugig sind die Wanderfreunde aus Wadern anscheinend doch nicht.«

»Dann stelle ich einen Stuhl unter die Klinke«, schlug Lukas vor.

»Toll!«

»Es hält ihn zumindest für einige Sekunden auf.«

»Schon okay«, gab Theo nach. »Besser als nichts.«

»Am besten ist es, wenn wir uns jetzt ganz ruhig verhalten«, sagte Lukas. »Dann hören wir rechtzeitig, wenn er sich anschleicht.«

»Jetzt hat der Schnee einen Vorteil«, stellte Theo fest. »Da kann keiner geräuschlos drüber gehen.«

Sie ließen sich auf dem Sofa nieder und lauschten.

»Erinnerst du dich noch daran, wie unser religiöser Fanatiker Dieter Marx einen Drogendealer genau hier in Wadern im Hochwald-Gymnasium hopsgenommen hat?«, fragte Lukas nach einer Weile.

»Klar! Aber was hat das hiermit zu tun?«

»Der Typ hat bis jetzt nicht verraten, wer seine Kontaktleute sind.«

»Und du meinst, dass der Kontaktmann deshalb in Waderns Wäldern Amok läuft, oder was?« Theo rümpfte die Nase. »Stimmt! War Schwachsinn, was ich da gerade losgelassen habe.«

Abermals erfüllte Stille die kleine Hütte. Die Anspannung ließ die beiden Männer hellwach auf dem Sofa verharren. Sie wagten sich kaum zu atmen.

Ein leises Geräusch ertönte. Theo und Lukas spitzten die Ohren. Deutlich hörten sie, wie das Rascheln sich näherte. Stumm gaben sie sich Zeichen, wer sich auf welche Seite der Eingangstür postieren sollte, und warteten. Doch dann entfernte sich das Geräusch wieder von der Hütte.

»Ich glaube, das war ein Reh oder was sonst noch in den Wäldern hier lebt«, flüsterte Theo.

»Ja! Unsere Nerven gehen mit uns durch.«

»Ich werde mich jetzt mit etwas bewaffnen«, bemerkte Theo, nahm einen der Stühle und brach ein Bein ab. »Damit kann ich dem Schützen vielleicht die Waffe aus den Händen schlagen.«

Lukas schaute zunächst skeptisch drein, doch dann beschloss er, sich ebenfalls einen Holzknüppel zuzulegen.

Wieder trat Stille ein – eine lange, endlose, lähmende Stille. Beide hingen ihren Gedanken nach, bis Theo leise fragte: »Wie lange arbeiten wir eigentlich schon zusammen?«

Lukas erschrak, als hätte er seinen Kollegen vergessen.

»Schon zehn Jahre«, antwortete er, als sich sein Puls wieder normalisiert hatte.

»Lange Zeit, was?«

»Aber auch eine gute.«

»Stimmt!« Theo atmete tief durch. »Warum hast du dich eigentlich für einen Job bei der Polizei entschieden?«

»Komische Frage.« Lukas lachte. »Ich weiß es nicht so genau. Ich glaube, weil ich früher bei unseren Räuber-und-Gendarm-Spielen immer gewonnen habe. Da dachte ich mir, so ein Gewinner gehört zur Polizei, damit mal einer dort für Recht und Ordnung sorgt.«

»Du bist ganz schön eingebildet«, kommentierte Theo.

»Ich war früher wirklich ein bisschen selbstverliebt«, gab Lukas zu. »Aber das war nicht der wahre Grund, Bulle zu werden.«

»Sondern?«

»Ich wollte für Gerechtigkeit sorgen.« Lukas lachte verächtlich über seine eigene Antwort und ergänzte: »Weiß selber, wie dämlich das klingt.«

»Ich war genauso dämlich«, gab Theo zu. »Oder glaubst du, ich hätte schon vor Dienstantritt den Durchblick gehabt?«

Sie lauschten auf Geräusche vor der Hütte, konnten aber nichts hören. Also sprach Theo weiter: »Mein Impuls, zur Polizei zu gehen und die Welt zu verbessern, entstand, als in meiner Schule ein Mädchen vergewaltigt wurde und die Polizei den Täter nicht fassen konnte.«

»Ja! So was zermürbt«, stimmte Lukas zu. »Was ist aus dem Mädchen geworden?«

»Sie hat sich das Leben genommen.«

»Oh!«

»Aber das ist noch nicht alles. Sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten und wurde von ihren Eltern gefunden, bevor sie tot war. Dadurch passierte es, dass das Gehirn nicht mehr richtig mit Sauerstoff versorgt war. Ihr Körper hat noch gelebt, aber das Gehirn war tot.«

»Klingt wirklich schrecklich.«

»War es auch. Und stell dir vor, der Kerl, der das alles verschuldet hat, wurde nie gefasst.« Theos Stimme wurde lauter. »Dadurch entstand in mir der Wunsch, alles besser zu machen. Aber so einfach ist das nicht. Wenn wir einen Verbrecher schnappen, ist der Fall ja noch lange nicht abgeschlossen.«

»Nein! Wir fangen nur die Bösen. Die Anwälte hauen sie dann wieder frei. Wirklich ändern können wir nichts.«

»Ja! Von meiner anfänglichen Euphorie ist auch nicht mehr viel geblieben«, meinte Theo resigniert. »Und jetzt sitzen wir zwei Superbullen hier und sind plötzlich von Jägern zu Gejagten geworden. Und warum? Weil irgend so ein kranker Typ da draußen rumballert – einer von denen, die wir eigentlich hinter Gitter bringen sollten.«

»Vielleicht haben wir das ja schon mal getan und ein guter Anwalt hat ihn aus dem Knast geholt, womit er einen echten Menschenfreund auf die Welt losgelassen hat. Den Rest der Geschichte erfährt die Nachwelt dann morgen aus der Zeitung.«

»Scheiße, Lukas! Ich habe schon Angst genug«, grollte Theo.

»Und jetzt will er sich an uns für die Festnahme rächen«, machte Lukas unbeirrt weiter.

Plötzlich hielt er inne und zischte erschrocken: »Pssst! Da war doch was!«

Ein leises Heulen ertönte.

»Gibt es hier Wölfe?«, fragte Lukas.

»Nein!«

Das Heulen kam näher, begleitet von Stampfen und Schlurfen.

»Da kommt jemand«, flüsterte Lukas.

»Ich wieder links und du rechts. Alles klar?«, sagte Theo leise und huschte an seinen Platz.

»Klar! Ich stelle mich dieses Mal auf die Sessellehne«, bestätigte Lukas. »Dann kann ich über die Tür rübersehen und dem Kerl eins von oben über den Schädel braten.«

Theo nickte. Mit ihren Holzknüppeln in den Händen fühlten sie sich zu allem bereit.

Ein Röcheln, begleitet von schleifenden Geräuschen, näherte sich. Schon polterten Schritte über die Holzplatten direkt am Eingangsbereich der Hütte. Fast im gleichen Augenblick schepperte es an der Tür.

Theo und Lukas verhielten sich ganz still. Berstend krachte die Tür auf. Der Stuhl flog ins Innere des Raums. Mit einem Schwall Kälte drang auch etwas Licht in die Hütte und erhellte einen schmalen Streifen auf dem Boden. An der schwach erleuchteten Stelle erkannten sie die Silhouette eines Menschen.

Beide hoben ihre Knüppel an. Im nächsten Atemzug peitschte ein Schuss durch die Dunkelheit. Der Schatten stolperte herein. Ein Blutschwall spritzte aus der Brust des Fremden. Dann ging er zu Boden.

Lukas und Theo starrten auf den Mann, der mit dem Gesicht nach unten gelandet war. Die Blutlache unter ihm wurde immer größer. Sie regten sich nicht vom Fleck, weil sie wussten, dass da draußen noch jemand war.

Es dauerte nicht lange, da hörten sie wieder Schritte. Schwer, stampfend und gleichmäßig. Erneut wappneten sie sich mit ihren Knüppeln. Die Schritte kamen näher und näher und näher. Dann donnerten sie über den hölzernen Eingangsbereich. Wieder bildete sich die Silhouette eines Mannes in dem schwachen Licht, das durch den Türrahmen fiel. Deutlich erkannten sie die Langwaffe, die er von sich gestreckt hielt. Dicht vor der Tür blieb der Schatten stehen.

Alles verharrte reglos. Lukas und Theo wagten kaum zu atmen. Die Zeit schien stillzustehen. Langsam und lautlos setzte sich plötzlich die Tür in Bewegung.

Erschrocken schauten sich Lukas und Theo an.

Dann fiel sie krachend ins Schloss.

2

Hauptkommissar Wendalinus Allensbacher war der Erste, der am Montagmorgen im Büro der Kriminalpolizeiinspektion eintraf. Verwundert schaute sich der Dienststellenleiter um. Alle Schreibtische waren gähnend leer. So etwas hatte er noch nicht erlebt. Normalerweise waren seine Mitarbeiter schon lange vor ihm da. Er schrieb diesen Ausnahmezustand den Schneemassen zu, die am Wochenende vom Himmel gefallen waren und immer noch fielen. Die Meteorologen hatten einen Jahrhundertwinter vorausgesagt, was niemand hatte glauben wollen. Doch jetzt sah alles danach aus.

Er nahm das Tuch von dem großen Vogelkäfig, der die beiden Kanarienvögel Peter und Paul beherbergte. Sofort erschallte munteres Gezwitscher. Diese beiden kleinen, gelben Schnabeltiere hatten die Herzen sämtlicher Mitarbeiter im Haus im Sturm erobert. Niemand wollte sie mehr missen. Sogar das Putzpersonal hatte sich bereiterklärt, an den Wochenenden für Peter und Paul zu sorgen.

Allensbachers anfängliche Proteste waren inzwischen ebenfalls einer Zuneigung gewichen, die er jedoch keinesfalls vor seinen Mitarbeitern zugeben wollte. Er schaute sich um, fühlte sich unbeobachtet und gab den beiden zu futtern. Dann stellte er sich ans Fenster, das einen Ausblick über die Parkplätze bis hin zur stark befahrenen Mainzer Straße gewährte. Seinen Augen bot sich ein endloses Weiß, wie er es noch nie in Saarbrücken gesehen hatte. Auto reihte sich an Auto, auf der stark befahrenen Straße ging es nur im Schritttempo voran. Selbst die Straßenbahnen konnten nicht in normalem Tempo fahren. Auch sämtliche Geräusche klangen gedämpft.

Ein Blick zum Himmel verriet Allensbacher, dass so schnell keine Wetteränderung eintreten würde. Oben schimmerte es dunkelgrau, vermischt mit weißen Schleiern der herabfallenden Flocken, sodass der Tag nicht richtig hell werden wollte. Die Lichter auf den Straßen blieben eingeschaltet, ebenso die Weihnachtsbeleuchtungen an vereinzelten Fenstern, die er bisher noch gar nicht wahrgenommen hatte.

Der Dienststellenleiter beschloss, an seinem Schreibtisch nachzusehen, was sich dort an Arbeit bereits angehäuft hatte. Wann war der Zeitpunkt günstiger als jetzt, um alte Fälle aufzuarbeiten? Es war niemand da, der seine Ruhe hätte stören können.

Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, ging die Tür zum Großraumbüro auf und seine Sekretärin Josefa Kleinert trat ein. Allensbacher musste bei dem Anblick der kleinen Frau lächeln. Sie war wirklich durch nichts aufzuhalten, egal, was passierte, sie kam zur Arbeit. Immer.

»Guten Morgen Chef«, rief sie ihm über die vielen Tische und Stühle hinweg entgegen. »Wo sind die denn alle?«

»Ich vermute, im Schnee steckengeblieben«, antwortete Allensbacher.

»Das kommt davon, wenn man bei solchen Wetterbedingungen mit dem Auto fahren will«, schimpfte die kleine Frau. »Ich fahre mit der Bahn. Das ist das sicherste Verkehrsmittel.«

Allensbacher schüttelte lächelnd den Kopf und sah ihr nach, wie sie ihr Büro ansteuerte. Dabei fiel sein Blick in die hintere Ecke des großen Raumes. Dort stand ein Tannenbaum – vollständig geschmückt, sogar mit Lichterkette. »Welcher Narr hat diesen Weihnachtsbaum aufgestellt?«, fragte er ungehalten.

»Das war ich«, ertönte eine leise, weibliche Stimme.

Erschrocken drehte sich Allensbacher um und sah jetzt erst die Kriminalkommissarin Monika Blech in der Tür stehen. Er hatte sie nicht kommen gehört. Ihr sonst so blasses Gesicht glühte rot. Ihre braunen Haare standen wie elektrisiert vom Kopf ab. »Ich dachte mir, eine kleine nette Abwechslung kann nicht schaden. Vor allem bei einer Arbeit, die zum großen Teil mit Mord und Totschlag zu tun hat!«

»Sie sollten sich zuerst umsehen, bevor Sie mit Beleidigungen um sich werfen«, tadelte Josefa Kleinert ihren Chef von der anderen Seite des großen Büros aus und setzte dabei einen strengen Blick auf.

»Sie haben vollkommen recht«, lenkte Allensbacher hastig ein und schenkte Monika sein freundlichstes Lächeln. »Da Weihnachten vor der Tür steht, schadet es der Motivation meiner Leute bestimmt nicht, einen Weihnachtsbaum aufzustellen.«

Monika stapfte zu ihrem Schreibtisch.

»Wie ist es Ihnen eigentlich gelungen herzukommen, während die anderen Kollegen offensichtlich noch im Verkehrschaos feststecken?«, fragte Allensbacher nach.

»Da ich nicht so weit weg wohne, bin ich zu Fuß gegangen«, erklärte Monika.

Der Chef nickte: »Das war eine gute Idee.«

»Ich habe bei Lukas angerufen, um ihn zu fragen, ob er mit dem Auto fährt. Sein Weg hätte ja an meiner Wohnung vorbeigeführt. Aber ich habe ihn nicht erreicht«, ergänzte Monika. »Deshalb dachte ich, er sei schon hier.«

»Sieht nicht so aus.«

Mit schweren Schritten setzte Allensbacher den Weg zu seinem Büro fort, als sich erneut die Tür öffnete. Er drehte sich um und erschrak, als er Andrea Peperding hereinkommen sah. Sie trug ihre Haare so kurz geschoren, dass die Kopfhaut durchschimmerte – ein grotesker Anblick. Hinzu kam ihre Garderobe, die sie in letzter Zeit von schlampig auf provokant geändert hatte. Anstelle der viel zu weiten Pullover trug sie jetzt schwarze oder olivgrüne Hemden und Jeanshosen, die übersät waren mit Nieten, metallenen Stickern und Ketten, als wollte sie so ihren Protest gegen den unausgesprochenen Dresscode im Büro ausdrücken. Dabei sollte doch gerade sie froh sein, dass sie wieder in dieser Abteilung arbeiten durfte. Die Beamtin hatte sich strafbar gemacht, indem sie Ermittlungsergebnisse an eine Zeugin ausgeplaudert hatte, ein Fall, der sogar vor Gericht hätte verhandelt werden können. Doch Kriminalrat Ehrling hatte Andrea vor einem Prozess bewahrt und ihr somit eine Chance eingeräumt, die nicht selbstverständlich war. Umso mehr ärgerte sich Allensbacher über Andreas Auftreten.

»Scheißwetter«, maulte sie zur Begrüßung. »Die ganze Stadt ist so still, weil dieses beschissene weiße Zeug alles zudeckt.«

Dem Dienststellenleiter schenkte sie keine Beachtung. Allensbacher konnte nicht ausmachen, ob sie ihn bewusst oder unbewusst übersehen hatte. »Guten Morgen Frau Peperding«, rief er zum Gruß.

Andreas erschrockene Reaktion gab ihm die Antwort auf seine Frage: Sie hatte ihn tatsächlich nicht gesehen, was bei seiner Körpergröße von einsfünfundachtzig und seinem Gewicht von hundertzwanzig Kilogramm schon an ein Wunder grenzte. Die Stimme, die er nun vernahm und die immer lauter wurde, lenkte ihn von dem Gedanken ab.

»Schon Jesaja verkündete: Wären eure Sünden auch rot wie Scharlach, nun sind sie weiß wie Schnee!« Dieter Marx’ Kundgebung schallte laut durch das leere Großraumbüro. Seine Augen leuchteten, seine Haare standen wirr vom Kopf ab. Alles an ihm erweckte den Eindruck, als wäre er der Einzige, der sich über die Schneemassen freute.

»Dir hat man ins Gehirn geschissen«, gab Andrea giftig zurück.

Marx gab ihr jedoch keine Gelegenheit, sich weiter so unflätig zu äußern, sondern merkte nur an: »Der Herr ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen – außer vor dir? Unser Kriminalrat hätte besser daran getan, dich für deine Sünden büßen zu lassen.«

Böse schaute Andrea auf. So hatte sie Marx noch nie reden gehört. Sie wollte gerade etwas entgegnen, als Allensbacher vor sie trat und sagte: »Es reicht jetzt. Sie haben eine klare Anweisung bekommen, sich nicht mehr mit den Kollegen zu streiten. Und ich hoffe, Ihnen ist klar, wie wichtig es für Sie sein kann, sich daran zu halten.«

Andrea atmete tief durch und nickte. Die Stille, die daraufhin eintrat, wurde durch das nächste Türenschlagen unterbrochen. Alle schauten neugierig auf, um zu sehen, wer es außer ihnen noch durch das Schneetreiben geschafft hatte. Zu ihrem Erstaunen traten Kriminalrat Hugo Ehrling und Staatsanwalt Helmut Renske gemeinsam ins Großraumbüro. Ehrling trug einen dunklen Anzug, der ihn noch größer und eleganter erscheinen ließ. Renske wirkte an diesem Morgen in seinem hellgrauen Dreiteiler verändert. Es waren seine Schuhe, die nicht zur Garderobe passen wollten, denn es waren braune, robuste Halbstiefel mit Profilsohlen. Außerdem hing seine seidene Krawatte schief. Hastig richtete er sie. Auf die fragenden Blicke meinte er: »Ich habe mein Auto im Ostviertel der Stadt abgestellt. Den Rest bin ich teils mit der Straßenbahn und teils zu Fuß hierhergekommen, sonst würde ich bei Einbruch der Dunkelheit wohl immer noch am Ostbahnhof im Stau stecken.«

Ehrling nickte und fügte hinzu: »Sie können einen Polizeiwagen nehmen und mit Blaulicht Ihren Weg zur Staatsanwaltschaft fortsetzen, wenn Sie einen wichtigen Termin haben.«

»Zufällig habe ich heute keinen Termin. Trotzdem danke!«

Der oberste Chef schaute sich um und fragte: »Wo sind Baccus und Borg?«

Allensbacher wies Monika an, bei Lukas zuhause anzurufen. Aber dort meldete er sich nicht.

»Dann versuchen Sie es auf seinem Handy!«

Monika gehorchte, empfing aber nur die Mailbox.

»Vielleicht ist er bei Theo! Die beiden hängen doch ständig zusammen«, rätselte Marx. Auf die erstaunten Blicke seiner Kollegen fügte er an: »Wir wissen, dass Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führen wird.«

»Amen!«, konterte Andrea und wählte Theos Nummer. Aber auch bei Theo meldete sich niemand. »Theo wohnt mitten in der Stadt«, sagte sie. »Das Einzige, was die beiden dort von der Arbeit fernhalten könnte, wäre ein Besäufnis. Und das wäre ja nicht zum ersten Mal.«

»Mäßigen Sie sich«, rief Ehrling streng.

Andrea nickte und meinte kleinlaut: »Es meldet sich niemand.«

»Sie versuchen weiterhin, die beiden zu erreichen! Außerdem erkundigen Sie sich nach Staumeldungen, für den Fall, dass die beiden irgendwo steckengeblieben sind.«

»Ich rufe auf meiner Dienststelle an und gebe durch, wo man mich finden kann«, funkte Renske dazwischen und begab sich an einen der Schreibtische, die immer noch unbesetzt waren.

Plötzlich trat Josefa Kleinert aus Allensbachers Zimmer in das Großraumbüro und sagte: »Gerade kam eine Meldung herein, dass ein Wagen mit Einschusslöchern an der Landstraße L329 in der Nähe von Wadern gefunden wurde.«

»Was für ein Wagen?«, fragte Allensbacher.

Alle horchten auf.

»Mehr weiß ich nicht. Aber ich habe mein Telefon auf einen Apparat in diesem Büro umgeleitet, damit alle weiteren Informationen direkt bei Ihnen landen«, erklärte die kleine Frau, bevor sie wieder in ihr Zimmer zurückkehrte.

»Wadern? Das ist ganz schön weit weg«, stellte Monika fest.

Allensbacher schaltete den großen Flatscreen an der kurzen Seite des Büroraums ein und tippte auf einige Tasten, bis eine Landkarte zum Vorschein kam. Darauf konnten sie den nördlichen Teil des Saarlandes und die Stadt Wadern erkennen.

»Hier irgendwo ist der Wagen gefunden worden«, erklärte Allensbacher und geriet ins Schnaufen. »Wir sollten abwarten, bis wir erfahren, was dort los ist. Vielleicht ist es ja nur ein Jagdunfall, der von den Kollegen vor Ort geklärt werden kann.«

Wenige Minuten später klingelte das Telefon auf Monikas Schreibtisch. Hastig stellte die Kommissarin den Apparat auf laut, damit alle mithören konnten, was der Kollege der Verkehrspolizei zu berichten hatte: »Der Wagen ist ein blauer Toyota Corolla.«

Das klang nicht gut! Alle wussten, wer so ein Auto fuhr.

»Inzwischen wissen wir auch, wer der Halter des Fahrzeugs ist.«

»Wer?«, stießen alle gleichzeitig aus.

»Kriminalkommissar Theo Borg.«

Erschrocken schauten sich die Kollegen an, als ein »Es tut mir leid« über das Telefon durch das Großraumbüro schallte.

»Welche Spuren haben Sie in dem Wagen gefunden?«, fragte Ehrling.

»Ein Projektil steckt in der Innenverkleidung der Beifahrertür, ein weiteres in der Kopfstütze des Beifahrersitzes. Beide Seitenscheiben sind zerstört«, antwortete die körperlose Stimme durch den Lautsprecher.

»Blutspuren im Wagen?«, fragte Ehrling.

»Bis jetzt nicht.«

»Was heißt bis jetzt?«

»Das können wir nicht mit Sicherheit sagen, weil es seit dem späten Sonntagnachmittag immer wieder neue Schneefälle gibt, die durch die offene Scheibe bis ins Wageninnere getrieben werden. Vor dem Wagen ist der Schnee an manchen Stellen so hoch angehäuft, dass es außerdem unmöglich ist, Fußspuren zu erkennen«, sprach der Verkehrspolizist weiter.

»Wir werden die Kollegen der Bereitschaftspolizei vor Ort bestellen, damit sie das Gebiet absuchen«, bestimmte Ehrling. »Können Hunde unter diesen Bedingungen eine Fährte aufnehmen?«

»Ich weiß es nicht. Ich werde aber den Hundeführer danach fragen.«

»Tun Sie das!«

Das Gespräch war beendet.

»Meine Güte! Was ist da bloß passiert?«, fragte Monika erschrocken.

»Im Hochwald-Gymnasium in Wadern ist uns vor Kurzem ein Kleindealer ins Netz gegangen«, berichtete Marx. »Leider haben wir bis jetzt nicht aus ihm herausbekommen, wo er den Stoff herhatte.«

»Sie meinen, dass unsere Männer dort in einen Drogenkrieg hineingeraten sind?«, fragte Ehrling ungläubig.

»Der Herr gab mir die Eingebung«, erklärte Marx hastig. »Welchen Grund sollte es sonst geben, gerade in dieser Gegend auf Autos zu schießen?«

»Stimmt! Das dürfen wir nicht außer Acht lassen«, gab der Kriminalrat zu. »Wir müssen uns beeilen.«

»Ich schlage vor, wir ordern einen Hubschrauber, damit der das ganze Gebiet von oben absucht«, meldete sich der Staatsanwalt zu Wort.

»Ich werde das veranlassen«, sagte Ehrling. »Wir haben außerdem in unserem Fuhrpark Geländewagen für solche Straßenverhältnisse. Herr Marx, Sie fahren zusammen mit den Kolleginnen zur Fundstelle und halten uns über jeden Schritt und jedes Detail auf dem Laufenden.«

»Ich werde die drei begleiten«, stellte Staatsanwalt Renske klar.

Im Eilschritt verließen sie das Büro.

Vor ihren Augen erstreckte sich Weiß, Weiß und wieder Weiß. Das ganze Saarland schien im Schnee zu versinken. Die Räumfahrzeuge schafften es nicht, die Straßen von den weißen Massen zu befreien, weil es unablässig weiterschneite. Die Landstraße zeichnete sich lediglich durch geringfügige Höhenunterschiede an den Seiten vom Acker ab. Die Bäume sahen aus, als bestünden sie aus Zucker. Weiße Tannenbäume vermittelten das Gefühl, durch ein Postkartenidyll zu fahren. Hinzu kam die Einsamkeit – kein anderes Auto weit und breit.

Andrea Peperding hatte das Steuer übernommen, weil ihr diese Verhältnisse angeblich nichts ausmachten. Doch seit sie die Autobahn verlassen hatten und über die L329 fuhren, wurde ihr Fahrstil immer unsicherer. Im Schritttempo zuckelten sie durch die weiße Wüste.

»Noch nie in meinem Leben habe ich das Saarland so verschneit gesehen«, gestand Helmut Renske, der auf dem Beifahrersitz saß und mit großen Augen alles um sich herum bestaunte.

»Was haben Lukas und Theo in dieser gottverlassenen Gegend getan?«, fragte Monika ängstlich.

»Das werden wir herausfinden, sollten wir nicht vorher im Graben landen«, antwortete Renske.

»Weil der Gottlose Übermut treibt, muss der Elende leiden«, ertönte es aus dem Fond des Wagens.

»Herr Marx«, schnitt Renskes helle Stimme durch das Auto. »Wenn Sie nicht augenblicklich damit aufhören, Ihre biblischen Sprüche abzusondern, werfe ich Sie eigenhändig aus dem Auto. Dann können Sie zusehen, wie Sie nach Hause kommen.«

Augenblicklich herrschte Stille, selbst Dieter Marx wagte nicht mehr, etwas zu entgegnen.

Leise knirschten die Reifen des Mitsubishi Pajero auf dem Schnee. Der Dieselmotor knatterte gleichmäßig. Nach einer Weile tauchten Fahrspuren auf.

»Wir sind auf dem richtigen Weg«, stellte Andrea erleichtert fest.

Es dauerte nicht mehr lange, bis sie auf eine kleine Ansammlung von Autos inmitten der Schneewüste stießen. Hinter den Wagen standen die Kollegen der Bereitschaftspolizei, ein Beamter der Hundestaffel und mehrere Verkehrspolizisten. Sie schauten ihnen erwartungsvoll entgegen.

Rasch zog sich Renske eine helle Wollmütze auf seinen kurzgeschorenen Kopf, wodurch die Augenbrauen und sein Henriquatre-Bart dunkel hervorstachen. Er stieg aus und vernahm ein Rotorengeräusch am Himmel. Als er versuchte hochzuschauen, fing er sich jedoch nur Schneeflocken ein, die direkt in seinen Augen landeten. Außer einem grauen Himmel hatte er nichts erkennen können.

»Was haben wir?«, fragte er und übersah beflissen die erstaunten Gesichter. Niemand hatte damit gerechnet, den Staatsanwalt persönlich anzutreffen.

»Der Hund hat den Geruch der beiden Männer aufnehmen können, weil es Bereiche im Wagen gibt, die noch nicht mit Schnee zugedeckt wurden«, erklärte der Hundeführer. »Er zieht in diese Richtung.« Er zeigte auf den Wald, durch den sie gerade gekommen waren.

»Worauf warten Sie noch?«

Sofort marschierte der Beamte mit seinem Hund los.

Karl Groß von der Bereitschaftspolizei tauchte plötzlich in voller Länge hinter dem Auto auf, sodass alle Kollegen um ihn herum plötzlich klein wirkten. Laut rief er: »Staatsanwalt Renske kommt uns zu Hilfe. Womit haben wir das verdient?«

»Karl der Große«, entgegnete Renske mit einem Grinsen. »Wie könnte ich einen Mann von Ihrer Größe hilflos in der Schneewüste zurücklassen?«

»Sie sprechen vermutlich von meiner Körpergröße.« Der Uniformierte lachte.

»Haben Sie schon eine Spur von unseren beiden Vermissten?«, erkundigte sich Renske.

»Leider nicht«, bekannte der Hüne. »Dafür haben wir ein Projektil in der Innenverkleidung der Beifahrertür gefunden.«

»Wissen wir schon.«

»Ein weiteres in der Kopfstütze ...«

»Das hat man uns am Telefon auch schon gesagt.«

»Okay! Dann gibt es noch ein drittes Projektil, das vermutlich durch die Beifahrerscheibe geflogen und unterhalb des Autos im Schnee steckengeblieben ist.«

»Das klingt aber nach einer ganzen Menge an Projektilen«, bemerkte Monika.

»Stimmt!« Karl nickte. »Insgesamt drei.« Er drehte und wendete das kleine Stück zwischen seinen behandschuhten Fingern und spekulierte: »Sieht wie Jagdmunition aus.«

»Wollen Sie damit sagen, dass ein Jäger auf die beiden Kollegen geschossen hat?«, fragte Renske.

»Ich habe nur eine Vermutung ausgesprochen«, entgegnete Karl. »Ich bin kein Fachmann für Projektile. Da muss die Ballistik ran.«

»Darf ich mal sehen?«, fragte Monika.

Alle starrten erstaunt auf die kleine, dick vermummte Frau mit dem bleichen, runden Gesicht. Doch niemand widersprach ihr. Karl reichte ihr die Patrone. Gespannt warteten sie, was die junge Kommissarin sagen würde – ob ein fachlicher Hinweis käme oder ob sich ihr Interesse rein als Zeitverschwendung erweisen würde.

Monika schnappte erschrocken nach Luft und rief: »Das sieht für mich nach einer 8 x 57 IS Infanterie Stark aus.«

Erstauntes Gemurmel entstand.

»Erklären Sie das bitte genauer«, forderte Renske sie auf.

»Wie Karl schon gesagt hat, könnte es sich um Jagdmunition handeln. Diese Projektile werden aber nur für die Jagd auf Großwild eingesetzt, zum Beispiel auf Rotwild.«

»Was ist daran so besonders?«

»Ich wüsste nicht, dass es im Saarland Rotwild gibt.«

»Bist du jetzt auch noch unter die Jäger gegangen?«, fragte Andrea schnippisch.

»Weib, schweig!«, donnerte Marx’ Stimme dazwischen.

Andrea erschrak so heftig, dass sie tatsächlich schwieg.

»Dieses Projektil lassen wir in unserer Ballistik untersuchen. Die können uns ganz genau sagen, was wir vor uns haben«, bestimmte Renske. »Für uns ist es jetzt viel wichtiger herauszufinden, ob es Blutspuren gibt oder irgendetwas, was uns über das Schicksal unserer beiden Kommissare Auskunft geben kann.«

»Wenn es die gäbe, wären sie vom neuen Schnee verdeckt«, erwiderte einer der Uniformierten.

»Konnten Sie das Auto in der Zwischenzeit nicht abdecken?« Damit traf Renske genau ins Nervenzentrum der Umstehenden, denn daran hatte niemand bislang gedacht. »Dann tun Sie das jetzt, bis das Team der Spurensicherung hier eintrifft.« Renske klang ungehalten. »Wo stecken die überhaupt? Wir brauchen die dringend, damit sie die Schneeschicht im Auto abtragen und nachschauen, was sich darunter verbirgt.«

»Die sind noch unterwegs.«

»Welchen Weg haben die denn genommen? Über Moskau?«

Schweigen war die Antwort. Alle starrten auf den Staatsanwalt.

Das Bellen des Hundes durchbrach die Stille und lenkte Renske von seiner ohnmächtigen Wut ab. Alle Augen schwenkten in die Richtung, in der der Hundeführer stand und ihnen hektisch zuwinkte.

»Das sieht nach einem Hinweis aus«, meinte Renske etwas leiser.

Sofort setzten sich alle in Bewegung, um nachzusehen, was den Hundeführer in eine solche Erregung versetzt hatte.

»Wir können von Glück reden, wenn wir hier nicht schneeblind werden«, murrte Renske, dessen Schnaufen immer lauter wurde.

Als sie den Hundeführer erreichten, zeigte der ihnen ein Stück Stoff, das sich am Baum verfangen hatte und so unter einem Ast hing, dass es nicht vom Schnee zugedeckt worden war. Karl nahm es mit einer Pinzette auf und steckte es in eine durchsichtige Tüte. Es war dunkelgrün. Der Stoff schien aus einem Loden zu bestehen.

»Weder Lukas noch Theo haben Lodenmäntel, soweit mir bekannt ist«, stellte Renske enttäuscht fest. »Was hat der Hund da bloß erschnüffelt?«

»Keine Ahnung.« Der Hundeführer wirkte zerknirscht. »Es besteht doch die Möglichkeit, dass einer der beiden den Stoff gestreift hat und so sein Geruch daran gekommen ist.«

»Alles ist möglich. Und da wir schon so weit sind, suchen wir weiter«, brummte Renske missmutig. »Der Wald ist vom Hubschrauber aus nicht zu überblicken, weshalb auch keine Meldung von oben eingeht. Aber wir können wohl davon ausgehen, dass die beiden hierher geflüchtet sind, wenn tatsächlich jemand auf sie geschossen hat.«

Monika schlang die Arme um ihren Körper und murmelte: »Meine Güte! Das sind ja Zustände wie im Krieg.«

Renske schaute der jungen Kommissarin ins Gesicht und meinte: »Wir werden schon herausfinden, was hier geschehen ist. Solange wir von den beiden nichts finden, ist das...«

»... Sie meinen, keine Leichen...?«, fiel ihm Monika ins Wort.

»Genau! Solange besteht die Hoffnung, dass sie sich hier irgendwo vor dem Schützen in Sicherheit gebracht haben.«

Das Geräusch eines Motors ließ sie aufhorchen. Im Zeitlupentempo kroch ein Auto die Straße entlang. Es war der Multivan der Spurensicherung. Am Waldrand hielt der Wagen an. Ein in Daunenjacke, Schal und Mütze gehüllter junger Mann stieg aus und stellte sich als Markus Schaller, der neue Teamchef der Abteilung, vor. Seine Wangen leuchteten rot und seine dunkelbraunen Augen funkelten spitzbübisch, als er fragte: »Was haben wir?«

»Nur einen Stofffetzen, von dem wir nicht wissen, zu wem er gehört«, antwortete Karl und überreichte das eingetütete Stück. »Aber dort, wo das Auto steht, ist der eigentliche Tatort ... oder Fundort, wie auch immer wir das nennen wollen...«

»Okay! Wir machen uns an die Arbeit.«

»Ich schlage vor, dass einer von euch uns begleitet«, rief Karl. »Es könnte sein, dass wir auf weitere Spuren stoßen.«

»Karl nennt man nicht umsonst den Großen«, bemerkte Renske lachend. »Auf diese geniale Idee wäre ich jetzt nicht gekommen.« Und an Markus gewandt fügte er hinzu: »Und Sie melden uns bitte sofort, wenn Sie irgendetwas gefunden haben.«

Markus salutierte, als sei er beim Militär, grinste frech und fragte: »Seit wann erklärt mir der Staatsanwalt, wie ich meine Arbeit mache?«

Renske schaute verwundert auf und bemerkte ein schalkhaftes Grinsen im Gesicht des jungen Mannes, das ihn sofort erheiterte. »Seit wann sind Sie der Teamchef der Spusi?«

»Seit Anfang des Monats – seit der Alte gegangen ist.«

»Deshalb kenne ich Sie noch nicht.« Renske nickte. »Ich bitte Sie, auf Blutspuren im Schnee zu achten, die uns etwas über die Verfassung der beiden Kommissare sagen können.«

»Aye aye, Sir!«, spottete Markus, stieg in den Multivan und fuhr los.

Kopfschüttelnd folgte Renske den Polizeibeamten tiefer in den Wald hinein. Eine Weile war nur das Knirschen des Schnees unter ihren Füßen zu hören, begleitet vom Rascheln der dicken, wattierten Winterjacken. Dann begann der Hund wieder aufgeregt zu hecheln und zu schnüffeln. Er hatte eine Stelle unter einer hervorstehenden Baumwurzel gefunden, die von den Schneemassen verschont geblieben war. Lediglich eine dünne weiße Schicht bedeckte dort die Erde. Es war unübersehbar, was den Hund erregte: Blut.

Dunkelrot stach es von dem weißen Untergrund ab. Wenige Punkte, die aussahen, als seien sie direkt bei der Landung auf dem kalten Boden gefroren.

»Es wird immer abenteuerlicher«, stellte Karl fest, dessen Gesicht inzwischen kalkweiß geworden war. »Was ist hier bloß passiert?«

»Wir sind hier, um das herauszufinden«, schnaufte Renske. Er beobachtete, wie der Mitarbeiter der Spurensicherung die gefrorenen Blutspuren fotografierte, abmaß und dann eintütete, sodass sie im Labor untersucht werden konnten. Die Suche ging weiter.

»Als Kind konnte ich mich geschickt vor den Pfadfindern drücken«, schimpfte Renske. »Wer hätte gedacht, dass ich in meinem Alter noch damit anfangen muss.«

»Hier ist ein Projektil in den Baum eingeschlagen«, rief der Mitarbeiter der Spurensicherung. Mit präzisen Schnitten schälte er die Rinde vom Baum und entnahm das kleine Teil, während ihm alle dabei zuschauten.

»Gibt es Besonderheiten?«, fragte Renske. »Blut oder Gewebe zum Beispiel?«

»Auf den ersten Blick nicht.« Der Mann tütete den Fund ein.

Schwerfällig stapften sie weiter durch den hohen Schnee. Gelegentlich begann der Hund zu bellen, jedoch ohne große Begeisterung, was darauf schließen ließ, dass er keine neue Spur aufgenommen hatte. Wind vermischt mit Schneeflocken trieb beißend kalt in ihre Gesichter, die sie in ihren Jackenkragen vergruben. Tiefe Furchen zogen sie durch die weiße Masse. Äste knackten unter den Füßen der Beamten, die sie nicht sehen konnten, weil der Schnee alles verdeckte.

Das Stolpern des Vordermannes war für Renske die beste Warnung, nicht ebenfalls auf diese Stelle zu treten, sodass es ihm gelang, einigermaßen sicher zwischen den Bäumen hindurchzugehen.

Nichts vor ihnen verriet ihnen, wo sie waren. Der Schnee ließ alles einheitlich aussehen. Sogar die Bäume hatten plötzlich alle die gleiche Form und Farbe. Weiß strahlten ihre Äste, die sich unter der Schneelast herabsenkten. Gelegentliche Windstöße ließen den Schnee wie eine Staubwolke aufwirbeln, die sich gleichmäßig auf den Köpfen und Schultern der Polizeibeamten verteilte. Die graue Wolkendecke über ihnen war so dicht, dass es aussah, als wollte sich der Tag bereits zum Ende neigen. Aber das konnte doch nicht sein.

»Wie spät ist es?«, fragte Renske verunsichert.

»Viertel vor zwei«, sagte Dieter Marx, der direkt vor dem Staatsanwalt durch den Schnee stapfte. Also keine Dämmerung – einfach nur ein düsterer Himmel, der jegliches Tageslicht verschluckte.

Plötzlich verschwand Marx spurlos. Das Einzige, was der Staatsanwalt mitbekam, war ein unflätiges »Scheiße«, das aus den weißen Tiefen hervorklang.

»Das klingt jetzt aber nicht nach Kommt Übermut, kommt auch Schande, doch bei den Bescheidenen ist die Weisheit zuhause«, kommentierte Renske und musste ein Lachen unterdrücken.

»Wer den Nächsten verächtlich macht, ist ohne Verstand, doch ein kluger Mensch schweigt«, murmelte Marx.

»Das habe ich verstanden«, rief Renske. »Auch das war eine Salomonische Weisheit.«

Verunsichert klopfte Marx den Schnee von seiner Hose ab. Er war über eine niedrige Mauer gestolpert, die der Schnee so verdeckte, dass er sie nicht gesehen hatte. Neugierig starrten alle darauf. Sie bestand aus alten, unbehauenen Steinen, an denen eine dünne Schneeschicht hängengeblieben war – bis auf eine Stelle, die dunkel hervorstach.

»Damit bin ich nicht in Berührung gekommen«, stellte Marx hastig klar.

»Dann haben wir hier eine Spur«, rief Renske. »Lassen Sie den Hund mal riechen!«

Das Tier schnüffelte aufgeregt, was dem Hundeführer die Bestätigung gab, dass an dieser Stelle eine Berührung mit einem der beiden Gesuchten stattgefunden hatte.

»Hier sind Fasern eines Stoffes«, rief der Kollege der Spurensicherung. »Die nehme ich mit zur Untersuchung.«

»Könnte es sein, dass jemand über den Stein gestolpert ist?«, fragte Renske.

»Möglich!«

»Wir sind auf dem richtige Weg, Leute«, rief der Staatsanwalt. »Also los! Nicht schlappmachen!«

Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich vor ihren Augen eine Blockhütte auf, vom Schnee fast völlig zugedeckt. Die Seitenwände bestanden aus rötlichen Holzstämmen. Rechts und links konnten sie geschlossene Klappläden erkennen. Und in der Mitte eine Tür.

Endlich!

Das hatte ja wirklich lange gedauert, bis die Polizei mit Suchhund, Hubschrauber und ihrem gesamten Equipment es geschafft hatte, die Hütte zu finden.

Er hielt sich in sicherem Abstand auf, um alles genau beobachten zu können. Am liebsten wäre er aus seinem Versteck gekrochen, um ihnen den Weg zu zeigen. Die Langsamkeit der Beamten war eigentlich keine Überraschung. Doch diesmal zerrte sie an seinen Nerven. Die Tatsache, dass eine ganze Nacht lang nichts passiert war, niemand das Fernbleiben des Opfers bemerkt hatte, amüsierte ihn einerseits.

Das war gut so! Alles wiederholte sich im Leben. Fand zu sich selbst. Die Gerechtigkeit siegte.

Doch die übermäßige Vorsicht, die diese Truppe an den Tag legte, machte ihn nervös. Welcher Hinweis war in Saarbrücken eingegangen, der ein derart großes Aufgebot zu erklären vermochte? Auch diese Frage beschäftigte ihn.

Er beobachtete, wie sie alles akribisch absicherten.

Lachhaft.

Mit ihren Sicherheitsmaßnahmen zogen sie alles noch mehr in die Länge.

Endlich rissen sie die Tür auf.

Er starrte gebannt durch das Fernglas auf das Geschehen. Es gelang ihm, auf die große Entfernung einen Blick ins Innere der Hütte zu werfen. Was er dort sah, erfüllte ihn mit großer Genugtuung.

Der erste Teil seines Plans war aufgegangen.

Plötzlich geriet alles in großen Aufruhr.

Immer noch standen die Polizisten vor der Hütte, doch irgendetwas Merkwürdiges geschah dort, das sich seinen Blicken entzog.

Dann kam die Enthüllung!

Er konnte es nicht glauben. Was für eine Ironie?

Er hatte genug gesehen. Lachend zog er von dannen.

»Niemand bewegt sich«, flüsterte Karl, der mit weit aufgerissenen Augen auf das Holzgebilde starrte.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Andrea.

»Wir müssen uns absichern. Der Schütze könnte sich in der Hütte verschanzt haben«, antwortete Renske.

»Unmöglich«, widersprach Karl, der sich der Hütte genähert hatte. »Wenn Sie genau hinsehen, erkennen Sie, dass die Fensterläden und die Tür von außen verriegelt sind.«

»Von außen?«

Sie traten näher an die Hütte heran. Nun sahen alle bestätigt, was Karl gesagt hatte: An allen Seiten waren Klappläden angebracht, die mit Eisenhaltern und einer Holzbohle an der Außenseite verschlossen waren. Der Rundgang ergab, dass nur eine einzige Tür in die Hütte führte, die auf die gleiche Weise verriegelt war.

»Wie soll ich das verstehen? Ist das eine Falle?« Renske trat wieder einige Schritte zurück. »Es gibt einen Kamin, aber der raucht nicht. Bei der Kälte würde sich doch jeder normale Mensch ein Feuer machen.«

»Wir haben die Hütte von allen Seiten umstellt«, erklärte Karl. »Sollte sich jemand darin befinden, kann er uns nicht entkommen.«

»Sollte sich der Schütze in der Hütte verschanzen, könnte es Tote geben«, hielt Renske dagegen. »Niemand von Ihnen trägt eine schusssichere Weste.«

Plötzlich begann der Hund hektisch zu schnüffeln.

»Holen Sie den Hund da weg!«, befahl Karl.

Doch der Hundeführer schaffte es kaum noch, den großen Schäferhund vom Eingang wegzuziehen. Wie wild wedelte der Vierbeiner mit dem Schwanz.

»Ihre Kollegen müssen in der Hütte sein«, stellte der Hundeführer daraufhin fest, dem es nur unter größter Anstrengung gelang, das Tier wegzuziehen.

Als der Eingang frei war, konnten es alle sehen: Blut!

Es lag dicht vor der Tür und schimmerte bedrohlich auf dem weißen Untergrund. Der Hund hatte den größten Teil davon bereits verwischt, trotzdem war allen klar, dass hier eine große Menge an Blut vergossen worden war.

»Das sieht nicht gut aus«, stammelte Monika entsetzt.

»Wir müssen rein«, beschloss Karl. »Die beiden könnten verletzt dort eingesperrt sein und brauchen womöglich ärztliche Hilfe.«

»Dann mal los!«, gab der Staatsanwalt grünes Licht.

Einige Sekunden verstrichen, die allen Anwesenden wie quälend lange Minuten vorkamen. Karl gab seinen Kollegen das Zeichen, die Hütte zu öffnen. Auf einen Schlag wurden sämtliche Riegel entfernt und die Tür aufgerissen.

Der Blick der Beamten fiel sofort auf den Mann, der bäuchlings nur wenige Meter von der Tür entfernt lag. Die rötlichen Haare waren das erste, was sie wahrnahmen. Er regte sich nicht. Eine Blutlache hatte sich unter ihm gebildet und großflächig ausgebreitet.

Der Mann war tot.

Wie erstarrt hafteten die Blicke auf ihm.

»Wer ist das?«, fragte Renske.

»Keine Ahnung«, stieß Karl aus.

»Lukas oder Theo?«

»Theo auf keinen Fall. Der hat schwarze Haare.«

»Lukas?«

»Ich kann ihn nicht erkennen.«

3

»Endlich!«, ertönte es aus dem Innern der Hütte.

»Das hat ja lange gedauert!«

»Ich hab mir fast den Arsch abgefroren!«

»Yep!«