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Ein berühmter Filmschauspieler wird tot am Rheinufer in Köln gefunden. Nur einen Tag später wird eine Frau im Silwinger Tunnel im nördlichen Saarland getötet. Ihre Tochter verschwindet spurlos. Zur gleichen Zeit lässt sich der Polizeibeamte Erik Tenes von Saarbrücken nach Köln versetzen. Es stellt sich heraus, dass die beiden Fälle in Verbindung stehen. Auch erkennen die Saarbrücker Kommissare, dass alles seinen Ursprung in der Vergangenheit hat. So bleibt den Beamten nichts anderes übrig als Norbert Kullmann, Hauptkommissar a.D. zu Rate zu ziehen. Gerne unterstützt der Alt-Kommissar seine ehemaligen Mitarbeiter. Und er lässt es sich nicht nehmen, in der Metropole Köln zu ermitteln. Dabei ahnt er nicht, in welche Gefahr er sich begibt…
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Seitenzahl: 449
Elke Schwab
Kullmann in Köln
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Prolog
Teil I
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Teil II
Kapitel 4
Teil III
Kapitel 5
Kapitel 6
Teil IV
Kapitel 7
Teil V
Kapitel 8
Kapitel 9
Teil VI
Kapitel 10
Teil VII
Kapitel 11
Kapitel 12
Teil VIII
Kapitel 13
Teil IX
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Epilog
Personenregister
Alle Krimis der Autorin
Impressum neobooks
Kullmann in
Köln
Elke Schwab
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbiblio- thek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publi- kation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bi- bliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abruf- bar.
Covergestaltung: Elke Schwab + Pixabay
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder aus- zugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden
oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
„Köln schwebend erleben“ stand auf der Kabine der Seil- bahn. Ben Cassidy war alles andere als glücklich über den Vorschlag, sich gerade dort zu treffen. Er stand lieber auf fes- tem Boden. Er war Filmschauspieler - seine Figur und sein Aussehen waren sein Kapital. Joggen gehörte zu seinem Pro- gramm. Mit der Erde eins zu sein, das war sein Ansporn, sei- ne Motivation. Und jetzt wollte dieser Fan unbedingt Fotos von ihm aus luftiger Höhe - frei schwebend über dem Rhein - machen.
Hinzu kam dieses trübe, neblige Wetter, das keinerlei Aus- sicht zuließ. Was für eine Kulisse. Nichtsdestotrotz stieg erein, reichte dem geistesabwesenden Seilbahnangestellten sein TicketundharrtederDinge,diedakommensollten.Fanswa- ren nun mal das Wichtigste in seinem Beruf.Also gab er gele- gentlich auch Sonderwünschen nach.
Der Slogan dieser Seilbahn lautete: „Kölns sicherstes Ver- kehrsmittel über dem Rhein“. Interessant, wenn man bedach- te,wasvorzweiJahrenhierpassiertwar.WegeneinesUnfalls war „das sicherste Verkehrsmittel“ noch bis vor kurzem still- gelegt. Also genau das Gegenteil von dem, was dieser Spruch suggerierte.
Und genau das, was Bens Nerven flattern ließ. Hätten die Reparaturen nicht noch ein wenig länger andauern können? Dann hätte sich der Fan woanders mit ihm treffen müssen.
Auf der Seite des Rheinparks hatten sie sich verabredet. Nun saßerinderwackelndenGondel,abervonseinemFangabes keine Spur. Bis zur Abfahrt dauerte es nicht mehr lange. Viel- leicht hatte er ja Glück und sein Fan verpasste den Termin. Dann würde er einfach aus der Gondel springen, bevor sie losfuhr.
Er schaute sich um und erschrak. Er saß in Gondel Nummer dreizehn! Nicht seine Zahl.
Sie setzte sich in Bewegung und gleichzeitig riss ihn ein hef- tiges Rütteln aus seinen Gedanken. Ein großer, kräftigerMann sprang in letzter Sekunde in die Kabine und setzte sich laut schnaufend ihm gegenüber. Ben wunderte sich. Seine Fanswarenmeistjungundvorallemweiblich.Seltenerwach- sene Männer. Bei den Fernsehrollen kein Wunder. Meistens gab er den Prinz Charming, dem keine Frau widerstehen konnte.Aber jetzt schien es fast so, als sei seine Fangemeinde gewachsen. In seiner letzten Filmrolle gab er überzeugendden Frauenversteher. Wenn dieser Mann nun Tipps von ihm haben wollte, wäre das äußerst peinlich. Im wirklichen Leben verstand er – wie er gerade erst schmerzlich hatte feststellen müssen - nicht wirklich was von Frauen. Seine jüngsten Er- fahrungen hatten ihn vollends von jeglichem Glauben abge- bracht.
Je höher sie stiegen, desto dichter wurde der Nebel. Anstelle einer guten Sicht über die Großmetropole Köln fühlte sichBen plötzlich allein mit diesem Fremden – abgeschnitten von der Welt. Sein Unbehagen wuchs mit jedem Meter, den sie in dieser engen Kabine zurücklegten. Wollte dieser Typ nun mit ihm reden oder ihn nur begaffen?
„Ichkenne dich!“
So, wie der Fremde diese drei Worte aussprach, ließen sie nichts Gutes ahnen.
Jetztfixierteaucherseinen„Fan“.Nachundnachkrochein leichtes Erkennen in ihm hoch. Oder täuschte er sich? Viele gaben an, ihn zu kennen. Klar! Er war ein Star.Aber das hier fühlte sich anders an.
Hatte er diesen Typen bei den MMC-Studios gesehen? Er war sich nicht sicher.
„Unddusolltestmichauchkennen.“
Ben verstand, dass diese Begegnung ganz anders verlaufen würde als erwartet.
DaswarkeinFan.
„Dannweißtdu,wasaufdichzukommt.“ Ben wurde schwindelig.
Der Mann begann zu reden. Mit jedem Wort wurde Ben kla- rer, wer ihm gegenüber saß. Er ertrug diese Worte fast nicht mehr. Angst machte sich in seinem Innern breit.
Nein,daswarkeinTreffenunterFreunden;keineBegegnung zwischen Star und Fan.
ErwolltekeinesdieserWortemehransichheranlassen.
Er schaute durch die Scheiben der Kabine: Nebel nichts als Nebel.
Plötzlich öffnete der Fremde die Tür und versetzte Ben einen harten Stoß, dem er nichts entgegensetzen konnte. Rückwärts flog er hinaus und spürte Sekunden später, wie eiskaltes Was- ser ihn umfing. Seine Lebensgeister erwachten. Er wolltenicht sterben und strampelte wie wild. Doch seine Muskeln fühlten sich schnell an wie gelähmt. Er konnte nicht atmen, nichts sehen, verlor die Orientierung, fühlte sich wie von ei- nem Strudel in einen Sog gezogen. Er konnte nicht erkennen, wo oben oder unten war. Er wollte atmen, riss den Mund auf. Dabei schluckte er literweise eiskaltes Wasser. Wie fernge- steuert begannen seine Muskeln zu zappeln und zu zittern. Dann spürte er nur noch, wie es um ihn herum immer dunkler wurde. Sein Kampfgeist erlahmte so schnell wie er aufgelo- dert war, bis ihn völlige Schwärze einhüllte.
2019
Bedrückt ging Kriminaloberkommissar Erik Tenes durch die Büroräume, die über viele Jahre hinweg seine Arbeitsstätte - ja fast sein zweites Zuhause waren. Die Entscheidung, das Landespolizeipräsidium in Saarbrücken zu verlassen und wie- der nach Köln zurückzukehren, war ihm nicht leichtgefallen. Sein ehemaliger Vorgesetzter Norbert Kullmann war für ihn nicht nur ein Freund, sondern auch ein Vaterersatz geworden. Dessen Nachfolger Dieter Forseti dagegen weniger. Ihm ver- dankte er die ewige Beförderungsbremse, da Forseti eine an- dere Auslegung von Dienstpflichten verfolgte als Kullmann. Kullmann war schon lange in Rente, arbeitete aber immer noch gerne an den aktuellen Kriminalfällen mit. Sehr zu For- setis Missfallen, was ihn aber nie wirklich aufhalten konnte. Seine Ermittlungsleidenschaft war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. In letzter Zeit hatten sie heimlich zusammen- gearbeitet.
Sie waren mehr wie eine Familie gewesen, nicht ausschließ- lich Arbeitskollegen – und nur das zählte.
Inzwischen war Kullmann in die Jahre gekommen. Er zog sich immer mehr aus dem Ermittlerleben zurück. Einerseits verständlich – andererseits schmerzlich. Aber ein saarländi- sches Landeskriminalamt ohne Kullmann war einfach unvor- stellbar.
Er schmunzelte.
Kullmann, das Urgestein. Er liebte diesen Alten, was er je- doch niemals offen zugeben würde. Dieser Mann hatte mehr für ihn getan, als er es jemals in seinem Leben erfahren durfte. Umso schwerer fiel ihm der Weggang.
Zwar war Köln in all den Jahren immer seine bevorzugte Stadt geblieben. Doch die Menschen in Saarbrücken hatten ihm ebenfalls ein starkes Gefühl von Heimat gegeben.
Nicht zu vergessen Anke Deister – die Kriminalkommissa- rin, die stets ein großes Gefühlskarussell in ihm auslöste. Sie hatten zusammengearbeitet, nebeneinander, dicht beieinander. Waren aufeinander angewiesen und konnten sogar die Gedan- ken des anderen lesen. Seine Gefühle waren Erik schon lange klar. Doch Anke hatte es ihm nicht leicht gemacht. Ihre nega- tiven Erfahrungen hatten ihr im Weg gestanden.
Wahrscheinlich war das letztendlich der Auslöser für seine Entscheidung, nach Köln zurückzukehren. Dazu die verspro- chene Beförderung zum Hauptkommissar, die er in Saarbrü- cken so schnell nicht erreicht hätte.
Kaum hatte er die Versetzung beantragt, waren Anke und er sich nähergekommen. Es war wie verhext.
Aber an seiner Entscheidung würde das nichts mehr ändern. Es blieb dabei. Seine Geburtsstadt wartete auf ihn.
Die Tür zu seinem Büro öffnete sich nach einem kurzen Klopfen, das typisch für Anke war. Als hätte er sich die Kolle- gin herbeigedacht.
„Wolltest du dich etwa ohne Abschied verdünnisieren?“ Das kam nicht von Anke.
Erstaunt schaute Erik auf und sah hinter der Kollegin deren Tochter Lisa. Sie war inzwischen 16 Jahre alt und genauso groß wie ihre Mutter. Äußerst selten kam sie ins Büro, weil Forseti Privatbesuche auf dem Landeskriminalamt nicht dul- dete. Doch heute hatte sich Anke dieser Anweisung offen- sichtlich widersetzt.
Eriks Herz schlug höher beim Anblick dieses Mädchens. Er kannte sie, seit sie auf der Welt war. Und liebte sie wie eine eigene Tochter.
Schwungvoll trat sie auf ihn zu und schlang ihre langen, dünnen Arme um ihn. Er erwiderte die Geste und spürte, wie ihm warm ums Herz wurde.
War seine Entscheidung wirklich richtig?
Anke trennte die beiden energisch und sagte: „Mensch Lisa! Mach uns den Abschied nicht noch schwerer.“
Erik glaubte, Tränen in ihren Augenwinkeln zu sehen. Ihre Stimme klang nicht so fest wie sonst.
„Ich bin ja nicht aus der Welt, sondern in Köln.“ Er schaute Lisa in die Augen. „Und du bist bei mir jederzeit willkom- men.“
Nun hatte er es geschafft. Lisa schmiegte sich heulend an ihn.
Wortlos verließ Anke sein Büro.
Lisa ließ ihn los und half ihm dabei, die Habseligkeiten in den dafür mitgebrachten Karton zu packen. Dabei sprachen sie kein Wort.
Die Stille wirkte friedlich. Lisa zeigte jeden Artikel zuerst Erik, der dann entschied, ob er es mitnahm oder nicht. Das ei- ne oder andere erbat sie als Andenken für sich, was Erik lä- chelnd genehmigte. Die Harmonie war perfekt.
In diese Stimmung polterte der Dienststellenleiter Jürgen Schnur ins Büro. Seine Haare waren nicht nur licht geworden, sondern auch ergraut. Der Bartansatz ließ nicht mehr viel vom verräterischen Rot erkennen, weshalb er seine Rasur nicht mehr so akribisch pflegte wie all die Jahre zuvor.
Mit einem schiefen Grinsen fragte er: „Hast du vor, dich heimlich davonzustehlen?“
„Käme mir nie in den Sinn.“ Erik feixte.
„Euch Kölsche Spitzbuben traue ich alles zu.“
„Kölsche Spetzbove“, korrigierte Erik.
„Du musst es ja wissen.“
„Warum bist du hier? Gibt es noch was zu klären?“
„Ja! Wenn du fertig gepackt hast, kommst du in mein Büro.“
„Eye, eye Sir!“
„Jetzt noch strammstehen und alles ist perfekt.
Erik lachte und schaute Jürgen nach, als der sein Büro ver- ließ.
Jürgen Schnur war der Nachfolger von Dieter Forseti. Ein guter Mann, Vorgesetzter und Kollege. Mit ihm zusammenzu-
arbeiten war eines der vielen Highlights hier in Saarbrücken. Auch ihn würde er vermissen.
Was Jürgen wohl noch von ihm wollte?
Er drehte sich um und stellte fest, dass Lisa verschwunden war. Schulterzuckend verschloss er die Kartons, stapelte sie im Flur und machte sich auf den Weg in Jürgens Büro.
Der Flur lag totenstill da. Erstaunlich. So ruhig kannte er die- se Räume nicht. Immer gab es Geräusche, die von Leben und Hektik zeugten. Heute war wohl ein guter Tag. Die Verbrecher machten Pause.
Er klopfte, wartete das Herein nicht erst ab, sondern trat ein- fach in Jürgens Büro.
Verblüfft blieb er im Türrahmen stehen. Sämtliche Kollegen hatten sich versammelt und riefen laut: „Überraschung!“
Der Raum war mit Luftballons geschmückt. Über allem prangte in großen Buchstaben „Abschied von Erik“. Getränke und Essen standen bereit. Sogar leise Musik lief im Hinter- grund.
Alle schauten ihn an, wobei niemand fröhlich wirkte. Oder bildete Erik sich nur ein, dass seine Versetzung sie traurig stimmte?
Darüber wollte er lieber nicht nachdenken, sonst kämen ihm zu guter Letzt doch noch Zweifel. Lieber gesellte er sich zu seinen Kollegen und ließ sich gebührend verabschieden.
Für Erik fühlte es sich an wie der berühmte Sprung ins kalte Wasser, als er auf das Gebäude des Polizeipräsidiums Köln- Kalk zutrat. Der Gebäudekomplex war gewaltig. Bestimmt dreimal so groß wie das Präsidium in Saarbrücken. Er umfass- te 30.000 Quadratmeter Geschossfläche aus Glas, Stahl und Beton. Der Eingangsbereich bestand fast komplett aus Glas und reichte über vier Stockwerke. Ebenerdig befand sich die Kantine. Wie er wusste, waren in den oberen Geschossen die Büros der einzelnen Abteilungen untergebracht. Weiterhin war dem Komplex ein quadratisches, neungeschossiges, mit Kup- fer verkleidetes Turmgebäude mit seltsam anmutender, gläser- ner Kanzel im vierten Obergeschoss angebaut. Ein weiteres, sechsgeschossiges Gebäude führte zum Hof und war durch ein vorgelagertes, gläsernes Foyer mit einem Turm verbun- den. Im dortigen Erdgeschoss lagen die Gefängniszellen der Kriminalwache.
Zögernd ging er auf den gewaltigen Bau zu. Die Türen im Eingangsbereich öffneten sich automatisch. Doch damit hörte der Luxus auf. An einem Informationsschalter zu seiner Rech- ten wurde er angehalten, sich auszuweisen und den Grund sei- nes Besuchs zu nennen.
Kaum hatte er seinen Namen genannt, änderte sich der Ton des Pförtners. Und nicht nur das. Er kam sogar aus seinem Büro und öffnete Erik persönlich die Tür.
Das konnte man als guten Start bezeichnen.
„Schön, dass Sie wieder da sind“, rief der Mann mit Haken- nase und großen Kulleraugen.
Jetzt erst erkannte Erik ihn. Das war „Eddie the Eagle“ – ei- gentlich hieß er Edwin Maurer. Doch durch einen spektakulä-
ren Fenstersprung aus dem vierten Stock des alten Präsidiums hatte er sich den Namen des schlechtesten Skispringers der Welt eingehandelt. Lediglich ein paar gebrochene Rippen und eine zertrümmerte Nase hatte er bei seinem Aufprall auf den Asphaltboden zurückbehalten. Fast ein Wunder.
Erik freute sich, den Kamikaze-Helden zu sehen. Sie schüt- telten sich die Hände, als ginge es um Leben und Tod.
„Schön, dass Kölle dich wiederhat. Ich weiß auch, wo du ar- beiten wirst. Ich wurde vorgewarnt.“
„Das klingt gut. Denn, wer aus dem Saarland kommt, ist po- tenziell gefährlich.“
Die beiden Männer lachten.
Sie bestiegen einen gläsernen Aufzug, der sie in den vierten Stock beförderte. Erik staunte über die Weiträumigkeit des Foyers. Es gab keine Wände - nichts, was die Sicht versperrt hätte. Alles in diesem Bereich offenbarte sich direkt vor sei- nen Augen.
„Hier hat sich ganz schön was verändert.“
„Ja. Dieser Bau ist kein Vergleich zu der alten Hütte“, stimmte Eddie zu.
„Hier aus dem Fenster zu springen könnte schmerzhafter werden.“
Eddie nickte. „Aus dem Alter bin ich raus. Sowas mache ich nicht mehr.“
„Guter Vorsatz.“
Als sie den Fahrstuhl verließen, kam Erik das nächste be- kannte Gesicht entgegen: Udo Paffrath, seines Zeichens Kri- minalhauptkommissar und Eriks engster Freund von früher. Seine roten lockigen Haare waren inzwischen mit Grau durch- zogen. Aber seine Sommersprossen leuchteten nach wie vor mit seinen grünen Augen um die Wette. Der Schalk sprühte ungebrochen. Seit Udo damals Vater einer Tochter geworden war, ließ er sich gerne „Puff Daddy“ nennen, nach dem einst skandalträchtigen, aber berühmten Rapper. Frau und Kind wa- ren längst aus seinem Leben verschwunden, aber der Spitzna- me blieb.
„Hey altes Haus“, rief er ihm entgegen und fügte an: „Leider haben wir keine Zeit für eine Willkommensfeier. In Köln tobt der Bär. Jetzt ist mit der Ruhe vorbei.“
„Gut zu wissen. Die Eintönigkeit im Saarland hat mich auf Dauer kolossal gelangweilt.“
Eddie the Eagle begleitete die beiden Männer noch hinunter ins Erdgeschoss, wo sich ihre Wege trennten.
*
„Es gibt einen Leichenfund am Rheinufer“, erklärte Udo, als sie im Zivilfahrzeug das Parkhaus des Präsidiums verließen.
„Ganz in der Nähe.“
„Das ist gut. Weite Wege bin ich nicht mehr gewöhnt.“
„Scherzkeks! Aber es kommt echt selten vor, dass ein Toter in unmittelbarer Nähe gefunden wird. Köln ist groß, wie du hoffentlich noch weißt.“
Bevor sie auf die Zoobrücke gelangten, bog Udo in eine Al- lee ein. Rechts von ihnen dümpelte der Rhein, links lagen eine Grünanlage und ein Kinderspielplatz. Doch dieser war durch Polizeiabsperrband bereits leergeräumt.
Udo parkte den Wagen an einer Stelle, an der das Rheinufer wie ein kleiner Strand aussah. Zeitgleich mit ihnen fuhren der Kleinbus der Spurensicherung und das Auto mit dem Arzt vor. Gemeinsam gingen sie zu den Polizisten, die schon länger dort warteten.
„Sieht aus, als sei die Tatortgruppe komplett“, stellte Udo zu- frieden fest.
„Paff Daddy“, rief einer der uniformierten Kollegen. „Haben sie dir wieder ein besonderes Leckersch’ aufgehoben?“
„Sieht der Tote so schlimm aus?“
„Schau ihn dir an. Der hat schon bessere Tage gesehen, wür- de ich behaupten.“
Sie bildeten eine Gasse, durch die Erik und Udo ungestört bis zur Leiche kamen. Vor ihnen lag ein Mann mit blonden Haaren, halb geöffneten Augen und weit geöffnetem Mund. Eine rote Schicht bedeckte das gesamte Gesicht. Er war kom- plett bekleidet mit Jeans, Turnschuhen und dicker Jacke.
„Irgendwie kommt der mir bekannt vor“, murmelte Udo.
„Mich erinnert er an Christopher Lambert, als der noch jung war“, murmelte Erik.
„So lang kann der noch nicht hier liegen“, dementierte Udo trocken.
„Okay! Habe mich getäuscht.“
Der Gerichtsmediziner näherte sich und jagte jeden weg, der es wagte, sich zwischen ihn und den Toten zu stellen.
„Haben Sie vergessen, wie eine solche Untersuchung abzu- laufen hat?“ Der hagere Mann verzog sein Gesicht.
„Ach Dr. Odenthal. Schön, dass Sie den Fall übernehmen. Dann sind wir ja immer auf der sicheren Seite“, becircte Udo.
„Ihren Sarkasmus können Sie sich sparen.“
Dr. Odenthal wirkte auf Erik wie eine echte Spaßbremse. Er ließ das Geplänkel zwischen den beiden unkommentiert.
„Ich kann Ihnen sofort sagen, dass dieser Mann noch gelebt hat, als er ins Wasser fiel. Diese rote Schicht in seinem Ge- sicht ist Schaumpilz, das untrügliche Zeichen dafür“, begann der Pathologe.
„Und wie lange ist er schon tot?“
Dr. Odenthal maß die Temperatur, rechnete kurz nach und sagte dann: „Seit 21 Stunden.“
Erik rechnete zurück und sagte: „Dann kam er gestern Nach- mittag um 16.00 Uhr zu Tode.“
„So schnell hätte ich das nicht rausbekommen“, gab Udo mit einem schiefen Grinsen zu. „Du hast ein helles Köpfchen.“
„Und wenn ich die Seilbahn dort sehe, könnte ich mir vor- stellen, dass er aus einer Kabine in den Rhein gefallen ist“, fügte Erik an.
„Dann wäre er aber nicht weit gekommen“, grübelte Udo,
„bei 21 Stunden im Wasser.“
„Gibt es hier keine Schlingpflanzen oder sowas, die die Lei- che am Weitertreiben hindern konnten?“
„Weiß ich nicht. Dafür müssen wir das Schifffahrtsamt kon- taktieren.“
Der Gerichtsmediziner meldete sich zu Wort: „Ich kann kei- ne offensichtlichen Kampfspuren an der Leiche entdecken, die dafür sprechen, dass er irgendwo festgehalten wurde. Ein Festhaken an Schlingpflanzen ist allerdings nicht so einfach zu erkennen. Dafür muss ich ihn auf dem Tisch haben. Ich werde ihn jetzt mitnehmen, wenn die Herrschaften es gestat- ten.“
Erik und Udo nickten zustimmend und schauten der Bestat- tungsfirma zu, wie sie die Leiche in einen Zinksarg legten und abtransportierten.
„Ich erinnere mich, wo ich den Kerl schon mal gesehen ha- be“, meinte Udo, womit er Eriks Beobachtung unterbrach.
„Und wo?“
„Im Fernsehen. Der Typ ist Schauspieler.“
„Christopher Lambert auch.“
Udo boxte Erik unsanft in die Seite.
*
Endlich bekam Erik die Gelegenheit, das Büro zu betreten, das ab sofort seine neue Wirkungsstätte in Köln sein sollte. Es lag im vierten Stock, war großräumig, hell und einladend. Die Aussicht reichte über einen Teil des linksrheinischen Kölns. Er sah den Rundbogen der Köln-Arena - heute Lanxess-Are- na, eine der größten Veranstaltungshallen in Deutschland. Weiter reichte der Blick bis zum Kölner Dom auf der anderen Rheinseite. Die Sicht auf einen der Türme wurde von einem hohen Gebäude verdeckt, von dem er vermutete, dass es sich dabei um das Köln Triangle handelte, das zweithöchste Hoch- haus im rechtsrheinischen Teil der Stadt.
Im Büro gab es vier Schreibtischplätze – jeweils zwei gegen- über. Sein Platz befand sich nahe der Tür. Er saß Udo Paffrath gegenüber. Hinter ihm war nur ein Platz besetzt, was er am laufenden Monitor erkannte.
„Ina Schlebusch sitzt hier. Sie ist gerade am Schießstand, muss dort noch eine Prüfung nachholen. Eine verdammt gute Kollegin“, erklärte Udo auf Erik suchenden Blick. „Die sieht Dinge, für die ich blind bin.“
„Klingt nach meiner Kollegin aus Saarbrücken. Anke Deis- ter. Sie hat auch ein gutes Auge für alles, was ich übersehe.“ Erik lachte wehmütig.
„Oh, oh!“, reagierte Udo sofort. „Diese Anke hat es dir wohl angetan. Das solltest du dir hier aber verkneifen. Beziehungen unter Kollegen sind nicht gern gesehen.“
„Ich muss mir nichts verkneifen, was nicht ist.“ Erik ärgerte sich über sich selbst, dass er seine Gefühle nicht besser im Griff hatte. Solche Bemerkungen brauchte er nicht.
„Alles gut, mein Jung! Jetzt kümmern wir uns um den To- ten.“
Während Erik seinen neuen Arbeitsplatz einrichtete, tippte Udo auf seiner Tastatur. Schon nach ein paar Minuten lehnte er sich triumphierend zurück und zwitscherte: „Wusst’ ich’s doch!“
„Was?“
„Ich habe den Toten erkannt.“
„Wer ist es?“
„Ein bekannter Schauspieler. Er heißt Ben Cassidy und spielt in der Love-Soap einen Mann zwischen zwei Frauen. Dabei sollen am Ende die Zuschauer entscheiden, welche Frau für ihn die richtige ist.“
„So was guckst du?“ Erik staunte.
„Ich doch nicht. Meine bessere Hälfte guckt so einen Quatsch. Und wenn ich abends mal nichts zu tun habe, kriege ich mit, was über den Kasten flimmert.“
Erik lachte.
„Und wie bist du jetzt so schnell auf die Identität des Toten gekommen?“
„Die Gerichtsmedizin hat die Vorabinformation geschickt. Die erste Information ist, dass der Tote durch Knoten-Laich- kraut unter Wasser festgehalten wurde, weshalb er nicht wei- tergetrieben ist. An seinen Extremitäten hängen noch die Res- te davon.“
„Knoten-Laichkraut?“
„Soll es im Rhein öfter geben.“
„Kommt also tatsächlich diese Seilbahn als Tatort infrage?“
„Das bedeutet für uns, die Seilbahn stilllegen zu lassen. Dort muss nach Spuren gesucht werden.“ Udo sprang auf und lief aufgeregt hin und her.
„Das wird lustig. So ein Publikumsmagnet soll ja Geld ein- bringen.“
„Nicht nur das! Die Seilbahn war nach einem Unfall fast zwei Jahre außer Betrieb. Sie ist erst seit einigen Monaten wieder am Laufen.“
„Das steigert die Freude der Betreiber.“ Erik grinste schief.
„Schön, wieder zuhause zu sein, was mein Jung.“ Udo klopf- te Erik auf die Schulter.
Er setzte sich zurück an seinen Schreibtisch und begann zu telefonieren, während Erik sich an seinem neuen Arbeitsplatz erst einmal einrichtete.
Udo legte auf und sagte: „Eine Verfügung, die Bahn stillzu- legen, kommt gerade per Fax. Der Staatsanwalt ist koopera- tiv.“
„Zum Glück.“
Gerade wollten sie aufbrechen, als das Telefon auf Udos Schreibtisch läutete.
„Ein Treiben ist das hier.“
Er nahm das Gespräch an. Nach längerem Wortwechsel legte er auf und erklärte Erik: „Eine Vermisstenmeldung bezüglich unseres Toten ist schon gestern eingegangen. Eine Julia Feld hat den Schauspieler Ben Cassidy gestern als vermisst gemel- det.“
„So schnell schon?“
„Julia Feld arbeitet zusammen mit Ben Cassidy bei den MMC-Studios, Am Coloneum, hier in unserer Medienstadt. Sie produzieren zurzeit die Serie Die Schönste im ganzenLand – von der ich dir erzähle habe - und dafür soll täglich gedreht werden. Gestern waren Nachtszenen geplant, was oh- ne den Hauptdarsteller nicht gut möglich war.“
„Klingt ganz nach unserem Mann.“
„Sehe ich auch so.“
„Dann sollten wir zuerst zu Julia Feld fahren“, schlug Erik vor.
„Nein! Zuerst zur Seilbahn. Je schneller die Spusis mit ihrer Arbeit anfangen können, desto besser. Das liegt außerdem auf dem Weg.“
„Woher weißt du, auf welcher Seite Ben Cassidy eingestie- gen ist?“
„Habe nachgefragt, während du die Aussicht genossen hast. Gestern wurden wegen des schlechten Wetters nur wenige Fahrten gebucht und die alle von der rechten Rheinseite aus.“
„Ganz schön clever.“
„Hast du was anderes erwartet?“
*
Udo Paffrath saß am Steuer des Dienstwagens, ein Mercedes C-Klasse in Schwarz. Ein tolles Fahrzeug, wie Erik anerken- nend feststellen musste. Kein Wunder, dass Udo so schnell das Fahren übernommen hatte. Er steckte das Handy, in das er gerade sprach, in die Freisprechanlage, startete den Motor und fuhr los.
„Hey Lupe-Jupp! Macht euch auf den Weg zur Seilbahn – auf die Deutzer Seite. Dort gibt es Arbeit für euch. Es geht um den Mord an Ben Cassidy.“
„Dort sind wir schon“, antwortete die blecherne Stimme.
„Wir versuchen gerade herauszufinden, in welche Gondel er eingestiegen ist – es gibt nämlich 42 davon.“
„Gibt es keine Überwachungskameras?“
„Doch die gibt es, sind aber zurzeit außer Betrieb.“
„Dann findet eben so heraus, wo unser Opfer saß.“
„Was glaubst du, was wir hier machen?“
„Am Freitag war es nebelig. Da werden nicht viele Fahrgäste mitgefahren sein.“ Udo ging nicht auf den Mitarbeiter der Spurensicherung ein.
„Stimmt. Das ist ja das Komische. Kaum einer erinnert sich daran, dass der berühmte Ben Cassidy mitgefahren sein soll. Vermutlich hatten die Mädels ausgerechnet an dem Tag alle frei und die Jungs kennen den Schauspieler nicht.“
„Das macht es natürlich umso schwieriger.“
„Aber beeilt euch. Die wollen die nächste Tour starten. Ohne staatsanwaltlichen Beschluss lässt der sich nicht aufhalten.“
„Den Beschluss habe ich dir schon zugeschickt.“
„Der will das Ding in Echt.“
„Sag ihm, dass wir auf dem Weg zu euch sind. Nur ein paar Minuten. Den Verkehr auf der Straße können wir leider nicht in Luft auflösen.“
„Blaulicht? Sirene?“
„Gerne, mein Jung.“ Udo lachte. „Aber damit halse ich mir ernste Probleme auf.“
„Haben wir nicht Gefahr im Verzug?“
„Wessen Leben ist denn bedroht?“, fragte Udo zurück. „Ben Cassidy ist schon tot.“
„Stimmt!“
„Kein Stress, Leute. Ich sehe euch schon.“
Die weiß gekleideten Beamten der Spurensicherung wusel- ten um die Seilbahnkabinen herum. Ein kräftiger Mann, der offensichtlich nicht zu dieser Truppe gehörte, versuchte stän- dig, sie an ihrer Arbeit zu hindern.
„Das ist der Betreiber der Seilbahn, Herr Kutschoff. Zeigt ihm bitte den Bescheid der Staatsanwaltschaft, damit wir in Ruhe arbeiten können“, rief ihnen einer der Spusis zur Begrü- ßung entgegen.
Erik erkannte sofort die Stimme von Lupe-Jupp. Trotzdem konnte er dem Namen kein Gesicht geben. Der Spusi-Mann war sehr effektiv in Tyvex eingehüllt, um keine Spuren zu kontaminieren.
Udo überreichte Kutschoff den Bescheid der Staatsanwalt- schaft, den Betrieb stillzulegen. Erst dann gab der massige Mann nach, zeigte sich sogar kooperativ.
„Ich kann Ihnen leider nicht sagen, welche Kabinen am Frei- tag besetzt waren. Viele waren es nicht.“
„Ein Mann wie Ben Cassidy müsste doch auffallen“, sagte Udo dazu.
„Ich kenne ihn nicht.“ Kutschoff zuckte mit den Schultern, als er das Foto betrachtete, das Erik ihm hinhielt.
„Schauspieler? Im Fernsehen? Seifenoper?“
„Sowas gucke ich nicht.“ Udo schnaufte.
Erik sprang für ihn ein, als er merkte, dass Udo nicht mehr weiterwusste: „Wer hat gestern hier gearbeitet?“
„Das war ich.“
„Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass eine Kabine mit zwei Per- sonen losgefahren und nur mit einer Person auf der anderen Seite angekommen ist?“
„Für wie blöd halten Sie mich?“
Erik hob erschrocken beide Hände zum Zeichen der Kapitu- lation. Der massige Mann ruderte zurück und sagte: „Wir ste- hen immer in Kontakt. Wenn in einer Kabine zwei Passagiere losfahren und auf der anderen Seite nur einer ankommt, wird sofort Alarm ausgelöst. Allerdings ist das noch nie hier pas- siert. Auch nicht am Freitag.“
„Meine Frage war einfach, ob es umgekehrt passiert ist.“
„Wie soll das gehen? Soll einer per Fallschirmsprung die Ka- bine besetzen?“
„Vielleicht ist in letzter Sekunde jemand dazugestiegen, als niemand mehr darauf geachtet hat.“
„Wir passen auf und lassen uns auch nichts anderes unter- stellen.“
„Das bedeutet also, dass es keine Auffälligkeiten gab“, er- kannte Erik frustriert.
„Genau das. Und einen Schauspieler aus solchen seichten Liebesfilmen kenne ich nicht. Einen Fußballer wie Jonas Hec- tor! Den würde ich mir merken können.“
Udo und Erik bedankten sich bei Kutschoff und wandten sich den Kollegen der Spurensicherung zu. Diese Konversati- on war wesentlich entspannter. Einer von ihnen hatte ein Er- gebnis: „Leute, ich habe die Kabine gefunden, in der das Op- fer saß. Nummer 13.“
„Super“, lobte Udo. „Das ist ja mal eine gute Nachricht.“
„Und ihr könnt uns ruhig unsere Arbeit machen lassen“, merkte Lupe-Jupp noch an. „Wir wissen, was zu tun ist.“
Das war das Stichwort, für Erik und Udo, zu verschwinden. Sie überquerten den Rhein über die Zoobrücke, um die Stati- on der Seilbahn auf der linksrheinischen Seite aufzusuchen. Dort wurden sie bereits erwartet, was sie schon von weitem sehen konnten. Ein Mitarbeiter der Köln-Seilbahn mit dem Namen Fritsch empfing sie und erklärte ihnen gleich zu Be- ginn, dass ihm nichts Ungewöhnliches aufgefallen war.
„Auch kein Schauspieler, der die Kabine verlassen haben könnte?“, hakte Udo nach.
„Nein. Gestern war hier nicht viel los. Da wäre uns was auf- gefallen.“
Udo zeigte Fritsch ein Foto von Ben Cassidy. Der Mann grinste und meinte: „Der wäre uns aufgefallen.“
„Uns? Also waren Sie nicht allein“, erkannte Erik sofort.
„Ich bin nie allein hier. Zu gefährlich. Aber ich kann Ihnen versichern, dass dieser Mann hier nicht ausgestiegen ist.“
„Sie kennen also den Schauspieler?“
„Nicht nur den.“ Fritsch lachte. „So ein paar Leute vom Film waren am Donnerstag hier und haben sich über alles erkun- digt. Angeblich wollten sie eine Filmszene in einer Kabine drehen. Aber daraus wird jetzt wohl nichts.“
„Wir müssen uns die Filme aus der Überwachungskamera ansehen.“
„Geht nicht. Die war gestern kaputt.
„Hier auch?“ Udo staunte. „Drüben ist sie auch außer Be- trieb.“
„Die sind miteinander verbunden. Deshalb.“
„Und heute funktioniert sie wieder?“ Fritsch nickte.
Ratlos standen die beiden Kriminalbeamten vor dem Mitar- beiter der Kölner Seilbahn, bis Erik einen Geistesblitz hatte:
„Wie lange war die Überwachungskamera außer Betrieb?“
„Von Donnerstag bis Freitag.“
„Wusste jemand davon ?“
Fritsch zuckte nur mit den Schultern und meinte: „Sowas hängen wir nicht an die große Glocke.“
„Das bekommt man also nur mit, wenn man dort arbeitet, oder wie verstehe ich das?“
Fritsch nickte.
*
„Merowinger Straße 71, lautet die Adresse von Julia Feld“, las Erik vor. „Ich gebe es ins Navy ein.“
„Brauchst du nicht. Ich weiß, wo das ist.“
„Echt jetzt?“
„Ich habe Köln nie verlassen. Ich kenne mich hier aus.“
Sie überquerten den Rhein und fuhren auf der andere Seite durch ein Gewirr von Wohngebieten mit Boutiquen, Lokalen, Lebensmittelmärkten, Fitnessstudios und vielem mehr.
Erik rief einige Daten in seinem Handy ab und stellte fest:
„Wow! Diese Julia sieht echt klasse aus.“
„Beschreib mal!“
„Schwarze Haare, blasses Gesicht, hohe Wangenknochen, Beine bis zum Po, eine Oberweite, da kann Mann nur davon träumen – Liz Taylor würde blass vor Neid.“
Udo pfiff durch die Zähne.
„Ihre Gegenspielerin in der Soap heiß Anita Folz und ist zehn Jahre älter. Klein, schlank bis dünn und blond. Die hat wohl keine Chance.“
„Weiß man’s? In diesen Seifenopern geht alles.“ Erik lachte.
Udo Paffrath bog von einer Seitenstraße ab und schon stan- den sie vor einem Wohnhaus über mehrere Etagen.
„Hier ist es.“
„Als Fernsehstar hätte ich gedacht, dass sie sich was Besse- res leisten kann.“
„Ohne deine Recherche im Internet hättest du gar nicht ge- wusst, dass sie ein Fernsehstar ist“, hielt Udo dagegen. „Also steht sie mit ihrer Berühmtheit erst ganz am Anfang.“
„Bei dem Aussehen dauert das bestimmt nicht lange.“
„Aussehen allein reicht nicht.“
„Stimmt! Sprechen wir mit ihr, dann wissen wir mehr.“ Udo öffnete die Fahrertür und stieg aus.
Das Haus war schmal und hoch, rechts und links an die Nachbarhäuser angebaut, während sich zur Rechten noch eine niedrige Garage dazwischen quetschte.
Direkt über dem Eingang zu den Wohnungen gab es Balko- ne, die nicht breiter als einen Meter waren, daneben jeweils nur ein Fenster. Eine unscheinbare Haustür führte direkt ne- ben dem Garagentor ins Haus hinein. Mehr war von der Stra- ße aus nicht zu sehen. Dafür ging das Gebäude in die Tiefe und führte zu einem Innenhof, der von weiteren Hauswänden und einer hässlichen Mauer aus Ziegelstein begrenzt war.
Einige Meter weiter mündete die Straße in die Rolandstraße ein, die ebenfalls von einer dichten Häuserreihe gesäumt war, was einen Blick hinter das Haus unmöglich machte.
„Unter Schöner wohnen wird diese Gegend wohl nicht ge- führt“, murmelte Udo.
Erik klingelte an der Tür. Nichts.
Er klingelte wieder. Immer noch nichts.
Als er erneut ansetzte, um den Knopf zu drücken, fragte Udo: „Was glaubst du, was passiert, wenn du zum dritten Mal draufdrückst?“
„Keine Ahnung! Vielleicht kommt ein Vögelchen angeflogen und singt uns, wo wir Julia Feld finden.“
„Das macht man anders.“
Udo ging zur Tür zu und drückte sämtliche Klingelknöpfe, die übereinander angebracht waren. Es dauerte nicht lange, schon meldete sich eine Frauenstimme über die Sprechanlage:
„Was wollen Sie?“
„Wir wollen mit Ihnen reden. Wir sind von der Polizei.“
Da ertönte die Stimme sehr nah von oben: „Sie wollen nicht zu mir. Ich beobachte Sie doch schon die ganze Zeit.“
Eine ältere Dame mit einem listigen Grinsen stand auf dem Balkon im zweiten Stock.
„Sie haben uns ertappt.“ Udo musste schmunzeln. „Wir woll- ten eigentlich zu Julia Feld. Aber sie öffnet nicht.Wissen Sie, wo wir sie finden können?“
„Das weiß ich zufällig.“
Erik und Udo waren gespannt.
„Sie hat vom Tod ihres Freundes erfahren und war total fas- sungslos. Sie wollte nur noch zu ihrer Mutter.“
„Und wo wohnt die Mutter?“
„Im Saarland. Sie ist dort geboren und aufgewachsen“, ant- wortete die alte Dame. „Das hat sie mir alles erst heute Mor- gen erzählt. Bisher hatte ich davon keine Ahnung. Der Tod ihres Freundes hat sie völlig aus der Fassung gebracht.“
„Wie heißt denn der Freund?Ähem ... Oder wie hieß er?“
„Er hatte so einen englischen Namen. Cassius oder so. Ich glaube, der war auch Schauspieler. Kein normaler Mann heißt so.“
Erik und Udo bedankten sich bei der Dame und stiegen ins Auto.
„Woher weiß Julia Feld von Ben Cassidys Tod?“, stellte Udo die Frage, die auch Erik beschäftigte.
„Und was will sie im Saarland, wenn der Mord hier passiert ist?“, fügte Erik an.
„Hast es doch gehört: Sie ist dort geboren. Jetzt wäre es in- teressant herauszufinden, ob dieser Ben Cassidy auch im Saarland geboren ist. Dann kannst du zu deiner ehemaligen Dienststelle zurückkehren.“
„Willst du mich wieder los werden? So einfach mache ich es dir nicht.“
„Keine Sorge. Ich weiß, was dich von dort vertrieben hat.“ Udo grinste schief. „Dort sieht es mit deiner Beförderung ziemlich mies aus. Was hast du nur angestellt, dass dieser For- seti dich so auf dem Kieker hat?“
„Kein Kommentar. Lass uns lieber zu den Fernsehstudios fahren. Dort erfahren wir hoffentlich mehr über die beiden.“
*
Das Medienzentrum Am Coloneum erwies sich als eigen- ständige kleine Stadt. Die MMC-Studios zu finden, war kein Problem, weil der Gebäudekomplex fast das gesamte Zentrum einnahm. Auch hier kannte sich Udo aus, wie Erik anerken- nend feststellen musste. Sie stellten den Dienstwagen auf ei- nem großen Platzplatz ab, der von einem mächtigen Gebäude mit Firmenlogo der MMC-Studios beherrscht wurde. An einer hohen Glaswand prangte die Werbung für einen Sender, der gerade eine Love-Sendung produzierte. Die Bilder schienen Besucher schier zu erschlagen.
Große Menschenansammlungen gingen dort ein und aus. Doch kaum hatten sie das Foyer betreten, verteilte sich alles in der überdimensionierten Halle. Ein roter Streifen verlief auf dem Boden. An allen Seiten gab es Ein- und Ausgänge, Trep- pen und Werbeplakate für bestimmte Sendungen, die dort ge- rade gedreht wurden.
Der Versuch, schnell an jemanden zu geraten, der ihnen wei- terhelfen könnte, scheiterte an dem gigantischen Wirrwarr.
„Nach was suchen wir hier?“
„Nach einem Hybrid-Event“, antwortete Udo. „So nennt man Soaps, in die Zuschauer eingebunden werden.“
Weiter eilten sie durch riesige Halle, bis Erik auf eine Tür stieß, die vielversprechend aussah: „MMC-Love“. Dort hatten sie Glück. Eine junge Frau saß hinter einem großen, grauen Schreibtisch, rief auf einem Bildschirm einige Daten auf, bis sie den Polizeibeamten sagen konnten, in welcher Etage und Abteilung Julia Feld zurzeit tätig war.
Erik und Udo folgten der Wegbeschreibung.
„Mich wundert nicht mehr, dass es so viele unterschiedliche Filme gibt“, meinte Erik anerkennend bei den Ausmaßen die- ses Studios. „Hier gibt es ja für jede Situation und jeden Ort einfach alles.“
„Stimmt! So holt man die Mondoberfläche einfach mal vor- übergehend nach Köln. Wärst du nur in Kölle geblieben. Das Landleben hat dich eindeutig einrosten lassen.“
„Danke Kumpel. Ich werde mich wieder entrosten - verspro- chen.“
Im ersten Stock am Ende eines langen Flures erreichten sie den Sender, der sich „Love-Life-TV“ nannte und unter ande- rem auch für die Serie Die Schönste im ganzen Land zustän- dig war. Es war laut hier. Alle schrien sich an. Die Gemüter waren erhitzt. Niemand bemerkte die beiden Polizisten.
Eine Weile schauten Erik und Udo dem Treiben zu und fan- den schnell heraus, dass das Fernbleiben von Julia Feld und Ben Cassidy das Thema war. Mittendrin traf sie ein äußerst unfreundlicher Blick einer zierlichen Blondine.
„Und Sie suchen hier genau was?“ Ihr hageres Gesicht unter- strich die Unhöflichkeit zusätzlich. „Sie haben hier nichts ver- loren. Das ist kein Platz für irgendwelche Dahergelaufene.“
„Wir kommen von der Polizei und können vielleicht Antwor- ten auf Ihre Fragen geben. Und das sogar im freundlichen Ton.“ Udo grinste böse.
Daraufhin verstummten alle.
Ein großer Mann mit grauen, lockigen Haare löste sich aus der Menge, stellte sich als Regisseur Beppo Gebert vor und fragte: „Wie kommt es, dass Sie uns sagen können, wo unsere Schauspieler abgeblieben sind? Haben Julia und Ben etwas ausgefressen?“
„So würde ich das nicht nennen.“ Udo zögerte. „Ben Cassidy ist tot. Er wurde heute Morgen am Rheinufer gefunden.“
„Und Julia suchen wir noch“, fügte Erik an.
Der Schreck ließ alle verstummen. Dann redeten alle gleich- zeitig. Der Regisseur schickte mit einem lauten Brüller alle Schauspieler weg. Unter Murren verließen sie das Studio. Erst als sie allein waren, fragte er: „Was reden Sie da? Warum soll- te Ben tot sein? Er ist doch jung und kerngesund.“
„Er WAR kernge …“
Erik fiel Udo ins Wort und sagte hastig: „Alles spricht dafür, dass Ben Cassidy ertrunken ist. Er wurde in der Nähe des Rheinparks gefunden.“
„Ertrunken?“ Beppo Gebert wirkte fassungslos. „Wie konnte das passieren?“
„Das wissen wir nicht – noch nicht. Um das herauszufinden sind wir hier und müssen Ihnen ein paar Fragen stellen.“
„Tun Sie das. Fragen habe ich jetzt allerdings auch. Ben war der Publikumsmagnet. Ohne ihn wird es schwierig mit meiner Sendung. Was mache ich jetzt?“
„Das können wir Ihnen leider nicht sagen. Wir wollen von Ihnen wissen, ob Julia Feld und Ben Cassidy enger miteinan- der verbunden waren als nur beruflich.“
„Das kann man so sagen.“ Gebert rümpfte die Nase. „Ben Cassidy lagen die Frauen zu Füßen. Da war mir diese Bezie- hung gar nicht recht.“
„Warum nicht?“
„Das konnte nicht von langer Dauer sein. Die Frauen standen bei Ben Schlange. Und keine Ahnung, wie Julia eine Tren- nung aufgefasst hätte.“
„Eine gewisse Theatralik ist ihr nicht abzusprechen; sie ist nach Hause zu ihrer Mutter gefahren, als sie von Ben Cassi- dys Tod erfuhr.“ Erik nickte. „Aber bis gestern war die Bezie- hung zwischen den beiden noch intakt?“
„Ja. Warum?“
„Hätte doch sein können, dass sie in Streit geraten sind …“
„ … und Ben geht daraufhin ins Wasser? Vergessen Sie’s! Ben ist nicht der Selbstmord-Typ. Der genießt das Leben.“ Ei- ne Weile schwieg Beppo Gebert, um dann anzufügen: „Ge- noss.“
„Kennen Sie Ben Cassidys bürgerlichen Namen?“
„Nein. Aber der muss irgendwo in seinen Personalpapieren vermerkt sein.“
„Und wie komme ich an diese Papiere heran?“
„Das ist etwas kompliziert.“ Beppo kratzte sich am Kopf.
„Diese Studios bestehen aus mehreren kleineren Unterneh- men, die sich die Schauspieler für bestimmte Sendungen hin und her schieben. Aber irgendwo ist eine Abteilung, die alle Schauspieler sozusagen registriert hat.“
„Wo finden wir diese Abteilung?“
„Es gibt das Ressort, das für die Angestellten zuständig ist. Die brauchen wir ja auch. Und dazu eine Stelle, die die Schauspieler auswählt und fördert. Leider kann ich Ihnen dar- über nichts sagen. Ich bekomme die Schauspieler über Agen- turen. Wer dafür verantwortlich ist, dass sie überhaupt in un- seren Studios landen, weiß ich nicht.“
„Als Regisseur einer Serie?“
„Richtig! Den Redakteur müssen Sie fragen. Der ist zurzeit aber an einer anderen Serie dran.“
„Wie heißt die Serie?“
„GlobalAttack. Ist Science Fiction.“
„Können Sie mir wenigstens sagen, ob Ben Cassidy aus dem Saarland stammt?“
Beppo nickte nachdenklich und meinte dann: „Er hat mal was von einem Ort erwähnt, der mir so gar nichts gesagt hat. Also in Köln und Umgebung war das nicht.“ Plötzlich wurde sein Tonfall schroff: „Und wenn ich bitten darf: Wir sind nicht zum Vergnügen hier, sondern zum Arbeiten.“
Erik und Udo gingen. Als sie außer Hörweite waren, murrte Udo: „Soviel Unwissenheit ist auch schon eine Leistung.“
*
Sie verließen das Studio, in das viele Schauspieler strömten, die sich auf die Talk-Show „Köln und mehr“ vorbereiteten. Ein Kameramann rollte auf einem fahrbaren Untersatz mit mehreren Kameras fast über Eriks Füße. Eine junge Frau mit Mikrofonen rannte hinter ihm her und stolperte über die vie- len Kabel auf dem Boden und Beppo erhob seine Stimme um jedem zu sagen, wo er sich zu postieren hat.
„Das wäre kein Job für mich“, stellte Erik fest, während er noch einen letzten Blick zurückwarf. Dabei hätte er fast die unfreundliche Dame umgerannt, die ihn bei der Ankunft ange- macht hatte.
„Was habe ich eben gehört? Ben ist tot?“, fragte sie ohne Einleitung.
„Wer sind Sie?“, fragte Erik zurück, wobei sich seine Freundlichkeit auch im Zaum hielt. „Die Dahergelaufenen sprechen nämlich nicht mit jedem.“
Etwas konsterniert schaute die Frau drein, wobei ihre Ge- sichtshaut deutlich über den Wagenknochen spannte. Sie wirkte nicht gesund.
„Ich heiße Anita Folz und spiele in der Serie DieSchönsteim ganzen Land die Olivia, Abigails Konkurrentin.“ Etwas zer- knirscht fügte sie hinzu: „Ich glaube, wir hatten einen schlechten Start.“
„Könnte man so sagen.“ Erik reagierte immer noch zuge- knöpft. Diese Person hatte ihn empfindlich getroffen. Dabei war er sich nicht sicher, ob er nicht eine Abneigung gegen Promis hegte, weil die sich wichtiger vorkamen, oder ob diese halbe Person es geschafft hatte, ihm die Sprache zu verschla- gen.
„Stimmt es, dass Ben tot ist?“, wiederholte sie nun kleinlaut.
„Ja.“
Ihr Gesicht wurde noch blasser.
„Liegt ein Verbrechen vor?“
„Das wissen wir noch nicht. Seine Todesumstände haben uns zur Untersuchung veranlasst.“
„Und wo ist Julia?“, fragte Anita Folz weiter. „Sie ist doch nicht auch tot, oder?“
„Wie kommen Sie darauf?“ Erik erschrak.
„Weil sie heute Morgen nicht ins Studio gekommen ist.“
„Wir wissen nichts davon, dass Julia Feld tot ist. Sie soll zu ihrer Mutter ins Saarland gefahren sein“, erklärte Erik. „Das bringt mich zu der Frage, die uns noch nicht beantwortet wur- de: Wissen Sie zufällig, wie Ben Cassidy mit bürgerlichem Namen heißt und wo er herkommt?“
„Ja, ich weiß, dass er aus dem Saarland kommt. Julia und Ben waren total überrascht, als sie das voneinander erfahren haben. Seinen bürgerlichen Namen kenne ich nicht. Dachte gar nicht soweit, dass er anders heißen könnte. Was ich weiß
ist, dass er mit Mary verheiratet ist. Mary Cassidy heißt die Glückliche und könnte seine Mutter sein.“
„Wo finden wir diese Mary?“, fragte Erik. „Mit seiner Frau müssen wir auch sprechen.“
„Die ist zurzeit in Los Angeles – in Hollywood. Die Dame kommt vom ganz großen Film.“
Erik pfiff durch die Zähne.
„Ja, mit ihr hat er sich vermutlich auch den großen Durch- bruch erhofft.“ Anita lachte abfällig. „Aber mit seinen Seifen- opern hätte er es niemals bis nach Hollywood geschafft. Nur sein hübsches Näschen hat dafür nicht gereicht.“
„Probleme haben die Schauspieler“, stöhnte Udo.
„Nicht alles an Ben ist oberflächlich“, wehrte Anita sofort ab.
„Jetzt rühren Sie mich auch noch zu Tränen.“
„Sie Witzbold. Ich habe Leukämie.“ Kurze Stille trat ein.
„Ben hat eine Blutspendeaktion für mich ins Leben gerufen. Das ging durch alle Medien. Auch Julia hat sich an der Ver- breitung dieser Aktion eingebracht.“
Erik nickte und sagte: „Stimmt! Davon habe ich etwas mit- bekommen. Das war sogar im Saarland bekannt – über Face- book, glaube ich.“
„Dort auch. Und im Fernsehen, in unserem Sender zum Bei- spiel. Wer die Serie kennt, weiß davon. Ben hat auch selbst Blut gespendet, um zu sehen, ob er als Knochenmarkspender für mich infrage kommt. Mit dem Ergebnis war irgendwas, aber ich weiß nicht, was.“
„Heißt das, dass er als Spender infrage gekommen wäre?“, hakte Erik nach.
„Nein. Das glaube ich nicht. Aber aus irgendeinem Grund hat man mir das Ergebnis nicht mitgeteilt. Hätte es gepasst, hätte man nicht gezögert. Seltsamerweise wurde ein ganz gro- ßes Geheimnis daraus gemacht.“
*
Die Kollegin Ina Schlebusch schaute Erik und Udo entge- gen, als die beiden das Büro betraten. Sie hatte lange, rote Haare, die zottelig über ihre Schultern hingen. Ihr Gesicht war blass und voller Sommersprossen. Grüne Augen blitzen Erik an. Er glaubte, eine große Portion Schalk darin zu erkennen. Sie trat auf ihn zu und stellte sich vor. Sie war klein, drahtig und sehr agil in ihren Bewegungen.
„Ich bin ein Rückkehrer“, meinte Erik lachend. „Und wie es aussieht, hängt meine Vergangenheit – egal wo – mehr an mir, als gut für mich ist.“
„Soll ich das verstehen?“
„Unser Fall am Rheinufer hängt offensichtlich mit dem Saar- land zusammen“, antwortete Udo.
Erik setzte sich an seinen Schreibtisch, fuhr den Rechner hoch und begann mit seinen Recherchen.
Nach einer Weile stieß er aus: „Scheiße Mann!“
„Was ist?“
„Julia Feld ist tatsächlich im Saarland geboren. Genauer ge- sagt in Dillingen. Um ihre Mutter ranken einige merkwürdige Geschichten, die schon eine Weile zurückliegen. Das sieht al- les verdammt komisch aus.“
„Du meinst also, weil die Mutter in Dillingen an der Saar in grauer Vorzeit mal was verbockt hat, wird heute der Schau- spieler Ben Cassidy in Köln in den Rhein geworfen?“, kam es von Udo.
„Klingt weit hergeholt, weiß ich selbst.“
„Über Ben Cassidy finde ich allerdings gerade mal gar nichts“, gab Udo zu. „Lediglich was über seine Schauspiel- karriere, wie alt er ist, wie viele Frauen er schon hatte. Sein bürgerlicher Name steht nirgends. Das finde ich merkwürdig.“
„Das sieht für mich so aus, als hätte er was zu verbergen“, erkannte Erik.
„Diese Spur halte ich für interessanter.“
„Was willst du tun?“
„Ich fahre jetzt zu seiner Wohnung und schaue mich dort um. Ina kann mich begleiten, während du weiter auf deinen Saar- land-Pfaden wandelst.“
„Wer ist hier eigentlich der Dienstellenleiter?“, fragte Erik.
„Ich.“
„Wow! Dann hast du es ja weit gebracht.“
Udo lachte und meinte: „Hier in Köln geht sowas schneller als im verträumten Saarland.“
„Wir träumen auch nicht. Mein Handicap war einfach nur Dieter Forseti, der inzwischen Kriminalrat ist.“
„Da kann ich dir nicht widersprechen. Wir waren alle froh als wir hörten, dass er ins Saarland geht. Schön weit weg.“
„Müssen wir jetzt noch in Ben Cassidys Haus?“, maulte Ina und warf einen Blick auf die Uhr. „Es ist Samstagabend. Ich hatte eigentlich noch was vor.“
„Wenn Mordermittlungen anstehen, müssen wir Opfer brin- gen“, zwitscherte Udo.
Mit mürrischem Gesicht folgte sie dem Vorgesetzten.
Erik schaute den beiden nach und schüttelte den Kopf. Udo Paffrath hatte sich in all den Jahren nicht verändert. Er war derselbe geblieben – immer gut gelaunt, immer einen Spruch auf den Lippen und immer ein Optimist. Schön für ihn. Auch die Tatsache, dass er Dienststellenleiter war, gefiel ihm. Das versprach angenehm zu werden.
*
Ben Cassidy wohnte in der Rethelstraße in Köln-Lindenthal, einer ruhigen Wohngegend inmitten der Millionenstadt. Dort befanden sich schicke Wohnhäuser, flankiert von Grünanla- gen, hohen Hecken, Sträuchern und Bäumen. Ben Cassidys Haus war im Toskanischen Stil gehalten, der Eingangsbereich von zwei zurechtgestutzten Rubinien rechts und links ver- deckt. Es erweckte sofort den Eindruck von Luxus und Reich- tum.
„Wow! Schauspieler müssen gut verdienen“, stellte Ina stau- nend fest.
„Er ist mit einer Hollywood-Schauspielerin verheiratet“, meinte Udo dazu. „Ich vermute eher, dass er über sie zu Geld gekommen ist. Mit so einer kleinen Seifenoper kann man nicht gerade Reichtümer anhäufen.“
„Du kennst dich ja gut aus.“
„Ja, frag nur mich, wenn es ums Schauspielern geht. Bei Vernehmungen erlebe ich das seit Jahren täglich.“
„Schlaumeier.“
Sie parkten direkt vor dem Haus und stiegen aus. Das erste, was Udo auffiel, war die angelehnte Haustür.
„Da ist jemand!“
Sie zogen ihre Waffen aus den Holstern und näherten sich dem Eingang. Ein Poltern war aus dem Inneren zu hören.
„Ich hör ihn“, zischte Ina.
Udo stieß die weiße Haustür leise auf. Vor ihnen offenbarte sich eine geräumige, lichtdurchflutete Aula. Aber kein Mensch zu sehen.
Sie schlichen hinein. Links führte eine weiße Treppe nach oben. Rechts ging es in den offenen Wohnbereich. Eine Ter- rassentür war nur angelehnt. Durch den Wind schlug sie stän- dig gegen die Einfassung. Das helle, geräumige Wohnzimmer versank im Chaos. Nichts darin stand mehr an seinem Platz.
„Ich glaube, wir kommen zu spät“, erkannte Udo. „Der Typ ist längst über alle Berge.“
„Ob er gefunden hat, was er sucht?“, fragte Ina.
„Das werden wir erfahren, sobald wir ihn geschnappt ha- ben.“
Sie sicherten zuerst jeden Raum im Haus, bevor sie die Kol- legen und die Spurensicherung riefen.
Während sie auf deren Eintreffen warteten, zogen sie zum Schutz Überzieher über die Schuhe, bevor sie sich im Chaos umsahen.
„Was ist bei einem kleinen Schauspieler so wichtig, dass man ihn töten und seine persönlichen Sachen durchwühlen muss?“, fragte Ina irritiert.
„Dafür müssen wir wohl sein Leben durchleuchten. Die Tat- sache, dass wir so schlecht an seine Vergangenheit herankom- men, macht mich stutzig. Vielleicht ist dort die Antwort zu finden.“
*
Erik griff nach dem Telefon und rief bei Anke Deister zuhau- se an.
Er hatte Glück. Sie meldete sich sofort.
„Endlich ein Lebenszeichen von dir. Ich dachte schon, die große Stadt hätte dich verschluckt.“
Erik lachte. Sofort wurde ihm warm ums Herz, als er ihre Stimme hörte.
„Ich bin mit einem Fall begrüßt worden, kaum dass ich Köl- schen Boden betreten habe. Da hatte ich noch gar keine Zeit, mich bei dir zu melden. Aber jetzt.“
„In Köln ist wohl mehr los als bei uns.“ Anke lachte. „Ich habe Bereitschaft, aber bis jetzt ist alles ruhig.“
„Mit wem hast du Bereitschaft?“
„Mit Kommissar Horst Hollmann.“
„Könnte schlimmer sein.“
„Stimmt! Erzähl mir doch von deinem Kölschen Fall.“
„Leider ist das der Grund, warum ich mich bei dir melde
…“, gestand Erik.
„Wie bitte?“
„Unter anderem. Also nur am Rande! Wirklich! Ich hätte dich sowieso angerufen.“
Anke lachte laut auf und meinte: „Deine Verlegenheit höre ich durchs Telefon. Aber das gefällt mir.“
„Du fehlst mir. Jetzt schon. Dabei hatte ich noch nicht viel Zeit zum Nachdenken.“
„Du fehlst mir auch.“
Eriks Herz machte einen Satz.
„Und Lisa nörgelt nur herum. Sie will nach Köln.“
„Was hält euch auf?“
„Die Schule und mein Job, du Witzbold.“
„Schulen und Polizeiposten gibt es in Köln auch. Mehr als in Saarbrücken.“
„Nur mal sachte mit den jungen Pferden“, bremste Anke Eriks Eifer. „Erzähl mir lieber, um welchen Fall es sich han- delt, der auch mich betreffen könnte.“
„Es geht um eine Julia Feld. Sie ist in Dillingen/Saar gebo- ren, ihre Mutter heißt Maria Feld.“
„Aha.“
„Der Tote, den wir hier am Rhein gefunden haben, heißt Ben Cassidy und war der Lebensgefährte von Julia Feld. Wir woll- ten eben mit ihr sprechen. Da haben wir erfahren, dass sie ins Saarland zu ihrer Mutter aufgebrochen ist.“
„Und ich soll diese Julia Feld aufsuchen und feststellen, war- um sie so schnell ins Saarland geflüchtet ist?“
„Du warst schon immer ein fixes Köpfchen“, meinte Erik an- erkennend. „Für uns ist es vor allem interessant zu erfahren, wie sie so schnell von Ben Cassidys Tod erfahren konnte. Sie wusste es schon vor uns.“
„Die Schnellsten seid ihr also auch nicht.“ Diese Spitze musste sein. Anke kicherte.
„Ich befinde mich noch im Jetlag.“
„Um Ausreden nie verlegen.“
„Das gehört zum Überlebenskampf in Köln.“ Erik lachte.
„Aber ich war noch nicht fertig.“
„Ich bin ganz Ohr.“
„Es muss eine Akte über Julias Mutter geben. Meine innere Stimme sagt mir, dass diese Vorgeschichte nicht unerheblich ist - auch wenn es sich für meinen Kollegen hier in Köln ab- surd anhört. Dieser überhastete Aufbruch der Tochter hat mich dazu gebracht, mehr über die Mutter nachzuforschen. Doch leider komme ich von hier aus nicht an ihre Akte ran. Viel- leicht weiß unser guter alter Kullmann mehr darüber.“
„Du redest schon wie Kullmann.“
„Er ist halt ein guter Lehrmeister.“ Erik wurde bei der Erin- nerung an den alten Herrn wohlig zumute. Auch ihn vermisste er jetzt schon. „Wie stehen meine Chancen? Schaust du mal
nach, was es mit dieser Julia Feld und ihrer Mutter auf sich hat?“
„Das lässt sich machen. Recherche bei Kullmann und Mar- tha mache ich doch immer gern.“
„Mach mich nicht neidisch.“
„Es war deine eigene Entscheidung, uns zu verlassen.“
„Ich habe euch nicht verlassen. Bin nur ein paar Kilometer von euch entfernt. Und so ganz war es auch nicht meine eige- ne Entscheidung. Hier in Köln komme ich beruflich weiter. Im Saarland wurden mir diese Chancen verwehrt.“
„Stimmt! Ich mache dir keinen Vorwurf, ich mache dir nur gern die Nase lang.“
„Ist dir gelungen.“
Ein Piepsen ertönte im Hintergrund.
Erik horchte auf und fragte: „Was ist das?“
„Mein Diensthandy. Ich muss zu einem Einsatz.“
„Stimmt! Du hast Bereitschaft.“
„Dass sich die Leichenfinder keine besseren Zeiten aussu- chen können“, murrte Anke.
„Mach doch mal den Verbesserungsvorschlag.“
„Sehr witzig.“ Anke schwieg kurz, dann fügte sie an: „Das ist jetzt aber wirklich komisch.“
„Was denn?“
„Hier geht es um einen Leichenfund. Eine Frauenleiche.“
„Was ist daran so komisch?“
„Laut Zeugenaussagen sind heute Nachmittag eine ältere und eine jüngere Frau zusammen dort gesehen worden.“
„Ja und?“
„Mutter und Tochter?“
„Ich glaube, jetzt siehst du Gespenster.“
„Du hast mich angesteckt.“
„Halte mich auf dem Laufenden.“
Unwegsames Gelände lag vor ihnen. Der Boden war nass und matschig. In den letzten Tagen hatte es viel geregnet. Sie kraxelten über umgestürzte Bäume und Äste, kletterten durch Dickicht, rutschten steile Hänge hinunter, bis der Eingang zum Tunnel, der in den Berg hineingebaut war, in Sicht kam. In der Dämmerung wirkte der Anblick schon fast unwirklich.
„Wo sind wir denn hier gelandet?“, fragte Kriminalkommis- sar Horst Hollmann, der Anke Deister und Jürgen Schnur zum Leichenfundort begleitete. Er stolperte, konnte sich aber gera- de noch fangen. Seine Hosenbeine waren durchnässt, seine Kleidung verschmutzt. Sein Gesicht leuchtete so rot wie seine kurzen Haare.
„Am Silwinger Tunnel“, antwortete Hauptkommissar Jürgen Schnur, ebenfalls verdreckt. Er atmete tief durch. Was wirk- lich in ihm vorging, wollte er auf keinen Fall preisgeben. Schon gar nicht vor einem jungen Kommissar wie Horst Holl- mann, der vor noch nicht allzu langer seine Ausbildung abge- schlossen hat. „Das war mal die Zugstrecke der Reichseisen- bahn Elsass-Lothringen. Hier fuhr die Bahn auf der deutschen Seite in den Tunnel hinein und an der Grenze zu Frankreich wieder raus. Der Ort ganz in der Nähe heißt Biringen. Durch spätere Grenzstreitigkeiten wurde diese Eisenbahnlinie stillge- legt. Der Tunnel ist geblieben, die Gleise sind aus dem Gleis- bett entfernt worden.“
„Klingt irgendwie gruselig.“
„Ist es auch. Um diesen Tunnel ranken die unheimlichsten Geschichten“, stimmte Jürgen zu und sah, wie das Rot aus Horsts Gesicht einer ängstlichen Blässe wich. Er hoffte, dass seine eigene Gesichtsfarbe ihn nicht genauso verriet.
„Alles Legenden“, fügte er schnell an, als wollte er sich selbst beruhigen. „Oder besser gesagt, fast alles.“