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Eine junge Frau findet ihre Mutter erhängt im Speicher ihres Hauses auf. Kurze Zeit später wird eine weitere Frauenleiche ganz in der Nähe des legendären Litermontkreuzes gefunden. Zunächst deutet nichts darauf hin, dass die beiden Fälle miteinander in Verbindung stehen. Die Polizei nimmt die Ermittlungen auf und kommt auf eine Spur, die weit in die Vergangenheit zurückführt. Während Anke Deister mit ihrem neuen Vorgesetzten Dieter Forseti am aktuellen Fall arbeitet, gräbt der ehemalige Kriminalhauptkommissar Norbert Kullmann alte Akten aus. Die beiden Todesfälle haben längst verschüttete Erinnerungen in ihm wachgerufen; Erinnerungen an einen Fall, der nicht vollständig gelöst worden war. Sollte die Aufklärung viele Jahre später erfolgen? Originaltitel: Tod am Litermont Band 1: Ein ganz klarer Fall Band 2. Kullmann jagt einen Polizistenmörder Band 3: Kullmann kann's nicht lassen Band 4: Kullmann stolpert über eine Leiche Band 5: Kullmann und die Schatten der Vergangenheit Band 6: Kullmann in Kroatien Band 7: Kullmann auf der Jagd Band 8: Kullmann ermittelt in Schriftstellerkreisen Band 9: Kullmann und das Lehrersterben Band 10: Kullmann unter Tage Band 11: Kullmann ist auf den Hund gekommen
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Seitenzahl: 391
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Elke Schwab
Kullmann und die Schatten der Vergangenheit
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
TEIL I 2004
TEIL II 1993
TEIL III 2004
TEIL IV 1993
TEIL V 2004
TEIL VI 1993
TEIL VII 2004
TEIL VIII 1993
TEIL IX 2004
TEIL X 1993
TEIL XI 2004
Impressum neobooks
Elke Schwab
Kullmann und die Schatten der
Vergangenheit
Kullmann-Reihe 5
Dieser Krimi ist die überarbeitete Auflage des Originals:
Tod am Litermont
Kullmann
und die Schatten
der
Vergangenheit
Kullmann-Reihe 5
Elke Schwab
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© Elke Schwab, 2019
www.elkeschwab.de
Covergestaltung: Elke Schwab
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugs-weisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Es fiel Arthur Jennewein mit jedem Mal schwerer, der traurigen Wahrheit ins Auge zu sehen, wenn er vor den Überresten stand, die einmal ein Reitstall gewesen waren. Lediglich an Teilen der Fassade konnte er erkennen, dass in diesem hölzernen Trümmerhaufen früher Pferde gestanden hatten. Die umliegenden Bäume und Sträucher waren in die Höhe geschossen, die kläglichen Überreste von außen nicht mehr sichtbar. Nur wer von dem Pferdestall wusste, fand den Weg dorthin. Mit schwermütigen Erinnerungen an die früheren Jahre seiner Familie ließ er den Blick über den Ort schweifen, in den er große Erwartungen gesetzt hatte – die Hoffnung, seine Tochter Samantha und die Tochter seiner Frau könnten dort glücklich werden. Bilder der beiden Mädchen tauchten vor seinem inneren Auge auf. Samantha ritt auf ihrem großen Braunen über den Reitweg am Stall vorbei, sprang über die Jagdhindernisse mit einer Leichtigkeit, als besäße sie Flügel. Ihr Lachen klang noch in seinen Ohren, ihr blondes Haar leuchtete in der Sonne. Von heute auf morgen hatte sie plötzlich das Interesse daran verloren, ihre Pferde abgeschafft.
Nadine liebte Falada immer noch. Sie hatte das Schimmelpony behalten, obwohl es zu klein für sie geworden war. Aber nach dem Verkauf von Samanthas Pferden konnte das Pony an diesem Ort nicht bleiben; es wäre dort allein gewesen.
Mit Falada war das Leben endgültig aus dem Stall gezogen.
Der Fehlschlag seines Planes war an den Ruinen zu erkennen. Altes, vergammeltes Heu und Stroh lagen im Heuschober, der an die Pferdeboxen angebaut war. Die Holztüren hingen schräg in den verrosteten Angeln. Zu seinem Kummer sah er, dass die alten Wassereimer noch in den Pferdeboxen standen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, solche Kleinigkeiten wegzuräumen. Die angrenzende Reiterstube war erstaunlich gut erhalten. Dort hatte er sich gern niedergelassen und Samantha zugeschaut.
Schweren Schrittes verließ er die Stätte der Vergangenheit, ging über die Wiese auf sein Haus zu, ein ehemaliges Bauernhaus, das er zu einem komfortablen Wohnhaus umgebaut hatte.
Als er näherkam, sah er seine Frau Isolde und Samantha auf den Stufen zur Veranda stehen. Bedrückt stellte Arthur fest, dass sie sich wieder einmal heftig stritten. Es genügte nicht, dass die beiden Töchter einander ablehnten; seine Frau und Samantha verstanden sich ebenfalls nicht. So ungern er es auch zugab, aber Samantha war schon immer ein schwieriges Kind. Sie war fünfzehn, als Arthur und Isolde geheiratet hatten. Für Samantha hatte dieser Schritt eine dramatische Verschlechterung ihrer Rolle in Arthurs Leben bedeutet. Seitdem fürchtete sie um ihre Sonderstellung. Einschränkungen wollte sie niemals hinnehmen, ihr Widerstand war ungebändigt. Mit aller Macht setzte sie ihren Willen durch. Schon lange hatte Arthur seine Versuche aufgegeben, Harmonie in seine Familie zu bringen. Samantha war und blieb uneinsichtig.
Arthur verlangsamte sein Tempo. Eine große Müdigkeit überfiel ihn. Die ständigen Auseinandersetzungen in seiner Familie, die Forderungen, die Erwartungen, die Schuldzuweisungen erschöpften ihn. Dabei wollte er einfach nur glücklich sein, wollte mit Isolde eine harmonische Ehe führen und die Kinder heranwachsen sehen. Aber so einfach war das nicht.
Sein Blick fiel auf seine Frau. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen funkelten böse. Was hatte Samantha wieder getan?
»Du wirst nichts dergleichen tun«, hörte er Isoldes Stimme.
»Dass ich nicht lache«, erwiderte Samantha ironisch. »Was du damals eiskalt fertig gebracht hast, wirst du heute nicht einfach leugnen können.«
»Bevor du mich verurteilst, schau lieber selbst in den Spiegel!«, entgegnete Isolde.
»Mein Weg ist nicht mit Leichen gepflastert«, konterte Samantha mit Unschuldsmiene. »Dir ist es egal, wer draufgeht, Hauptsache, du erreichst dein Ziel.«
»Dann gebe ich dir den Rat, vorsichtiger zu sein! Ich kann auch anders.«
»Oh – du machst mir richtig Angst.« Die junge Frau biss sich auf die Fingernägel, als fürchte sie sich. Doch schon der nächste Satz verriet nichts als Hohn: »Leider habe ich euer Telefonat von Anfang bis Ende mitgehört. Jetzt weiß ich, wo du dich früher herumgetrieben hast – und mit wem. Den Ort werde ich mir mal genauer ansehen, damit ich meinen Vater über dich aufklären kann.«
»Halte dich aus meinem Leben raus! Es geht dich nichts an«, gab Isolde drohend zurück.
»Es geht mich eine ganze Menge an! Du mischst dich schon seit elf Jahren in unser Leben ein. All die Jahre habe ich nach etwas gesucht, womit ich dich loswerden kann. Jetzt habe ich es gefunden. Glaubst du, diese Chance lasse ich mir entgehen?«
»Du weißt überhaupt nicht, wer am anderen Ende der Leitung war«, versuchte Isolde aufzutrumpfen.
»Oh doch! Ich weiß genau, wer das war. Zufällig lese ich Zeitung. Deine Stunden sind gezählt!«
Arthur ahnte, wie gefährlich die Unterhaltung werden konnte. Samantha war unberechenbar, ihre Strategien, Keile in seine Ehe zu treiben, wurden immer raffinierter. Mit einem Räuspern machte er auf sich aufmerksam.
Erschrocken schauten die beiden Frauen in seine Richtung. Isolde war zehn Zentimeter kleiner als Samantha, ihre dünnen Haare hingen formlos um ihren Kopf. Neben Samantha, deren blonde Löwenmähne im Sonnenlicht glänzte, wirkte Isolde hilflos und unscheinbar.
»Ich war gerade an unserem ehemaligen Pferdestall.« Arthur wollte nicht zugeben, was er alles von dem Streitgespräch verstanden hatte.
»Schon wieder?«, stöhnte Samantha. »Hast du nichts Besseres zu tun?«
Sie trug ein T-Shirt und eine enge Jeans, die ihrer Figur schmeichelte, darunter hochhackige Schuhe. Mit einem eleganten Hüftschwung wandte sie sich von Arthur und Isolde ab und stolzierte mit hocherhobenem Kopf durch die Terrassentür ins Haus.
Arthur rief ihr nach: »Pferde waren mal deine große Leidenschaft. Was ist daraus geworden?«
»Willst du wirklich wissen, was heute meine Leidenschaft ist?« Sie schaute zurück zu ihrem Vater.
Arthur schüttelte den Kopf. Die provozierende Art seiner Tochter veranlasste ihn dazu, sie nicht ausreden zu lassen. Er schaute ihr nach, wie sie ins Wohnzimmer tänzelte, bis sie durch den Rundbogen zur angrenzenden Küche aus seinem Blickfeld verschwand.
Er drehte sich zu Isolde um, wollte sie nach dem Inhalt des Streitgesprächs fragen. Aber sie war fort. Allein stand er auf der Terrasse. Er spürte, dass sich ein neues Unheil in seiner Familie zusammenbraute.
*
Das laute Klingeln des Weckers riss Arthur aus dem Schlaf. Übernächtigt öffnete er seine Augen. Sein Blick fiel auf die zweite Hälfte des Bettes. Sie war leer! Und unbenutzt war sie auch. Beunruhigt erhob er sich. Das Fernbleiben seiner Frau ließ ihn Schlimmes ahnen. Aber er hatte keine Zeit, nach ihr zu suchen. Heute war Donnerstag, der Tag, der früh begann und spät endete, weil er von morgens bis abends Sprechstunde hatte.
In der Küche traf er niemanden an. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als selbst für sein Frühstück zu sorgen. Kaum lief die Kaffeemaschine, betrat Samantha die Küche. Ihre Haare standen in alle Richtungen, ihr Hemd war durchsichtig. Darunter trug sie nichts.
Kokett grinste sie ihren Vater an.
»Kannst du nicht in einem normalen Zustand in die Küche kommen?«
»Gefalle ich dir nicht mehr, Papi?«
Verärgert verließ Arthur das Haus, ohne seinen Kaffee zu trinken.
*
Die Morgendämmerung brach herein. Die Nachttischlampe war noch eingeschaltet. Das Licht zeigte keine Wirkung mehr, die aufgehende Sonne vertrieb Nadines innere Dämonen. Sie stand auf und stellte sich vor das Fenster. Ihr Blick fiel auf den Garten und den einmündenden Feldweg, der zu den Stallungen führte, wo vor Jahren ihr Pony gestanden hatte. Schön war der Anblick. Nur warum konnte sie sich nicht daran erfreuen? Mit Schrecken fiel ihr der seltsame Anruf des letzten Abends ein. Sie hatte gelauscht – das erste Mal in ihrem Leben. Ihre Mutter hatte rätselhafte Dinge über Nadine gesagt, von Ereignissen gesprochen, die schon elf Jahre zurücklagen. Und doch hatte Nadine nichts davon verstanden. Von ihrer Kindheit wusste sie wenig – nur dass sie oft bei Opa Jakob war, der in einem Haus in Nalbach wohnte. Erinnerte sie sich wirklich daran oder hatte ihre Mutter für sie Einzelheiten erfunden, um ihrer Kindheit einen Rahmen zu schaffen? Denn in Wirklichkeit konnte sich Nadine an nichts erinnern. Ihre Zweifel waren seit dem gestrigen Telefonat stärker geworden. Schon lange begleitete Nadine das Gefühl, das schwarze Loch ihrer Erinnerungen bedeute etwas Unheilvolles.
Kurz nach dem Streit am Telefon hatte ihre Mutter wütend das Haus verlassen.
Nadine war in der Nacht durch lautes Poltern geweckt worden. Hatte ihre Mutter hinter dem Lärm gesteckt? Was war geschehen?
Nadine fröstelte. Sie kleidete sich an und ging hinunter, um nachzusehen, ob sich ihre Mutter in der Küche aufhielt. Aber dort war sie nicht. Stattdessen sah sie Samantha am Tresen stehen und Mineralwasser aus der Flasche trinken. Im Wohnzimmer war ihre Mutter auch nicht. Verwundert stieg Nadine die Treppe wieder hinauf und näherte sich der Schlafzimmertür ihrer Eltern. Sie klopfte, es kam keine Antwort. Leise öffnete sie, weil sie ihre Mutter nicht wecken wollte, sollte sie noch schlafen. Aber das Bett war nur auf Arthurs Seite zerwühlt. Die Hälfte ihrer Mutter wirkte unbenutzt.
Sie stand mittlerweile vor Samanthas Zimmer. Dort brauchte sie nicht nachzusehen. Sonst gab es nur noch die Tür zum Speicher, der direkt über der Garage lag. Konnte es sein, dass das nächtliche Poltern ausgerechnet von dort gekommen war? Aber was hätte ihre Mutter um Mitternacht im Speicher zu suchen? Die Antwort würde Nadine nur finden, indem sie hineinsah. Eine Weile zögerte sie, in der Hoffnung, ihre Mutter käme die Treppe hinauf. Aber nichts dergleichen geschah; ihre Mutter kam nicht. Zaghaft näherte sich Nadine der Speichertür. Plötzlich knallte es laut. Erschrocken zuckte sie zusammen, wich einige Schritte zurück. Sekunden später erkannte sie an Samanthas unflätigem Geschimpfe, dass wohl eine Flasche zu Bruch gegangen war.
Nadine richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Speicher. Sie lauschte, hörte aber nicht das Geringste. Wenn ihre Mutter sich dort aufhalten sollte, war sie mucksmäuschenstill. Nadine klopfte. Keine Reaktion. Wieder klopfte sie, wieder hörte sie nichts. Auch auf ihr Rufen erhielt sie keine Antwort. Entschlossen drückte sie den Türgriff herunter. Leise sprang die Tür auf. Der Speicherraum reichte bis unter die Spitze des Dachs.
Nadines Blick fiel sofort auf sie.
Der Schreck fuhr ihr durch alle Glieder. Mit zitternden Knien betrat sie den großen Raum. Neben der Tür ertastete sie einen Lichtschalter. Sie legte die Hand darauf, zögerte eine Weile, bis sie endlich den Mut aufbrachte, das Licht einzuschalten.
Sie hatte sich nicht getäuscht. An einem der starken Holzbalken, die quer von einer Schräge zur anderen verliefen, hing ihre Mutter.
»Es gibt Arbeit für uns!« Kriminalkommissar Bernhard Diez war der Überbringer dieser Botschaft am frühen Morgen. Noch nicht lange im Kommissariat für Tötungsdelikte, vor kurzem seine Prüfung im Kriminalfachlehrgang bestanden und am Anfang seiner Karriere als Kriminalbeamter, trieb ihn großer Ehrgeiz an.
Anke Deister fühlte sich neben dem jungen Kollegen nicht nur weise, sondern leider auch müde, weil ihre kleine Tochter sie die ganze Nacht auf Trab gehalten hatte.
»Eine Frau hat sich erhängt«, fügte Bernhard an, was Anke sofort zu einem Kommentar veranlasste: »Das klingt nach Selbstmord.« Sie spürte nicht das geringste Bedürfnis, so früh am Morgen an einen Tatort zu fahren.
Aber Bernhard ließ nicht locker. »Sehe ich auch so. Aber der Gerichtsmediziner hat Auffälligkeiten diagnostiziert, die einen Selbstmord in Frage stellen.«
Sie betraten das Büro ihres Vorgesetzten Dieter Forseti. Die Kollegen Jürgen Schnur, Esther Weis und Erik Tenes warteten schon.
Kriminalhauptkommissar Forseti begann zu sprechen: »In Dillingen-Diefflen hat eine junge Frau ihre Mutter erhängt auf dem Speicher gefunden. Die Kollegen der Spurensicherung sind schon vor Ort. Der Gerichtsmediziner hat Spuren an der Toten gefunden, die auf einen Kampf hindeuten. Nach Rücksprache mit Staatsanwalt Foster werden wir den Fall übernehmen. Anke, Erik und Bernhard, Sie fahren zum Tatort!«
Die drei Angesprochenen nickten.
An Esther Weis und Jürgen Schnur gerichtet fügte er an: »Sie beide sehen in der Datenbank nach, was wir dort über die Familie gespeichert haben!«
»Wer ist die Tote?«, fragte Anke.
»Sie heißt Isolde Jennewein, ist die Frau des Allgemeinmediziners Dr. Jennewein und hat eine siebzehnjährige Tochter, die sie gefunden hat.«
Zum Abschluss der Besprechung überreichte er Anke die wenigen Notizen, die er bisher über den Fall gemacht hatte.
Der Weg führte über die Autobahn A 620 vorbei an Völklingen mit der Röchlingschen Hütte, weiter in Richtung Saarlouis, das sie hinter sich ließen. Sie verließen die Autobahn und passierten die Dillinger Hütte, die einen unangenehmen Geruch verbreitete. Weiter ging es über eine breite Umgehungsstraße.
Sie erreichten Diefflen, folgten der Hauptstraße durch das Dorf, bis ein Schild auf die Straße Augrät hinwies, wo sie rechts abbogen. Nach wenigen Metern gelangten sie ans Ziel.
Das Haus der Familie Jennewein erwies sich als Bauernhaus im lothringischen Baustil, daran zu erkennen, dass sich Scheune und Wohnhaus unter einem Dach befanden. Rechts prangte das Scheunentor in seiner halbrunden Form aus dunklem Holz, das heute als Garagentor diente. Links daneben schmückten kleine Fenster die braunweiße Fassade. Ein auffälliges Gemälde von zwei schweren Pferden, die jeweils ein Kummet trugen, zierte die Front. Es drückte Nostalgie aus. Eine Laterne mit drei Leuchtern stand direkt davor. Das Erbauungsjahr war über dem ehemaligen Scheunentor in Stein gehauen: Anno 1900.
In diesem Haus sollte ein schreckliches Verbrechen geschehen sein? Es war fast nicht zu glauben. Nur das grünweiße Absperrband mit der Aufschrift »Polizei« wies darauf hin, dass die Idylle Risse bekommen hatte. Einige Polizeifahrzeuge blockierten mit blinkendem Blaulicht die schmale Straße. Neugierige Fußgänger versammelten sich und versuchten, etwas zu erfahren. Aber das Einzige, was sie zu hören bekamen, war das Schnäuzen und Husten eines Polizisten, der nicht nur mit den Schaulustigen, sondern auch mit seiner Erkältung zu kämpfen hatte.
Theo Barthels, der Leiter der Spurensicherung, trat vor das Haus. Er gab Anke, Erik und Bernhard seine ersten Untersuchungsergebnisse bekannt: »Es gibt keine Einbruchspuren. Dafür Spuren der Verwüstung in der Küche, im Esszimmer und im Wohnzimmer. Die Tochter des Arztes, Samantha Jennewein, behauptet, dass diese Spuren von ihr stammen. Das kann ich erst bestätigen, wenn ich alles genauer untersucht habe.« Theo holte tief Luft und fuhr fort: »Der Fundort der Toten weist keine Kampfspuren auf. Allerdings die Tote selbst. Wir sind vorerst mit unserer Arbeit fertig. Der Gerichtsmediziner wartet noch auf Sie, bevor er die Leiche abtransportieren lässt.«
Die Polizeibeamten zogen sich Plastikschuhe über, bevor sie das Haus betraten.
Ein röhrendes Geräusch zog Ankes Aufmerksamkeit auf sich. Sie schaute sich um und sah, wie ein schwarzer Porsche Carrera 911 im Schritttempo an den quer parkenden Polizeifahrzeugen vorbeifuhr. Die Scheiben des Wagens waren schwarz getönt, von den Insassen nichts zu erkennen. Während der Sportwagen das Haus der Familie Jennewein passierte, dröhnte er geräuschvoll. Mit starker Beschleunigung schoss er davon.
Bernhard und Erik hielten sich bereits im Haus auf. Sie hatten weder den Porsche noch Anke beachtet. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als ihren Kollegen zu folgen.
Der Eingang glich einem Foyer. Der Zugang zu dem ganz in Mahagoniholz eingerichteten Esszimmer war offen. Ein Rundbogen gab den Blick in ein großes Wohnzimmer mit Panoramafenster frei. Viel Licht strömte in die großen Räume.
Der Weg zur Toten führte über eine schmale Treppe nach oben in den ersten Stock. Der Flur wirkte im Gegensatz zum Erdgeschoss dunkel und eng. Das einzige Licht, das dort hereindrang, kam von dem kleinen Fenster des Treppenaufgangs. Vor einer geöffneten Tür wartete der Gerichtsmediziner. Dr. Wolbert trat zur Seite und ließ die Polizeibeamten hinein.
Diffuses Tageslicht tauchte den Raum in geheimnisvolles Zwielicht. Wie dünne Schleier hing Staub in der Luft und bewegte sich lautlos und geisterhaft. Spinnweben zogen sich durch den Raum und glitzerten in den vereinzelten Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch die kleine Dachluke bahnten.
Eine schlanke Gestalt lag auf dem Boden. Der Strick war durch einen Messerschnitt vom Dachbalken abgetrennt worden. Die Schlinge lag noch um den Hals der Toten.
Dr. Wolbert zeigte auf große blaue Flecke an beiden Armen, im Gesicht, über dem rechten Auge und unterhalb der Schlinge, wozu er erklärte: »Diese Blutergüsse sind noch zu Lebzeiten entstanden, weil sich das Blut im umgebenden Gewebe verteilt hat. Bei einer post mortem entstandenen Prellung würde kein Rückfluss mehr aus den Kapillaren erfolgen. Das heißt, unter diesen Umständen wären diese großflächigen blauen Flecke nur kleine Punkte.«
»Das bedeutet?«
»Dass vor Eintritt des Todes ein Kampf stattgefunden hat.«
*
Im Wohnzimmer warteten die Familienangehörigen auf die Polizeibeamten.
Das große Fenster zeigte zu einer Terrasse, die die gesamte Rückseite des Hauses einnahm. Ein gepflegter Rasen leuchtete im saftigen Grün, dahinter begann offenes Feld. Ein Trampelpfad führte durch ein verwahrlostes Wiesenstück und machte eine Linksbiegung, bis er hinter Hecken verschwand.
Die Einrichtung des Zimmers wirkte feudal, dafür ungemütlich. Die Fensterseite war kahl, keine Pflanzen, keine Gardinen, nichts. Die Couchgarnitur aus dunklem Leder beherrschte den gesamten Raum. Ein Fernseher mit Dolby-Surround-Anlage nahm den größten Teil der dunklen Schrankwand ein, die auf der kurzen Seite des Zimmers stand.
Ein älterer Herr trat auf Anke zu und stellte sich als Dr. Jennewein vor. Sein rundliches Gesicht bedeckte ein Schweißfilm, die Wangen waren unnatürlich gerötet, seine Augen rot unterlaufen, als habe er geweint. Sein graues, kurz geschnittenes Haar klebte schweißnass an seinem Kopf. Eine junge Frau mit auffallend blonder Mähne stand vor dem Fernseher und trank Mineralwasser aus der Flasche. Eine zweite Frau saß auf einem Sessel, den Kopf in beide Hände gestützt. Deutliche Spuren von Schmerz zeichneten ihr schmales, blasses Gesicht. Dr. Jennewein stellte sie als seine Stieftochter Nadine vor.
Nadine machte sich nicht die Mühe aufzusehen. Sie verharrte in ihrer Haltung, den Blick zu Boden gerichtet. Als Dr. Jennewein seine Tochter Samantha vorstellen wollte, übernahm die junge Frau diese Aufgabe selbst.
Während Anke die blonde Frau beobachtete, fielen ihr blaue Flecke an Samanthas Unterarmen auf. Sie waren groß und dunkel, also noch frisch.
Sofort fragte sie: »Wo haben Sie sich diese Blutergüsse zugezogen?«
Verwirrt schaute Samantha auf ihre Unterarme, zog ihre Ärmel darüber und meinte abweisend: »Keine Ahnung! Habe mich wohl gestoßen.«
Die Polizeibeamten sahen sofort, wie Dr. Jennewein blass wurde. Verwirrt wanderte sein Blick von Anke zu Samantha und wieder zurück, bevor er sich einschaltete: »Samantha! Antworte bitte richtig!«
»Ist ja schon gut! Ich hatte gestern Abend wilden Sex. Dabei bin ich mit den Armen an die Bettkante gestoßen«, platzte Samantha provozierend heraus. »Gefällt dir die Antwort besser?«
Nun wurde Dr. Jennewein puterrot. Mit zusammengebissenen Zähnen knurrte er: »Du bist unverbesserlich.«
»Dann möchten wir wissen, wann und mit wem!« Anke ließ sich nicht von der Provokation beeindrucken.
»Seid ihr immer so neugierig?«
»Ihre Beleidigungen können Ihnen schaden«, belehrte Erik. »Sie machen sich verdächtig, Ihre Stiefmutter ermordet zu haben.«
»Die Alte hat sich doch erhängt«, trotzte Samantha. »Wie kommen Sie da auf Mord?«
»Sehen Sie? Sie wissen nicht alles«, gab Erik zurück. »Also beantworten Sie die Frage meiner Kollegin!«
»Ich kann leider den Namen meines Partners der letzten Nacht nicht sagen, weil er verheiratet ist. Wir haben uns darauf geeinigt, dass die Sache unter uns bleibt.«
»Das reicht jetzt«, wurde Erik ungeduldig. »Frau Jennewein, Sie kommen mit.«
»Um Gottes Willen!« Der Vater klang panisch. »Das können Sie nicht tun.«
»Wir wollen einen Fall aufklären«, stellte Erik klar. »Wenn Sie nicht zur Mitarbeit bereit sind, müssen wir so handeln.«
»Samantha! Warum sagst du nicht, mit wem du gestern zusammen warst?«
»Mein Alibi heißt Berthold Bracke. Man kennt ihn in der Stadt. Keine große Leuchte, dafür ein großes Tier. Nicht wahr, Papi?« Samantha grinste.
Ihr Vater atmete erschrocken ganz tief durch.
Was nun kam, fiel den Beamten am schwersten.
Nadine, die leibliche Tochter der Toten, saß immer noch zusammengekauert auf dem Sofa. Bis jetzt hatte sie kein Wort gesagt, wirkte ganz versunken in ihrer Trauer, als sei sie die einzige im Raum, die Isolde Jenneweins Tod beklagte.
Dünne, braune Haare rahmten ihr schmales, blasses Gesicht ein. Leere Augen lagen tief in ihren Höhlen. Düster und freudlos schauten sie zu Anke, der dieser Blick durch Mark und Bein ging.
»Du hast deine Mutter gefunden«, begann Anke.
Nadine nickte.
»Gab es Anzeichen, dass deine Mutter sich das Leben nehmen wollte?«
Nach einigem Zögern sprach Nadine: »Meine Mutter hat sich nicht selbst umgebracht. Sie sprach immer davon, wie schön ihr Leben sei, jetzt, wo wir eine Familie sind.«
»Familie, dass ich nicht lache«, ertönte die hämische Stimme von Samantha. »Mein Vater hat dich nicht adoptiert und hatte es auch nicht vor. So etwas nennst du Familie?«
Aber Nadine hörte nicht, welche Boshaftigkeiten Samantha ihr an den Kopf warf. Als lebte sie in ihrer eigenen Welt, sprach sie weiter: »Niemals wollte sie ihr Leben selbst beenden. Sie hatte doch alles, was sie wollte.«
»Klar! Vaters Geld«, warf Samantha giftig ein.
»Samantha, es reicht jetzt«, störte Arthur Jennewein seine Tochter.
Staunend fragte Erik: »Warum haben Sie Nadine nicht adoptiert?«
»Mein Vater adoptiert nicht jede dahergelaufene Göre«, funkte Samantha schon wieder dazwischen.
Nun wurde Erik wütend. Anke sah, wie seine Kiefer zu mahlen begannen, ein Zeichen, dass ihm die Beherrschung immer schwerer fiel.
»Ich beginne zu verstehen, was hier in der Familie abläuft«, meinte er.
Samantha lachte boshaft. Der Vater versuchte sie zu stoppen, aber vergebens. Gegen sie war er machtlos.
»Dann sind Sie der Erste. Was hier abläuft, hat bisher noch niemand gepeilt. Selbst mein lieber Herr Papa noch nicht.«
»Wie lange waren Sie verheiratet, Herr Dr. Jennewein?«, fragte Anke.
»Elf Jahre«, antwortete der Arzt, wischte sich dabei den Schweiß von der Stirn. Er wirkte, als hätte er selbst einen Arzt nötig.
»Wie war Ihre Ehe?«
»Isolde war eine wunderbare Frau«, begann er. Mit wackeligen Beinen bewegte er sich auf den Sessel zu und ließ sich hinein sinken. Er fügte an: »Unsere Ehe war gespickt mit Pannen, weil unsere Töchter sich nicht vertragen. Trotzdem waren wir glücklich miteinander. Isolde war eine stille, angenehme Frau, der nichts zu viel war.«
»Sie hat sich angebiedert, dass ich bei der Erinnerung daran noch kotzen muss«, präzisierte Samantha diese Aussage auf ihre charmante Art.
»Wie wäre es, wenn Sie Ihren Vater mal ausreden lassen?«, ermahnte Anke.
»Isolde hatte es in ihrem Leben nicht immer leicht gehabt«, fuhr Dr. Jennewein fort.
»Klar, hat sich einen Balg andrehen lassen«, war wieder Samantha zu hören.
»Samantha!«, ermahnte der Vater energisch. »Deshalb war ich der Meinung, dass sie es verdient hätte, an meiner Seite ein schönes Leben zu genießen. Aber wie gesagt: So einfach war das nicht.«
»Ja, das ist uns inzwischen klar geworden.« Ankes Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf Nadine. »Warum hast du im Speicher nach deiner Mutter gesucht?«
Eine Weile blieb alles still, bis Nadine sich räusperte und antwortete: »Ich habe in der Nacht ein lautes Poltern gehört. Als ich meine Mutter am Morgen nicht in ihrem Schlafzimmer fand, fiel mir das seltsame Geräusch wieder ein.«
»Hat sonst noch jemand etwas gehört?«, fragte Erik.
Arthur und Samantha verneinten.
»Ich habe erst heute Morgen festgestellt, dass meine Frau die ganze Nacht über nicht in ihrem Bett war«, erklärte Arthur.
»Haben Sie Ihre Frau gesucht?«
»Nein. Ich bin zur Arbeit gegangen. Ich dachte mir, dass sie ihre Gründe hatte, die Nacht woanders zu verbringen.«
»Wo hätte Ihre Frau dazu Gelegenheit?«
Auf diese Frage gab Arthur Jennewein keine Antwort.
»Warum sind Sie mit der ungewöhnlichen Situation heute Morgen so unbesorgt umgegangen?«
»Wir hatten … Probleme«, murmelte Arthur widerwillig.
Deutlich spürten die Beamten, dass er etwas verschwieg.
Anke wandte sich wieder an Nadine und fühlte sich dabei, als wollte sie sich einem scheuen Fohlen nähern, das große Angst vor Menschen hat.
»Wie alt warst du, als deine Mutter und Dr. Jennewein geheiratet haben?«
»Sechs Jahre.«
»Warst du froh über die Ehe deiner Mutter?«
Nadine schaute Anke eine Weile an, bevor sie sagte: »Ich glaube schon.«
»Warum glaubst du nur? Weißt du es nicht?«
Nadine überlegte. Heftig atmete sie ein und aus. »Ich erinnere mich nicht mehr so genau.«
Diese Antwort machte Anke stutzig. Wie konnte Nadine eine große Veränderung in ihrem Leben vergessen?
»Woran erinnerst du dich nicht mehr?«
»Wie das war, als meine Mutter und Arthur geheiratet haben«, erklärte Nadine. »Es ist schon so lange her.«
»Woran erinnerst du dich denn?«
»Daran, dass ich ein Pony geschenkt bekam«, antwortete Nadine. Ihr Blick wurde schlagartig weich. »Ein Schimmelpony mit dem Namen Falada. Das hat mir Arthur geschenkt.«
»Wo ist Falada jetzt?«
»Es steht bei Opa Jakob in Nalbach. Er hat außerdem noch Ziegen, Schafe und Gänse. Dort ist Falada in guter Gesellschaft.«
Anke schmunzelte bei der Aufzählung der Tiere.
»Reitest du noch?«
»Nein. Inzwischen ist Falada zu klein für mich. Aber behalten werde ich sie ihr ganzes Leben lang.«
Die Worte klangen schwärmerisch. Anke spürte, dass Falada ein wichtiger Bestandteil im Leben der jungen Frau war.
»Haben Sie auch Pferde?« Mit der Frage richtete sich Erik an Samantha.
»Ich hatte welche. Zwei, um es genau zu sein. Und zwar richtige – keine Ponys.«
»Wo sind Ihre Pferde jetzt?«
»Die habe ich verkauft. Habe kein Interesse mehr am Reiten.«
Arthur Jennewein schüttelte den Kopf und bemerkte: »Da versucht man alles, damit die Kinder ein ausgefülltes Leben haben. Aber das Ergebnis ist gleich Null. Sie müssten unseren Stall mal sehen. Früher war er das reinste Pferdeparadies, heute stehen dort nur noch Trümmer. So viel zu meinen Bemühungen, Samantha ein guter Vater zu sein. Vielleicht ist es mir bei Nadine besser gelungen.«
»Du bist nicht Nadines Vater, kapier das doch«, mischte sich Samantha ein.
Anke spürte die Frage aufkeimen, wie Nadines Leben ab sofort aussehen würde. Sie schaute sich die junge Frau genau an. Nadine war so dünn, als bestünde sie nur aus Knochen und Sehnen, ihre Gesichtsfarbe so blass, als sei sie blutleer. In ihren Augen war ein tiefer Schmerz zu sehen, aber sie sprach ihn nicht aus – schrie ihn nicht heraus. Sie wirkte auf Anke, als habe sie nicht gelernt, Gefühle zu zeigen. Bei ihrem Anblick bekam Anke einen Vorgeschmack auf die Einsamkeit, die Nadine in dieser Familie erwartete.
»Dein Opa lebt in Nalbach?«, fragte sie.
»Das ist nicht Nadines Opa, sondern meiner«, hörte Anke schon wieder Samanthas Stimme.
Sie beherrschte sich, als sie weiterfragte: »Hast du ein gutes Verhältnis zu Opa Jakob?«
Nadine nickte.
Diese Antwort gefiel Anke. Sie ahnte, dass Nadine dort im Fall der Fälle eine Zuflucht finden könnte.
Sie stellte sich an das große Panoramafenster und ließ ihren Blick über die herrliche Aussicht schweifen. Natur über Natur erstreckte sich dort vor ihren Augen. Eigentlich müsste es schön sein, hier zu leben. Hinter den großen Feldern und vereinzelten Häusern erhob sich ein bewaldeter Berg, auf dessen Spitze etwas Weißes leuchtete. Ankes Augen hafteten an dem rätselhaften Punkt. Fast hätte sie die Abfahrt ihrer Kollegen verpasst.
Bevor sie in den Dienstwagen einstieg, berichtete sie Erik von dem Porschefahrer.
»Hast du dir denn die Nummer gemerkt?«
»Klar! Für wie dumm hältst du mich eigentlich?«
Dazu sagte Erik nichts.
Die Hauptstraße in Diefflen wirkte belebt zur morgendlichen Stunde. Die Sonne lockte frohgelaunte Menschen auf den kleinen Marktplatz. Die Frauen trugen Einkaufskörbe; die Männer eilten in die Kneipen.
»Ein lustiges Treiben herrscht in diesem Dorf«, stellte Erik fest, der auf dem Beifahrersitz saß und alles in Ruhe beobachten konnte. »Es sieht so aus, als würde hier jeder jeden kennen.«
»Das sieht nicht nur so aus«, nickte Anke, die im Fond des Wagens saß. »In Dörfern ist das so.«
»Hat doch Vorteile«, überlegte Erik. »Wenn man Hilfe braucht, weiß man immer, wen man darum bitten kann.«
»Das ist nicht so sicher«, schaltete Bernhard sich ein. »Die Freundschaft beschränkt sich vielmehr auf die Freuden des Lebens. Wenn es um Arbeit geht, trennt sich die Spreu vom Weizen.«
»Du kennst dich ja gut aus«, staunte Erik.
»Klar! Ich bin in einem Dorf aufgewachsen. Für Kinder ist das schön. Aber als Erwachsener lernt man auch die andere Seite kennen. Man ist nie allein, was bedeutet, du kommst nie zur Ruhe, bist ständig unter Beobachtung. Bei allem, was du tust, mischen sich andere ein. Ich weiß nicht, ob das wirklich erstrebenswert ist.«
»Und deshalb bist du nach Saarbrücken gezogen?«, fragte Erik.
»Ja. Manche behaupten, Saarbrücken wäre auch ein Dorf. Aber wenn man von einem richtigen Kuhdorf kommt wie ich, erkennt man den Unterschied. Saarbrücken hat Großstadtcharakter.«
»Und das gefällt dir?«
»Ja. Ich wollte aus dem Provinzmief heraus.«
»Zu den Junkies und Prostituierten?«
»Was willst du mir damit sagen?«
»Ganz einfach: Der Provinzmief ist in meinen Augen menschenfreundlicher als das, was man in Großstädten sieht und miterlebt. Ich komme aus Köln – jahrelang galt Köln als das Chicago Deutschlands. Für jeden Verbrecher, den man dort verhaftet, erscheinen am nächsten Tag drei neue auf der Bildfläche.«
»Auch ein Grund, Köln zu verlassen«, stellte Anke fest.
»Isolde Jenneweins Todeszeitpunkt liegt zwischen Mitternacht und zwei Uhr. Ihre Hämatome sind kurz vor ihrem Tod entstanden, ein Detail, auf das Dr. Wolbert besonders nachdrücklich hinweist.«
Neben dem Bericht des Gerichtsmediziners verteilte Forseti Fotos des Opfers. Darauf waren die Blutergüsse auf Oberkörper, Hals und Unterarmen besonders kontrastreich abgebildet. Es sah nach einem Todeskampf aus.
Im Büro des Dienststellenleiters herrschte lautes Stimmengewirr, das Forseti mit seiner Frage »Wie ist es möglich, dass kein Familienmitglied im Haus etwas gehört hat?« beendete.
Anke berichtete von den Eindrücken, die die Familie der Toten hinterlassen hatte.
»Das klingt so, als gäbe es dort Geheimnisse«, merkte Forseti an. »Jürgen, was haben Sie herausgefunden?«
Der Angesprochene schaute auf die Papiere, die vor ihm lagen, und antwortete: »Wir können beim Thema Geheimnisse bleiben: Die Tote hat eine aktenkundige Vergangenheit. Sie ist eine geborene Remmark. Ihre Mutter hat geheiratet, als sie sechs Jahre alt war. Einen gewissen Hugo Kauz.«
»Wo ist die Mutter jetzt?«
»Wir suchen sie«, gab Jürgen zu. »Nach dem Tod ihres Mannes hat sie Deutschland verlassen. Seitdem gibt es keine Spur mehr von ihr.«
»Ich sehe Parallelen zu dem Leben der Tochter Nadine«, schaltete Anke sich ein. »Isolde Jennewein hat Dr. Arthur Jennewein geheiratet, als Nadine sechs Jahre alt war.«
»Die Parallelen gehen noch weiter: Isolde Jennewein, früher Remmark, bekam einen Stiefbruder, Oskar Kauz. Er war zehn Jahre älter«, erzählte Jürgen. »Hugo Kauz hatte Isolde nicht adoptiert.«
»Isolde Jenneweins Leben besteht nur aus Déjà-vus«, bemerkte Anke.
»Hugo Kauz starb unter nicht ganz geklärten Umständen«, sprach Jürgen weiter.
»Was heißt das?«, hakte Forseti nach.
»Offiziell lautete die Todesursache Zuckerkoma. Es wurde in dem Fall ermittelt, konnte aber nichts festgestellt werden, was eine Beschleunigung seines Todes bestätigt hätte.«
»Warum ist ein Zuckerkoma ein nicht ganz geklärter Umstand?«, fragte Bernhard zweifelnd. »War Hugo Kauz kein Diabetiker?«
Jürgen schaute in seine Akte, bevor er antwortete: »Doch! Ich gebe nur das wieder, was in der Akte steht.«
Forseti schaltete sich ein: »Nun wollen wir hier keine Haare spalten, wo es uns nicht im Geringsten weiterhilft. Lesen Sie weiter vor, was dort steht!«
»In den folgenden Jahren wurde Isolde Remmark aktenkundig wegen Prostitution.« Gemurmel entstand. »Später hat sie Walter Kruchten geheiratet. Ein Freier.«
»Ist das der leibliche Vater von Nadine?«, fragte Anke.
»Nein. Sie war bereits schwanger. Da wir gerade von Geheimnissen sprechen: Isolde Jennewein hat im Jahr 1989 Walter Kruchten erschlagen.«
»Nun wird es richtig interessant.«
»Sie wurde vom Gericht freigesprochen mit der Begründung Notwehr. Walter Kruchten habe seine Frau und das Kind misshandelt.«
»Das klingt zwar aufregend, aber nicht geheimnisvoll«, schimpfte Bernhard.
»Für mich schon: Isolde Jennewein hinterlässt zwei Todesfälle, die Fragen zurücklassen. Vom Stiefvater wurde sie als Tochter abgelehnt, kurze Zeit später starb er. Vom Ehemann wurde sie misshandelt, kurze Zeit später starb er«, stellte Jürgen dagegen. »Sie war nicht zimperlich.«
»Von den beiden kann sich aber niemand an ihr gerächt haben«, beharrte Bernhard.
»Wie geht das Leben dieser aufregenden Frau weiter?« Mit seiner Frage unterbrach Forseti Bernhards Einwände.
»Den Rest wissen wir: 1993 heiratete sie Dr. Jennewein und lebte mit ihm glücklich bis an ihr jähes Ende.«
»Wie kommt eine Prostituierte, die wegen Totschlags angeklagt war, an einen gut situierten Arzt?«, fragte Esther. »Das klingt ja wie das Märchen vom Traumprinzen.«
»Nachdem sie Walter Kruchten geheiratet hatte, kehrte sie dem kunterbunten Leben den Rücken und begann in Dr. Jenneweins Praxis als Arzthelferin zu arbeiten. So haben sie sich kennengelernt«, antwortete Jürgen.
»Das würde bedeuten, dass sie ihren zweiten Ehemann bereits kannte, als sie noch mit Walter Kruchten verheiratet war«, grinste Esther. »Natürlich ist es purer Zufall, dass sie Walter Kruchten erschlägt und danach Arthur Jennewein heiratet.«
»Nach alldem, was Isolde Jennewein durchgemacht hat, kann ich mir Selbstmord immer weniger vorstellen«, sprach Jürgen seine Bedenken aus.
»Nein. Sie wirkt vielmehr wie eine Überlebenskämpferin«, stimmte Esther zu.
»Das können wir erst ausschließen, wenn wir sicher sind, dass es keinen Abschiedsbrief gibt«, verdeutlichte Bernhard. »Hat die Spurensicherung etwas in dieser Art gefunden?«
»Bis jetzt wurde kein solcher Brief erwähnt«, antwortete Jürgen.
»Ein Motiv für die Tat ist bis jetzt auch nicht ersichtlich«, übernahm Forseti wieder das Wort. »Walter Kruchten starb vor zwölf, Hugo Kauz vor einundzwanzig Jahren. Diese beiden Fälle sind zu kalt, um noch interessant für uns zu sein.«
»Was müssen wir tun?« Bernhard rieb sich tatenfreudig die Hände.
»Wir müssen herausfinden, wo Isolde Jenneweins Mutter jetzt ist, damit sie über den Tod ihrer Tochter informiert werden kann«, bestimmte Forseti. »Diese Aufgabe übernimmt unsere Kollegin Esther Weis.«
Die Angesprochene nickte, dabei war ihr der Ärger über diese Anweisung deutlich anzusehen.
»Da wir von einem Todeskampf ausgehen, hat der Täter mit großer Wahrscheinlichkeit Spuren an Isolde Jennewein zurückgelassen. Also sorgen wir dafür, dass die Kleidung der Familie zur Untersuchung ins Labor kommt«, fuhr Forseti fort. »Das übernehmen Sie, Kollege Diez!«
Bernhard nickte.
»Sie fahren zu Dr. Wolbert in die Gerichtsmedizin. Ich will den abschließenden Bericht morgen früh auf meinem Schreibtisch haben«, wandte er sich an Anke und Erik.
Damit beendete er die Dienstbesprechung.
*
Dr. Wolbert begrüßte Anke und Erik in seiner Arbeitsmontur – grüner Kittel, grüne Haube und Mundschutz. Anke und Erik zogen sich ebenfalls die grüne Tracht über und folgten ihm in den Sektionsraum.
»Bisher kann ich Ihnen sagen, dass der Todeszeitpunkt, den ich am Tatort genannt habe, bestätigt wurde. Sie starb zwischen null und ein Uhr in den Morgenstunden. Ihre gesundheitliche Verfassung vor dem Tod war bestens, also wäre dort kein Motiv für Selbstmord zu finden.«
»Es sei denn, sie wollte nicht ewig leben«, bemerkte Erik.
»So habe ich das noch gar nicht gesehen. Das könnte man als Motiv betrachten«, stimmte der Gerichtsmediziner amüsiert zu. »Aber nun wieder ernsthaft: Sie hat Hämatome am Hals, die auf einen Würgegriff schließen lassen. Außerdem hat sie Blutergüsse an beiden Unterarmen, als habe sie jemand gegen ihren Willen festgehalten. Und der Oberkörper ist voller Prellungen, als habe sie jemand geschlagen. Diese Frau hatte einen heftigen Kampf vor ihrem Tod.«
Dabei zeigte er auf die angesprochenen Merkmale an der Leiche.
»Die Kleidung der Toten liegt schon im Labor. Dort wird alles nach Fremdfasern abgesucht. So, wie sie aussieht, müssen Fremdfasern zu finden sein.«
»Forseti will morgen früh den detaillierten Bericht«, verkündete Anke.
»Oje, oje! Der Perfektionist«, murrte Dr. Wolbert. »Ich arbeite schnell, wie immer. Ich habe nämlich keine Lust, eine Leiche länger als nötig auf dem Tisch liegen zu lassen. Das müsste Forseti inzwischen eigentlich wissen.«
»Wir wiederholen nur, was er gesagt hat.«
»Klar. Aber es war schon immer so, dass der Überbringer schlechter Nachrichten die Prügel bezieht.« Der Gerichtsmediziner grinste schelmisch.
Anke empfand dieses Grinsen so ansteckend, dass sie mitlachte. Es bereitete ihr Vergnügen, Dr. Wolbert zu sehen – auch wenn die Umstände nicht gerade einladend waren.
»Gibt es Anzeichen, dass Isolde Jennewein schon Selbstmordversuche unternommen hat?« Mit dieser Frage beendete Erik das Geplänkel zwischen den beiden.
»Nein, nichts dergleichen.«
»Geben die Blutergüsse einen Aufschluss, mit welchem Gegenstand sie geschlagen wurde?«
»Nein. Das können durchaus Fäuste gewesen sein.«
Anke hörte den beiden zu, während sie die Männer genau beobachtete. Erik war größer als Dr. Wolbert, seine Statur kräftiger, seine Gesichtszüge grober. Dr. Wolbert wirkte geschmeidig, elegant und jugendlich – schon fast jungenhaft, wären diese grauen Strähnen nicht.
»Können wir also sagen, der Täter ist männlich?«, hörte sie wieder Eriks dunkle Stimme.
»Dazu kann ich mich nicht äußern.«
»War Isolde Jennewein schon tot, als sie mit der Schlinge hochgezogen wurde?«
Anke horchte auf.
Dr. Wolbert schüttelte den Kopf und antwortete: »Nein. Sie starb an Genickbruch, was durch die Schlinge und den tiefen Fall verursacht worden sein kann.«
»Die Zweifel an der Selbstmordtheorie begründen sich nur darin, dass sie sich die Hämatome zu Lebzeiten zugezogen hat?«
»Richtig!«
»Also muss das Opfer schon leblos gewesen sein, als es für das Selbstmordszenario vorbereitet wurde. Sonst hätte es sich gewehrt.«
»Das müssen Sie herausfinden«, gab Dr. Wolbert zurück.
»Das bringt mich wieder auf meine Frage, ob der Täter männlich war«, ließ Erik nicht locker. »Oder hat eine Frau so viel Kraft, einen unbeweglichen Körper auf einen Deckenbalken hochzuziehen?«
»Mit Flaschenzug geht alles«, hielt Dr. Wolbert dagegen. »Der Strick war lang. Das restliche Stück, das neben der Leiche herabhing, haben die Kollegen der Spurensicherung mitgenommen, um es auf Hautreste zu untersuchen. Aber eines kann ich schon bestätigen: Der Fundort ist der Tatort, denn die Staubpartikel aus dem Speicher befinden sich auch in Mund, Nase, Ohren und Augen der Toten. Sie hat noch gelebt, als sie auf den Speicher gelangte.«
Mit diesen Informationen traten sie ihren Rückweg an.
*
Ankes Weg in den Feierabend führte über die Mainzerstraße immer geradeaus, bis die stark befahrene Straße in die Kaiserstraße überging. Sie parkte ihren Wagen wie jeden Abend vor ihrer Wohnung im Grumbachtalweg und spazierte über den Trampelpfad zurück zu Kullmanns Haus, wo sie ihre Tochter abholte. Als Lisa ihre Mutter sah, streckte sie ihr beide Arme entgegen und ließ einen scheinbar endlosen, unverständlichen Redeschwall los. Nur ein Wort war deutlich herauszuhören: »Mama!« Sie wollte schon so viel erzählen. Anke erkannte, wie glücklich das Mädchen war – das Einzige, was zählte. Lisas blonde kurze Haare standen lustig von ihrem Kopf ab. Ihre Pausbacken waren gerötet und ihre blauen Augen funkelten. Mit ihren Beinchen strampelte sie in dem Kinderwagen vor lauter Ungeduld, bis Anke sie endlich hochhob.
Mit Lisa auf dem Arm schlenderte sie über die Terrasse. Martha folgte ihr. Alles war still, die letzten Sonnenstrahlen fielen in den Garten, den Martha mit viel Sorgfalt angelegt hatte.
»Norbert hat etwas ganz Aufregendes für Lisa entdeckt«, berichtete Martha mit einem belustigten Grinsen. »Er ist losgefahren, um es sofort zu kaufen. Wenn er einen Einfall hat, duldet das keinen Aufschub.«
»Was ist es denn?«
»Eine Schaukel, die für alle Altersklassen geeignet ist.« Martha strahlte wie ein Honigkuchenpferd.
»Aber Lisa kann noch nicht einmal alleine sitzen. Wie soll sie schaukeln?« Anke wurde sofort ängstlich und drückte ihre Tochter noch fester an ihren Körper.
»Lass dich überraschen. Er tut nichts, was deinem Kind schaden könnte.«
»Ich bitte Sie, mich zum Haus der Familie Jennewein zu begleiten.«
So sollte ein Arbeitstag nicht beginnen. Anke warf Forseti einen erstaunten Blick zu.
»Wir haben das Ergebnis der Spurensicherung. Die Kollegen haben keinen Abschiedsbrief gefunden. Also gehen wir von Mord aus. Nach allem, was bisher an Spuren ausgewertet wurde, muss der Mörder im Kreis der Familie sein. Deshalb will ich mich selbst vor Ort umsehen und mit den Familienmitgliedern sprechen«, fügte er erklärend an.
Es war das erste Mal, dass Anke allein mit ihrem neuen Vorgesetzten zu einem Außentermin fuhr. Als Norbert Kullmann noch im Dienst war, gehörten solche Unternehmungen zur Routine. Kullmann hatte Anke auf fast all seine Ermittlungswege mitgenommen. Auf diese Weise hatte sie alles lernen können, was für ihre Arbeit wichtig war. Gern dachte sie an diese Zeit zurück.
Heute verband sie mit Kullmann nicht mehr ihre Arbeit, sondern ihr Privatleben. Schmunzelnd dachte sie darüber nach, wie sich ihr Leben verändert hatte. Seit Kullmann in Pension war und seinen Lebensabend zusammen mit seiner Frau Martha genoss, übernahm er für Anke die Rolle des Ersatzopas, der ihre Tochter betreute, während sie zur Arbeit ging. Ohne Kullmann und seine Frau wäre es für Anke nicht so einfach gewesen, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Lisa brauchte viel Aufmerksamkeit, die sie an den Wochentagen von Kullmann und Martha bekam.
»Ich möchte, dass Sie mit Nadine Kruchten sprechen. Sie macht gerade viel durch. Ich traue Ihnen genügend Feingefühl zu, mit dieser Situation umzugehen.« Forsetis Anweisung, angereichert mit einem Lob, ließ Anke fast übersehen, dass sie bereits vor Jenneweins Haus standen. Ohne eine Reaktion zu zeigen, stieg sie aus.
Bevor sie dazu kamen zu klingeln, wurde die Tür schon geöffnet. Ein großer, junger Mann verließ das Haus, stürmte an den beiden Polizeibeamten vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
Anke eilte zur Tür, damit sie nicht ins Schloss fiel. Niemand war dem Flüchtenden gefolgt. Forseti und Anke traten ein. Aus dem Wohnzimmer drangen laute Stimmen, die sich nach Streit anhörten.
»Du lässt gefälligst die Finger von Tobias, ist das klar?«, hörten sie ganz deutlich.
Anke erkannte die Stimme: Es war Samantha. Nach dem, was sie gerade brüllte, war die Angeschrieene Nadine.
Gefolgt von Forseti näherte sie sich dem Treiben. Als sie ins Wohnzimmer schaute, erblickte sie Nadine auf der hohen Kante des Ledersessels und Samantha, die wie eine Furie vor ihr stand und schimpfte.
Samantha bemerkte die Polizeibeamten sofort.
»Was ist denn hier los?«, empörte sie sich. »Gehört jetzt Einbrechen zu Ihren Arbeitsmethoden?«
»Warum schließen Sie nicht Ihre Haustür?«, konterte Anke bissig, womit sie Samantha am Überlegen hinderte. Ihr Plan ging auf, denn statt sich zu beschweren, fragte Samantha: »Was wollen Sie hier? Isolde die Schlampe hat sich erhängt. Warum halten Sie sich daran so lange auf? Jetzt nervt diese Person sogar noch nach ihrem Tod.«
»Es besteht die Möglichkeit, dass Isolde Jennewein sich nicht freiwillig erhängt hat. Nun wollen wir wissen, wer nachgeholfen haben könnte.« Ankes Beherrschung hing an einem seidenen Faden.
Forseti ging an die kurze Seite des Wohnzimmers und schaute sich die Fotos an, die einen großen Teil der Wand schmückten.
»Und wer ist dieser Schnüffler?«, murrte Samantha weiter.
»Das ist Kriminalhauptkommissar Forseti«, stellte Anke ihren Vorgesetzten vor. »Ich würde den Begriff Schnüffler an Ihrer Stelle vermeiden.«
»Was ist es dann, was er hier tut?«
Forseti drehte sich um. Samanthas Hochnäsigkeit geriet ins Wanken, als ihre Blicke sich trafen. Auf keinen Fall konnten dieses Gesicht und dieser Anzug Philanthropie oder irgendeine andere Sorte guter Bekanntschaft bedeuten. Die Erkenntnis ließ sie verstummen.
Anke staunte über die Reaktion. Bisher war es keinem gelungen, Samantha in den Griff zu bekommen. Am kläglichsten war der eigene Vater gescheitert.
»Sie treiben Sport«, bemerkte Forseti mit einem Hinweis auf die Fotos an der Wand. »Ich sehe Sie hier bei Auszeichnungen im Reitsport.«
»Ja! Ich war gut.«
»War?«
»Ich reite schon lange nicht mehr. Warum?«
»Welchen Sport machen Sie heute?«
»Ich mache gelegentlich Kampfsport. Aber nur sporadisch – habe nicht immer die große Lust.«
»Was machen Sie beruflich?«, fragte Forseti weiter.
»Ich studiere an der Uni in Saarbrücken.«
»Welches Fach?«
»Sprachen.«
»Genauer bitte!«
»Englisch und Französisch.«
»Wie lange sind Sie dort schon immatrikuliert?«
»Ein Jahr.«
»Dann haben Sie sich aber spät zum Studium entschlossen«, stellte Forseti fest.
»Ja und! Ich bin nicht zu alt, um noch etwas zu begreifen.«
»Das sei dahingestellt«, bemerkte Forseti frostig.
Samantha schwieg.
»Wo waren Sie in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag zwischen null und zwei Uhr?«, stellte er die Frage, auf die Anke schon gewartet hatte.
»Das habe ich Ihren Mainzelmännchen schon gesagt.«
»Beamtenbeleidigung«, bemerkte Forseti. An Anke gerichtet fügte er an: »Das nehmen wir mit ins Protokoll auf.«
»Scheiße, Mann!«
»Das natürlich auch.«
»So war das nicht gemeint.« Samantha wurde kleinlaut.
»Ich hatte nicht den Eindruck, dass Sie es anders meinten, als Sie es gesagt haben. Ich stelle hier klare Fragen, darauf kann man klare Antworten erwarten.« Forseti blieb beharrlich.
»Gut. Also wiederhole ich meine Antwort: Ich war mit Berthold Bracke zusammen.«
»Das haben wir überprüft.«
»Warum fragen Sie dann noch?«
»Weil Herr Bracke ausgesagt hat, dass Sie ihn um elf Uhr am Mittwochabend verlassen haben.«
Plötzlich herrschte Stille.
Samantha spürte deutlich, was die Aussage ihres männlichen Begleiters zu bedeuten hatte.
»Ich warte«, warf Forseti in die Stille ein.
»Ich bin anschließend nach Hause gefahren«, antwortete Samantha.
»Dann müssten Sie zur Tatzeit zu Hause gewesen sein.«
»Nein, war ich nicht.«
»Das müssen Sie mir genauer erklären.«
»Was soll ich da erklären?« Samantha wurde nervös.
»Wie es möglich ist, dass Sie um elf Uhr Ihren Bekannten verlassen haben und um zwölf Uhr immer noch nicht zu Hause angekommen sind. Wir wissen, wo der Herr wohnt, den Sie besucht haben.«
»Ich habe nicht auf die Uhr gesehen.«
»Das ist keine Antwort.«
»Okay! Ich glaube, es war zwischen ein und zwei Uhr.«
»Was haben Sie in der Zwischenzeit gemacht?« Forsetis Tonfall wurde ungeduldig.
»Ich war noch in einer Kneipe. Als ich dort keine Bekannten antraf, habe ich den Laden wieder verlassen.«
»Dann wird sich ja dort jemand an Sie erinnern. Sagen Sie uns den Namen des Lokals!«
»Ich weiß nicht, ob sich jemand an mich erinnern kann. Dort ist es immer voll.«
»Das werden wir überprüfen. Wenn sich niemand an Sie erinnert, sieht es schlecht für Sie aus.«
»Scheiße! Das kapier ich auch. Aber ich habe der Schlampe nichts angetan«, wurde Samantha immer nervöser. »Warum auch?«
»Die Schlampe will ich nicht hören, dafür den Namen der Kneipe.« Forseti ließ nicht locker.
»Irish Pub.«
»Na also! Geht doch.« Forseti deutete ein Nicken an. »Wie standen Sie zu Ihrer Stiefmutter?«
»Das war nicht meine Stiefmutter, das war die Frau meines Vaters«, stellte Samantha trotzig klar.
»Da haben wir schon das erste Motiv«, konterte Forseti.
Samantha starrte ihn mit offenem Mund an.
Schritte ertönten aus dem Flur. Einen Moment später betrat Dr. Jennewein das Wohnzimmer. Er begrüßte die Polizeibeamten ohne das geringste Anzeichen von Verwunderung oder Groll.
»Haben Sie schon etwas herausgefunden?«, fragte er.
»Nein, wir ermitteln noch«, antwortete Forseti.
Für eine Weile blieben alle ganz still in dem großen Zimmer. Durch das Eintreten des Familienvaters war die Unterhaltung abgebrochen. Anke beobachtete, dass sich die Mitglieder dieser Familie nicht anschauen konnten. Jeder bemühte sich, dem Blick des anderen auszuweichen. Unter diesen Bedingungen mit Nadine zu sprechen, kam Anke sinnlos vor.
Also richtete sie sich mit einem Vorschlag an das Mädchen: »Ich möchte mich gern mit dir unterhalten. Können wir so lange in dein Zimmer gehen?«
Nadine schaute Anke überrascht an, reagierte aber sofort. Sie ging Anke voraus in das obere Stockwerk. Das Zimmer, in das sie die Polizeibeamtin führte, war groß und zeigte in die gleiche Richtung wie das Wohnzimmer – zum Garten.
Anke trat ein und schloss die Tür hinter sich.
Was nun kam, überraschte sie.
Nadine rannte auf die geschlossene Tür zu, riss sie hastig auf und schnappte gierig nach Luft, als hätte sie ihr jemand abgeschnürt.
»Was ist los?«, fragte Anke erschrocken.
Nadine brauchte eine Weile, bis sie wieder normal atmen konnte. Erst dann sagte sie: »Keine Türen schließen. Bitte!«
»Ja sicher. Hast du Platzangst?«
Nadine zuckte nur mit den Schultern.
Anke wartete, bis Nadine sich beruhigt hatte, bevor sie mit ihren Fragen begann: »Wir wissen, dass deine Mutter zweimal verheiratet war. Der erste Ehemann hieß Walter Kruchten. Wie war er zu dir?«
Nadine überlegte eine Weile, bis sie meinte: »Er war okay.«
Anke staunte über diese Antwort.
»Gab es niemals Streit?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Hat er dich geschlagen?«
»Nein! Wie kommen Sie darauf?« Nadine schaute Anke entsetzt an.