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Kriminalhauptkommissar Kullmann steht kurz vor seiner Pensionierung. Ausgerechnet jetzt liegen gleich zwei Fälle auf seinem Tisch, von deren Aufklärung er meilenweit entfernt ist. Einmal handelt es sich um den Fenstersturz mit Todesfolge von Luise Spengler, wofür Kullmann mehr Einsatz zeigt, als sonst üblich. Zum anderen treibt ein Polizistenmörder sein Unwesen. Er hat bereits den Kollegen Walter Nimmsgern auf dem Gewissen und schlägt wieder zu. Die Angst unter den Kollegen geht um. Jeder fragt sich, wer der nächste sein könnte. Um in der Freizeit besser Abstand von der Arbeit zu gewinnen, legt sich die Kriminalkommissarin Anke Deister ein Hobby zu. Sie nimmt Reitstunden in einem Reitstall am Rande der Stadt. Doch leider bleibt sie auch dort nicht verschont, denn die Arbeit verfolgt sie bis in den tiefsten Winkel des Waldes, in dem sie sich Entspannung bei ihren Ausritten erhofft ... Zweiter Band der Krimireihe (als Print unter dem Titel "Kullmanns letzter Fall") Band 1: Ein ganz klarer Fall Band 2. Kullmann jagt einen Polizistenmörder Band 3: Kullmann kann's nicht lassen Band 4: Kullmann stolpert über eine Leiche Band 5: Kullmann und die Schatten der Vergangenheit Band 6: Kullmann in Kroatien Band 7: Kullmann auf der Jagd Band 8: Kullmann ermittelt in Schriftstellerkreisen Band 9: Kullmann und das Lehrersterben Band 10: Kullmann unter Tage Band 11: Kullmann ist auf den Hund gekommen
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Seitenzahl: 454
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Elke Schwab
Kullmann jagt einen Polizistenmörder
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Epilog
Impressum neobooks
Elke Schwab
Kullmann jagt einen Polizistenmörder
Kullmann-Reihe 2
Originaltitel:
Kullmanns letzter Fall
Kullmann
jagt
einen
Polizistenmörder
Kullmann-Reihe 2
Elke Schwab
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© Elke Schwab, 2019
www.elkeschwab.de
Covergestaltung: Elke Schwab
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugs-weisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt
Der Winter kündigte sich regnerisch an. Wie schon seit Wochen blieb auch heute der Himmel hinter schweren, grauen Wolken versteckt, die das wenige Tageslicht in sich aufsogen. Der Feierabend konnte erst nach Einbruch der Dämmerung beginnen. Wenn man danach etwas zu erledigen hatte oder nach Hause kam, war es schon nächtlich dunkel.
Walter Nimmsgern konnte seine Freude kaum zügeln, weil er schon seit Monaten an dem Fall Luise Spengler gearbeitet hatte. Zäh hatte er seine Idee verfolgt, der Weg zur Lösung lag ihm klar vor Augen, es hatte bisher nur dieses eine Ergebnis gefehlt. Das letzte Mosaiksteinchen, das seine Mühen krönte. Nimmsgern ärgerte sich jedoch darüber, dass ausgerechnet heute Kullmann nicht im Büro gewesen war. Deshalb musste er den Bericht mit nach Hause nehmen. Nur dort war er gut aufgehoben. Er wusste, dass er ausschließlich Kullmann seine Beweise vorlegen durfte, um ihm damit unmissverständlich klar zu machen, wem die Lösung des Falles zu verdanken war. Nimmsgern stellte sich die Szene vor, wie er vor seinem Chef mit diesem letzten Beweisstück auftauchte, nach dem der lange verzweifelt gesucht hatte. Nimmsgern war dessen nervöser Eifer von Anfang an nicht entgangen; er vermutete, dass persönliche Gründe in diesem Fall mitspielten. Was würde sein Chef für Augen machen. Eine kindliche Vorfreude traf Nimmsgern mit der Gewissheit, dass dann endlich gesehen würde, wie erfolgreich er arbeitete.
Auf dem schwach beleuchteten Innenhof stieg er in seinen Wagen und ließ sich in die abgewetzten Polster sinken. Eine fast schmerzhafte Müdigkeit überfiel ihn; die letzten Tage hatten ihn sehr gefordert, er konnte nur mit äußerster Mühe seinen baldigen Triumph hinter einer freundlichen Fassade verbergen. Jetzt erst mal richtig ausschlafen…
Seinen Wagen steuerte er bedächtig auf den Heimweg. Verstohlen erlaubte er sich einen gelegentlichen Blick auf den Beifahrersitz, auf dem der graue Umschlag lag. Er kannte das Verbot, dienstliche Dokumente aus der Dienststelle zu entfernen. Aber er vertraute nicht mehr auf die Sicherheit der amtlichen Schreibtischschlösser. Eine bittere Erfahrung hatte sogar Kullmann vor einiger Zeit machen müssen, aus dessen Schreibtisch in einer Nacht- und Nebelaktion die wichtigsten Unterlagen kurz vor dem Abschluss eines Falls gestohlen worden waren. Außerdem saß Hübner in den Startlöchern, um sich für den ersten Platz der anstehenden Beförderung zu empfehlen. Hübner war so karrieregeil, dass er das entscheidende Ergebnis bestimmt als seinen Verdienst darstellen würde. Er hatte keinerlei Skrupel, sich auf den Lorbeeren anderer auszuruhen. Auch seinem Teamkollegen Horst Esche traute er nicht über den Weg, wenn es ans Eingemachte ging. Er riss ähnlich wie Hübner alles an sich, weil er immer im Mittelpunkt stehen musste. Nimmsgern verachtete diese eitlen und rücksichtslosen Selbstdarsteller, die den Namen Kollegen nicht verdient hatten. Heute fühlte er sich endlich sicher, dass nur er die Beförderung verdient hatte. Jetzt hatte er die große Chance. Mit dem Ergebnis der Fingerabdrücke wollte er allein die Ernte einfahren. Mit dieser Trumpfkarte musste Kullmann ihm die Türen für seine Beförderung öffnen. Dann wäre er nicht mehr fünftes Rad am Wagen, niemand würde ihn mehr unterschätzen. Und der aufkommende Neid seiner abgehängten Konkurrenten wäre ihm Beweis für seine Tüchtigkeit und seinen Triumph.
Nach den letzten Häusern mündete der Rotenbühler Weg in eine asphaltierte Straße, die durch ein Waldstück führte, das er wie seine Westentasche kannte. Diese Strecke war für den Durchgangsverkehr nicht erlaubt. Aber Nimmsgern kannte den Förster des Stadtwaldes am Schwarzenberg und hatte sich mit ihm geeinigt, weil er auf die Abkürzung zu seinem Wohnhaus in Dudweiler nicht gerne verzichten wollte. Als er dort einbog, begann sein Auto plötzlich zu stottern. Tuckernd fuhr er noch einige Meter, bis der Motor völlig erstarb und das Auto liegen blieb. Verärgert versuchte er, neu zu starten, aber der Motor wollte nicht mehr anspringen. Nimmsgern schaute sich um und musste widerstrebend feststellen, dass alles stockdunkel um ihn herum war. Er befand sich ganz tief im Wald – weit und breit keine Zivilisation.
Nach einigem Zögern steckte er seine SigSauer 9mm in die Jackentasche, man konnte ja nie wissen. Den Bericht der Spurensicherung steckte er in die andere Tasche. Er stieg aus und schob seinen Wagen an den Seitenrand.
Es war so dunkel, dass er die Hand vor Augen nicht sehen konnte. Langsam setzte er sich in Bewegung, wobei er auf seine Schritte achten musste, denn der Straßenrand war schadhaft und unbefestigt. Manchmal geriet er mit seiner Leibesfülle ins Stolpern, konnte sich aber fangen.
Vielleicht gehörte diese letzte Anstrengung mit zu diesem Tag, als Spiegel seiner vergangenen Mühen, die er ganz alleine und gegen die schwierigsten Hindernisse bewältigt hatte. Er glaubte das Knistern des Papiers zu hören, das unter seiner Jacke gut verwahrt war. Das ermunterte ihn, gegen seine Müdigkeit anzugehen, diese dümmliche Panne zu meistern. Das Papier war das Sprungbrett für seinen bevorstehenden Erfolg.
Plötzlich hörte er ein Knacken hinter sich. Erschrocken drehte sich Nimmsgern um, konnte aber nichts erkennen.
»Ist da jemand?«, rief er.
Statt einer Antwort hörte er wieder das Knacken von Ästen. Rehe konnten das keine sein. Das Knacken war so laut, dass es ein schwerer Körper sein musste, der auf die Äste trat. Es blieb ihm keine Zeit, darüber nachzudenken. Wenn er hier mitten im Dunklen verharrte, gäbe er ein leichtes Opfer ab. Durch diese Erkenntnis angespornt, beeilte Nimmsgern sich, dort wegzukommen. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte er, dass ihm sein Übergewicht zum Nachteil werden konnte. Es ging verdammt schnell, schon bekam er keine Luft mehr. Aber er wollte sein Tempo nicht verringern. Seine Beine packten ihn nicht mehr und er begann ständig zu stolpern. Sein Kopf dröhnte, trotzdem hörte er in aller Deutlichkeit, dass das Knacken der Äste ihm im gleichen Abstand folgte. Sein Verfolger hatte mit ihm ein leichtes Spiel.
Endlich gelangte er an eine Lichtung. Der Mond kam hinter den Wolken hervor. Nimmsgern konnte etwas sehen. Er zog seine SigSauer aus der Jackentasche, hielt sie mit beiden Händen fest, nach Vorschrift ganz dicht am Körper, jederzeit zum Einsatz bereit. Hastig drehte er sich um und zielte. Aber das Einzige, was er sah, war ein Schatten, der in einem Dickicht verschwand.
»Polizei! Bleiben Sie stehen, oder ich schieße.«
Hinter dem Dickicht bewegte sich nichts mehr. So verzweifelt Nimmsgern auch versuchte, dort etwas zu erkennen, fand er nichts. Angestrengt starrte er weiter in die Richtung, wo er den Schatten gesehen hatte. Vergebens. Nichts zu hören, nichts zu erkennen. Sein Kopf bewegte sich ruckartig hin und her, um das Blickfeld zu weiten. Seine Augen blieben endlich an einem dicken Baumstamm hängen. Bewegte der sich nicht, wölbte der sich nicht zur Seite, mal links, mal rechts? Der Stamm schien sich schattenhaft zu verformen.
»Legen Sie die Hände hinter den Kopf und kommen Sie langsam hinter dem Baum hervor.«
Nichts bewirkte diese Aufforderung. Nimmsgern wollte soeben seinen Befehl wiederholen, da löste sich der Schatten von dem Baumstamm und verschwand in ein tiefschwarzes Dickicht. Nimmsgern konnte unmöglich von seiner Waffe Gebrauch machen. Niemand bedrängte ihn unmittelbar, dass er sich auf Notwehr berufen könnte. Er jagte möglicherweise einem Phantom hinterher.
Als wenn sein unsichtbarer Gegner seine Gedanken lesen könnte, vernahm Nimmsgern von weitem ein leises Kichern.
Gänsehaut kroch ihm über den Nacken. Mit wem hatte er es zu tun? Die Liste seiner Verwandten und Bekannten raste blitzschnell an ihm vorbei. Gab es einen Streit, der Rache forderte, ein Kriegsbeil, das ausgegraben werden musste? Niemand fiel ihm ein, der ihm Böses antun wollte. Und diejenigen, die nicht sehr glücklich über seine Ergebnisse sein würden, konnten unmöglich Wind von seinen Recherchen bekommen haben. Bald würde eine Bombe einschlagen. Dann würden die Karten neu gemischt. Er würde sich ein unvergessliches Denkmal setzen können. Also, wer blieb da noch?
Sabotage, schoss es ihm durch den Kopf. Aber das war doch unmöglich. Wie hätte jemand sein Auto so manipulieren können, dass es ausgerechnet an dieser Stelle stehen blieb?
Angestrengt versuchte Nimmsgern eine Bewegung hinter der Dornenhecke auszumachen, aber wieder nichts. Sein Verfolger trieb ein makaberes Spiel mit ihm und war ihm haushoch überlegen.
Plötzlich erblickte er eine Gestalt, die sich blitzschnell in Bewegung setzte. Ein mühsam herausgepresstes »Halt! Stehen bleiben!«, konnte den anderen nicht aufhalten. Er holzte durch das Gestrüpp, wobei er gelegentlich tierische Schreie ausstieß. Nimmsgern wagte kaum, zu atmen. Staunend lauschte er dem Treiben hinterher, bis es abebbte. Die alte Stille umfing ihn wieder wie eine klamme Rüstung. Sollte das das Ende des Spuks sein? Erleichterung überkam ihn. Er sog tiefer die kalte Luft ein, wie um verlorene Kraft aufzutanken.
Nach einer Weile setzte er seinen Weg fort. Erleichtert steckte er seine Waffe in seine Jackentasche zurück.
Aber es dauerte nicht lange, da tauchte im Schein einer Straßenlaterne ein Mann vor ihm auf. Nimmsgern zuckte zusammen, weil er sich schon in Sicherheit geglaubt hatte. Als er das Lachen des Mannes hörte, erkannte er ihn. Wütend über die Frechheit dieses Kerls, ihn in der Stunde größter Lebensgefahr auch noch auszulachen, schimpfte er: »Was tust du hier? Willst du dich an meinen Angstzuständen weiden?«
Sein Gegenüber lachte einfach weiter.
»Um mir zu helfen, bist du doch bestimmt nicht hier.«
Der andere lachte leise weiter, kaum hörbar, trat ohne Hast auf ihn zu und tat etwas völlig Unvorhergesehenes. Plötzlich, ohne dass Nimmsgern verstand, wie das überhaupt möglich war, schaute er in den Lauf seiner eigenen Waffe.
Wie oft hatte Anke schon die Akte studiert? Der zündende Gedanke wollte einfach nicht kommen, wie es bei Arthur Conan Doyles Hauptfigur Sherlock Holmes immer im entscheidenden Moment funktionierte. Seit neun Monaten wurde inzwischen der Todesfall Luise Spengler in ihrer Abteilung bearbeitet, und sie waren noch keinen Schritt weitergekommen. Im August des vergangenen Jahres war Luise aus dem Fenster ihres Schlafzimmers in den Tod gestürzt. Selbstmord kam nicht in Frage, weiter waren sie mit ihren Ermittlungen nicht gekommen. Aber wie sollten sie noch nach so langer Zeit zweifelsfrei feststellen können, dass Mord vorlag und kein tragischer Unfall? Ihr Vorgesetzter, Norbert Kullmann, war von dem Gedanken geradezu besessen, dass Luise Spengler aus dem Fenster gestoßen worden war. Und seine Hartnäckigkeit hatte sie kennengelernt. Dagegen war kein Kraut gewachsen. Also musste sie darauf hoffen, auf Indizien zu stoßen, da es nach so langer Zeit wohl kaum noch Beweise gab.
Seufzend erhob sie sich, stellte sich ans Fenster, das zur Straße lag, und beobachtete die Menschen, die geschäftig dort vorbeieilten. Der Frühling zeigte sich von seiner schönsten Seite; die Sonne schien, die Temperaturen waren herrlich angenehm. Bei dem Anblick der Menschen, die ausgelassen und gut gelaunt durch die Straße gingen, bekam Anke das trügerische Gefühl, alles sei unbeschwert und heiter. Aber wenn sie sich umdrehte und in die Büroräume schaute, insbesondere auf die Arbeit, die auf ihrem Schreibtisch lag, beschlich sie das Gefühl, dass der Schein trog.
Vor einem halben Jahr, im November des letzten Jahres, war ein Kollege aus der Abteilung, Walter Nimmsgern, auf dem Nachhauseweg erschossen worden. Dieses schreckliche Ereignis hatte sie alle aus dem Gleichgewicht gebracht, weil ihnen dadurch vor Augen geführt worden war, welchen Gefahren sie wirklich ausgesetzt waren. Das Bild, das Verbrechen geschehe an wildfremden Menschen und die Kollegen seien nur dafür da, es aufzuklären, war damit ins Wanken geraten. Es konnte alle treffen, wie sie hautnah hatten miterleben müssen, auch einen Kollegen der Polizei. Besonders belastend wirkte es sich noch dadurch aus, dass es von dem Täter nicht die geringste Spur gab. Im Laufe der Zeit hatte sich die Verunsicherung in der Abteilung zwar etwas gelegt, aber eine schwelende Angst war zurückgeblieben. Bei ungewöhnlichen Geräuschen drehte Anke sich oft erschrocken um und fürchtete, dass sie die Nächste sein könnte. Die Tatsache, dass auch der Fall immer noch nicht aufgeklärt war, schürte diese Angst. Entmutigend kam hinzu, dass ausgerechnet im Fall des Polizistenmordes, der Anlass zu besonders intensiven Ermittlungen sein sollte, keinerlei Hinweise auf das Motiv, geschweige denn auf einen möglichen Verdächtigen gefunden werden konnten. Sie tappten im Fall Nimmsgern völlig im Dunkeln. Das bedeutete, dass es zwei unaufgeklärte Todesfälle in ihrer Abteilung gab, eine Bilanz, die nicht nur nicht vorzeigbar, sondern auch gerade für Kullmann besonders erschütternd war, weil er ausgerechnet in diesem Herbst in Pension gehen wollte. Mit Sicherheit wollte er seine vierzigjährige Dienstzeit nicht mit zwei unaufgeklärten Mordfällen abschließen. Eine derart unbefriedigende Situation hatte es in seiner langen Dienstzeit noch nicht gegeben.
Als sie so ihren Gedanken nachhing, erinnerte Anke sich wieder daran, dass Nimmsgern bis zu seinem Tod an dem Fall Luise Spengler gearbeitet hatte und regelrecht davon besessen gewesen war, gute Ergebnisse zu bringen. Es tauchten Bilder von seinen letzten Tag auf, bevor er erschossen worden war. Nimmsgern hatte ihr vor seinem Weggang noch von einer unheimlich wichtigen Spur vorgeschwärmt, die endlich zu Luise Spenglers Mörder führen würde. Es war schon immer seine Art gewesen, in Rätseln zu sprechen. Sie erlebte ständig, dass er seine Kollegen auf Distanz hielt. Nimmsgern wirkte immer unnahbar und abweisend, was wohl mit den ständigen Hänseleien der Kollegen über seinen unersättlichen Hunger zu tun hatte. Wer weiß, vermutlich war er selbst unglücklich darüber, und alle hatten kräftig in dieser Wunde gerührt. Deshalb gab es niemanden, dem er sich anvertraut hätte; so hatte er vermutlich sein Geheimnis mit ins Grab genommen.
Es war schon spät und rasch begann sie, ihren überfüllten Schreibtisch aufzuräumen. Die Tage wurden wieder länger, es war endlich wieder Frühling geworden. Das war ein Trost für sie, weil die Sonne sogar noch nach Feierabend lachte. Mit dem Kopf voller Pläne, wie sie ihren freien Abend verbringen wollte, bereitete sie sich auf den Heimweg vor, als Hübner ihr Büro betrat.
»Willst du schon Feierabend machen?«, fragte er ganz vorwurfsvoll.
»Ja! Mir ist nicht bekannt, dass ich die Pflicht habe, mich bei dir abzumelden«, konterte Anke böse. »Oder hast du dich schon vorsorglich selbst zum Chef ernannt?«
Hübner überhörte einfach Ankes Ironie und begründete seinen Vorwurf: »Inzwischen ist Nimmsgern schon ein halbes Jahr tot, und wir haben immer noch keine Spur. Wie kannst du da nur an den Feierabend denken?«
»Ganz einfach, weil ich nicht mit dir an dem Fall arbeite – hast du das schon vergessen? Dann erinnere ich dich daran: Ich arbeite zusammen mit Kullmann an dem Mordfall Luise Spengler.«
»Ja, und die Ironie daran ist, dass der Fall Luise Spengler noch länger zurückliegt und noch nicht einmal klar ist, ob es wirklich Mord war. Du bringst keine Ergebnisse zustande und denkst nur an dich«, blieb Hübner hartnäckig.
»Und noch viel ironischer ist, dass dich der Fall Luise Spengler überhaupt nichts angeht. Mach du deine Arbeit und ich meine. Was hältst du davon?«
»Verdammt, du verstehst überhaupt nichts mehr, seit du nur noch die Pferde im Kopf hast«, sprach Hübner endlich das aus, was ihn bedrückte. »Dieser Mist ist dir schon in den Kopf gestiegen.«
»Daher weht also der Wind. Mein Privatleben geht dich nichts an. Dass wir beide mal zusammen waren, heißt nicht, dass du dich heute noch in mein Leben einmischen kannst. Wann kapierst du das endlich? Ich lasse mich nicht von dir beleidigen. Da höre ich lieber auf den Rat meines Chefs und genieße mein Privatleben. Ich vernachlässige meine Arbeit nicht, verlass dich drauf.« Anke zog ihre Sporttasche aus dem Schrank.
Vor einigen Monaten hatte sie sich endlich dazu entschlossen, reiten zu lernen. Davon war sie durch nichts abzuhalten. Die Arbeit mit den Pferden machte ihr unendlich viel Spaß. Zu Hause konnte sie sich kein Haustier halten. Ein Hund oder eine Katze würde viel zu viele Stunden in ihrer kleinen Wohnung alleine verbringen müssen, was sie keinem Tier antun wollte. Aber durch das Reiten erfüllte sie sich ihren Wunsch, ein Tier in ihrer Nähe zu erleben. Der Umgang mit den Schulpferden machte ihr Freude. Diese Tiere waren brav und reagierten auf sie. Niemals hätte sie geahnt, dass Pferde so menschenbezogen und einfühlsam sein könnten. Sie waren ein wundervoller Ausgleich für ihre angespannte Polizeiarbeit und den ständigen Leistungsdruck. Ihr Herz schlug immer höher, wenn ein Pferd wieherte, sobald es ihre Stimme hörte. Seit sie mit ihrer früheren Freundin gelegentlich am Koppelrand gesessen und die Herde wild tobender Pferde beobachtet hatte, deren ungebändigte Lebensgier und deren Schönheit und Eleganz hatte bewundern können, war ihr diese Idee gekommen. Und sie bereute es nicht, obwohl sie schon einige Male heruntergefallen war und sich jede Menge blaue Flecken zugezogen hatte.
Sie zog sich ihre Reithose und ein T-Shirt an, während Hübner im Nachbarzimmer wartete, bis sie fertig umgezogen war. An diesem Tag würde sie zum ersten Mal, seit sie im Reitverein war, auf dem Außenplatz reiten. Sie spürte, wie aufgeregt sie war. Schnell bürstete sie ihre kurzen, dunklen Haare kräftig durch. Als sie mit dem Reiten angefangen hatte, hatte sie ihre schulterlangen Haare abschneiden lassen, weil ständig der Pferdeduft darin hing, was auf der Dienststelle nicht immer auf Wohlwollen gestoßen war.
Als Hübner wieder das Zimmer betrat, bewunderte er ihre sportliche Figur, die durch die enge Reithose noch mehr betont wurde. Aber Anke ließ ihm kaum Gelegenheit dazu, weil sie diese Blicke bereits bestens kannte. So sehr er sich auch bemühte, wieder bei ihr zu landen, so deutlich zeigte sie ihm, dass die Trennung endgültig war.
Mit ihrer Tasche über der Schulter marschierte sie los und steuerte das Zimmer ihres Chefs an, um sich zu verabschieden. Kullmann war nicht allein in seinem Büro, doch als Anke sich wieder zurückziehen wollte, wurde sie von den beiden älteren Herren gebeten, einzutreten. Sie kannte den Besucher nicht, er war ein Kollege der uniformierten Polizei. Kullmann stellte ihn ihr als langjährigen Arbeitskollegen und Freund vor. Die beiden Alten bestaunten sie in ihrem sportlichen Dress und der Kollege meinte: »Schade, dass die Reiterstaffel im Saarland schon seit 1987 nicht mehr existiert. Eine so sympathische junge Frau hätte ich gerne in meiner Einheit gehabt.«
»Das heißt, Sie waren bei der berittenen Polizei?«, staunte Anke.
»Oh ja! Bis zum Schluss.«
»Ich glaube, dort hätte ich Ihnen nicht viel genützt. Ich falle ja ständig herunter«, lachte Anke, doch der Kollege winkte ab und entgegnete: »Das gehört dazu. Ein Reiter ist nur dann gut, wenn er nach einem Sturz wieder auf ein Pferd aufsteigt. Daran erkennt man sein Durchhaltevermögen.«
»Was wurde aus Ihrem Pferd, nachdem die Reiterstaffel eingestellt worden ist?«
»Ich habe den Wallach einfach abgekauft und mit nach Hause genommen«, erzählte der ältere Kollege mit schwärmerischem Blick. »Und dort läuft er heute noch auf der Koppel herum und richtet Unheil an.«
»Ach. Wie alt ist er denn jetzt?«
»Er ist schon achtundzwanzig Jahre alt und immer noch kerngesund. Nur manchmal glaube ich, dass er senil geworden ist.«
»Erzählen Sie.«, forderte Anke auf, weil sie vor Neugierde brannte.
»Wir haben eine kleine Herde von vier Pferden in Dillingen-Diefflen auf der Koppel stehen. Dort ist auch mein betagter früherer Arbeitskollege dabei. Immer wenn ich abends die Pferde rufe, laufen alle zielstrebig zum Stall, weil sie wissen, dass dort Futter auf sie wartet. Nur mein Rentner nicht. Er verläuft sich jedes Mal und dann muss ich den weiten Weg über die Koppel gehen und ihn zum Stall führen.«
Anke und Kullmann lachten.
»Hinzu kommt, dass er sich morgens, wenn ich den Pferden die Boxentüren öffne, um sie auf die Koppel laufen zu lassen, ebenfalls verläuft. Ständig muss ich ihn suchen, weil der alte Diener sich mal wieder in den angrenzenden Heuschober verirrt hat. Und weil er so groß und kräftig ist, ist es schon vorgekommen, dass er zwischen den Heuballen feststeckte und ich ihn mühsam befreien musste.«
Anke und Kullmann amüsierten sich prächtig.
»Sie sehen, ich habe immer noch meine Freude mit ihm. Solange er keine Schmerzen leidet und sich wohlfühlt, behalte ich ihn. Er hat sich sein Gnadenbrot redlich verdient.«
Der Kollege verabschiedete sich und ließ Kullmann mit Anke allein zurück.
»Bisher hatte ich gar keine Ahnung von Pferden. Jetzt habe ich wirklich den Eindruck, dass Sie sich ein sehr schönes Hobby ausgesucht haben«, meinte Kullmann gut gelaunt. »Mit den Pferden können Sie endlich einmal etwas für sich selbst tun, was Sie bisher sträflich vernachlässigt haben. Das beweist mal wieder, dass Ihnen die erfrischenden Ideen nicht ausgehen.«
»Das allein verschafft Ihnen diese gute Laune?«, hakte Anke nach, als sie Kullmanns zufriedenes Gesicht sah.
»Oh nein. Auch Ihre wohltuende Anwesenheit. Seit Sie mit dem Reiten angefangen haben, wirken Sie noch fröhlicher und charmanter, obwohl das eigentlich kaum zu überbieten ist.«
Anke freute sich immer wieder über Kullmanns schmeichelnde Worte, sie erkannte jedoch, dass da noch etwas war.
»Das ist aber nicht alles.«
Verschmitzt grinste Kullmann und meinte: »Ihnen kann ich nichts vormachen.«
»Ich bin bei Ihnen durch eine gute Schule gegangen.«
»Ja, und meine Bemühungen waren wirklich nicht umsonst.«
»Weichen Sie mir nicht aus«, erinnerte Anke ihren Chef wieder an ihre Frage, so dass Kullmann nun endlich zum Thema kam: »Ich bin im Fall Luise Spengler einen Schritt weitergekommen. Die Anwaltskanzlei der Familie Spengler hieß früher Otto Klein und Söhne. Diese Kanzlei gibt es nicht mehr, weil Otto Klein inzwischen verstorben ist. Aber durch meine Recherchen habe ich endlich herausgefunden, dass die sogenannten Söhne alle Schwiegersöhne sind, weil Otto Klein keine Söhne, sondern nur Töchter hatte. Die Kanzlei heißt nun Klose & Partner. Also bin ich auf Verdacht zu dieser Kanzlei gegangen und habe dort den Anwalt Bertram Klose angetroffen, einen der Schwiegersöhne. Bertram Klose hatte Luise Spengler als seine Mandantin vertreten. Mit ihm habe ich heute gesprochen.«
Anke stutzte: »Wie kann dieser Anwalt uns weiterhelfen?«
»Ganz einfach: Luise Spengler hatte die Scheidung eingereicht.«
»Und das soll ein Motiv für einen Mord sein?«
Kullmann kratzte sich am Kinn und meinte nachdenklich: »Luise kam aus einer sehr reichen Familie. Geld war schon immer ein Mordmotiv.«
»Im Fall einer Scheidung bekommt der Ehemann aber auch ein gutes Stück vom Kuchen«, überlegte Anke weiterhin skeptisch. »Glauben Sie, dass Kurt Spengler so gierig war und sich damit nicht abfinden wollte?«
»Nein, ich habe von Anwalt Klose erfahren, dass Luises Vater bei der Eheschließung auf einen Ehevertrag bestanden hatte, nämlich Gütertrennung.«
»Oh«, stutzte Anke. »Aber Kurt Spengler ist Bankdirektor einer der größten Banken des Saarlandes. Er verdient doch weiß Gott genug.«
»Ja, das ist noch der einzige Haken an meiner Theorie. Aber ich habe das Gefühl, auf eine verdammt gute Spur gestoßen zu sein.«
Wieder staunte Anke über Kullmanns Hartnäckigkeit in diesem Fall. Bevor sie in den Feierabend ging, fragte sie, was sie schon lange beschäftigte: »Wer war Luise Spengler wirklich?«
»Wie sagt man unter Reitern: Ein dreifaches Horrido!«, lenkte Kullmann einfach ab. Anke verstand den Wink sofort.
Als sie die Tür zu Kullmanns Büro hinter sich geschlossen hatte und durch den leeren Flur ging, begegnete ihr Esche. Er war tadellos gekleidet, trug einen Anzug von Carlo Colucci. Wenn Anke sich nicht täuschte, benutzte er auch das Parfüm dieser hochwertigen Marke. Aber sie verspürte kein Bedürfnis, ihre Eindrücke zu überprüfen. Bei Esche hatte sie ohnehin schon Mühe genug, ihn auf Distanz zu halten. Seine Annäherungsversuche verlangten Ankes volle Aufmerksamkeit. Esche war vor zwei Jahren in ihre Abteilung gekommen und hatte sich durch seine Fahndungserfolge in der kurzen Zeit einen unheimlich guten Ruf verschafft. Nur ihm war es gelungen, einen Kindermord in Merzig aufzuklären, an dem alle Kollegen wie besessen gearbeitet hatten, weil keiner von dieser schrecklichen Tragödie unberührt geblieben war. Aber Esche war kaum in die Abteilung versetzt worden, schon hatte er den entscheidenden Beweis gefunden, der zur Lösung des Falles beigetragen hatte. Sogar Kullmann hatte sich mit seinen Ermittlungen festgefahren und war heilfroh, dass es dem Neuen gelungen war, diesem Albtraum ein Ende zu setzen. Deshalb schätzte er ihn sehr, was er auch oft zum Ausdruck brachte. Anke konnte das nicht nachempfinden. Seit Esche in der gleichen Abteilung wie sie arbeitete, ließ er keine Gelegenheit aus, sich an sie heranzuschleichen oder ihr frivole Angebote zu machen. Sie fühlte sich in seiner Nähe nicht wohl und schon gar nicht, wenn sie ihm allein begegnete. Aber sie wusste, dass sie mit ihrer Antipathie gegen ihn alleine in dieser Abteilung war, denn Esche war beliebt bei den Kollegen. Außerdem sah er gut aus, was sein ohnehin starkes Selbstbewusstsein nur bestätigte. Diese Vorzüge setzte er geschickt ein. Keine Gelegenheit ließ er aus, Anke seine Selbstzufriedenheit zu zeigen, was sie ärgerte. Sie fand sein Gehabe zum Kotzen. Was sie aber ganz besonders ärgerte, war, dass er in ihr keine ebenbürtige Arbeitskollegin sah, sondern nur eine Frau. Frauen hatten in seiner hierarchischen Vorstellung keine Berechtigung auf Gleichstellung. Seine chauvinistische Einstellung war unübersehbar. Anke lehnte seine herablassende Haltung als entwürdigend ab. Aber damit musste sie sich arrangieren, denn mit ihren persönlichen Eindrücken würde sie bei Kullmann kein Gehör finden, weil er Esche als Polizeibeamten sehr schätzte und auf seine Fähigkeiten nicht mehr verzichten wollte.
»Verdammt heiß siehst du aus«, meinte er mit zuckersüßer Stimme.
»Verschwinde lieber, sonst muss ich kotzen«
»Das glaube ich nicht. Oder leidest du an Bulimie, wie so viele junge Frauen, die mit Gewalt schlank sein wollen?«
Anke ärgerte sich darüber, wie aalglatt er ihre Abfuhr überging.
»Dieser Reitsport hat wirklich seine Vorzüge«, machte er einen neuen Anlauf; als sie an ihm vorbeiging, gab er ihr einen Klaps auf den Po.
Im gleichen Augenblick, als Anke ihn anschnauzen wollte, betraten Esther Weis und Jürgen Schnur den Flur. Als sie Anke und Esche sahen, meinten sie vergnügt: »Hey ihr Beiden, es gibt schönere Orte, den gemeinsamen Feierabend zu verbringen. Gelegenheiten, Überstunden zu machen, bekommt ihr noch genug.«
Mit dem Ausdruck unverschämter Zufriedenheit verschwand Esche in seinem Büro, während Anke mit hochrotem Kopf das Gebäude verließ.
Sie hätte dem Kollegen Jürgen Schnur mehr Feingefühl zugetraut. Seit Anke auf dieser Dienststelle arbeitete, kannte sie ihn als zuverlässigen und aufmerksamen Mitarbeiter, der immer sachlich blieb. Wie war es möglich, dass er sich plötzlich zu oberflächlichen Floskeln hinreißen ließ?
Esther war ihm vor zwei Jahren als Teamkollegin zugeteilt worden. Hatte sie ihn schon beeinflusst?
Während Esther ihr Leben in vollen Zügen genoss, war Jürgen seit vielen Jahren glücklich verheiratet und hatte kein Interesse an Abenteuern. Esther bemühte sich ständig, Jürgen von seinem Pfad der Tugend abzubringen, bisher erfolglos. Sie wusste ihr Glück gar nicht zu schätzen. Ihre beruflichen Aussichten waren stabil und sicher. Aber Anke stand vor der Frage, welchem Kollegen sie zugeteilt werden würde, wenn Kullmann nicht mehr da war. Jürgen Schnur wäre ihr am liebsten gewesen, weil er es gut verstand, Arbeit und Privatleben zu trennen, ohne andere damit zu verletzen.
Bei diesen Gedanken seufzte sie.
Kullmanns Weggang würde viele Veränderungen bringen. Dabei war es ausgerechnet Kullmann, der immer beteuerte, jeder Mensch sei zu ersetzen. In seinem Fall war sich Anke nicht so sicher.
*
Der Stall lag am Rande von Saarbrücken im Stadtteil Gersweiler. Es war eine große Reitanlage direkt am Stadtwald mit zwei Reithallen und einem großen Außenplatz. Als Anke vorfuhr, sah sie, dass großer Betrieb auf dem Reitplatz herrschte. Viele Reiter gaben zusammen mit ihren Pferden ein sehr lebendiges Bild ab. Einige Pferde bewegten sich sehr gelassen und zufrieden und erhielten ständig Lob von ihren Reitern. Andere Reiter hingegen wirkten so, als müssten sie ständig gegen ihr Pferd ankämpfen, wodurch Reiter und Pferd äußerst verkrampft aussahen. Ständig nörgelten sie an den Pferden herum, die darauf wiederum nur noch widerspenstiger reagierten, was manchmal ausgesprochen lustig wirkte.
Anke tauchte in eine andere Welt, wenn sie Wiehern hörte und den Duft von Ammoniak roch. Manche lästerten von Gestank, andere sogen diesen Geruch ein und empfanden ihn als eine Wohltat für die Nase. So auch Anke. Sie baute sich hier eine heile Welt auf, in der sie eine Sprache lernte, die meilenweit von dem formalen, trockenen Amtsdeutsch entfernt war, zu dem sie ihr Beruf verpflichtete. Wer wusste schon, was beim Striegeln, Trensen oder Satteln zu tun war, was Schenkelweichen, am Zügel gehen oder in einer Abteilung reiten bedeutete. Das sollte auch so bleiben, und Anke würde sich nie verpflichtet fühlen, diese Dinge einem Außenstehenden zu erläutern. Die vielen neuen Wörter waren wie die geheimen Pforten, die sich früher nur in Märchen für sie geöffnet hatten. Jetzt konnte sie ganz für sich mit diesen Wörtern den Zugang zu ihrem Reiten ermöglichen. Sie befanden sich in ihrem Besitz und waren dort wohl verwahrt. Und sie schafften auch neue Beziehungen zu den anderen Reitern in dem bunten Karussell von Ablehnung und Freundschaft, von Neid und Vertrauen, das sich mit vielen Überraschungen drehte und immer wieder mit neuem Leben füllte. Genau wie im Dienst, kam es ihr in den Sinn, nur mit anderen Vorzeichen. Hier konnte sie sich jederzeit zurückziehen und sich schützen. Ihren Dienst verrichtete sie mit zuversichtlichem Ehrgeiz; hier konnte sie die vielen Vorschriften vergessen.
Kaum war sie aus ihrem Auto ausgestiegen, wurde sie von einem lustigen kleinen Hund begrüßt, der so begeistert an ihren Beinen hochsprang, als hätte er sie schon lange vermisst. Anke kannte den kleinen schwarz-weiß gescheckten Jack-Russel-Terrier; es war Rambo, einer von Susannes Hunden, der Reitlehrerin.
Nach dieser wilden Begrüßung ging sie zielstrebig auf die Stallungen zu. Die Fenster der Pferdeboxen waren alle geöffnet, und neugierige Köpfe schauten heraus. Erwartungsvoll rief sie Rondos Namen. Rondo war der Fuchswallach, den sie in den Schulstunden ritt. Das große Pferd reagierte tatsächlich mit einem leisen Brummeln auf ihre Stimme. Glücklich ging sie auf ihn zu und begrüßte ihn mit Leckerli und Möhren, die sie immer bei sich trug, wenn sie zum Stall fuhr. Aufgeregt betrat sie die Stallgasse, um das Pferd aus der Box heraus auf die Anbindestelle vor dem Stall zu führen, als sie erschrocken zurückweichen musste. Peter Biehler, Besitzer zweier großer Turnierpferde, kam mit seinem Schimmelwallach gerade aus der Stallgasse heraus und führte das Pferd rücksichtslos an ihr vorbei, so dass Anke Mühe hatte, sich nicht von dem riesengroßen Pferd auf die Füße treten zu lassen.
»Kannst du mich nicht vorwarnen?«, rief sie empört, doch Peter tat so, als hörte er nichts. Verärgert schüttelte Anke den Kopf. Sie kannte Peter Biehler zufällig dienstlich, denn er war bei der Verkehrspolizei beschäftigt. Mit dieser Dienststelle kam Anke selten in Berührung, was sie gerade in diesem Moment als großes Glück empfand. »Benimmst du dich auf deiner Dienststelle genauso unverschämt?«, fragte sie, erhielt aber keine Antwort von Peter Biehler.
»Du kennst doch die Wohlverhaltenspflicht der Polizei, die sich auf unser Verhalten im Privatbereich bezieht? Das betrifft auch dich«, fügte sie noch erboster an, als plötzlich ein Reiter aus der dunklen Stallgasse auf sie zutrat und meinte: »Stör dich nicht daran, Peter ist unverbesserlich.«
Erstaunt schaute sie zu ihm hinauf und sah in das sympathische Gesicht eines Mannes, den sie noch nicht kannte. Er hatte hellblonde Haare und so strahlend blaue Augen, dass sie es sogar in der dunklen Stallgasse deutlich erkennen konnte. Sein Lächeln wirkte hypnotisierend auf sie, sodass Anke sofort ihre Wut auf Peter Biehler vergaß.
»Ich bin Robert.«
Als Rondo begann, mit den Hufen gegen die Boxenwand zu schlagen, ging Anke zu ihm in die Box, zog ihm das Halfter über den Kopf und führte ihn damit aus der Stallgasse zum Anbindeplatz, der in der wärmenden Frühlingssonne lag.
»Ich habe dir schon einige Male beim Reiten zugesehen und erkannt, dass du Talent hast«, folgte Robert ihr. Anke fühlte sich sehr geschmeichelt. Außerdem gefiel ihr Robert. Sein Lachen wirkte so ansteckend und seine ruhige Stimme so aufrichtig. Sie hegte keinen Zweifel an seinen Worten.
Als sie Rondo auf den Reitplatz führte, spürte sie großes Unbehagen, das sich auch sofort auf den sonst so ruhigen Wallach übertrug. Immerhin war es das erste Mal, dass sie draußen reiten sollte. Dort fehlte ihr einfach der vermeintliche Schutz der Halle, der ihr das Gefühl gab, dass das Pferd nicht weit laufen konnte. Aber hier auf dem Reitplatz, der von keiner Seite abgesperrt war, sah alles ganz anders aus. Wenn ihr hier das Pferd einfach durchgehen sollte, konnte es mit ihr hinlaufen, wohin es wollte, falls sie nicht schon vorher auf den harten Boden gefallen wäre. Den ganzen Tag hatte sie sich unbändig auf die erste Stunde im Freien gefreut, doch als sie sah, wie rücksichtslos Peter Biehler über den Platz galoppierte, ahnte sie, dass es eine schwere Herausforderung für sie werden würde, unter diesen Bedingungen auf dem Reitplatz zu reiten.
Sie stieg in den Sattel.
Wie ein Wilder jagte Peter Biehler seinen Schimmel über den großen Reitplatz, als gäbe es keine Bahnregeln. Einige Hindernisse standen auf dem Platz, über die er sprang, ohne vorher darauf aufmerksam zu machen. Er zwang die übrigen Reiter selbst zu erahnen, was er als nächstes vorhätte, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Am Rand des Reitplatzes stand Peters Frau Sybille. Ihre strohblonden, dauergewellten Haare schimmerten grell in der Sonne und ständig feuerte sie ihren Mann mit schrillen Rufen an. Als Anke in ihre Nähe kam, hörte sie: »Toll, mein Schatz. Das hast du wunderbar gemacht.«
Das Einzige, was Anke von Peter Biehler wahrnahm, war, dass er Helmut Keller, einem Turnierreiter, in die Quere geritten war, so dass dieser sein Pferd hastig herumreißen musste, um nicht mit Peters Schimmel zusammenzustoßen. Helmut Keller fiel Anke gelegentlich auf, wie er gekonnt seine Pferde trainierte. Seine reiterlichen Fähigkeiten waren in ihren Augen bewundernswert. Insgeheim wünschte Anke sich, wie Helmut Keller auf dem Pferd sitzen zu können. Gerne schaute sie ihm beim Reiten zu, weil sie glaubte, allein vom Zugucken eine Menge von ihm lernen zu können.
»Du Idiot!«, schrie Helmut Keller wütend, womit er Anke ganz unsanft aus ihren Gedanken riss. »Auf dem Außenplatz gelten dieselben Bahnregeln wie in der Halle. Aber wahrscheinlich kennst du die noch gar nicht.«
Peter Biehler lachte nur gehässig und galoppierte gerade zum Trotz noch einmal besonders dicht an Helmut Kellers Pferd vorbei.
»Du kannst wohl nicht anders: immer nur Scheiße bauen und anderen in die Quere reiten?«
»Das musst du gerade sagen. Wer hat denn hier die große Scheiße gebaut?«, lachte Peter Biehler so zynisch, dass es Anke eiskalt den Rücken herunter lief. Boshaftigkeit schwang in seinem Tonfall mit.
»Glaub nicht, dass du mir drohen kannst«, erwiderte Helmut Keller nicht weniger feindselig, doch Peter Biehler lachte nur überheblich, erwiderte nichts mehr.
Vorsichtig ritt Anke im Schritt ganz am Rand des Platzes entlang, um sich von diesen beiden Streithähnen fernzuhalten. Aber schon nach kurzer Zeit rief die Reitlehrerin Anke zu sich und meinte, dass sie sich der Abteilung anschließen sollte, weil sie ihre Reitschüler nicht korrigieren könnte, wenn sie alle durcheinander ritten. Anke nickte und ritt los.
Völlig konzentriert begann Anke mit den Übungen, die die Reitlehrerin ihr auftrug. Die Rittigkeit des Pferdes zu erlangen, war das Grundprinzip des Reitens, was nur durch gymnastizierende Übungen, wie Schenkelweichen oder Tempowechsel zu erreichen war. Anke spürte, dass ihre Arbeit Erfolg hatte, weil Rondos verkrampfter Rücken sich entspannte. Er begann zufrieden an seinem Gebiss zu kauen, das direkt mit den Zügeln verbunden war, die Anke in beiden Händen hielt und mit denen sie ihre Paraden gab, von denen die Reitlehrerin immer wieder sprach.
Doch plötzlich sah sie ganz dicht vor ihrem Pferd den großen Schimmel von Peter Biehler, der gerade im Begriff war, das Hindernis anzureiten, das in der Mitte der Bahn stand. Er war direkt vor ihr abgebogen, so dass er ihrem Pferd den Weg abschnitt. Rondo erschrak so sehr, dass er zuerst einen heftigen Satz zur Seite machte und anschließend wilde Bocksprünge veranstaltete. Lange Zeit gelang es Anke, sich im Sattel zu halten, doch dann ließ die Kraft nach und mit aller Wucht fiel sie zu Boden.
Zuerst sah sie nichts mehr, ihr war schwarz vor den Augen. Dann glaubte sie, ersticken zu müssen. Sie bekam keine Luft mehr. Nach Atem ringend wälzte sie sich im Sand, bis Robert zu ihr gelaufen kam, sie auf den Rücken legte und sie in dieser Stellung auf den Boden lagerte.
»Ganz ruhig, Anke. Bleib so liegen, die Luft kommt wieder«, sprach er auf sie ein.
Er hatte Recht. Plötzlich war der Krampf verschwunden. Gierig atmete Anke ein.
»Mein Gott, was war das?«, fragte sie, als sie endlich wieder sprechen konnte.
»Das war einfach nur eine Verkrampfung der Brustmuskulatur. Das passiert schon mal bei einem heftigen Sturz. Da bist du keine Ausnahme. Hoffentlich ist sonst nichts passiert«, erklärte Robert mit seiner ruhigen Stimme, die Anke so angenehm empfand.
Er half ihr beim Aufstehen und beobachtete sie aufmerksam, um erkennen zu können, ob sie sich irgendeine Verletzung an den Knochen zugezogen hatte. Dankend lächelte Anke ihn an und versicherte ihm, dass es ihr gut ging. Erst als er diese Gewissheit hatte, entfernte er sich einige Meter von ihr, weil er der Reitlehrerin Platz machen wollte, die auf die beiden zukam. Genau in diesem Augenblick kam Peter von hinten auf Robert zugeritten und rief mit einer überlauten Stimme: »Verschwinde vom Platz, du Erbschleicher. Du störst hier.«
Verwirrt schaute Anke auf Peter, dessen Gesicht hasserfüllt war. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Legte Peter sich hier im Stall mit jedem an, koste es, was es wolle?
Über diese Frage konnte sie jedoch nicht lange nachdenken, weil die Reitlehrerin sich zu ihr gesellte. Sie führte Rondo neben sich her, der ganz geduldig aussah, als wäre nichts geschehen.
Erleichtert nahm Anke Rondos Zügel in die Hand und stieg wieder in den Sattel. Deutlich spürte sie, dass ihre Unsicherheit noch größer geworden war, aber die Reitlehrerin hatte ihr immer wieder geraten, nach einem Sturz schnell wieder aufzusteigen, weil man nur so das angsterregende Erlebnis des Sturzes vergessen könnte.
»Rondo hat sich wirklich erschreckt«, erklärte die Reitlehrerin. »Ich habe Peter zwar angehalten, sich wenigstens während der Reitstunden an die Bahnregeln zu halten, aber es hat nichts genutzt. Die anderen Reitschüler und ich haben beschlossen, in die Halle auszuweichen.«
Diese Idee fand Anke klasse. Sie sah gerade, wie Peter wieder einem Reiter gnadenlos in den Weg ritt und diesen anschrie: »Du hast wohl schon wieder so viel gesoffen, dass du nicht mehr klar sehen kannst.« Der Mann tat so, als habe er nichts gehört und ritt unbeirrt weiter. Doch damit gab Peter sich nicht zufrieden. Wütend fügte er an: »Vergiss nicht, ich bin bei der Verkehrspolizei. Das, was du säufst, reicht locker für den Führerschein. Ein Anruf genügt.«
Nun brachte der Mann sein Pferd zum Halten, schaute auf Peter Biehler und fragte ihn: »Willst du mir drohen? Das kann ich auch. Ich habe schon herausbekommen, wer dein Chef ist und glaube mir, noch so eine Bemerkung und ich werde deinem Chef mal einen Bericht erstatten, wie du dich als Bulle hier im Reitstall aufführst. Das hat Folgen.«
Diese Drohung überhörte Biehler. Unverdrossen ritt er das nächste Hindernis an.
»Ist er das Hindernis überhaupt gesprungen, für das ich vom Pferd fallen musste?«, interessierte sich Anke nun, nachdem sie den Eindruck gewonnen hatte, dass Biehler sich ausnahmslos mit jedem im Stall anlegte.
»Nein! Es war das Übliche, das Pferd hat verweigert«, lachte Robert. »Jetzt meint er, dass du daran schuld bist.«
»Klar, Biehler braucht jemanden, dem er die Schuld geben kann.«
»Weißt du, bei Leuten, deren Ansprüche von ihren Fähigkeiten sehr weit entfernt sind, fällt mir oft auf, dass sie anderen die Schuld für ihr Versagen zuweisen wollen«, stimmte Robert zu.
Wieder ritt Peter den hohen Oxer an, gab seinem Pferd ordentlich die Sporen und sprang los. Zu Ankes Belustigung sprang Peter alleine, ohne sein Pferd. Der Schimmel schien schlauer als sein Reiter zu sein, denn er blieb vor dem Hindernis stehen und schaute seinem Reiter zu, wie er mit Wucht in die vielen Stangen donnerte und mit einem lauten Krachen auf dem Boden aufschlug.
Anke konnte sich ihr Lachen einfach nicht verkneifen. Das geschieht ihm gerade recht, dachte sie.
Obwohl sie noch nicht sehr viel vom Reiten verstand, erkannte sie ganz deutlich, dass Biehler kein Gefühl für Pferde hatte. Das Einzige, was er bereits besaß, war eine plumpe Überheblichkeit, die er nicht nur hier zeigte. Auf seiner Dienststelle verhielt er sich genauso. Von ihrem Kollegen Bernhard Diez erfuhr Anke regelmäßig, wie schwierig es war, mit ihm zusammenzuarbeiten.
Sie ritt durch das Hallentor und fand Anschluss an ihre Abteilung. Durch den Sturz fühlte Anke sich etwas mulmig, aber sie ritt mutig die Stunde zu Ende.
Spät am Abend schlenderte sie gemeinsam mit Robert zum Parkplatz, wo nur noch zwei Autos standen. Neben Roberts silbergrauem Mercedes-Geländewagen ML 500 wirkte Ankes alter Polo noch kleiner als sonst.
»Am Sonntag reitet Peter Biehler auf dem Turnier in St. Arnual. Was hältst du davon, wenn wir dort zuschauen? Es wird bestimmt ganz lustig«, schlug Robert zum Abschied vor.
Als Anke Biehlers Namen hörte, erinnerte sie sich wieder daran, wie er sich auf dem Reitplatz aufgeführt hatte. Nun konnte sie nicht mehr umhin, Robert zu fragen: »Was meinte Peter eigentlich mit der Bemerkung Erbschleicher?«
»Das ist eine lange Geschichte, die ich dir am Sonntag erzählen werde«, schlug Robert verschmitzt vor, so dass Anke der Verabredung zum Turnier zustimmen musste. Außerdem wollte sie wirklich wissen, wie Biehler sich auf einem Turnier schlagen wollte, wenn er es noch nicht einmal im Training schaffte, über einen Oxer zu springen.
Am nächsten Morgen kam Anke zum ersten Mal zu spät zur Arbeit. Die Schmerzen im Genick und in der Schulter hatten sie fast die ganze Nacht wach gehalten. Außerdem spürte sie einen äußerst ungewohnten und quälenden Schmerz in ihrer Brustmuskulatur. Eine Erinnerung an die kurzzeitige Verkrampfung, als sie um Luft ringen musste. Erst am Morgen war sie eingeschlafen, aber nach zwei Stunden hatte gnadenlos der Wecker gerappelt. Der Schmerz war so schlimm, dass sie alle Mühe hatte, aus dem Bett aufzustehen. Völlig übernächtigt fühlte sie sich, als sie durch den langen Flur in ihr Büro schlurfte. Sogar Beine und Gesäß schmerzten bei jedem Schritt. Dabei hatte sie doch tatsächlich gedacht, dass diese Phase endlich vorüber sei, als sie nach jeder Reitstunde sämtliche Muskeln spürte, von deren Existenz sie früher niemals auch nur das Geringste geahnt hatte.
Hübner hatte ihre schlechte Verfassung sofort bemerkt und eilte ihr mit höhnischen Kommentaren hinterher. Anke wunderte sich über sein Verhalten. Inzwischen waren sie seit zwei Jahren getrennt. Ihre Beziehung war nur noch freundschaftlicher und kollegialer Natur, trotz Hübners steter Hoffnung, sie würden wieder ein Paar. Aber mit diesen abfälligen Bemerkungen über ihre Schmerzen nach dem Sturz vom Pferd verbaute er sich jede noch so kleine Chance. Dessen müsste er sich doch bewusst sein.
Anke hinderte ihn daran, in ihren Dienstraum einzutreten, indem sie ihm heftig die Tür vor der Nase zuschlug. Sie hatte keine Lust, mit ihm zu reden, wenn er in dieser Stimmung war. Als erstes kochte sie Kaffee, worauf Kullmann mit Sicherheit schon sehnsüchtig wartete. Während die schwarze Brühe knatternd durch den Filter lief, überlegte sie, welchen schmerzenden Körperteil sie zuerst massieren sollte. Aber sie entschloss stattdessen, sich so wenig wie möglich zu bewegen, weil nur dann der Schmerz nachließ.
Mit einer Tasse Kaffee in der zitternden Hand betrat sie nach einer Weile Kullmanns Büro.
Als Kullmann aufsah, wollte er lächeln, aber als er Anke sah, fragte er erschrocken: »Was ist passiert?«
»Ich bin gestern vom Pferd gefallen«, erklärte Anke abwinkend, womit sie Kullmann zum Lachen bringen konnte.
»Sie kennen meine Überzeugung: Sport ist Mord.« Kullmann wirkte erleichtert. »Ich bin ja froh, dass Sie sich nicht verletzt haben. Schließlich sind Sie hier der Sonnenschein in diesen grauen Büroräumen. Was wäre ich nur ohne Sie?«
»Sie sind gut«, tadelte Anke gespielt und ließ sich umständlich auf den Stuhl gegenüber vom Schreibtisch sinken, »Sie verlassen uns in einem halben Jahr. Und was bin ich dann ohne Sie?«
»Ich gehe in Pension, das heißt aber nicht, dass ich nicht mehr da sein werde«, versicherte Kullmann.
»Ja, das weiß ich, trotzdem werden Sie mir sehr fehlen«, bekannte Anke.
»Zuerst müssen wir den Fall Luise Spengler zum Abschluss bringen. Vorher werde ich nicht zur Ruhe kommen.«
Nachdenklich verließ Anke das Zimmer und begab sich an ihren Platz. Sie konnte Kullmanns Sorgen gut verstehen, da sie selbst am besten wusste, wie schwer es war, im Fall Spengler weiterzukommen. Diese zähe Arbeit vermischte sich mit ihren Zweifeln, warum Kullmann so verbissen an seiner Überzeugung festhielt, dass Luise Spengler ermordet worden war. Diese Beharrlichkeit gab ihr das unbestimmte Gefühl, dass für ihren Chef mehr dahinter steckte als nur ein Fall, der bearbeitet werden musste. Aber mit dieser Vermutung hielt sie sich bedeckt, weil sie befürchtete, Kullmann damit zu verärgern.
Zunächst machte sie sich an die Arbeit, die auf ihrem Schreibtisch lag. Der Berg Akten wartete ohnehin schon lange darauf, von ihr bearbeitet zu werden. Wann war die Zeit günstiger als gerade jetzt. Ihre Verfassung fesselte sie regelrecht an den Stuhl, und deshalb wollte sie die Gelegenheit nutzen.
»Na, du flottes Reitermäuschen«, betrat Esche ihr Büro und schenkte sich ohne zu fragen Kaffee ein.
»Spar dir deine blöden Kommentare«, konterte Anke böse.
Heute trug Esche einen Anzug, dessen Marke Anke nicht kannte, weil sie sich bei den Edelklamotten nicht so gut auskannte. Tadellos erschien sein Aussehen. Er sparte nicht an protzigen Zutaten, trug auch heute wieder seine Goldkette, die Anke trotz ihres offensichtlichen Wertes nicht gefiel. Er sah aus wie ein Zuhälter. Und wenn sie gleichzeitig Esches Verhalten beobachtete, empfand sie diesen Vergleich gar nicht mal so unmöglich. Dieses modische Gehabe hatte er am Anfang seiner Dienstzeit noch nicht gezeigt, das wusste Anke genau. Erst in der letzten Zeit legte er immer mehr Wert auf seine äußere Erscheinung, wobei es schon verwunderlich war, wie er sich diesen Designerkram leisten konnte. Wenn er jedoch glaubte, damit seine Chancen bei ihr aufzubessern, dann täuschte er sich. Trotz seines guten Aussehens blieb sein Auftreten unverändert vulgär. Sie war seine geschmacklosen Annäherungsversuche leid, ja sie fürchtete sich davor. Wenn er nur im gleichen Raum war wie sie, spürte sie, wie sie sich verkrampfte und sich am liebsten unsichtbar machen würde, weil sie von ihm nicht gesehen werden wollte. Er hatte einen Blick, als könnte er durch ihre Kleider hindurch sehen – in seiner Gegenwart fühlte sie sich ständig nackt.
»Gibt es Neues in Sachen Luise Spengler?«, fragte Esche wie so oft, und Anke verneinte wie so oft.
Seit Nimmsgerns Tod arbeitete Esche auf eigenen Wunsch mit Hübner zusammen an dem Fall des ermordeten Kollegen. Sein Interesse an ihren Fortschritten im Fall Spengler erstaunte sie daher, weil er nicht zu seiner Arbeit gehörte. Sie hegte den Verdacht, er wollte kontrollieren, dass sie nicht mehr erreichte als er. Schließlich ging es um eine Beförderung, und da lagen alle auf der Lauer. Leider ließen ausgerechnet jetzt die Ergebnisse auf sich warten.
Bevor Esche das Büro verließ, meinte er noch: »Du wirkst angeschlagen. Bist du vom Pferd gefallen?«
Über diese Frage ärgerte Anke sich, weil die Ironie nicht zu überhören war. Warum bereitete es den Kollegen so große Freude, wenn sie Schmerzen hatte?
»Die einen fallen vielleicht vom Pferd, andere fallen nur blöd auf. Verschwinde jetzt! Ich muss meine Arbeit machen.«
Darüber konnte Esche nur lachen. Belustigt fügte er an: »Deine Entscheidung für den Reitsport war wirklich eine glänzende Idee. Seitdem musst du Probleme lösen, die du vorher nicht hattest.«
Wutschnaubend warf Anke eine Akte nach ihm, doch er hatte die Tür schnell genug zugeschlagen, so dass der Papierstapel dagegen prallte.
*
Nach Feierabend beschloss Anke kurzerhand, in den Stall zu fahren. Sie hoffte, Robert wieder zu sehen. Seit sie den gutaussehenden Mann kennengelernt hatte, wollte er nicht mehr aus ihrem Kopf. Schon lange hatte sie dieses Gefühl nicht mehr gekannt, das Kribbeln im Bauch, als seien dort tausend Schmetterlinge zum Leben erwacht.
Als sie auf den Stall zuging, hörte sie Stimmen. Mit jedem Schritt, den sie näher an das Gebäude herantrat, wurden die Stimmen lauter. Neugierig schlich Anke sich die letzten Meter heran, damit sie etwas verstehen konnte.
»Ich weiß zufällig, wie es in Altenheimen zugeht. Du brauchst nicht zu glauben, du könntest mich für dumm verkaufen. Die Alte hat dir das Erbe versprochen und ein paar Tage später ist sie tot. Das ist kein Zufall, und ich werde dir das beweisen«, schrie gerade Peter Biehler. Unüberhörbarer Hass schwang in seiner Stimme mit, der Anke frösteln ließ.
»Ich weiß nicht, was dich das angeht, aber wenn du dir die Finger verbrennen willst, bitte schön.« Anke erschrak, denn die andere Stimme gehörte eindeutig zu Robert.
»Wer sich hier die Finger verbrennt, werden wir ja noch sehen«, konterte Biehler.
»Weißt du, was mir an der Sache am meisten Spaß macht: Du kommst um vor Neid. Dir ist dein Geld schon lange hoch zu Kopfe gestiegen. Noch nie in deinem Leben hast du einen Gedanken daran verschwenden müssen, wie wichtig es ist, die eigene Existenz zu sichern, weil dir alles in den Schoß gefallen ist«, ließ Robert sich nicht aus dem Konzept bringen.
»Mein Geld steht mir zu, das geht dich nichts an«, stellte Biehler klar.
»Du bist vom Geld so verdorben, dass du unfähig bist, anderen etwas zu gönnen«, überging Robert einfach Biehlers Kommentar.
»Ich werde dafür sorgen, dass jeder erfährt, wie du zu deinem Geld gekommen bist – nämlich über den Tod deiner Tante«, wurde Biehler immer lauter.
»Wie denn? Du bist Verkehrspolizist und hast gar keine Befugnisse, außerhalb deiner verantwortlichen Zuständigkeit zu recherchieren, wo es nichts zu recherchieren gibt.«
Anke sah, wie die beiden mit verzerrten Gesichtern sich dicht gegenüberstanden. Bei dieser Szene fiel ihr wieder ein, wie gehässig und öffentlich Peter ihn am Vortag noch »Erbschleicher« genannt hatte. Nun begann sie zu verstehen, was er damit gemeint hatte. Aber warum wollte er das Erbe anfechten? War es nur Neid oder steckte mehr dahinter?
Nachdenklich verließ Anke diese Ecke der Stallgasse wieder, wo sie fast von Peters Frau Sybille, die einen großen Fuchswallach neben sich herführte, überrannt wurde.
»Kannst du dich nicht ankündigen, bevor du die Leute umrennst?«, schimpfte Anke, doch Sybille würdigte sie nicht eines Blickes.
Kopfschüttelnd ging Anke hinaus in den sonnigen Hof.
»Anke, wie schön, dich heute hier zu sehen«, kam Robert auf sie zu. Mit seinen himmelblauen Augen strahlte er sie an, dass Anke sofort ihre Zweifel in weite Ferne schob. Welch eine Ausstrahlung er doch hatte, staunte sie. Er trug Reithosen, die seine sportliche Figur betonten, und ein blaues Hemd, das sein ebenmäßiges Gesicht noch freundlicher wirken ließ. Er weiß sich zu kleiden, dachte Anke und kam sich neben ihm so gewöhnlich vor. Wie immer trug sie eine verwaschene Jeans und ein weites T-Shirt. Vielleicht sollte sie an ihrer Garderobe etwas ändern.
Biehler kam mit seinem Fuchswallach aus dem Stall, von dem Anke vor wenigen Minuten fast umgerannt worden wäre. Er stieg auf das große Pferd auf und ritt auf den Außenplatz, der voller Hindernisse stand.
»Ich gestehe dir, dass ich eben etwas von eurem Gespräch mitbekommen habe«, meinte Anke, während sie nach draußen blickte.
»Das möchte ich dir erklären.«
Verwundert über die Ernsthaftigkeit, mit der Robert plötzlich sprach, schaute Anke ihn an.
»Es ist ganz einfach: ich habe viel Geld von meiner Tante Katharina geerbt. Sie war Patientin in dem Altenheim, in dem ich als Altenpfleger arbeite. Sie hat keine Familie. Was spricht also dagegen, dass sie ihren einzigen Neffen beerbt?«
»Nichts. Nur was stört Peter Biehler daran? Hat er auch einen Anspruch auf das Geld?«
»Nein, er hat von einer früheren Freundin den Floh ins Ohr gesetzt bekommen, dass es kein Zufall ist, dass die Tante wenige Tage, nachdem sie das Testament aufgesetzt hatte, gestorben ist.«
»Biehler meint also, du hättest nachgeholfen?«, staunte Anke über die grausame Bedeutung dieser Unterstellung.
Robert nickte.
»Wie kann diese frühere Freundin so etwas behaupten? Arbeitet sie auch in dem Altenheim?«
»Nein, ich kenne diese Frau nicht. Angeblich hatte sie einen Verwandten in unserem Altenheim, der dort ebenfalls plötzlich verstorben ist. Das Problem ist, dass alte Menschen sterben, nur wollen die Angehörigen das nicht einsehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in unserem Haus Sterbehilfe geleistet wird.«
»In letzter Zeit sind in Deutschland einige Fälle von Sterbehilfe in Altenheimen aufgedeckt worden. Da wird die Polizei gleich hellhörig, wenn ein älterer Patient unter verdächtigen Umständen stirbt. Kein normal denkender Altenpfleger würde dieses Risiko eingehen«, stimmte Anke zu.
Als sie sich dem Reitplatz näherten, hörten sie ein lautes Streitgespräch zwischen Peter Biehler und Nadja Basten. Gemeinsam mit einem anderen Reiter war Nadja damit beschäftigt, die Hindernisse zu einem Parcours umzubauen, der in der Springstunde trainiert werden sollte. Sie warf die Stangen eines Oxers auf den Boden und stellte die Ständer an einen anderen Platz, als Biehler sie laut anschrie: »Stell das Hindernis gefälligst wieder so hin, wie es gestanden hat. Was meinst du, warum ich mir das so aufbaue?«
Ein kleiner braun-weiß gescheckter Hund sprang immer zwischen Nadja und Biehler hin und her und bellte den Reiter unentwegt an.
Nadja schaute Biehler böse an und giftete zurück: »Jeder hier weiß, dass heute Springstunde ist, und jeder weiß, dass man dafür einen Parcours aufbauen muss. Nur du nicht. Wenn du springen willst, dann mach das an einem anderen Tag.«
Aber Biehler wollte nicht nachgeben. Unwirsch blaffte er zurück: »Dann bau doch wenigstens etwas auf, das man springen kann, und wirf nicht alles durcheinander.«
Immer noch bellte der kleine Hund dazwischen, dass Anke Mühe hatte, alles zu verstehen.
»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich hier Hindernisse aufbaue, während du ohne Rücksicht darüber springst.«
»Das darf doch nicht wahr sein!«, schrie Biehler außer sich.
Aber für Nadja war das Thema erledigt. Gerade zum Trotz ließ sie alle Stangen kreuz und quer auf dem Boden liegen, damit Biehler gar keine Möglichkeit zum Springen bekam. Ihm blieb nichts anderes übrig, als um den Stangensalat herumzureiten. Nur der kleine Hund hatte eine Riesenfreude an dem Wirrwarr. Munter sprang er von allen Seiten darüber und freute sich über das Lob, das er von Nadja dafür bekam.
Nadja wollte gerade den Reitplatz verlassen, als Biehler ganz dicht an ihr vorbei ritt, sodass sie schon befürchtete, er wollte sie umreiten.
»Du wirst mich noch kennen lernen, Fräuleinchen«, rief er ihr drohend zu.
»Wenn du mich umreitest, dann ist aber was los hier«, konterte Nadja nicht minder böse.
»Halt bloß die Schnauze!«, schrie Biehler ungehalten. »Wenn hier was los ist, wirst du das schon merken.«
»Ich lass mir von dir nicht sagen, dass ich die Schnauze halten soll.«
Mit diesen Worten verließ Nadja den Platz.
Anke hatte genug gesehen und verließ den Reitstall.
*