Kriminelle Intelligenz - Elke Schwab - E-Book

Kriminelle Intelligenz E-Book

Elke Schwab

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Beschreibung

Genau das tat er: Er lauerte seiner Beute auf. Nur mit dem kleinen Unterschied, dass sein Angriff eine Reihe von strategischen Schachzügen beinhalten würde, womit er niemandem auch nur die geringste Chance ließ, zu entkommen. Das gehörte zu den Spielregeln, die er selbst bestimmte … Todesfälle durch selbstfahrende Autos der saarländischen Firma DynamoCars stellen die Kriminalkommissare Lukas Baccus und Theo Borg vor Rätsel. Doch je tiefer die beiden Kommissare in die Welt der Algorithmen und Künstlichen Intelligenz eindringen, umso mehr stellt sich ihnen die Frage, ob es schon so weit ist, dass autonome Maschinen das Töten von Menschen übernehmen … "Spannend, aktuell und mit viel saarländischem Charme." SR - Antenne Saar, 6.10.21 Zur Reihe: Dieser Krimi ist der 7. Band der Baccus-Borg-Krimireihe. Bisher erschienen sind: Mörderisches Puzzle, Eisige Rache, Blutige Mondscheinsonate, Tödliche Besessenheit, Gewagter Einsatz, Tickende Zeitbombe. Aus Lukas und Theo werden Freunde, die sich neben ihren Dienstzeiten auch privat treffen. Mit ihrer lockeren Art und ihren coolen Sprüchen schaffen sie es, sich häufiger selbst in Gefahr zu bringen, womit sie für Hochspannung sorgen. Immer wieder werden sie zu Hilfe gerufen, wenn es brenzlig wird, denn es gelingt ihnen, die spektakulärsten Fälle aufzuklären.

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Inhaltsverzeichnis
Cover
Die Autorin
Innentitel
Reihe
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Epilog

Die Autorin

Nach vierzehn Jahren in Frankreich hat sich die mehrfach ausgezeichnete Autorin nun wieder im Saarland niedergelassen, wo sie schreibt und lebt, zusammen mit Ehemann samt Pferd und Katze. Elke Schwab wurde 1964 in Saarbrücken geboren und ist im Saarland aufgewachsen. Nach dem Gymnasium in Saarlouis arbeitete sie über zwanzig Jahre im Saarländischen Sozialministerium, Abteilung Altenpolitik. Schon als Kind schrieb sie über Abenteuer, als Jugendliche natürlich über Romanzen. Später entschied sie sich für Kriminalromane. 2000 brachte sie ihr erstes Buch auf den Markt. Seitdem sind dreiundzwanzig Krimis und sechs Kurzgeschichten von ihr veröffentlicht worden. Ihre Krimis sind Polizeiromane in bester „Whodunit“-Tradition. Neben Baccus und Borg ist Hauptkommissar Kullmann eine ihrer Hauptfiguren. 2013, 2014 und 2016 erhielt sie jeweils den Saarländischen Autorenpreis der „HomBuch“ in der Kategorie „Krimi“. 2013 folgte der Kulturpreis des Landkreises Saarlouis für literarische Arbeit mit regionalem Bezug.

Bisher erschienen in der Baccus-Borg-Krimireihe:

• Kriminelle Intelligenz, 2021

• Tickende Zeitbombe, 2017

• Gewagter Einsatz, 2016

• Tödliche Besessenheit, 2015

• Blutige Mondscheinsonate, 2014

• Eisige Rache, 2013

• Mörderisches Puzzle, 2011

Innentitel

 

SOLIBRO Verlag Münster

Reihe

 

1. Sprado, Hans-Hermann: Risse im Ruhm.

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2005

ISBN 978-3-932927-26-5 • eISBN 978-3-932927-67-6 (E-Book)

2. Sprado, Hans-Hermann: Tod auf der Fashion Week

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2007

ISBN 978-3-932927-39-3 • eISBN 978-3-932927-68-3 (E-Book)

3. Elke Schwab: Mörderisches Puzzle

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2011

ISBN 978-3-932927-37-9• eISBN 978-3-932927-64-5 (E-Book)

4. Elke Schwab: Eisige Rache

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2013

ISBN 978-3-932927-54-6 (TB)• eISBN 978-3-932927-72-0 (E-Book)

5. Elke Schwab: Blutige Mondscheinsonate

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2014

ISBN 978-3-932927-85-0 (TB)• eISBN 978-3-932927-86-7 (E-Book)

6. Elke Schwab: Tödliche Besessenheit

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2015

ISBN 978-3-932927-95-9 (TB)• eISBN 978-3-932927-96-6 (E-Book)

7. Elke Schwab: Gewagter Einsatz

Münster: Solibro Verlag 2. Aufl. 2017

ISBN 978-3-96079-020-4 • eISBN 978-3-96079-021-1 (eBook)

8. Elke Schwab: Tickende Zeitbombe

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2017

ISBN 978-3-96079-029-7 • eISBN 978-3-96079-030-3 (eBook)

9. Elke Schwab: Kriminelle Intelligenz

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2021

ISBN 978-3-96079-088-4 • eISBN 978-3-96079-089-1 (eBook)

Impressum

ISBN 78-3-96079-089-1

© SOLIBRO®Verlag, 1. Aufl. Münster 2021

Alle Rechte vorbehalten.

Covergestaltung: Michael Rühle

Coverfoto: © iStockphoto.com/ KevinKlimaPhoto

Lektorat: Marc Graner

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt. Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen der Inhalte kommen. Jede unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt.Bitte respektieren Sie die Leistung der Autoren, indem Sie keine Raubkopien in Umlauf bringen. Vielen Dank.

www.solibro.de verlegt. gefunden. gelesen.

Prolog

Genau das tat er: Er lauerte seiner Beute auf. Nur mit dem kleinen Unterschied, dass sein Angriff eine Reihe von strategischen Schachzügen beinhalten würde, womit er niemandem auch nur die geringste Chance ließ, zu entkommen. Das gehörte zu den Spielregeln, die er selbst bestimmte.

 

Wie immer hatte er an alles gedacht.

Nichts war ihm entgangen!

Endlich näherte sich der Moment, auf den er gewartet hatte.

Jeder Augenblick war wie ein Pulverfass: bereit, mit einem ohrenbetäubenden Knall in die Luft zu gehen.

Und er hielt die Zündschnur in der Hand.

Ein verdammt gutes Gefühl – das Wissen, alles unter Kontrolle zu haben. Nichts konnte ihn überraschen, denn alles hing nur von ihm ab.

Ein gottgleiches Gefühl – das auszukosten allein schon den Aufwand wert war.

Der Auslöser war nur noch eine Frage der Zeit.

Seine innere Stimme sagte ihm, dass es nicht mehr lange dauerte. Also genoss er die wachsende Anspannung, die ihn erfasste.

Das Adrenalin, das durch seinen Körper strömte, ließ ihn hypersensibel auf alle äußeren Reize reagieren.

Es gab nichts, das ihm entging.

Selbst in tiefster Nacht konnte er sehen, in Momenten größten Lärms ein Geräusch vom anderen unterscheiden, in absoluter Stille geradezu einen Floh atmen hören.

Seine sechs Sinne waren geschärft – einem Raubtier gleich, das seiner Beute auflauerte.

 

Er fühlte sich wie Gott!

Nein, er war Gott!

Ja, er war Gott.

Kapitel 1

Sanft fuhr die Schaufel des Baggers in den sandigen Boden hinein. Einen Hub nach dem anderen beförderte der Baggerfahrer hinaus und entlud das Erdreich in den danebenstehenden LKW. Zur Rechten des Baggerfahrers prangten eine ganze Reihe von Firmengebäuden, die am Waldrand wie die Pilze aus dem Boden geschossen waren. Hinter dem Firmengelände erhob sich in der Ferne der Schlackenberg der Grube Ensdorf mit dem darauf thronenden Polygon. Zu seiner Linken erstreckten sich nur Felder und Wiesen. Wohnhäuser gab es hier seit fünf Jahren nicht mehr. Das Firmengebäude hinter ihm mit der großen Aufschrift „DynamoCars – die Zukunft hat einen Namen“, hatte vor einigen Jahren das Land neben dem Gewerbegebiet aufgekauft und die Genehmigung für riesige Produktionshallen bekommen.

Die Zukunft war nicht mehr aufzuhalten.

Was hier als Zukunft bezeichnet wurde, waren Elektroautos, die autonom fahren konnten. Wurde der Mensch bald überflüssig? Das bewies die Tatsache, dass alle Anwohner dieser Gegend ihre Häuser verkaufen mussten, damit die Firma genug Platz für ihre Produktion bekam. Bestimmt nicht leicht, sein Zuhause einfach aufzugeben – egal ob das Geld dafür stimmte oder nicht. Vom letzten Haus, das dem Erweiterungsbau trotzen wollte, waren nur noch klägliche Reste zu sehen. Der Kampf gegen den Giganten „DynamoCars“ war aussichtslos gewesen.

Aber darüber wollte der Mann nicht nachdenken. Er bewohnte zusammen mit seiner Frau ein kleines Häuschen am Rand von Saarlouis und fühlte sich dort wohl. In seinem Job bekam er immer wieder neue Aufträge, womit sein Auskommen gesichert war. 

Der Bauboom war seine Unterhaltssicherung.

Außerdem erfüllte es ihn mit Stolz, eine Maschine mit einer Motorleistung von fast fünfhundert PS steuern zu dürfen. Den Job wollte er immer machen und hatte die Ausbildung bis heute nicht bereut. Möge der Tag, an dem auch Hydraulikbagger autonom fahren konnten, erst nach seiner Zeit kommen.

Ohne Unterlass ließ er die große Schaufel im Boden versinken, um immer mehr Erde herauszuheben. Der Gedanke, dass Elektroautos, die im Saarland produziert wurden, ein Aushängeschild für das kleine Bundesland werden sollten, trieb ihn an. Vielleicht war das Saarland auf dem besten Weg, Vorreiter in Sachen selbstfahrende Autos zu werden. Schaden könnte dieses Image bestimmt nicht.

Mit eingeübter Präzision bediente er die schwere Maschine auf Panzerketten, die so exakt zu steuern war, dass er sie auf engstem Raum drehen konnte. Dieser Bagger war ein Meisterwerk der Technik. Kaum vorstellbar, dass es bald etwas Besseres auf dem Markt geben sollte.

Mit diesen Gedanken verrichtete er seine Arbeit, als plötzlich die Arbeiter vor seiner Baggerschaufel mit hektischen Bewegungen herumhüpften, winkten und ihm merkwürdige Zeichen gaben. Wenn er jetzt den Motor abschaltete, bekäme er Ärger mit dem Chef. Galt für ihn doch als oberstes Gebot, die Maschine nur im äußersten Notfall abzustellen. Doch die Jungs gingen ihm nicht mehr aus dem Weg. Im Gegenteil: Sie positionierten sich so, dass er nicht mehr weiterarbeiten konnte. Notgedrungen gab er den Code zum Abschalten auf dem Touchscreen-Monitor ein und kletterte aus dem Cockpit. Mit einem Satz sprang er von der Panzerkette und stellte sich zu den Kollegen, die alle auf etwas starrten, was sich seinen Blicken entzog.

„Was ist los?“

„Da! Schau!“ Einer zeigte mit dem Finger auf etwas zwischen Sand und Geröll. Der Baggerfahrer beugte sich hinab, um es besser erkennen zu können. Ihm stockte der Atem. Vor ihm lag ein Bein – genauer gesagt ein Unterschenkel – in blauem Stoff, der Jeans sein könnte, der Fuß steckte noch in einem schweren Schuh.

*

Mit schleppenden Schritten betrat Lukas Baccus das Landeskriminalamt, steuerte den Aufzug an und ließ sich in den vierten Stock fahren. Erst als er sich unbeobachtet fühlte, verzog er sein Gesicht vor Schmerzen. Es gab keinen einzigen Knochen an ihm, der nicht schmerzte. Oben angekommen versuchte er mehr Schwung in seine Bewegungen zu bringen, damit er nicht auffiel. Doch der Schuss ging nach hinten los. Alle starrten ihn an. Und überhaupt: War er der Letzte an diesem Morgen?

„Was ist mit dir passiert?“, fragte Theo, nachdem Lukas auf seinen Schreibtischstuhl gesunken war.

Theo, sein Freund seit dem ersten Fall, den sie gemeinsam bearbeitet hatten. Viele Jahre verband die beiden inzwischen, wobei nicht immer klar war, ob sie sich liebten oder hassten. Eines war jedoch klar: Keiner konnte ohne den anderen.

Und wie es bei Kriminalermittlern nun einmal war, entging seinem Freund auch nichts. Trotzdem versuchte er, der Frage seines Freundes auszuweichen.

„Was soll diese Frage? Ich habe einfach nur verschlafen.“

„Ich weiß, wie du aussiehst, wenn du verschlafen hast.“

Lukas schaute über seinen Bildschirm hinweg auf den Kollegen, dessen dunkle Augen ihn fixierten. „Du hast recht“, gab er nach. „Ich habe mich mit meiner Maschine abgelegt. Jetzt tun mir sämtliche Knochen weh.“

„Scheiße! Wann? Wo? Wie ist das passiert?“ Theo stand von seinem Platz auf, umrundete die beiden Schreibtische, die sich gegenüberstanden. Er stellte sich neben ihn, stützte sich mit einer Hand auf der Rückenlehne des Schreibtischstuhls und mit der anderen auf dem Schreibtisch ab. Von oben herab schaute er besorgt auf seinen Kollegen und Freund.

„Es ist halb so wild“, wehrte Lukas hastig ab. „Ich wollte die Maschine aus der Garage fahren und für die kommende Saison startklar machen. Dabei bin ich umgekippt und hart auf dem Bordstein gelandet.“

„Du bist eindeutig zu alt für ein Motorrad“, stellte Theo mit Kennermiene fest. „Schau dich mal an: Deine Haare werden grau, deine Falten immer tiefer, deine Knochen porös. Da kannst du von Glück reden, dass du dir nichts gebrochen hast.“

„Jetzt wirst du aber komisch. Meine Haare leuchten rot wie eh und je. Wer hier grau wird, das bist du! Auch wenn du es dir selbst nicht eingestehen willst.“

Erschrocken richtete sich Theo auf und fuhr sich an seine Schläfen, genau die Stellen, an denen sich einige graue Strähnen gebildet hatten.

„Deshalb fahre ich kein Motorrad mehr. Also nimm dir ein Beispiel an mir“, konterte er schwach und kehrte an seinen Platz zurück.

„Hey, ihr Streithähne“, ertönte eine Frauenstimme, die beide aufhorchen ließ.

Kriminalkommissarin Jasmin Hafner trat auf sie zu. Sie war die Jüngste unter den Kollegen und die letzte Kommissaranwärterin, die es noch kurz vor dem Einstellungsstopp geschafft hatte, ihren Platz in der Abteilung für Tötungsdelikte zu sichern. Ihre anmutigen Schritte in den hochhackigen Schuhen klackerten über den PVC-Boden. Dazu trug sie schwarze Leggins und ein enges, rotes Top, das von einer knappen Jacke verdeckt wurde. Dieses Outfit ließ ihr blasses von schwarzen, welligen Haaren umrahmtes Gesicht fast erotisch wirken. Schon lange spürte Lukas ein Flattern im Bauch, sobald die junge Kollegin in seine Nähe kam. In seinen Augen wurde sie von Tag zu Tag schöner. Nur leider wusste er bis heute nicht, was sie in ihm sah.

„Es gibt Arbeit“, fügte sie hauchend an. „Eine Leiche wurde aus der Erde gebuddelt.“

„Das nennt man Leichenschändung. Nicht unsere Baustelle“, murrte Lukas, dem die knisternde Stimmung vergangen war.

„Baustelle ist ein gutes Stichwort.“ Jasmins Grinsen wurde breiter. „Der Tote liegt an der Stelle unter der Erde, die gerade für den Bau der Fabrik eines neuen Autoherstellers ausgehoben wird.“

„Neuer Autohersteller?“, fragten Lukas und Theo wie aus einem Mund.

„Ja. Eine ganz große Sache: DynamoCars.“ Jasmin lächelte geheimnisvoll. „Das autonom fahrende Auto.“

„Irgendwie kommt mir das bekannt vor“, murmelte Lukas. „Da war mal was.“

„Doch jetzt wurden die Arbeiten gestoppt, worüber die Baufirma und der Auftraggeber nicht gerade glücklich sind.“

„Klingt doch nach Arbeit für uns“, stellte Theo fest. „Und wo ist der Fundort?“

„Ich schicke euch die Daten aufs Handy.“

Lukas pfiff durch die Zähne. „Ganz wie bei Navy CIS! Dort geht auch alles über den elektronischen Weg.“

„Die Zukunft ist nicht mehr aufzuhalten.“ Grinsend stöckelte Jasmin davon.

„Nase lang machen, dann einfach gehen“, stammelte Lukas. „Warum kommt sie nicht mit uns?“

„Damit wir unsere Sinne auf den Toten richten und nicht auf Jasmin“, antwortete Theo, der bereits Richtung Ausgang steuerte.

„Spielverderber!“

„Du weißt doch, dass es nicht gerade der Effektivität unserer Arbeit förderlich ist, ein Verhältnis mit einer Kollegin anzufangen.“ Theos Tonfall klang tadelnd.

Lukas spürte, dass der ihm auf den Nerv ging. „Deinen Moralischen darfst du in Zukunft gern zu Hause lassen. Ich darf ja wohl noch träumen.“

„Und ich dachte, dir tut alles weh.“

„Na ja, nicht alles.“

Theo lachte.

Sie steuerten den Dienstwagen an. Theo übernahm das Steuer, was Lukas an diesem Morgen gerne akzeptierte. Die Fahrt zur Dienststelle in seinem eigenen Auto hatte ihm gereicht. Der Sturz mit der schweren Maschine auf seinen rechten Beckenknochen bewirkte, dass ihn die gesamte rechte Seite schmerzte und in seiner Bewegung behinderte. In seinem tiefergelegten Golf mit der harten Federung hatte er jeden einzelnen Stein schmerzhaft gespürt. Unter leisem Stöhnen ließ er sich ganz vorsichtig auf den Beifahrersitz sinken.

„Meine Güte, da muss doch mehr passiert sein als ein einfaches Umfallen mit der Maschine“, stellte Theo fest. Lukas reagierte nicht darauf.

Leise surrend startete der Motor des Audi A6 und die Fahrt ging los.

„Hier fühle ich mich fast wie in meinem eigenen Auto“, schwärmte Theo, „nur mit dem kleinen Unterschied, dass meiner ein Quattro ist.“

„Angeber.“

„Gib es zu, dass du einen Fehler gemacht hast, als du dir das Motorrad gekauft hast. Ein ordentliches Auto kann nichts ersetzen.“

„Ich habe ein ordentliches Auto“, murrte Lukas. „Aber du hast recht. Ich werde meine Maschine verkaufen. Erstens komme ich kaum dazu, das Teil mal richtig zu fahren, und zweitens fehlt mir dadurch die Routine. Der Sturz von gestern reicht mir völlig. Ich will mir nicht ausmalen, wie es mir geht, wenn ich bei hundertachtzig Sachen auf die Fresse falle.“

„Gute Entscheidung.“

Sie erreichten das Industriegebiet am Rande des Saarlouiser Ortsteils Fraulautern, das von Wiesen und Wäldern gesäumt und vom Polygon, dem Wahrzeichen des ehemaligen Bergbaus im Hintergrund überragt wurde.

„Was für eine Kulisse“, staunte Theo. „Dafür, dass es ein Industriegebiet ist, sieht es richtig klasse aus.“

„Stimmt. Wenn du dich erinnerst, haben hier auch mal Leute gewohnt, die der Industrie weichen mussten“, hielt Lukas dagegen und zeigte auf einen Gebäudekomplex, der alles andere in diesem Gewerbegebiet in den Schatten stellte. „Es ging damals genau um diese Firma hier: DynamoCars.“

„Du denkst an den Vermissten, der trotz intensiver Suche nicht gefunden wurde?“

„Genau der! Der wollte einfach nicht hier weg. Aber wie es aussieht, hat DynamoCars den Prozess gewonnen. Sonst würden sie nicht weiter bauen.“

 

Wo die Leiche gefunden wurde, konnten sie sofort an den vielen Menschen erkennen. Die Tatortgruppe, der Gerichtsmediziner und ein Bestattungsunternehmen waren schon vor Ort.

Sie parkten einige Meter entfernt und stiegen aus.

*

Das schwer begehbare Gelände machte für Lukas das Vorwärtskommen zur Tortur. Die Erde war an vielen Stellen aufgerissen. Rohrleitungen lagerten stückweise auf der Seite gestapelt, andere waren bereits im Boden verlegt. Stahlplatten, Kanthölzer, Betonplatten verteilten sich in einiger Entfernung. Eine Planierraupe stand abgestellt daneben. Mehrere Bauwagen in grellem Gelb grenzten das gesamte Baugebiet ab. Ein Bagger von Caterpillar hatte seine Schaufel abgestellt. Davor versammelten sich mehrere Arbeiter und beobachteten das Treiben der vielen Polizisten mit Argwohn.

„Wo steckt Renske?“, fragte Lukas. „Soweit ich weiß, wollte er auch kommen.“

Damit meinte der Kriminalkommissar den Staatsanwalt Helmut Renske, mit dem die beiden Kommissare mehr verband als nur ein Arbeitsverhältnis. Durch die vielen Ermittlungen, die alle von der Staatsanwaltschaft – insbesondere von Renske – begleitet worden waren, ist zwischen ihnen eine Freundschaft entstanden.

„Hat sich bestimmt verfahren“, kam es von Theo.

„Das wird es sein.“

Kaum hatten sie ausgesprochen, sahen sie einen korpulenten Mann im weißen Tyvek-Anzug über den Acker stolpern. Das musste er sein.

 

„Der Ball kommt ins Feld gerollt – heute ganz in Weiß“, stellte Lukas grinsend fest.

„Und du hast wohl Unterricht im Veitstanz absolviert, so wie du über den Acker hampelst“, gab Renske zurück, als er vor den beiden stand.

„Wir sollten unseren Dicken nicht beleidigen“, funkte Theo dazwischen. „Immerhin ist die Staatsanwaltschaft die Mutter des Verfahrens – wir arbeiten zusammen. Schauen wir uns lieber an, weshalb wir uns hier auf dem freien Feld aufhalten. Bestimmt nicht, weil es so schön ist.“

Lukas und Theo hatten inzwischen ebenfalls die Schutzanzüge angezogen. Nun streiften sie noch die Schutzkappen über die Schuhe und eine Haube über den Kopf.

„Warum diese Vorsichtsmaßnahme auf dem freien Feld?“, fragte Theo, als sein Körper komplett in dem weißen Polyethylen-Stoff steckte.

„Weil wir nicht wissen, wie weit der eigentliche Tatort reicht“, antwortete Markus Schaller, Chef der Spurensicherung. Lediglich an seinem obligatorischen Grinsen war der Kollege zu erkennen, da der Tyvek-Anzug auch ihn wie einen Astronauten aussehen ließ.

„Vielleicht bis zu dem Werk dort hinten“, meinte Lukas spitz.

Verständnislos schaute Schaller auf das Gebäude ganz am Ende des langgezogenen Grundstücks, das fast in den Wald hineingebaut worden war. In blauen Leuchtbuchstaben stand: „DynamoCars – die Zukunft hat einen Namen.“

„Oh. Da wisst ihr mehr als ich.“

„Bietet sich doch an. Wie ich das hier verstehe, gehören diese Baumaßnahmen zu genau dieser Firma. Hier sollen Produktionshallen errichtet werden.“

„Das leuchtet ein.“ Schaller grinste noch breiter.

„Kommt ihr noch?“, schallte nun die donnernde Stimme des Gerichtsmediziners über den Acker. „Ich würde den Toten gern heute noch zur Untersuchung mitnehmen.“

„Unser Leichenfledderer kann es mal wieder kaum erwarten“, grummelte Lukas.

„Das habe ich gehört“, war von Dr. Stemm zu vernehmen.

„Der hat ja seine Ohren überall.“

„Stimmt! Und ungeduldig wird er auch“, kam es laut scheppernd als Antwort. Ein gerötetes Gesicht war das Einzige, was sie unter dem Schutzanzug erkennen konnten.

Die Zusammenarbeit mit dem stark präsenten Gerichtsmediziner und den beiden Kriminalkommissaren erwies sich häufiger als schwierig. Dr. Stemm gehörte zu der Sorte Mensch, der seinen Job als Waffe benutzte. Leichenöffnungen waren seine Leidenschaft, während es Baccus und Borg nicht immer gelang, einer Obduktion bis zum Ende beizuwohnen. Doch die Leistungen des Mediziners überzeugten auf der ganzen Linie, weshalb alle gegenseitig zähneknirschend ihre Stärken und Schwächen in Kauf nahmen. Die Aufklärung stand nun mal im Vordergrund.

Nur noch ein paar Schritte, schon standen sie vor dem Fund, der alle Bauarbeiter in Aufregung versetzt hatte. Einige Kollegen der Spurensicherung waren damit beschäftigt, die Erde von dem Toten abzutragen, was sie mit behandschuhten Händen, Schaufeln, Pinseln und Sieben taten. Nach und nach kam mehr zum Vorschein. Das zweite Bein mit Fuß, der ebenfalls noch im Schuh steckte und beide Oberschenkel. Dann begannen sie, den Oberkörper freizulegen. Das Hemd war einst kariert, jetzt fleckig und löchrig. Die Masse, die darunter hervorlugte, sah braun und pelzig aus.

„Was ist das?“, fragte Theo.

„Das könnte Leichenlipid sein“, antwortete Dr. Stemm, wobei seine Stimme zögerlich klang, was man von dem großen, ungestümen Mann nicht kannte.

„Was ist das?“

„Das ist eine Art Fettwachs, der sich auf einer Leiche bildet, wenn die Verwesung durch Sauerstoffmangel nur begrenzt stattgefunden hat. Das passiert hauptsächlich in luftundurchlässigen Lehmböden oder bei Wasserleichen.“

„Lehmboden trifft in unserem Fall zu“, erklärte Markus Schaller. „Wasserleiche wäre übertrieben, auch wenn der Boden hier sehr nass ist.“

„Was heißt das für uns?“, fragte Theo weiter.

„An der Ausbildung des Leichenlipids kann ich errechnen, wie lange der Tote schon dort liegt“, antwortete Dr. Stemm. „Und das, was ich hier sehe, lässt auf eine sehr lange Liegezeit schließen.“

„Fünf Jahre?“, fragte Staatsanwalt Renske.

„Wie kommst du darauf?“, fragte Theo stutzig.

„Vor fünf Jahren ist genau an dieser Stelle ein Mann spurlos verschwunden. Bis heute gibt es keine Spur.“

„Das weißt du einfach so?“ Lukas staunte.

„Als ich hörte, dass der Tote in der Nähe von DynamoCars gefunden wurde und in welcher Situation, bin ich meine Akten durchgegangen. Durch die Digitalisierung findet man alles viel schneller. Im Zusammenhang mit dieser Firma hat es damals einen Fall gegeben, der bei uns gelandet ist.“

„Deshalb deine Verspätung. Und ich dachte, du hättest dich verfahren.“ Lukas grinste.

„Sehr witzig.“

„Und was hat die Leiche mit DynamoCars zu tun?“, erinnerte Theo.

„Die Firma hat damals alle Wohnhäuser aufgekauft, die auf diesem Streifen Land standen. Sie brauchte diese Fläche für den Bau der Firma. Nur einer wollte nicht. Dann verschwand derjenige spurlos. Ich würde sagen, dass er gerade wieder aufgetaucht ist.“

„.Klar!“ Lukas bekam große Augen. „Das war es. Eben wollte es mir nicht einfallen.“

„Was?“, fragte Theo ungeduldig.

„Wir hatten mal einen Mord ohne Leiche.“

„Laut meinen Akten hattet ihr damals in dem Vermisstenfall ermittelt.“ Prüfend schaute der Staatsanwalt auf die beiden Kommissare.

„Jetzt weiß ich es auch wieder. Wir wurden damals abgezogen, als ein Mord inklusive Leiche auf unserem Tisch landete“, korrigierte Theo. „Aber auch für die Kollegen war es schwierig, ohne Leiche zu einem Ergebnis zu kommen. Deshalb müssen wir vorsichtig mit der Behauptung sein, dieser Tote könnte genau der Mann sein.

„Alles gut, Junge“ beschwichtigte Renske. „Auf jeden Fall gibt es darüber eine Akte. Auch über den Kampf um die Häuser des Wohngebiets, die für den Bau der Autofirma geopfert wurden.“

„Das heißt, wir müssen alte Akten heraussuchen.“ Theo stöhnte.

Renske meinte: „Halb so schlimm. Ich hatte sie auch sofort auf dem Monitor. Die Digitalisierung hat schon ihre Vorteile.“

„Wie ich sehe, braucht ihr mich gar nicht mehr“, stellte Dr. Stemm fest. „Die Identität des Toten habt ihr ja schon selbst herausbekommen.“

„Keine Sorge! Ohne dich läuft nichts.“ Theo grinste breit. Es wäre uns sehr hilfreich zu erfahren, woran der Mann gestorben ist.“

„Wenn wir Glück haben, ist die Verwesung durch die ungünstige Lagerung der Leiche soweit behindert worden, dass der Körper unter dem Lipid noch gut erhalten ist. Dann kann ich auch die Todesursache feststellen.“

„Das klingt ja gruselig.“

„Ist es auch. Es sind schon 500 Jahre alte Leichen gefunden worden, die durch Fettwachsbildung fast unverändert geblieben sind.“

„Dann werden wir schnell wissen, ob das unser Mann ist“, stellte Theo fest.

*

Das Gebäude von „DynamoCars“ war im rechten Winkel in den Wald hineingebaut und die Außenwände in Grau gehalten. Es bestand aus zwei Stockwerken mit einem Flachdach. Während sich auf der linken Seite die Büros befanden, konnten Lukas und Theo an den großen Fenstern zur Rechten erkennen, dass der größere Gebäudeteil die Werkshalle darstellte, während sie sich von der Baustelle aus dem Gebäude näherten. Das Einzige, was dem Betrachter sofort ins Auge fiel, war das Firmenlogo mit dem Spruch „DynamoCars – die Zukunft hat einen Namen“ in den Farben Blau und Gelb.

„Erstaunlich, dass es so etwas Fortschrittliches im kleinen Saarland gibt“, stellte Lukas fest.

„Wir haben uns mit dem Thema noch viel zu wenig befasst. Deshalb wussten wir bis heute nicht, was aus DynamoCars geworden ist“, stimmte Theo zu.

Auf dieser Seite gab es keine Möglichkeit, das Gebäude zu betreten. Sie mussten es umrunden, um zum Haupteingang zu gelangen. Ein Mitarbeiter saß am Informationsschalter und erkundigte sich nach der Identität der beiden. Nachdem sie ihre Polizeiausweise vorgezeigt hatten, telefonierte er eine Weile, bevor er seinen Schalter verließ, die Tür öffnete und in Begleitung der Kommissare das Reich von DynamoCars betrat.

Vor ihren Augen bot sich ein lichtdurchfluteter Raum, in dem in strikter Anordnung ein weißer Computertisch neben dem anderen stand. Daran saßen Mitarbeiter, die gebannt auf ihre Bildschirme starrten und die Tastaturen bedienten.

Dahinter lag eine lange Fensterwand, die auf die angrenzende Werkshalle und einen heckengesäumten Hof zeigte. Die Sonne kam gerade hinter Wolken hervor und ließ die Szene schon fast unwirklich erscheinen. Gleichzeitig setzten sich die elektrischen Fensterrollos in Bewegung.

„Das ist ja unheimlich“, zischte Lukas.

„Ich würde eher behaupten, dass es hier moderner zugeht als bei uns im Präsidium.“

Ein kleiner, untersetzter Mann in grauem Anzug und mit sichtlich aufgesetztem Lächeln trat auf die Kommissare zu, streckte ihnen die Hand entgegen und sagte zur Begrüßung: „Mein Name ist Karl-Otto Brache. Ich bin der CEO von DynamoCars. Ich bin darüber informiert worden, was auf unserem Baugelände passiert ist.“

Theo und Lukas zeigten wieder ihre Polizeiausweise.

Karl-Otto Brache führte die beiden durch das langgezogene Großraumbüro in ein separates Zimmer, das an Helligkeit und Minimalistik nicht zu übertreffen war. Lediglich ein weißer Schreibtisch stand vor einer Glaswand, die auf den Waldrand zeigte, der das Firmengelände vom nächsten Wohngebiet trennte.

Erstaunt schauen sich Theo und Lukas um, doch der Schein trog nicht. Es gab weder Schränke noch Regale noch weitere Tische oder Stühle in dem Raum.

Brache ließ sich auf einen weißen Chefsessel nieder, der erst sichtbar wurde, als er ihn bewegte. Dann drückte er einen Knopf, der sich offenbar irgendwo auf seinem weißen Schreibtisch befand und sagte in eine Anlage: „Frau Dewes, bringen Sie mir bitte zwei Besucherstühle herein.“

Eine Tür öffnete sich, die vorher nicht auszumachen war, und eine junge Frau schaute herein. Sie war groß und schlank – schon fast dünn. Ihre dunkelblonden Haare hatte sie in die Form eines Pilzes frisiert – oben lang unten kurz. Dazu passte ihr keckes Lachen, was die Kommissare gern erwiderten. Sie schob zwei weiße Stühle aus Plastik herein und verschwand wieder.

„So, jetzt können wir sprechen“, leitet Karl-Otto Brache die Unterredung ein. Es war ihm anzumerken, dass er gern das Zepter in der Hand hielt.

Lukas und Theo tauschten einen Blick, der besagte, dass sie bei diesem Mann aufpassen mussten.

„Eine Leiche wurde auf Ihrem Baugelände gefunden“, fing Theo an zu sprechen. „Das bedeutet, dass die Baumaßnahmen für eine Weile eingestellt werden müssen.“

„Das kommt mir sehr ungelegen.“ Brache räusperte sich. „Wie Sie sich bestimmt denken können, leisten wir Terminarbeit. Der Bau der Produktionshallen darf nicht aufgehalten werden. Die Herstellung unserer Autos in Serie steht sozusagen schon in den Startlöchern.“

„Ihre Bauarbeiter haben auf Ihrem Grundstück einen toten Menschen gefunden, der tief in der Erde lag. Das lässt darauf schließen, dass der Tote dort vergraben worden ist – also nicht die übliche Vorgehensweise bei einem Todesfall. Diesem Vorfall sollte doch so viel Pietät eingeräumt werden, dass ihm eine gerechte Abwicklung der Umstände, die zu seinem Tod geführt haben, zuteilwird.“

Damit brachte Theo den Firmenchef für einen kurzen Moment aus der Fassung. Doch schnell fand Brache seine alte Fassung wieder und sagte: „Ich trage nicht die Verantwortung für das, was auf dem Baugrundstück passiert ist, bevor es meiner Firma gehörte. Also können Sie DynamoCars nicht dafür verantwortlich machen. Wir bauen Autos für die Zukunft. Wir tragen wesentlich zum Klimawandel und zum Fortschritt bei. Unsere Technik ist revolutionär für das Saarland und für Deutschland und dafür werden wir subventioniert. Glauben Sie, die Gelder fließen weiter, wenn wir unsere Hände in den Schoß legen und uns ausruhen?“

„Wer sagt denn, dass wir Ihre Firma dafür verantwortlich machen?“

„Die Tatsache, dass Sie hier sind, sagt mir das. Und das kommt mir sehr ungelegen, da wir daran arbeiten, an die Börse zu gehen.“

„Es tut mir leid, wenn Ihnen dieser Leichenfund ungelegen kommt“, entgegnete Theo. „Aber nichtsdestotrotz können wir Ihr Gelände erst wieder freigeben, wenn zweifelsfrei geklärt ist, woran der Mann gestorben ist.“

„Das muss ich mit meinen Rechtsanwälten klären“, trumpfte Brache auf.

„Tun Sie das. Der Staatsanwalt wird darauf vorbereitet sein.“ Theos Beherrschung bekam Risse. „Doch nur ein Rat meinerseits: Je eher Sie uns unsere Arbeit machen lassen, umso schneller sind wir fertig.“

Ein unwilliges Brummen sollte wohl Zustimmung signalisieren.

„Was hat Sie dazu bewogen, Ihre Firma genau hier aufzubauen?“ Diese Frage stellte Lukas.

„Was soll diese Frage?“

„Wir stellen die Fragen und Sie geben die Antworten“, stellte Theo in einem Tonfall klar, der von seiner anfänglichen Freundlichkeit nichts mehr spüren ließ.

„Wir haben hier eine perfekte Autobahnanbindung. Weiterhin werden wir von hier ansässigen Firmen mit Material versorgt, ohne weite Wege zurücklegen zu müssen. Das heißt, dass wir vorhandene Ressourcen nutzen, ohne neue zu erschaffen. Außerdem gibt es ein Transportunternehmen, sodass wir für unsere Logistik alles direkt vor Ort haben. Reicht Ihnen das?“

„Völlig.“ Lukas grinste. „Würden Sie uns einen Einblick in Ihre Arbeit geben?“

„Warum?“, schoss Brache sofort zurück. „Ist das für Ihre Ermittlungen relevant?“

„Nein, es ist nur persönliche Neugier. Elektroautos sind für uns Neuland.“

„Wir sind schon einen ganz Schritt weiter.“ Plötzlich blähte sich der kleine, untersetzte Mann auf. „Wie erschaffen nicht nur Elektroautos, sondern autonom fahrende Autos. Das wird weltweit DIE Innovation der Zukunftstechnologien sein. Und das Saarland wird endlich aus der Versenkung auftauchen und die nötige Aufmerksamkeit bekommen.“

Lukas und Theo bekamen ganz große Augen.

„Wow!“, stieß Lukas aus. „Das klingt ja wirklich beeindruckend.“

„Na gut, dann will ich mal nicht so sein“, ließ sich Brache plötzlich herab und meinte in jovialem Tonfall: „Ich lasse Ihnen unseren Erlkönig zeigen, der schon in wenigen Tagen au­tark auf der Straße fahren wird.“

Wieder betätigte der CEO einen imaginären Knopf auf seinem weißen Schreibtisch. Wieder trat die Sekretärin herein.

„Frau Dewes. Zeigen Sie den Herrschaften von der Polizei doch bitte unseren Erlkönig. Ich danke Ihnen.“

Mit einem charmanten Lächeln führte die junge Frau den beiden Kriminalkommissaren voran durch mehrere Büros, Flure und Hallen voller Maschinen, die von Arbeitern bedient wurden, bis sie am Ziel angekommen war.

Vor einem großen Etwas, das mit einem grauen Tuch abgedeckt war, blieb sie stehen.

Sie bat einen Mitarbeiter, das Auto abzudecken, was derjenige auch tat. Zum Vorschein kam ein Auto in einer sportlichen, geräumigen Form dessen Karosserie ein grässliches Weiß-auf-Schwarz-Muster aufwies – das typische Merkmal für den getarnten Prototyp eines Autos. Die Windschutzscheibe zog sich weit über den größten Teil der Front des Wagens. Scheinwerfer waren nur schwer bei diesem Muster auszumachen. Die Seitenscheiben liefen nach hinten spitz zusammen. Das Heck des Wagens war mit einer Rücklichtleiste ausgestattet, die über die gesamte Breite ging.

„Wir nennen ihn Streetfighter – 434 PS, jeweils eine E-Maschine an der Vorder- und eine an der Hinterachse mit einer Reichweite von 550 Kilometern. Somit ist dieses Auto ein Allrad auf Elektromotor und mit der nötigen Computerausstattung, ohne menschliche Steuerung zu fahren. Das erste in dieser Größenordnung auf der ganzen Welt.“

„Wow!“

„In drei Komma fünf Sekunden von null auf hundert. Höchstgeschwindigkeit 240 km/h. Acht Kameras zur Rundumüberwachung inklusive Ultraschallsensoren für Objekte aller Art. Eingebauter Radar mit Signalverarbeitung und und und. Sie sehen, wir haben an alles gedacht, damit dieses Auto zuverlässig auf den normalen Verkehr losgelassen werden kann.“

Sie gingen in die nächste Halle. Dort stand ein sportlicher Flitzer in Eisblau, dessen Flügeltüren geöffnet waren, was dem Auto das Image eines Flugobjektes gab.

 

„Unser Road Speedster“, stellte die junge Frau das Auto vor. “Er wird ebenfalls von zwei Elektromotoren angetrieben, die an Vorder- und Hinterachse 434 kW also 590 PS leisten. Die sollen eine Beschleunigung von 0 auf Tempo 100 in 3,5 Sekunden und in zwölf Sekunden auf 200 km/h ermöglichen, während die Höchstgeschwindigkeit zugunsten der Reichweite bei 240 km/h abgeregelt wird. Die Reichweite des Road Speedster beträgt mehr als 600 Kilometer.“

„Wann findet die erste Testfahrt statt?“, fragte Lukas.

„Wir warten nur noch auf die Freigabe. Der SUV hat nämlich alle Tests bestanden.“ Dabei las die Sekretärin von dem Tablet ab, das sie in ihren Händen hielt.

Theos Blick haftete mehr an Ilka Dewes als an dem Auto. Dafür war Lukasʼ Neugier kaum zu bremsen.

„Und wie läuft das ab? Fährt das Auto einfach führerlos?“, fragte er.

„Nein! Es sitzt natürlich jemand am Steuer. Allein schon dafür, dass die Passanten nicht in Panik geraten.“

„Und was macht man dann als Fahrer ohne Fahrtätigkeit?“

„Man überwacht nur noch.“

„Dann wird doch langweilig“, zweifelte Lukas. „Und am Ende schläft man ein.“

„Das wird nicht passieren. In den Autositzen ist eine Funktion eingebaut, die den darauf Sitzenden sozusagen antippt, wenn derjenige droht einzuschlafen.“

„Das ist ja wirklich Science-Fiction.“ Lukas pfiff durch die Zähne.

„Und dann gibt es da noch den Autopiloten, der mit einem Voice-Centrum ausgestattet ist.“

„Was ist das?“

„Sie kennen doch ‚Alexa‘?“

Lukas und Theo nickten.

„Genau das ist im Autopilot eingebaut. Sie brauchen nur noch zu sagen, was sie möchten, und der Computer setzt es um – sofern Ihr Wunsch seinen Möglichkeiten entspricht.“

*

Total geflasht von den vielen Neuheiten aus der Autobranche verließen Lukas und Theo das Werk von DynamoCars.

„Ich brauche so ein Auto“, schwärmte Lukas.

„Warum? Ich dachte, dir macht es Spaß, selbst zu steuern.“

„Ich stelle mir gerade vor, wie ich hinter dem Lenkrad sitze und zu Alexa sage: Hol mir einen runter!“

„Und dann sagt Alexa: Gerne, wenn du mir Handschuhe leihst.“ Theo lachte laut auf.

„Wie kannst du mir nur sämtliche Illusionen rauben?“

„Du sollst nicht träumen, sondern arbeiten. Also konzentrieren wir uns lieber auf unser Gespräch mit den Bauarbeitern.“ Theo zeigte auf eine kleine Gruppe von Männern, die rauchend und trinkend vor dem Bagger stand und auf sie wartete.

Sie überquerten das freie Feld, wobei Lukas immer noch große Mühe hatte, nicht vor Schmerzen aufzuheulen. Theo griente neben ihm leise: „Für einen Pflegefall wie dich ist das selbstfahrende Auto schon bald die einzige Alternative der Fortbewegung.“

„Damit wäre ich einverstanden, könnte ich es mir leisten.“ Lukas grinste schief.

„Na ja, ein Rollator tut’s auch“, setzte Theo hinzu.

„Dann machen wir Rollator-Rennen und ich werde dich immer besiegen. Ich freue mich jetzt schon drauf.“

„Die Herausforderung nehme ich an.“

Sie stolperten weiter auf die kleine Gruppe von Menschen zu.

„Wissen Sie schon, wen wir da gefunden haben?“, fragte der Polier, als die Kommissare auf sie zutraten.

„Wir haben eine Vermutung, dürfen aber nicht mit Ihnen darüber sprechen“, antwortete Lukas ganz außer Puste.

„Okay, das verstehen wir. Wenn das so ist, können wir uns auch denken, wer das war.“

Die Männer murmelten zustimmend.

„Und an wen denken Sie da?“

„Der Alte, der damals sein Haus nicht verkaufen wollte.“

Lukas nickte. Diese Story war den Menschen hier ebenfalls im Gedächtnis geblieben.

„Und kriegen Sie nach so langer Zeit noch raus, woran der Typ gestorben ist?“, fragte der Polier weiter.

„Auf jeden Fall. Dafür gibt es ja die Gerichtsmedizin.“

„Starke Sache! So, wie der aussah.“

Ein junger Mann drehte sich hastig weg und übergab sich.

„Halte durch, Kilian. Das wird wieder“, meinte der Polier zu dem Jungen und fügte entschuldigend in Richtung der Kommissare an: „Auf Leichenfunde sind wir nicht spezialisiert.“

„Wer ist das schon?“, wiegelte Lukas ab. „Aber nun wollen wir doch zum Thema kommen: Wie lange arbeiten Sie schon auf dieser Baustelle?“

„Ein Jahr.“

„Sind Ihnen in dieser Zeit Menschen auf dem Gelände aufgefallen, die hier nichts zu suchen haben?“

„Sie meinen Protestler?“

„Zum Beispiel.“

„Nein, die Proteste sind schon seit fünf Jahren vorbei.“

„Und sonstige Neugierige?“

„Nein.“

„Wird die Baustelle nachts bewacht?“

„Nein.“

„Dann kann es also vorkommen, dass sich nachts Unbefugte auf das Gelände wagen?“

„Was hätten die davon?“

„Es wäre doch möglich, dass Sie den Täter mit Ihren Grabungen nervös gemacht haben.“

„Nein, da war nichts.“

„Okay. Dann wäre das schon mal geklärt.“ Lukas nickte. „Ist Ihnen – außer dem Toten – noch irgendetwas im oder auf dem Boden aufgefallen, als Sie angefangen haben auszubaggern?“

„Nein. Was sollte uns da auffallen?“ Der Polier schaute auf seine Männer, aber alle verneinten.

„Fundstücke, Dinge, die nicht hierher gehören“, erkläre Lukas.

„Sie meinen, dass der Mann vielleicht etwas mit sich getragen hatte?“

„Zum Beispiel.“

„Wenn es kleine Sachen sind, ist das schwer vom Cockpit des Baggers oder vom Führerhaus des LKWs zu erkennen.“

Die umstehenden Männer verneinten. Bis auf den jüngsten, der immer noch grün im Gesicht aussah.

„Hey Kilian“, brummte der Polier. „Rück raus! Was hast du eingesteckt?“

„Ich habe nichts eingesteckt.“

„Du kannst nicht lügen. Fürs Pokern wärst du ungeeignet. Also raus mit der Sprache!“

Nach einigem Drucksen gab der junge Mann zu: „Ich habe ein altes, verrostetes Messer gefunden.“

„Messer?“, horchten Lukas und Theo gleichzeitig auf.

„Es sieht total alt aus. Ich hatte gehofft, etwas Wertvolles gefunden zu haben.“ Jetzt leuchtete Kilians Gesicht dunkelrot.

„Dann geben Sie uns das Messer. Sollte es nichts mit den Ermittlungen zu tun haben, bekommen Sie es wieder.“

Der Mann steuerte einen der gelben Container an, verschwand darin und kehrte mit einem kleinen Päckchen in der Hand zurück. Er hatte es in Klarsichtfolie eingewickelt, sodass Lukas und Theo sofort die Form erkennen konnten.

„Also ein gewöhnliches Taschenmesser ist das nicht“, murmelte Theo. „Zeigen Sie uns, wo Sie das Messer gefunden haben.“

Der Polier musste nicht lange überlegen. Er kehrte an die Stelle zurück, an der erst vor kurzem die Leiche ausgegraben worden war. Die Kollegen der Spurensicherung arbeiteten dort immer noch. Sie drehten jedes Sandkorn um, in der Hoffnung auf eine verräterische Spur.

„Was wollt ihr hier?“, frage Markus Schaller, wobei sein obligatorisches Grinsen einem mürrischen Ausdruck gewichen war. „Wir haben hier eine elende Sisyphus-Arbeit vor uns. Gerade haben wir eine alte Schaufel gesichert. Ich wäre euch dankbar, wenn ihr keine Spuren kontaminiert.“

„Wir haben selbst erst erfahren, dass ein junger Bauarbeiter hier irgendwo ein Messer gefunden und mitgenommen hat. Er will zeigen, wo.“

Der junge Kilian blieb wie angewurzelt stehen.

„Keine Sorge“, beruhigte Theo. „Die Leiche wurde inzwischen abtransportiert.“

Trotzdem hatte Kilian Mühe, sich an der Fundstelle zu konzentrieren. Sein Gesicht hatte wieder die verräterische Grünfärbung angenommen, dass jedem Mitarbeiter der Spurensicherung angst und bange wurde. Doch zum Glück gelang es ihm, die ursprüngliche Lage des Messers ohne Zwischenfälle ausfindig zu machen. Anschließend rannte er mit Rekordgeschwindigkeit davon.

„Das Messer müssen wir mitnehmen und untersuchen lassen“, sagte Lukas, als sie wieder bei den übrigen Bauarbeitern angekommen waren. „Wenn Sie Glück haben, kommt der Junge mit einer Gratisanalyse über Herkunft und Alter zurück. Das hat nicht jeder.“

*

Im Büro wurden Lukas und Theo bereits von Jasmin Hafner erwartet. Kaum hatten sich die Männer an ihren Schreibtischen niedergelassen, trat sie auf die beiden Männer zu und sagte: „Dr. Stemm konnte inzwischen zweifelsfrei feststellen, dass es sich bei dem Toten um Ulf Brehmer handelt.“

„Wow! Der Junge ist ja richtig schnell.“ Theo pfiff durch die Zähne.

„Er hat es an eindeutigen Merkmalen erkannt, wie z. B. einer Hüftprothese. Anhand der Fabrikationsnummer wurde ihm vom Krankenhaus in Saarlouis mitgeteilt, wer dieses Gelenk bekommen hat.“

„Das ist der Vorteil eines kleinen Bundeslandes“, meinte Lukas dazu. „Hier sind die Wege nicht so weit.“

„Schlaumeier“, brummte Theo.

„Die Todesursache hat er noch nicht herausgefunden“, sprach Jasmin weiter. „Wie ein natürlicher Tod sieht es nicht aus.“

„Wäre auch sehr merkwürdig, denn es kommt selten vor, dass jemand tief im Boden auf einem freien Feld endet.“

„Ihr habt heute Morgen wohl die Weisheit gefrühstückt“, kam es pikiert von Jasmin zurück.

„Nein. Entschuldige“, lenkte Theo hastig ein. „Das sind wichtige Infos für uns. Lukas ist nur mies gelaunt, weil er heute einsehen musste, dass er alt geworden ist.“

„Heute erst?“ Jasmin grinste frech und kehrte an ihren Schreibtisch zurück.

Eine weitere Kriminalkommissarin betrat das Großraumbüro, Monika Blech. Mit ihrer kleinen, rundlichen Gestalt versprühte sie eine Menge Gelassenheit, was dem hektischen Treiben im Großraumbüro zugute kam. Ihr Gesicht war blass und teigig, doch die kleinen, dunklen Augen blickten hellwach. Trotz ihrer Eigenschaft als Ermittlerin hatte sie im Lauf der Jahre ein erstaunliches Interesse für die Forsensik entwickelt, worin sie inzwischen mit besonderen Fähigkeiten aufwarten konnte. So ergaben die beiden Kolleginnen Jasmin und Monika ein perfektes Team, das sich bestens ergänzte.

„Es gibt noch mehr über Ulf Brehmer“, sagte sie.

„Und was?“

„Ulf Brehmer war Witwer. Seine Frau Annegret ist schon lange tot. Mit diesem Haus verband ihn, dass er dort schon mit ihr gewohnt hatte, als es noch ein sogenannter Campingplatz war. Das Gebiet wurde schleichend vom Wochenendwohngebiet zu einem Dauerwohngebiet umfunktioniert, weil die Camper einfach nicht mehr weggegangen sind. Später hieß es Wohngebiet Ostring. Eine Immobilienfirma hat das gesamte Gelände aufgekauft und dann Parzellenweise die Grundstücke an die Camper weiter verkauft. So wurden sie selbst Besitzer ihrer Blockhütten oder was auch immer drauf stand. Ulf Brehmer gehörte zu den ersten, der zugeschlagen hat. Daraufhin hat er nach und nach aus dem kleinen Holzhäuschen ein richtiges Haus gebaut. Anfangs mit seiner Frau zusammen, nach ihrem Tod hat er die Arbeiten allein weiter fortgesetzt.“

„Er war also einer der Ersten im Wohngebiet Ostring?“, hakte Lukas nach.

„Genau!“

„Gibt es Kinder?“

„Nein.“

„Wofür hat er dann so gekämpft, als DynamoCars alles für gutes Geld abkaufen wollte?“

„Gute Frage!“ Monika zuckte die Schultern.

„Und dann ist er einfach so verschwunden und heute Morgen wieder aufgetaucht?“

„Ja. Vor fünf Jahren wurden sämtliche Bewohner des neu entstandenen Wohngebiets Ostring von der Firma DynamoCars gut dafür bezahlt, dass sie von dort verschwinden. Jeder bekam sozusagen sein Haus über Wert abgekauft“, antwortete Monika. „Mit dem Geld war es ein Leichtes, sich woanders eine neue Existenz zu schaffen.“

„Nur Ulf Brehmer wollte nicht?“

„Richtig. Er hat mit allen Mitteln gegen diese Firma gekämpft.“

„Welche Mittel hatte er denn zur Verfügung?“

„Umwelt! Er war Landschaftsgärtner von Beruf gewesen und ein bekennender Umweltfreak.“

„Heute würde man sowas Klimaaktivist nennen.“

Monika lachte.

„Hat er was gefunden, womit er sich gegen einen Giganten wie DynamoCars hätte durchsetzen können?“, fragte nun Theo.

„Leider nicht. Immerhin sind die Häuser – darunter sein eigenes – schon lange vorher gebaut worden. Also konnte er mit Argumenten wie ‚Baustopp wegen Umweltschutzʻ nicht gegenhalten.“

„Und dann ist er spurlos verschwunden?“

„Ja.“

„Wie ist es DynamoCars gelungen, die Baugenehmigung auch ohne dessen Einwilligung zu bekommen? Dafür musste er doch zuerst für tot erklärt werden, was wohl kaum der Fall gewesen sein kann, solange es keine Leiche gab.“ Theo stutzte.

„Das haben wir noch nicht herausgefunden.“ Monika verzog ihr blasses Gesicht zu einer Grimasse. „So schnell sind wir nun auch wieder nicht.“

*

„Gott ist größer als unser Herz und erkennt alle Dinge. Allensbacher entspricht dem Gegenteil: Er hingegen muss über alles haarklein informiert werden.“ Diese Worte tönten laut und monoton durch das große Büro. „Er erwartet euch in seinem Büro.“

Erschrocken hielten Lukas und Theo inne, schauten zuerst sich an und dann auf den dunkel gekleideten Mann, der mit großen Schritten an ihren Schreibtischen vorbeieilte.

Dieter Marx, der Kollege, der immer mit biblischen Sprüchen für düstere Stimmung unter den Kollegen sorgte, sah blass und hager aus. Schon seit geraumer Zeit. Über sein eigenes Befinden äußerte sich Marx niemals. Lediglich seinen Zitaten, die in letzter Zeit immer negativer ausfielen, entnahmen sie, dass etwas nicht mit ihm stimmte.

„Wenn der Hausprediger das sagt, müssen wir uns dem beugen“, meinte Theo kopfschüttelnd und erhob sich von seinem Platz.

Lukas folgte ihm.

Das Büro des Dienststellenleiters Wendalinus Allensbacher war groß, geräumig und lag durch heruntergelassene Jalousien im Halbdunkeln. Lediglich eine kleine Leuchte am Schreibtisch signalisierte, dass hier gearbeitet wurde.

Der mächtige Mann thronte hinter dem übergroßen, dunklen Tisch aus Mahagoniholz, schaute den beiden Kommissaren mit einem Blick entgegen, der töten könnte. Die Spannungen zwischen den beiden und dem erst kürzlich zum Kriminalrat aufgestiegenen Allensbacher waren im Raum deutlich zu spüren.

Er bot den beiden Kommissaren keinen Sitzplatz an. Also blieben sie vor dem Schreibtisch stehen, was Lukas schwer fiel. Sein Rücken schmerzte.

„Ich höre.“ Mehr kam nicht.

Kein Schweißtropfen war in seinem Gesicht zu sehen. Keine Essensreste auf dem Schreibtisch. Nicht das geringste Anzeichen von Unsicherheit oder Nervosität. Die Beförderung hatte aus diesem Mann einen anderen Menschen gemacht.

Theo berichtete, was sie bisher an Fakten zusammengetragen hatten. Allensbachers Reaktion darauf lautete: „Sie werden DynamoCars nicht in die Ermittlungen mit einbeziehen.“

„Wie soll das gehen? Das Gelände gehört der Firma.“

„Das weiß ich. DynamoCars hat nichts mit dem Tod dieses Mannes zu tun. Auch nicht mit sonst einem Verbrechen. Die Firma ist ein Aushängeschild für unser Bundesland. Also werden wir auch nicht den geringsten Hauch eines Zweifels über sie bringen. Habe ich mich klar ausgedrückt?“

„Es wäre für uns aber wichtig, herauszufinden, wie der Erweiterungsbau der Firma möglich war, solange das Opfer nicht für tot erklärt worden ist“, gab Theo zu bedenken.

„Das kann ich Ihnen sagen: Ab einem gewissen Alter werden Menschen nach fünf Jahren für tot erklärt. Ulf Brehmer ist vor fünf Jahren spurlos verschwunden.“

„Karl-Otto Brache hat keine Zeit verschwendet.“ Theo staunte.

„Im Falle dieser Firma ist Zeit Geld.“ Allensbacher warf Theo einen warnenden Blick zu, was den Kommissar dazu veranlasste, das Thema nicht weiter zu vertiefen.

„Sie werden sich mit Ulf Brehmers früheren Nachbarn in Verbindung setzen. Sollte ein Tötungsdelikt vorliegen, dann ist es vermutlich dort zu finden.“

„Was soll das bringen?“, fragte Lukas erstaunt.

„Haben Sie sich mal angesehen, wer damals im Wohngebiet Ostring gewohnt hat?“, stellte Allensbacher eine Gegenfrage.

„Nein.“

„Das Wohngebiet war lange Zeit lediglich ein Campingplatz, auf dem sich unangemeldete Menschen tummeln konnten. Die idealen Bedingungen, wenn man nicht gesehen werden will. Schon mal darüber nachgedacht?“

Kapitel 2

Er hatte es gewusst – er hatte es die ganze Zeit gewusst.

Sein Instinkt hatte ihn nicht verlassen – niemals!

Der Funke war entzündet worden.

Seine Stunde war gekommen.

Wie immer auf alles bestens vorbereitet, konnte die Schlacht beginnen.

Es würde eine Apokalypse der Neuzeit sein.

Ein Hochgefühl stellte sich in ihm ein. Adrenalin schoss durch seinen ganzen Körper.

Er sprang durch die Wohnung, spürte überschüssige Energie, die rausgelassen werden musste.

Lange hatte er daran gearbeitet, dazugelernt, studiert, geübt, wieder verworfen und von vorne angefangen. Doch inzwischen war er auf einem Level, da konnte ihn nichts mehr erschüttern.

Und niemand.

Einen Feind gab es nicht.

Nur Opfer.

Das war es, was für ihn zählte. Nur so würde es ihm gelingen, sein Ziel zu erreichen.

Niemand konnte ihn aufhalten.

Er durchquerte seine Zentrale, checkte jedes noch so kleine Detail.

Jetzt galt es auf das Know-how zurückzugreifen, das er sich angeeignet hatte.

Das war der Moment, den er herbeigesehnt hatte.

Endlich konnte er der ganzen Welt beweisen, was wirklich in ihm steckte.

Er war perfekt, er hatte alles im Griff!

Ja, er war Gott!

 

Mit langsamen Schritten schlurfte Fred Hansen auf die Straße zu. Es war Montagmorgen, das langweilige Wochenende endlich vorbei und er freute sich schon auf die wochentägliche Begegnung mit seiner Lieblingsverkäuferin. Es herrschte wenig Verkehr. Die angenehme Stille signalisierte ihm, dass alles noch ruhig war zu dieser frühen Stunde. Den Blick weiter auf die Füße gerichtet, überquerte er die Straße genau am Zebrastreifen, der extra für ihn dort angebracht worden schien. Seit diese Streifen den Asphalt zierten, machte er sich gar nicht mehr die Mühe, nachzusehen, ob ein Auto kam. Hier hatte er Vorfahrt, oder Vorgang oder Vorrang oder – egal, wie das hieß. Auf der anderen Seite steuerte er die Tankstelle auf dem großen, freien Gelände an. Die junge Frau empfing ihn mit einem Lächeln, dass ihm wie jeden Morgen warm ums Herz wurde. In seiner Fantasie hatte er sie längst vernascht. Leana hieß sie, so viel hatte er schon über sie herausgefunden. Ein schöner Name – sehr passend!

„Wie immer?“, fragte sie.

Sie meinte seinen Kaffee to go, den er wie jeden Morgen dort abholte und damit in seine Wohnung zurückkehrte, wo er ihn in aller Ruhe trank.

Er nickte.

Während sie seine Bestellung zubereitete, schaute er durch die großen Fensterscheiben der Tankstelle und sah einen blauen Himmel, wie er schöner nicht sein konnte. Die Temperaturen waren angestiegen. Die lange Regenzeit machte endlich eine Pause, sodass er lediglich mit T-Shirt unterwegs war.

„Was sagst du zu dem Wetterchen?“, fragte Leana, womit sie ihn aus seinen Gedanken riss.

„So toll, dass ich dich sofort zu einem Picknick einladen möchte“, antwortete Fred schlagfertig.

Doch Leana lachte nur und meinte: „Du weißt doch, dass ich arbeiten muss.“

Eine schwache Ausrede, aber Fred ließ sie gelten. Er hätte ohnehin nicht genug Geld, um ein paar gute Sachen für einen Fresskorb zu kaufen. Also beließ er es beim Alten, nahm den Kaffee entgegen, bezahlte und trat den Rückweg in seine Wohnung an.

Alles war still. Die Vögel zwitscherten und verbreiteten eine heitere Atmosphäre.

Er versuchte, am Kaffee zu nippen, und verbrannte sich wie jeden Morgen seinen Mund daran. Inzwischen müsste er wissen wie heiß das Zeug war.

Er schüttelte den Kopf über sich selbst und ging weiter.

Ein Piepsen auf seinem Handy ertönte. Murrend wechselte er den Kaffeebecher von der rechten Hand in die linke, um nachzuschauen, wer ihm gerade schrieb. Er wartete auf eine wichtige SMS, weshalb er keine Zeit verstreichen lassen wollte. Die Straße war leer, also blieb er kurz stehen und las: „Ey du Versager. Glaub nicht, dass du damit durchkommst.“

Was hatte das zu bedeuten? Er schüttelte den Kopf. Bestimmt war diese SMS nicht für ihn gedacht. Oder doch? Er starrte weiter auf das Display seines Handys – vergaß, wo er sich gerade befand. Das Auto sah er nicht kommen.

Ein Knall war das letzte, was er vernahm – neben einem heftigen Schmerz. Dann wurde alles um ihn herum schwarz.

*

Leana stand an der großen Fensterscheibe zur Ludwigsstraße und schaute Fred nach, wie er mit seinem Kaffee davonzog. Er war ein seltsamer Vogel. Zufällig wusste sie, dass er sich durch einen selbstverschuldeten Unfall sein Leben versaut hatte. Warum er niemals dafür verurteilt worden war, verstand sie nicht. Trotzdem war es mehr als deutlich, dass er keine Anstalten machte, etwas an seiner zerfahrenen Situation zu ändern. Lieber lag er zu Hause herum, lungerte vor dem Fernseher und ließ alles so, wie es war.

Dabei sah er gut aus und hatte etwas auf dem Kasten. Wie er selbst von sich berichtete, hatte er das Abitur bestanden und war mal bei der Uni immatrikuliert gewesen. Aber seit dieser Unfallgeschichte, von der er immer noch behauptete, selbst nicht Schuld daran zu sein, war ihm alles aus den Händen geglitten.

Dabei könnte er sein Leben endlich in die Hand nehmen, könnte das Studium wieder aufnehmen und mit mehr Zielstrebigkeit durchs Leben gehen. Das würde ihn auf Anhieb attraktiver für sie machen.

Sie seufzte.

An einem Loser würde sie nie Gefallen finden, egal wie gut er aussah. Leider hatte sie keinen Einfluss auf sein Leben. Jeglicher Versuch von ihr war abgeprallt. Sie schüttelte den Kopf und wollte sich wieder ihrer Arbeit widmen.

Doch was war das?

Etwas Stromlinienförmiges, wie Leana es noch nie in ihrem Leben gesehen hatte, kam von links. Es war unhörbar und mit einer Lackierung, die einfach nur unwirklich erschien. Schwarze Kringel auf grauweißem Untergrund, die so unruhig in ihren Augen wirkten, dass sie das Gesamtgebilde nicht verstand.

War es ein Ufo? Flogen diese unbekannten Flugobjekte so tief über der Straße? Unhörbar und ungebremst steuerte es auf Fred zu. Der reagierte nicht. Zu ihrem Entsetzen sah sie, dass der sogar auf dem Zebrastreifen stehengeblieben war. Sie schrie auf, doch er hörte sie nicht, weil sie hinter der Scheibe stand.

Mit einem Rumms, den Leana durch die Fensterscheibe und auf diese Entfernung hörte, prallte Fred auf das futuristische Gebilde und wirbelte meterweit durch die Luft.

Dann verschwand er aus ihrem Sichtfeld.

Das Ufo auch.

Alles schien für kurze Zeit stillzustehen.

Auch Leanas Atem.

Erst als sie begriff, was passiert war, rannte sie hinaus auf die Straße. Einige Menschen hatten sich inzwischen dort versammelt. Fassungslos starrten sie auf den Daliegenden. Als Leana ganz nah an Fred herangetreten war, sah sie, dass er tot war. Die Augen standen offen und starrten in den blauen Himmel. Mehrere Blutrinnsale liefen aus seinem Kopf, aus Mund und Nase; andere durchtränkten seine Kleidung. Ein Arm und ein Bein lagen sonderbar abgewinkelt zum restlichen Körper auf dem Boden.

Sie schaute sich um und sah, dass einige telefonierten. Sie selbst hatte ihr Handy im Verkaufsraum der Tankstelle liegenlassen. Hoffentlich riefen sie einen Notarzt an, dachte sie. Dabei war ihr bei dem Anblick klar, dass jede Hilfe zu spät kam.

Plötzlich entstand eine Unruhe in der Menschenmenge.

Sie schaute auf und erkannte den Grund: Der Unfallverursacher war wieder zu sehen.

Er hatte an der roten Ampel angehalten, wie ein Auto. Als Grün wurde, flog er davon.

„Ist das ein Ufo?“, frage Leana schreckensbleich.

„Nein! Das ist ein Auto. Schau doch mal genau hin, es hat vier Räder.“

*

Lukas und Theo standen vor einem Toten, wie sie es noch nie gesehen hatten. Die Arme waren vollständig skelettiert. Ebenso der Kopf. Der Rumpf und die Beine sahen so normal aus, dass es den Eindruck erweckte, sie gehörten zu einem Lebenden. Die Jeans war inzwischen von den Beinen entfernt worden, ebenso die Reste des Hemdes vom Oberkörper. Deutlich zu erkennen war jetzt ein männlicher Oberkörper und Beine, die übersät waren mit einer weißen Masse. Dazu die skelettierten Arme und der Schädel.

„Wir haben es hier mit einer höchst interessanten Leiche zu tun“, donnerte Dr. Stemms Stimme durch den gekachelten Raum. „Die oberen Extremitäten und der Kopf sind vollständig verwest, der Rest mit Leichenlipiden überzogen. Das heißt, dass sich Körperpartien zu einer formlosen Masse umbilden, während andere offensichtlich Sauerstoff abbekommen haben und dadurch verwesen konnten. Die Fettwachsbildung kann schnell ablaufen. Hier vor uns sehen wir die klassische Variante mit pergamentartig vertrockneten Eingeweiden und direkt daneben blanke Knochen.“

„Wo siehst du die vertrockneten Eingeweide?“, frage Lukas, der nur Masse und Knochen erkennen konnte.

„Im Kernspin. Ich habe die Leiche durchleuchten lassen, bevor ich mich an die Obduktion begeben habe.“

„Wow! Kernspin-Untersuchung.“

„Was wir hier vor uns haben, ist nicht die übliche Verwesungserscheinung“, erklärte Dr. Stemm. „Deshalb gehe ich mit besonderer Vorsicht an den Toten ran, um nur ja keine wichtigen Hinweise zu zerstören.“

„Wie sollte es möglich sein, dass du Hinweise zerstörst?“, fragte Theo. „Als Fachmann, der du bist, schwer vorstellbar.“

„Ich weiß leider nicht, ob die Organe zerfallen, sobald sie mit Sauerstoff in Berührung kommen. Daher die Kernspinaufnahme. Ich bin in der Tat ein Fachmann“, brüstete sich der Gerichtsmediziner, „aber einen solchen Fall hatte ich noch nicht.“

„Dann erkläre uns doch bitte, was wir hier haben“, bat Lukas.

„Wir haben hier eine teilweise Fettwachsleiche, mit unterschiedlichen Verwesungsstadien. Sowas kommt vor, wenn die Lagerung der einzelnen Körperteile unterschiedlichen Bedingungen ausgesetzt war. Zum Beispiel müssen Rumpf und Beine in wasserhaltiger Erde ohne Sauerstoffzufuhr gelegen haben, während Kopf und Arme wie durch ein Wunder in sauerstoffreicher Erde lagen. Wie wir hier sehen, ist der dorsale Skelettanteil am Rücken einheitlich von einem Panzer umschlossen. Das bedeutet, dass dieser Teil des Toten luftdicht abgeriegelt war. Und jetzt werde ich den Brustkorb öffnen.“

Lukas schnappte nach Luft.

Dr. Stemm lachte laut – wie immer. Die Herausforderung auf dem Seziertisch hob seine Laune mächtig an.

„Keine Sorge, du Mimöschen. Es sieht vielleicht nicht schön aus, aber dafür stinkt es nicht mehr.“

„Sehr beruhigend.“

„Warum ist Monika nicht gekommen? Die Kollegin ist taff, stellt die richtigen Fragen und fällt nicht ständig in Ohnmacht.“

Damit meinte er Monika Blech, zu der Dr. Stemm inzwischen eine besondere Sympathie entwickelt hatte. Monika hatte sich zur Überraschung aller als äußerst unerschrocken bewiesen was die Öffnung von Leichen betraf.

„Allensbacher bestimmt, wer welche Aufgabe übernimmt“, brummte Lukas. „Als oberster Chef ist er kaum noch zu ertragen.“

„Habe ich auch schon gehört.“ Dr. Stemm lachte. „Da sieht man mal wieder, was ein Karriereschub nach oben aus einem Menschen machen kann.“

Der Rechtsmediziner schritt zur Tat und öffnete den Brustkorb. Die beiden Lungenflügel waren zusammengesunken und schwarzgrau verfärbt. Ansonsten war die Pleurahöhle hohl.

„Interessant“, murmelte Stemm. „Die Lungenflügel beste­hen nur noch aus Pappe, zerbröseln jedoch nicht. Das Herz ist in Leichenlipid gehüllt, der Thymus fehlt, ebenfalls das Mediastinum und die obere Hohlvene.“

„Was bedeutet das?“

„Vermutlich haben sich diese Organe aufgrund der Autolyse bereits verflüssigt, bevor die Bildung des Leichenlipids einsetzte.“

„Autolyse?“

„Mit Autolyse ist der eigentliche Prozess des Leichenabbaus gemeint. Sie setzt kurz nach dem Ableben ein. Körpereigene Enzyme sind über den Tod hinaus aktiv und katalysieren weiterhin chemische Umsetzungen. Dadurch werden Zellen aufgespalten und Zellstrukturen aufgelöst. Weichgewebe, Hohlorgane und Teile des Bindegewebes verflüssigen sich. Das geschieht recht schnell, während sich die Fettwachsbildung erst nach mehreren Monaten einstellt. Nur so ist es zu erklären, dass die Organe teilweise nicht mehr vorhanden sind.“

„Also kein Organhandel?“

„Nein. Dafür müssten Operationsnarben vorhanden sein, wo sie entnommen wurden. Aber da ist nichts.“

„Das kannst du an dem grauen Gekräusel erkennen?“

„Hallo!“, trumpfte Dr. Stemm in seiner vollen Lautstärke auf, dass Lukas und Theo erschrocken zusammenzuckten. „Ihr habt es hier mit einem echten Profi zu tun. Da werde ich solche Hinweise doch wohl nicht übersehen, egal, in welchem Zustand die Leiche ist.“

*

Schon von weitem sahen sie die vielen Schaulustigen. Die Straße war weiträumig gesperrt worden, doch die Tankstelle direkt daneben bot den Neugierigen Schlupfwinkel, um näher an den Ort des Geschehens heranzukommen.

„Ich werde nie begreifen, was Menschen an Todesopfern so sehenswert finden.“ Kriminalkommissarin Jasmin Hafner schüttelte den Kopf.

„Und ich begreife nicht, was wir an einem Unfallort zu suchen haben“, gab Monika Blech zu bedenken.

„Der Mann wurde auf einem Zebrastreifen erfasst.“

„Ja und? Es ist und bleibt ein Autounfall. Oder habe ich irgendwas verpasst?“

„Das werden wir gleich erfahren. Am Handy hieß es nur, dass es Unklarheiten gäbe, weshalb wir kommen sollten.“

Jasmin stellte den Dienstwagen in einiger Entfernung ab. Sie stiegen aus und näherten sich der Unfallstelle, die mit einem grün-weißen Band doppelt abgetrennt worden war. Dahinter sahen sie, dass etwas mit einer Plane zugedeckt worden war. Vermutlich der Tote.

„Hier ist das Interesse der Leute ja noch rätselhafter“, stellte Monika fest. „Es gibt doch nichts mehr zu sehen.“

„Ich kann Sie aufklären, warum hier so viel los ist“, sprach ein uniformierter Beamter, der damit beschäftigt war, die Unfallstelle zu sichern.

„Da bin ich mal gespannt.“

„Es geht das Gerücht um, ein Ufo habe den Mann erfasst, durch die Luft gewirbelt und wieder zu Boden geschleudert.“

„Ein Ufo?“, fragten Jasmin und Monika wie aus einem Mund.