Kullmann ist auf den Hund gekommen - Elke Schwab - E-Book

Kullmann ist auf den Hund gekommen E-Book

Elke Schwab

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Beschreibung

Die Kriminalkommissarin Anke Deister lässt sich von ihrer Tochter Lisa dazu überreden, an einer Hundewanderung des Vereins "Hunde und Katzen in Not e.V." teilzunehmen. Doch der ersehnte Spaß mit den vielen Hunden bleibt aus, als sie mitten im Mühlenwald bei Saarbrücken-Auersmacher einen Toten finden, der auf einem provisorischen Scheiterhaufen verbrannt wurde. Der Tatort ist für den Tierschutzverein kein unbekannter Ort, weil dort bereits mehrere Hunde an Giftködern gestorben sind. Als die Kriminalkommissare mit ihren Ermittlungen nicht mehr weiterkommen, rufen sie den Altmeister Norbert Kullmann zu Hilfe. Der ehemalige Kriminalhauptkommissar verliebt sich in einen aus der Tötung geretteten Hund und beschließt, den Fall auf seine altherkömmliche Art und Weise aufzurollen. Bei langen Spaziergängen mit seinem Hund "Dr. Watson" im Mühlenwald bekommt er den besten Einblick in den Kriminalfall. Dabei kommt er dem Täter zu nah …

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Elke Schwab

Kullmann ist auf den Hund gekommen

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Büro Forseti

Kapitel 1

Büro Forseti

Kapitel 2

Büro Forseti

Kapitel 3

Büro Forseti

Kapitel 4

Büro Forseti

Kapitel 5

Büro Forseti

Kapitel 6

Büro Forseti

Kapitel 7

Büro Forseti

Kapitel 8

Büro Forseti

Kapitel 9

Büro Forseti

Kapitel 10

Büro Forseti

Kapitel 11

Büro Forseti

Kapitel 12

Büro Forseti

Kapitel 13

Büro Forseti

Kapitel 14

Büro Forseti

Kapitel 15

Kapitel 16

Epilog

Über die Autorin

Kommissar Norbert Kullmann & Co.

Impressum neobooks

Prolog

Elke Schwab

Kullmann ist auf den Hund

gekommen

Kullmann-Reihe 11

Kullmann

ist

auf den Hund

gekommen

Kullmann-Reihe 11

Elke Schwab

Impressum

Texte: © Copyright by Elke Schwab Umschlag: © Copyright by Manfred Rother

Autorenfoto: © Copyright by Manfred Rother

3. überarbeitete Auflage 2023

www.elke-schwab.blogspot.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die Straße wand sich vor seinen Augen wie eine Schlange. Die Ränder bogen sich, weiteten sich, verengten sich. Sein Gesichtsfeld schwankte, nichts befand sich an seinem Platz. Seine Atmung ging schwer. Müdigkeit lähmte seinen Kopf. Trotzdem fuhr er weiter. Er musste fahren, sich beeilen, schnell sein wie der Wind.

Grell erleuchtete Augen kamen ihm entgegen, hafteten sich an die Windschutzscheibe seines Autos. Panisch wischte er mit der freien Hand durch die Luft, um sie zu verjagen. Tatsächlich huschten sie davon. Sein Wagen machte einen Schlenker. Schwindel befiel ihn – und das Gefühl, sich erbrechen zu müssen. Die Bilder vor seinen Augen vermischten sich zu Farbexplosionen aus Rot wie Blut, grellem Orange wie Feuer, Grün wie Gift. Ein Feuerwerk schoss durch seinen Kopf, begleitet von entsetzlichen Geräuschen. Schreie, Jaulen, Jammern, Kreischen.

Sein Auto rumpelte über etwas. Ein Erdbeben! Scheiß drauf! Er musste hier weg – nur weg – immer weiter weg.

Zwei rote Augen kamen auf ihn zu. Rasend schnell. Rote Augen eines toten Tieres! Er riss das Lenkrad herum. Dabei wurde er so heftig durchgeschüttelt, dass er mit dem Kopf gegen die Decke des Wagens schleuderte. Heftiger Kopfschmerz überfiel ihn. Das Lenkrad entwickelte ein Eigenleben, riss an seinen Händen, die es loslassen wollten. Aber sie klebten daran fest. Er fühlte sich verfolgt, musste abhauen, sich in Luft auflösen.

Plötzlich verschwand die Straße spurlos. Ein großes, schwarzes Loch tat sich vor ihm auf.

Erschrocken riss er das Lenkrad rechts herum. Reifen quietschten. Metall schepperte. Verzweifelt versuchte er diese quälenden Laute zu ignorieren.

Wo war er?

Erneut überfiel ihn Schwindel.

Als sich Konturen vor seinen Augen bildeten, sah er eine Frau. Sie hielt etwas in der Hand. Stand vor etwas Großem. Er konnte nicht erkennen, was es war.

Seine Atmung setzte aus.

Verzweifelt fasste er sich mit beiden Händen an den Hals, als könnte er so wieder Luft bekommen. Sein Auto raste auf diese Frau zu. Sie lief nicht weg. Er fand die Bremse nicht. Seine Luft wurde immer knapper.

Plötzlich wurden aus dieser einen Frau ganz viele. Sie vermehrte sich in tausende von Menschen, die alle auf ihn und sein Auto zugerannt kamen. Feuersäulen schossen auf ihn zu. Er wurde geblendet. Sie wollten ihn angreifen.

Laut donnerte es.

Bunte Bilder von Feuer, Menschen, Fratzen, Blaulicht, Masken, Polizei, lachende Gesichter tauchten auf. Grelle Farben zersprangen in seinem Kopf. Schreien, Brüllen, Kreischen und Scheppern drangen an sein Ohr bis sämtliche Geräusche von Lärm, Musik und Stimmen zu einem einheitlichen Jaulen und Brummen verschmolzen.

Dann wurde alles schwarz und still.

Büro Forseti

Der pensionierte Kriminalhauptkommissar Norbert Kullmann fühlte sich auf dem ihm zugewiesenen Platz unwohl. Zwar befand er sich in seinem ehemaligen Büro, das ihm im Laufe seiner langen Dienstzeit ans Herz gewachsen war. Doch leider saß er auf der falschen Seite des Schreibtischs - auf der „Angeklagtenseite“, wie er sie selbst gern genannt hatte. Dort gehörten normalerweise diejenigen hin, die etwas ausgefressen hatten. Nicht selten hatte Kullmann diesen Menschen helfen können, weil nicht jeder zum Täter geboren war. Doch jetzt spürte er deutlich, dass ihm selbst diese Herzensgüte nicht entgegenschlug.

Dieter Forseti, sein Nachfolger, hatte eine holprige Karriere hingelegt. Vom Bundeskriminalamt Wiesbaden zum Landespolizeipräsidium Saarbrücken versetzt – was einer Degradierung gleichkam - war er innerhalb kürzester Zeit vom Kriminalhauptkommissar zum Kriminalrat aufgestiegen.

Trotzdem fühlte sich Kullmann in seiner Gegenwart weder klein noch unbedeutend. Dafür war ihm dieser Mann zu unsympathisch. Vermutlich trieb gerade diese Haltung sein Gegenüber dazu an, die Stimmung noch eisiger werden zu lassen. Trotz Heizung fror Kullmann, was er niemals zugeben würde.

Er schaute an sich herunter und schmunzelte bei dem Anblick seines Bauchs, der sich deutlich unter der dicken, grauen Weste abzeichnete. Bevor er zu seiner ehemaligen Dienststelle gegangen war, hatte er noch seinen Hausarzt aufgesucht, um seine Blutwerte zu erfahren. Der Arzt hatte ein ganz großes Drama darum gemacht, seine Fettwerte seien erhöht. Triglyceride, oder wie er das genannt hatte, machten ihm große Sorgen. Das Risiko der Gefäßverkalkung sei zu groß und da Kullmann ohnehin schon seit Jahren ein Herzleiden hatte, war der Arzt außer sich vor Sorge. Die Ernährung müsse komplett umgestellt werden. Und sein Lebenswandel.

Einerseits tat ihm der Gedanke an genau diese Veränderungen in der Seele weh. Andererseits konnte er sich ein ruhigeres Leben zusammen mit seiner Frau auch gut vorstellen. Sie würde für alles eine Lösung finden; auch würde sie nach dem neuen Ernährungsplan immer noch gutes Essen kochen. Martha war das Beste, was ihm in seinem Leben hatte passieren können. Zwar spät geheiratet, war ihre Ehe so perfekt, als seien sie schon immer zusammen gewesen. Er lächelte.

„Ihre Anwesenheit in diesem Raum dürfte kein Grund zum Grinsen sein“, durchschnitt Forsetis harte Stimme Kullmanns Gedanken.

Erschrocken richtete sich der Alt-Kommissar auf und schaute in das graue Gesicht des Kriminalrats. Verbitterung glaubte er darin zu erkennen. Während Kullmann seinen Lebensabend in einer glücklichen Zweisamkeit verbrachte, hatte Forseti nicht nur seine Dienststelle beim Bundeskriminalamt, sondern auch seine Ehe aufgegeben. Zwei Schritte, zwei Entscheidungen, die dieser Mann wohl ständig in seinem Hinterkopf mit sich trug. Seine Distanziertheit war es, die es allen in der Abteilung unmöglich machte, mit diesem Mann klarzukommen. Niemand wusste wirklich, was in Forsetis Kopf vorging.

Kullmann wollte sich auf keine unnötige Diskussion einlassen, sondern so schnell wie möglich wieder von hier verschwinden. Martha wartete auf sein Blutergebnis. Sie war bestimmt schon ganz ungeduldig. Schicksalsergeben reagierte er darauf mit einem „Durchaus nicht“, was Forseti für einige Sekunden aus der Fassung brachte. Doch schnell räusperte sich der Kriminalrat und begann zu sprechen: „Herr Kriminalhauptkommissar a.D.. Ich betone dabei ganz besonders das A Punkt D Punkt. Das bedeutet nämlich, dass Sie außer Dienst sind und keinerlei Befugnisse mehr haben, was die Ermittlungsarbeiten dieser Abteilung betrifft.“

Kullmann setzte einen neutralen Blick auf.

„Sicherlich können Sie sich denken, warum Sie hier sind.“

Kullmann schaute immer noch ganz neutral.

„Sie wissen, dass mir eine Stelle im Innenministerium angeboten worden ist. Diese Beförderung wird mir jedoch nur möglich, wenn ich den Innenminister davon überzeugen kann, dass ich in der Lage bin, meine Aufgaben in diesem Haus verantwortungsvoll zu erfüllen. Da ist ein pensionierter Kriminalhauptkommissar, der sich ständig in laufende Fälle einmischt und seine eigenen Vorstellungen von Recht und Ordnung praktiziert, nicht förderlich für meinen Leumund.“

Als Kullmann immer noch schwieg, wurde Forseti ungeduldig und fragte: „Rede ich mit der Wand?“

„Nein, mit mir.“

„Warum sagen Sie nichts?“

„Haben Sie mich etwas gefragt?“

Endlich gelangte Farbe in Forsetis Gesicht. Kullmann klopfte sich im Geiste selbst auf die Schulter. Seine Gedanken galten lediglich der Tatsache, dass Forseti schon bald ins Innenministerium versetzt werden sollte. Diesem Schritt wollte Kullmann auf gar keinen Fall im Weg stehen. Dann wäre Forseti zwar schon wieder befördert worden, dafür aber aus ihren Augen verschwunden. Also setzte er weiterhin sein neutrales Gesicht auf und wartete, bis sich die Gesichtsfarbe seines Gegenübers normalisierte.

„Ich habe Ihre Personalakte gründlich studiert. Also bilden Sie sich bloß nicht ein, ich wäre nicht über alles informiert, was Sie sich in Ihrer Laufbahn als Polizist geleistet haben. Es ist schon bezeichnend genug, dass Sie es nicht über den Kriminalhauptkommissar hinaus geschafft haben. Ihre Arbeitsmethoden haben die Verfassung des Saarlandes zwar nicht verletzt – doch Ihr Talent, Ihre Ermittlungen knapp am Rande der Legalität durchzuführen, könnte Ihnen immer noch das Genick brechen. Nicht mehr beruflich, dafür privat. Das gebe ich Ihnen zu bedenken.“

„Danke.“

„Ich hege den Verdacht, dass Sie Schuldige in Schutz nehmen“, sprach Forseti wütend weiter. „Und wie Ihre Personalakte beweist …“

„Sie arbeiten nicht in der Personalabteilung, soweit mir bekannt ist“, fiel ihm Kullmann endlich ins Wort. Auch seine Geduld hatte Grenzen. „Also sehe ich mich nicht genötigt, mir irgendwelche Kritik an meiner früheren Arbeit anzuhören. Wenn Sie mich deshalb hierher bestellt haben, war das vergebliche Liebesmüh.“

„Sie werden schnell erkennen, dass hier nichts vergeblich ist. In unserem derzeitigen Mordfall sind Ungereimtheiten aufgetreten, wozu Ihre Einmischung geführt hat.“ Forsetis Gesicht färbte sich schon wieder rot. „Zu meinem Leidwesen hat der Dienststellenleiter Jürgen Schnur Ihre Einmischung in die Ermittlungen zugelassen. Und das auch nur, weil Oberkommissarin Anke Deister Ihren Rat eingeholt hat. Das ist wohl das Los, das man zu ertragen hat, wenn man im Saarland seinen Dienst tut. Mit dem Motto ‚hier kennt jeder einen, der einen kennt‘ habe ich inzwischen zur Genüge Bekanntschaft machen müssen. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich es dulden muss.“

„Es war Ihre freiwillige Entscheidung, von Wiesbaden ins Saarland zu kommen. Sie haben das Saarland gebraucht, aber das Saarland nicht Sie.“

Stille trat ein.

Kullmann spürte deutlich, dass sein Blutdruck in die Höhe ging. Dabei hatte er doch geschworen, sich von diesem Mann nicht reizen zu lassen.

Kapitel 1

Der Oktober zeigte sich in diesem Jahr, wie er schöner nicht sein konnte. Die Sonne stand schon früh morgens am Himmel und verlieh dem Sonntag eine sommerliche Atmosphäre. Anke Deister und ihre Tochter Lisa saßen am Frühstückstisch und diskutierten über Lisas Absicht, mit Ronja im Mühlenwald bei Auersmacher wandern zu gehen. Lisas neue Freundin Ronja Hartmann war die Tochter einer Tierschützerin, die Hunde aus der Tötungsstation auf Mallorca ins Saarland brachte, um sie dort zu vermitteln. Diese Aktion konnte Anke nur befürworten. Doch leider ahnte sie, worauf die neu entdeckte Liebe ihrer Tochter zum Tierschutz hinauslief. Vor drei Jahren hatten sie ihr Pferd „Rondo“ einschläfern lassen müssen, wodurch eine große Lücke in ihrem Leben entstanden war. Anke hätte es niemals für möglich gehalten, dass dieses Pferd so viel Platz in ihren Herzen eingenommen hatte. Seither befand sich Lisa auf der Suche nach Ersatz. Eine Katze kam nicht infrage. Dafür wohnten sie viel zu dicht an der stark befahrenen Kaiserstraße. Meerschweinchen wären dagegen noch diskutabel. Da Anke als alleinerziehende Mutter ihrem Beruf als Kriminaloberkommissarin nachgehen musste, hatte sie wenig Zeit übrig, um noch ein Haustier zu versorgen. Aber Lisa schwebte mehr vor. Nachdem sie mal stolze Pferdebesitzerin war, konnte sie sich mit einem kleinen Meerschweinchen nicht anfreunden.

Und nun das: Hunde aus Mallorca, die knapp dem Tod von der Schippe gesprungen waren. Ein besseres Mittel, an Ankes tierliebendes Herz zu rühren, gab es nicht.

Die heutige Wanderung fand mit den Mitgliedern des Vereins „Hunde und Katzen in Not e.V.“ statt, von denen jeder mindestens einen Hund dabei hatte.

Anke spürte nach ihrem dritten Kaffee, dass ihr die Gegenargumente ausgingen. Lisa war mit ihren zwölf Jahren so erwachsen, dass sie nur noch staunen konnte. Einerseits stolz, so eine pfiffige Tochter zu haben, andererseits besorgt darüber, wie lange es noch dauern würde, bis Lisa ihre eigene Mutter in die Tasche steckte, gab Anke endlich nach. Sie beschloss, nicht noch mehr Kaffee zu trinken, denn das machte sie nervös. Lieber ließ sie Lisa ihren Willen. Allerdings mit einer Bedingung: „Ich werde euch begleiten.“

Lisas kurzzeitiges Leuchten in den Augen verschwand.

„Deine Freude darüber, mit deiner Mutter gemeinsam etwas zu unternehmen, ist wirklich überwältigend.“

Lisa fing sich rasch wieder, nahm Anke in die Arme und meinte: „Du hast recht! Es ist ganz toll, dass du mitgehst. Wenn du die Leute mal kennengelernt hast, wirst du mich besser verstehen.“

Anke genoss die Umarmung ihrer Tochter, die schon fast genauso groß wie ihre Mutter war. Dabei ging ihr durch den Kopf, dass Lisa in Sekundenschnelle das Beste aus der neuen Situation hatte machen können. Dieses Talent würde es ihrer Tochter im Leben bestimmt mal leichter machen.

Ausgerüstet mit Wanderschuhen und Wanderkleidung verließen sie die Wohnung und steuerten Ankes Auto, den grünen Subaru Forester an. Dieser Wagen war damals genau das Richtige für sie beide gewesen, weil sie damit einen Pferdehänger ziehen konnten. Heute war der Luxus nicht mehr nötig. Aber trennen wollten sie sich nicht mehr davon. Sie liebten das Auto, pflegten es pedantisch, weshalb es heute noch aussah wie neu.

„Wo ist der Treffpunkt?“, fragte Anke und schaltete das Navigationsgerät ein.

„In Sitterswald auf dem Wanderparkplatz des Blies-Grenz-Weges.“ Lisa schnallte sich auf dem Beifahrersitz an. „Ist ganz leicht zu finden.“

Die Fahrt ging los.

Kaum hatten sie sich in den sonntäglichen Verkehr auf der Kaiserstraße eingeordnet, fragte Lisa: „Willst du Erik fragen, ob er uns begleitet?“

Erik Tenes, Kriminaloberkommissar und Teampartner von Anke, verbrachte seine freie Zeit gern mit ihr und Lisa. Deshalb empfand Anke diese Frage nicht als verwunderlich. Doch bei der Erinnerung an ihr letztes Gespräch mit ihm, musste Anke schmunzeln.

„Er hat Dienst“, antwortete sie.

„Blöd, wenn gerade dann das Wetter so richtig geil ist.“

„Lisa?!?!“, rief Anke entsetzt. „Welche Ausdrücke verwendest du da?“

Lediglich mit Unschuldsmiene wurde der Mutter diese Frage beantwortet. Mehr nicht.

Auch Anke musste zugeben, dass das Wetter ungewöhnlich schön war. In den Nachrichten war für dieses Wochenende der Beginn des schlechten Herbstwetters angekündigt worden – der Grund, warum sich Erik freiwillig für den Bereitschaftsdienst gemeldet hatte. Eine Entscheidung, die er bestimmt inzwischen bereute.

Verschiedene Umleitungen zwangen Anke dazu, Richtung Saarbrücken-Ost zu fahren und dort auf der B51 über Kleinblittersdorf Richtung Auersmacher einen Umweg zu machen, der ihr Gelegenheit gab, die kleinen Ortschaften näher kennenzulernen. Bisher hatte sie nie einen Grund gehabt, in diese Richtung zu fahren, weshalb sie sich nicht besonders gut auskannte. Sie passierten die Saarland-Therme, ein Anblick, der Anke zu dem Entschluss bewog, sich dort einmal ein bisschen Wellness zu gönnen. Kurz bevor sie die letzte Abfahrt Richtung Sitterswald erreichten, landeten sie in einem Stau.

„Sonntagmorgen und Stau?“ Anke war verblüfft.

Beide stiegen aus, um sich das Ausmaß des Chaos‘ genauer anzusehen. Deutlich konnten sie erkennen, dass an der Shell-Tankstelle ein Großeinsatz mit Feuerwehr und Polizei stattfand.

„Das sieht nach einer langen Wartezeit aus.“

„Macht nichts“, meinte Lisa. „Ich kenne noch einen anderen Weg - über das Feld.“

„Wie kommt es, dass du dich hier so gut auskennst?“

„Meine Freundin Ronja wohnt hier. Schon vergessen?“

Anke nickte, wendete den Wagen und folgte Lisas Anweisungen. Sie fuhren direkt an der Saarland-Therme vorbei, was in Anke den Vorsatz stärkte, dort einen Wellness-Tag einzulegen. Weiter führte die schmale Straße über Felder, die alle gleich aussahen. Anke wäre dort verloren. Doch Lisa schaffte es, sie zielsicher zu navigieren, bis sie an einem Parkplatz am Waldrand ankamen.

Kaum waren sie ausgestiegen, rannte ihnen ein kräftiges Mädchen mit dunklen Haaren entgegen und rief: „Lisa, da bist du ja! Komm schnell, ich muss dir unbedingt was zeigen.“

Ihre blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, sah Lisa so hübsch aus, dass Anke wehmütig zumute wurde. Viel zu schnell verging die Zeit. Im Nu würde sie in das Alter kommen, in dem sie sich für Jungs interessierte. Anke wusste nicht, was auf sie zukommen würde. Ihr eigenes Liebesleben verlief ja nicht gerade beispielhaft. Deshalb befürchtete sie, dass die Pubertät eine neue Herausforderung für sie beide werden könnte. Sie schaute ihrer Tochter hinterher, wie sie mit ihrer Freundin um die Ecke eines Blockhauses verschwand und folgte ihnen. Kaum hatte sie die Hütte passiert, sah sie ein kunterbuntes Durcheinander von Männern, Frauen und Kindern mit Hunden in allen Größen und Farben. Langsam näherte sie sich dem Treiben. Ihr Blick fiel auf eine überdachte, fest gemauerte Grillstelle mit großem Kamin. Daneben stand ein sogenanntes Waldhaus, in dem gelegentlich jemand verschwand und mit Cola oder Limonade zurückkehrte. Auch eine Waldbühne durfte nicht fehlen, auf der zu dieser Stunde die Hunde die Hauptdarsteller waren. Manche vollführen Kunststücke, andere kämpften, zankten oder spielten miteinander.

Eine Frauenstimme drang an Ankes Ohr: „Wollen Sie sich uns anschließen?“

Anke nickte, worauf die nächste Frage folgte: „Haben Sie einen Hund dabei?“

„Nein, ein Kind“, antwortete Anke und zeigte auf Lisa, die gerade dabei war, mit mehreren Hunden gleichzeitig zu spielen.

„Ach, Sie sind Lisas Mutter?“ Ein erstaunter Blick traf auf Anke.

Sie fuhr sich durch ihre kurzen, dunklen Haare und ahnte, welche Frage in den Köpfen dieser Leute rumorte. Lisa hatte fast alle Äußerlichkeiten ihres leiblichen Vaters geerbt. Deshalb dieser Gegensatz. Während Ankes Teint blass war und ihre kurzen Haare dunkelbraun schimmerten, gehörte Lisa zu den Glücklichen, die trotz blonder Mähne leicht Farbe bekamen.

Ein Grinsen genügte als Antwort. Sofort wurde Anke in der Mitte der Tierschützer aufgenommen.

„Wenn Sie wollen, können Sie meinen Hund an der Leine führen“, bot eine junge Frau an, die mit drei wilden Wuscheltieren zugange war. Doch Anke lehnte ab. Ihr war es wichtiger Lisa im Auge zu behalten, weil sie ahnte, was sich ihre Tochter von dieser Wanderung erhoffte.

Im Augenwinkel konnte sie erkennen, dass Lisa bereits einen braun-weißen Hund auf dem Arm trug. Dass es so schnell passierte, wollte sie jetzt nicht glauben. Sie näherte sich ihrer Tochter, doch genau in diesem Moment ließ Lisa den Hund wieder auf den Boden. Dabei lachte sie so ausgelassen, wie Anke es schon lange nicht mehr gehört hatte. Nachdenklich stellte sie sich zu den vielen Menschen, die sich vor der kleinen Waldbühne versammelt hatten. Ihre Tochter so glücklich zu sehen, tat Anke einerseits gut, versetzte ihr andererseits einen leichten Stich. Sollte ein Hund für ihre Tochter wirklich so wichtig sein?

Eine große, schlanke Frau mit kurzen, hellblonden Haaren stellte sich auf die Bühne, winkte, bis alle verstummt waren und begann mit einem ruhigen und dunklen Timbre zu sprechen: „Wir wissen alle, dass vor zwei Tagen wieder ein Hund durch einen Giftköder getötet wurde. Leider sterben die kranken Hirne nicht aus, die so ein Zeug in unseren Wäldern verteilen. Deshalb haben wir unsere heutige Route sehr sorgfältig ausgewählt und bitten euch, eure Hunde immer dann an die Leine zu nehmen, wenn wir euch darum bitten. Wir wollen nicht, dass bei unserer Wanderung ein Hund zu Schaden kommt.“

„Was ist hier los?“, fragte Anke verwundert.

Ein Mann mit einem winzigen Hündchen in seiner Hand, das wie ein Yorkshire-Terrier aussah, antwortete: „Seit einigen Monaten sind die Giftköder hier zur echten Plage geworden. Wir haben alles versucht, denjenigen oder diejenigen zu erwischen. Aber leider ohne Erfolg. Wir haben sogar schon Hundewanderungen deswegen abgesagt. Aber jetzt haben wir uns dazu entschlossen, trotzdem unsere Wanderungen durchzuführen und dabei alle Vorsichtsmaßnahmen zu treffen.“

„Ist ja schrecklich. Als würde nicht schon genug auf der Welt passieren.“

„Wem sagst du das?“, erwiderte der Mann, während er unentwegt den winzigen Hund mit einem Finger streichelte.

Anke wollte sich ebenfalls dem kleinen Fellknäuel zuwenden, da ertönte ein erstaunlich kräftiges Knurren.

„Er mag Fremde nicht.“

Anke wandte sich wieder der Frau auf der Bühne zu.

„Das ist übrigens Silka Hartmann, die 2. Vorsitzende unseres Vereins“, fügte der Mann an.

Anke nickte. So erfuhr sie also, wer Ronjas Mutter war.

Die 2. Vorsitzende erklärte gerade, welche Route für die heutige Wanderung ausgewählt war, was Anke jedoch nicht sonderlich interessierte. Sie kannte sich hier nicht aus, wollte sich einfach nur anschließen. Auch hatte sie keinen Hund, auf den sie aufpassen musste.

Nur eine Tochter …

Sie schaute sich um und sah Lisa zusammen mit Ronja und dem Hund, den sie eben noch im Arm gehalten hatte, in der Mitte. Das konnte ja heiter werden.

Der Marsch ging los.

Der Wald bot ein besonders schönes Bild. Die Sonne ließ die Blätter in den Bäumen und auf dem Boden golden schimmern. Alles wurde in freundliches Licht getaucht. Die Temperaturen waren angenehm – schon fast warm. Das Laub raschelte zu ihren Füßen. Gelegentlich huschten einige Hunde dicht an ihr vorbei, was lediglich an dem aufgewirbelten Laub zu erkennen war. Eine große Labrador-Hündin stach aus der Menge heraus, weil sie die größte ihrer Art war. Inmitten der vielen Winzlinge schaute sie sich immer wieder irritiert um und suchte verzweifelt ihren Begleiter, der sich als kleiner, kräftiger Mann mit Bart entpuppte.

Gelegentlich wurde Anke in Gespräche mit einbezogen, die sich um Hunde drehten. Als sei sie eine Hundekennerin, sprach sie einfach mit. Doch sobald das Thema auf einen eigenen Hund kam, suchte sie das Weite. Es war schön, im strahlenden Sonnenschein durch den Wald zu wandern. Auch gefiel Anke die Mission dieser Menschen. Doch konnte sie sich keinen Hund anschaffen. Das war in ihrer Situation unmöglich. Sie war froh, dass ihr ehemaliger Chef und Mentor zusammen mit seiner Frau auf ihre Tochter aufpasste, während sie arbeiten ging. Diesen beiden Menschen noch einen Hund aufzubrummen, wäre zu viel verlangt. Anke durfte die gute Freundschaft zu Norbert und Martha Kullmann, die schon familiären Charakter angenommen hatte, nicht überstrapazieren.

Sie bogen auf einen befestigten Waldweg ein, der von Laubbäumen gesäumt wurde, die in allen Farben leuchteten. Eine kleine blau-weiße Abbildung an einem Baum auf der rechten Seite wies diesen Weg als Premium-Wanderweg aus.

Anke genoss das gute Gefühl, frische Luft einzuatmen, ausgelassene Menschen und glückliche Hunde zu sehen. Die gute Stimmung übertrug sich auf sie. Immer wieder gesellte sich ein Hundebesitzer zu ihr und erzählte die traurige Geschichte seines Tieres, die nun doch ein gutes Ende gefunden hatte. Diese Menschen hatten das Herz am rechten Fleck, eine Erfahrung, die Anke in ihrem Beruf als Kriminalkommissarin nicht oft machte. Umso lebhafter plauderte sie mit, erzählte von ihrem Pferd „Rondo“, das sie im Grunde genommen auch gerettet hatte – nämlich davor, ein Leben als Schulpferd in einem großen Stall zu fristen. So überkam sie immer mehr das Gefühl, unter Gleichgesinnten zu sein.

Doch dann geschah das Unvermeidliche: Lisa stand plötzlich mit dem braun-weißen Hund im Arm vor ihrer Mutter und meinte: „Schau mal, Mama! Ist der nicht süß? Das ist ein Jack Russell. Er ist gerade von Mallorca hierher gebracht worden und sucht ein Zuhause.“

Alle Augen waren auf Anke gerichtet. Sie musste jetzt gut aufpassen, was sie sagte. Doch je mehr sie überlegte, umso weniger fiel ihr ein. Also stieß sie nur ein „Ja, der ist süß“ aus.

„Wie wollen wir ihn nennen?“

„Hat er noch keinen Namen?“, fragte Anke überrascht zurück.

„Nein. Bisher hat er nur auf der Tötungsstation gelebt. Keiner weiß, wo er herkommt.“

„Er sieht aber reinrassig aus“, stellte Anke mit Kennermiene fest. „Also muss er jemandem gehören.“

Das war das Stichwort. Eine Frau trat aus der Menge vor und stellte sich als Ute Dincher vor, 1. Vorsitzende des Vereins. Sie war fast einen Kopf kleiner als Anke, doch ihre Ausstrahlung wirkte so einnehmend, dass Anke keine Chance sah, dieser Frau mit Ablehnung zu begegnen. Mit einem traurigen Lächeln im Gesicht erklärte Ute: „Dieser Hund hat tatsächlich mal jemandem gehört, denn er ist gechipt. Aber auf die Daten, die dem Chip zu entnehmen sind, hat sich niemand gemeldet. Monatelang befand sich der Hund auf der Tötungsstation, ohne Ende in Sicht. Gechipte Hunde werden nicht getötet; die Ärmsten müssen dort unter den schlimmsten Bedingungen ausharren bis an ihr Lebensende. Deshalb haben wir ihn mitgebracht. Er ist noch nicht verwahrlost, hat noch seine guten Manieren, also sehen wir eine reelle Chance, ihn zu vermitteln.“

Das hatte gerade noch gefehlt. Anke sah ihrer Tochter an, wie sehr sie dieses Schicksal mitnahm. Ihre Befürchtung fing an, sich zu bewahrheiten. Leise raunte sie ihrer Tochter zu: „Du weißt doch, dass wir keinen Hund nehmen können.“

„Warum nicht?“, widersprach Lisa lauter als nötig. Jeder der Umstehenden konnte sie verstehen. „Opa Norbert kann doch auf ihn aufpassen, während du arbeitest und ich in die Schule gehe.“

„Opa Norbert ist nicht mehr der Jüngste. Und außerdem müssen wir ihn zuerst fragen, bevor wir eine Entscheidung treffen.“

„Das klingt doch vielversprechend“, drang die durchdringende Stimme der Vereinsvorsitzenden an Ankes Ohr. Die Kommissarin schaute auf und erblickte zwei strahlende, braune Augen in einem blassen Gesicht, das von dunklen Locken eingerahmt wurde. Ute Dincher tat so, als sei der Hund bereits vermittelt.

„Zuerst müssen wir den Herrn fragen“, bremste Anke sofort die Begeisterung. „Er ist bereits über siebzig und hat noch nie in seinem Leben einen Hund gehabt.“

„Der Kleine bringt ihm schon bei, worauf er achten muss.“ Utes Lachen war so ansteckend, dass Anke Mühe hatte, nicht mit einzustimmen. Sie wollte hartnäckig bleiben, was ihr in der Nähe dieser herzlichen Vorsitzenden nicht leicht fiel.

Lisa ließ den braun-weißen Kerl wieder auf den Boden und zeigte ihrer Mutter, welche Kunststücke er konnte. Dabei setzte sich der Hund auf seine Hinterbeine, hielt beide Vorderpfoten hoch und blieb sitzen wie aus Stein gemeißelt.

„Toll“, staunte Anke. „Aber lass ihn einfach wieder Hund sein, wie die anderen auch.“

„Du gefällst mir, Anke“, rief Ute begeistert. „Deine Einstellung für Hunde ist genau die Richtige.“

Anke reagierte nicht darauf. Was hätte sie auch sagen sollen? Lieber schaute sie ihrer Tochter nach, wie sie mit Ronja und dem kleinen Hund den Waldweg entlang rannte. Das war ein schönes Bild – voller Leben, Freude und Harmonie. Der Hund bellte freudig erregt und sprang immer wieder an Lisa hoch. Die beiden wirkten tatsächlich bereits wie dicke Freunde.

Was hatte sie nur angerichtet? Anke stöhnte leise.

Die Blicke der anderen Hundehalter richtete sich auf etwas zu ihrer Rechten. Großes Staunen ging durch die Menge. Neugierig geworden stellte sich Anke daneben und schaute ebenfalls in die angezeigte Richtung. Ein schmaler Weg führte in den Wald hinein. Am Anfang stand eine Bank mit aufwendig verzierten Skulpturen genau dort, wo normalerweise Armlehnen sein sollten. Doch diesem Gebilde galt nicht die große Bewunderung, sondern einer Kugel, die aussah wie ein riesengroßer Morgenstern aus Holz. Neugierig trat Anke näher an das Gebilde heran. Es hing so hoch, dass sie nicht mit den Händen drankam. Erst als sie direkt darunter stand, erkannte sie die Seile, die sie in der Luft festhielten.

„Was ist das?“, fragte sie ganz perplex.

„Das ist ein hölzernes Kunstwerk unseres neuen Försters“, antwortete Ute. „Er hat mehrere solcher Skulpturen im Wald geschaffen – zu Dekorationszwecken. Deshalb nennt man den Weg auch Waldkunstpfad. Leider wurden schon viele davon zerstört - einige sogar verbrannt.“

„Meine Güte! Die Menschen zerstören sich nicht nur gegenseitig, sondern vergreifen sich noch an Tieren und an der Natur.“ Anke schüttelte fassungslos den Kopf.

„Ja, so ist es. Leider. Der Unermüdlichkeit des Försters verdanken wir es, dass uns diese Holzskulpturen erhalten bleiben. Er restauriert sie oder kreiert Neue, wenn eine davon mal hoffnungslos zerstört wurde.“

„Das ist beachtlich.“ Anke staunte. „Von der Sorte Mensch müsste es mehr geben.“

Sie setzten ihren Weg fort.

Nach einigen hundert Metern bogen sie rechts ab. Der Waldweg war komplett vom gelben Laub bedeckt . Lediglich das blau-grüne Kennzeichen wies darauf hin, dass sie sich immer noch auf dem Premium-Wanderweg befanden.

Ein lauter Pfiff ertönte. Dann der Ruf „Anleinen“.

Anke staunte über die Effizienz dieser Anweisung. In Sekundenschnelle waren alle Hunde an der Leine.

Die Wanderung ging weiter.

Das Rascheln des Laubs unter den Schuhen wurde so laut, dass es alles andere übertönte. Die Gespräche verstummten, alle lauschten ihren Schritten und schauten den Hunden bei ihrem munteren Spiel zu, das auch an langen Hundeleinen ungebrochen war.

Plötzlich schrie jemand wie am Spieß. Dann noch jemand. Und noch jemand.

Eine Frau neben Anke kreischte: „Ist wieder ein Hund durch Giftköder umgekommen?“

Ein Mann brüllte: „Wenn ich den erwische, der das Zeug auslegt…“

Anke schaute sich zuerst nach ihrer Tochter um. Lisa war immer noch mit dem Hund beschäftigt. Der kleine Jack Russell hatte sich mit seiner Leine verheddert. Lisa war dabei, ihn zu entwirren. Beruhigt von dem Anblick versuchte sie herauszufinden, was der Auslöser für die hysterischen Schreie war. Sie konnte nichts sehen, lediglich beobachten, dass immer mehr Wanderer in Aufregung gerieten.

„Nein, das ist kein Hund“, hörte sie plötzlich jemanden laut rufen. Gleichzeitig zeigten alle auf eine Stelle, die von Ankes Standort aus nicht einsehbar war. Die Hektik wuchs zu einer regelrechten Panik an, was Anke nun dazu veranlasste, los zu sprinten und nachzusehen, was passiert war.

Von einem Wäldchen zu ihrer Rechten, das durch tiefe Gräben vom Rest des Waldes abgetrennt lag, stieg Rauch auf. Dazu verbreitete sich beißender Gestank von verbranntem Fleisch. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte Anke, auf was sie alle starrten. Vor ihren Augen offenbarten sich die Überreste eines verbrannten Menschen auf noch glimmenden Holzscheiten an einem verkohlten Baumstamm.

Sie konnte nicht glauben, was sie da sah. Das sah haargenau nach ihrem Fachgebiet aus, nämlich einem Tötungsdelikt. Unter dem blauen Himmel, zwischen dem bunten Laub und den vielen Menschen mit ihren ausgelassenen Hunden wirkte dieser Anblick surreal. Sie hatte schon einiges erlebt und gesehen, doch diese Situation überbot nun wirklich alles. Einige liefen hektisch in dieser kleinen Waldung herum, die sich wie eine Insel zwischen den Gräben ausmachte. Unter ihnen sogar Kinder.

„Verlasst alle sofort diesen Ort!“, rief Anke mit lauter Stimme. „Das ist ein Tatort. Ihr kontaminiert ihn, wenn ihr dort herum trampelt. Und die Kinder müssen das nicht unbedingt sehen.“

Der erste der Wanderer erbrach sich. Zum Glück auf der anderen Seite des Grabens. So konnte Anke hoffen, dass er keine wichtigen Spuren zerstörte.

Ein Mädchen, das mit seiner Mutter auf den Wanderweg zurückkehrte, begann zu weinen. Für Anke unverständlich, ein Kind ganz nah an ein solches Bild des Grauens heranzulassen. Doch jetzt hatte sie andere Sorgen.

„Jetzt wird Erik wohl kommen müssen“, meinte Lisa, während sie auf die Leiche starrte.

„Schau dort bitte nicht hin!“

„Ist schon gut. Ronja und ich gehen weiter.“

„Das geht auch nicht.“ Anke spürte, wie ratlos sie war – ein Zustand, den sie sonst an einem Tatort nie hatte erfahren müssen. Lisa sollte mit solchen Brutalitäten nicht konfrontiert werden. Doch jetzt war es passiert.

„Vermutlich müsst ihr alle aussagen.“

„Und wo sollen wir solange hin?“

Anke zuckte ratlos mit den Schultern.

„Ich habe eine Idee“, meinte Ronja. „Wenn wir diesen Weg immer geradeaus weitergehen, kommen wir an einen hölzernen Torbogen. Den könnten wir doch als Treffpunkt nehmen.“

„Das ist eine gute Idee“, lobte Anke.

Lisa und Ronja versprachen, alle Wanderer zu diesem Treffpunkt zu führen, um dort auf weitere Anweisungen zu warten. Anke traute ihren Augen nicht. Ihre zwölfjährige Tochter kam ihr gerade so erwachsen vor. Fast schon erwachsener als sie selbst, denn sie suchte verzweifelt ihr Handy in einer der vielen Taschen ihrer neuen Wanderweste. Diese Situation verwirrte sie mehr, als sie zugeben wollte. Einerseits wollte sie ihre Tochter vor solchen Situationen bewahren – nun war es Lisa, die alles in die richtigen Bahnen lenkte. Welche Ironie?

Endlich fand sie ihr Handy und rief ihren Kollegen und Freund Erik an.

Im Nu war die Idylle im „Mühlenwald“ dahin. Mehrere Autos fuhren in einem Konvoi vor – allen voran Erik Tenes mit seinem Kollegen Bernhard Diez im zivilen Einsatzfahrzeug der Kriminalpolizei, einem Audi A8 in silber-metallic. Ihnen folgten Jürgen Schnur, der Dienststellenleiter in seinem privaten Golf, Ann-Kathrin Reichert in einem schwarzen Mercedes, der nach einem Einsatzfahrzeug aussah, und der Gerichtsmediziner mit seinem Dienstfahrzeug, das sämtliche Geräte transportierte, die für eine Erstuntersuchung vor Ort nötig waren. Zu guter Letzt folgten die Kollegen der Abteilung Brandermittlungen in ihrem Minivan und die Tatortgruppe in ihrem dunkelblauen Kleintransporter.

Im Schritttempo schlichen sie über die Waldwege. Anke ging ihnen zu Fuß voraus. Dabei bemerkte sie, dass die Sonne hinter Schleierwolken abgetaucht war. Das Laub wirkte plötzlich nur noch braun und welk, der Waldboden dreckig und das Tageslicht trüb. Fluchtartig war die Schönheit des Tages verschwunden. Griesgrämig schaute sie einer arbeitsreichen Ermittlung entgegen.

Erik sprang aus dem noch rollenden Wagen und ging auf Anke zu. „Hätte nicht gedacht, dass wir uns so schnell wieder sehen.“

„In dem Fall sage ich: leider. Der Tag hat so schön angefangen.“

„Dann zeig uns mal, worauf ihr gestoßen seid. Das klang am Telefon nach einer großen Sache.“

Der rheinische Dialekt des Kollegen war immer noch deutlich zu hören, obwohl Erik sich anstrengte, saarländisch zu sprechen. Doch in Köln am Rhein geboren und dort aufgewachsen, fiel es ihm schwer, sich davon zu lösen. Anke gefiel dieser Dialekt. Er verlieh ihrem Kollegen etwas Außergewöhnliches.

Bernhard Diez, der Beamte, der ebenfalls in ihrem Team arbeitete, hatte den Wagen inzwischen abgestellt und sich dazu gesellt. Er war genauso groß wie Erik – beide Männer maßen über eins neunzig, sodass Anke sich in ihrer Mitte mit ihren eins fünfundsiebzig tatsächlich klein fühlte. Beide hatten blonde Haare, waren schlank und sportlich. Und doch waren sie äußerst verschieden. Während Bernhard stets mit wachen Augen durch das Leben ging, um nichts zu verpassen, wirkte Erik ständig verlegen oder verunsichert, als hätte er etwas falsch gemacht. Anke spürte deutlich, dass ihr Bernhards forsches Verhalten nicht gefiel, auch wenn das die ideale Voraussetzung für gute Polizeiarbeit war. Erik arbeitete genauso gut – zumindest, seit er von Köln nach Saarbrücken versetzt worden war. Über seine Leistungen in Köln wusste Anke nur das, was er selbst erzählt hatte. Aber auch dabei hatte er nichts getan, um sich in ein gutes Licht zu rücken.

Am Graben blieben sie stehen.

Erik zog erschrocken die Luft ein, Bernhard pfiff durch die Zähne. Es grenzte fast an ein Wunder, dass er keinen Kommentar zu dem Anblick abgab. Bisher hatte er sich nicht durch Feingefühl hervorgehoben – viel mehr durch Taktlosigkeit und viel zu lautes Mundwerk - was ihm bereits eine vorübergehende Suspendierung vom Polizeidienst eingebracht hatte.

Robert Ollig, der Teamchef der Spurensicherung stellte sich neben die beiden und reichte ihnen Schutzanzüge. Breitbeinig stand er vor dem Brett, das die Tatortgruppe als Übergang über den Graben gelegt hatte, und meinte: „All right! Das ist wirklich spooky. Und ich dachte, nur in Amerika gibt es die echt harten Verbrechen.“ Dabei strich er sich über seinen viel zu langen Schnauzer, bevor er die Gesichtsmaske darüber zog und die Insel betrat. Der Spitzname Buffalo Bill passte perfekt zu ihm.

Rot-weiße Absperrbänder wurden weiträumig um den kleinen Hain gespannt. Sie begannen mit ihrer Arbeit.

Nachdem sich Erik, Anke und Bernhard ebenfalls Schutzanzüge übergezogen hatten, besahen sie sich den Toten genauer, während der Polizeifotograf von allen Seiten Fotos schoss. Dabei bedeckten sie ihre Nasen. Der Geruch war aus der Nähe noch penetranter und ekelerregender.

„Scheiße Mann“, stöhnte Bernhard. „Das sieht wie ein Scheiterhaufen aus.“

„Yeah! Das ist ein Scheiterhaufen“, rief Robert Ollig. Anke bekam Gänsehaut. „Aber keine Jeanne D‘arc, denn das Opfer ist ein Mann.“

Erik nickte und fragte: „Wann hatten wir mal mit einer Brandleiche zu tun?“

Anke überlegte, konnte sich jedoch nur daran erinnern, dass sie mal fast selbst als eine geendet hätte. Aber diese Gedanken schob sie hastig beiseite, die wären ihrer Arbeit nur abträglich.

„Ist das ein Ritualmord?“, fragte Bernhard.

„Immer langsam, Kollege“, bremste Erik. „Du gehst gleich vom Schlimmsten aus.“

„Das sieht nach dem Schlimmsten aus.“

Anke beschloss, mit ihren Mutmaßungen zu warten, bis Schnur, der Dienststellenleiter endlich auf der kleinen Insel angekommen war. Sie wollte nicht wahrhaben, dass die schöne Wanderung an diesem sonnigen Sonntag mit einer derartigen Grausamkeit zu Ende ging.

Aber all ihr Sträuben änderte nichts daran, dass sie direkt vor einer verkohlten Leiche stand, die offensichtlich an einem Baum festgebunden war. Der Kopf des Toten war schwarz, hing nach vorne, soweit es möglich war, denn die Fesselung hielt den Körper immer noch fest. Ohren, der Haaransatz und die Nase waren noch zu erkennen. Die Beine hingegen hatten nichts Menschliches mehr. Sie sahen wie verkohlte Hölzer aus. Vermutlich war an dieser Stelle das Feuer am heißesten, denn direkt darunter glimmte immer noch der Holzhaufen, der tatsächlich wie ein Scheiterhaufen anmutete.

Nach einer Weile trafen auch Jürgen Schnur und die Staatsanwältin Ann-Kathrin Reichert ein.

„Ich hätte nicht gedacht, dass es sogar im Wald Parkplatzprobleme geben könnte“, murmelte die Staatsanwältin als Erklärung für ihr spätes Auftauchen.

Doch als ihr Blick auf den Toten fiel, war dieser Ärger sofort verschwunden. Der Anblick ließ sie erblassen.

Der Gerichtsmediziner Dr. Wolbert kam als Letzter hinterher, weil er einen schweren Metallkoffer trug. Anke musste bei seinem Anblick schmunzeln, denn die vor einigen Jahren noch schwarzen Haare, die sich aus der Kapuze des Anzugs heraus drängelten, schimmerten bei jeder ihrer Begegnungen heller. Inzwischen war er grau, was sein jugendliches Aussehen jedoch in keiner Weise beeinträchtigte. Seine Gesichtsfarbe war gesund und blieb es auch, als er sich den Toten ansah. Offensichtlich war er einiges gewöhnt.

„Sieht nach einer regelrechten Hinrichtung aus“, stieß er in einem Tonfall aus, als zollte er diesem Tatort Bewunderung.

„So schlau waren wir auch schon“, konterte Bernhard.

Nachdem der Gerichtsmediziner sich alle Details angeschaut hatte, wurde der Tote losgebunden, vorsichtig auf eine Trage gelegt, um das ganze Ausmaß der Verbrennungen zu sehen.

Aus einer anderen Richtung ertönte der Ruf eines Spurensicherers: „Hier ist eine hölzerne Schlange – oder das, was davon übrig ist.“

„Eine was?“, fragten Bernhard und Erik wie aus einem Mund.

„Eine Schlange aus Holz“, wiederholte der Mann nun etwas genauer.

„Einige hundert Meter weiter hängt ein Morgenstern aus Holz zwischen zwei Bäumen“, berichtete Anke. „Das sind Bestandteile des sogenannten Waldkunstpfades, den ein Förster hier angelegt hat.“

„Mit einem seltenen Humor“, brummte Bernhard.

„Das Opfer ist also nicht auf einem Scheiterhaufen, sondern auf einem hölzernen Kunstwerk verbrannt“, mutmaßte Anke.

„Das wird ihn allerdings nicht wirklich interessiert haben. Denn egal wofür das Holz unter ihm ursprünglich gedacht war. In seinem Fall hat es wie ein Scheiterhaufen funktioniert.“

„Das würde zumindest vom Verdacht auf Ritualmord oder Hinrichtung ablenken“, erkannte Schnur. „Zum Glück für uns. Wir suchen keinen Soziopathen, sondern einen Pragmatiker.“

„Macht es uns das leichter?“, fragte die Staatsanwältin.

„Nein“, gab Schnur zu.

„Ob der Täter wirklich nur pragmatisch veranlagt war, sei dahingestellt“, meldete sich der Leiter der Abteilung Brandermittlungen zu Wort. Auf die überraschten Gesichter der Ermittler fragte er: „Riechen Sie das nicht?“

„Es riecht furchtbar nach verkohltem Fleisch“, murrte Schnur.

„Nein, da ist noch etwas.“

Alle versuchen, ihren Nasen einen weiteren Duft zu entlocken, bis Ann-Kathrin äußerte: „Ich rieche etwas, das mich an meinen Nagellackentferner erinnert.“

„Bingo!“, bestätigte der Brandermittler. „Das Holz – egal ob Scheiterhaufen oder Kunstwerk – war voller Brandbeschleuniger. Es wäre nicht möglich, mit einem normalen Feuer einen menschlichen Körper so weit zu verbrennen.“

„Das bedeutet also, dass der Mörder sich auf genau diese Tat vorbereitet hat.“ Ihre eigene Erkenntnis ließ Anke noch mehr erschauern. Nun fror sie, dabei hatte dieser Tag schon fast sommerlich für sie begonnen.

„Trotzdem ist ihm hier die Arbeit erleichtert worden“, stellte der Gerichtsmediziner klar. „Es wäre eine Überlegung wert, ob solche Skulpturen im Wald wirklich sinnvoll sind. Der Tote ist nämlich langsam von unten nach oben verbrannt. Und das bei lebendigem Leib. Der Mann muss geschrien haben wie am Spieß. Aber niemand hat ihn gehört.“

Kaum war die Sonne hinter dünnen Schleierwolken verschwunden, kühlte die Luft ab. Ute Dincher fror. Um sich aufzuwärmen, nahm sie ihren Hund „Geronimo“ auf den Arm und streichelte ihn unter dem Kinn. Dabei hielt der Kleine ganz still und reckte sich ihr entgegen, um noch mehr von diesen Streicheleinheiten zu erhaschen. Die Wärme des wuscheligen Fellknäuels übertrug sich auf sein Frauchen.

Die Wandergruppe wartete am hölzernen Torbogen, der ebenfalls ein Kunstwerk des hiesigen Försters war. Ein guter Treffpunkt, denn diesen Ort übersah man nicht so leicht. Eine Weile hafteten Utes Augen an dem Natur-Kunstwerk. Sie schüttelte sich bei der Erinnerung daran, wie diese Artefakte missbraucht werden konnten. Silka Hartmann gesellte sich dazu, zündete sich eine Zigarette an, während ihre Hündin „Zicke“ ständig an der Leine zerrte. Zicke wollte frei laufen, was sie mit ihrem Verhalten mehr als deutlich machte, doch Silka nahm davon keine Notiz. Sie knöpfte ihre Jacke zu, um sich vor der plötzlichen Abkühlung zu schützen und raunte der ersten Vorsitzenden des Tierschutzvereins leise zu: „Wer kann der Tote sein?“

„Keine Ahnung“, gestand Ute und schaute sich ständig um, als wollte sie sich absichern, dass niemand lauschte. „Das ist doch nicht unsere Schuld, oder?“

„Blödsinn! Wie kommst du darauf?“ Die energische Stimme der zweiten Vorsitzenden ließ keinen Widerspruch zu. Also schwieg Ute und streichelte weiter das Kinn ihres Hundes.

Silka zog einen Seidenschal aus ihrer Jackentasche, den sie sich um den Hals band und murrte: „Jetzt merkt man doch, dass schon Oktober ist.“

Ute ging nicht auf diesen Kommentar ein, sondern raunte: „Es ist aber haargenau der Platz, an dem der vergiftete Hund vor zwei Tagen gefunden wurde.“

„Das habe ich auch gesehen. Eigentlich kein Platz, an den man einfach so spaziert. Um dorthin zu gelangen, muss man durch den Graben klettern“, Silka zog gierig an ihrer Zigarette, „und aufpassen, dass man nicht auf die Schnauze fällt.“

Mia Wessling, die Kassiererin des Vereins eilte mit hektischen Schritten zu den beiden Frauen, während sie gleichzeitig versuchte, ihre Jacke aus dem Rucksack zu nehmen und anzuziehen und zusätzlich ihre beiden Hunde zu bändigen. „Timmy“ und „Benji“ zankten sich unentwegt an den Leinen, wobei sie sich ineinander verkeilten, bis nicht mehr zu erkennen war, welcher Hund oben und welcher unten lag.

„Ist der Tote unser Fallensteller?“, fragte sie und schaffte es endlich, eine Outdoor-Jacke, die sie aus dem Rucksack entnommen hatte, anzuziehen.

„Schön wär’s“, brummte Silka mit ihrem dunklen Timbre in der Stimme. „Das werden wir erst dann wissen, wenn keine Giftköder mehr im Wald liegen.“

„Und was will die Polizei von uns?“, fragte Mia weiter und zupfte sich nervös ihre dünnen, langen Haare aus dem Gesicht. „Ich finde es unverschämt von uns zu verlangen, dass wir hier alle warten sollen.“

„Warum? Hast du so viele Termine?“, fragte Silka ironisch.

„Nein! Aber meine Hunde drehen am Rad. Ich packe die nicht mehr lange.“

„Deine beiden Racker drehen öfter am Rad. Das liegt nicht daran, dass wir jetzt auf die Bullen warten müssen.“ Silka drückte ihre Zigarette an einem Baumstamm aus und stecke den Stummel in eine ihrer Jackentaschen. „Deine Nervosität überträgt sich auf sie. Sobald du mal ruhiger wirst, werden deine Hunde das auch.“

„Deine Zicke ist auch nicht besser. Und deine Kettenraucherei kann auch nicht beruhigend für deinen Hund sein.“

„Vielleicht sollte ich anstelle von Tabak mal Gras rauchen“, entgegnete Silka grinsend. „Das beruhigt auf alle Fälle.“

„Ruhe jetzt“, funkte Ute dazwischen. „Wir müssen warten und machen das auch. Alles andere wäre verdächtig.“

„Musste sich deine Ronja auch ausgerechnet mit der Tochter einer Kriminalbeamtin anfreunden?“, fügte Mia trotzig an.

„Was hat das damit zu tun?“ Silkas Tonfall wurde scharf.

„Jeder andere hätte uns gehen lassen. Aber diese Anke Deister verlangt von uns, dass wir warten. Als würde sie uns alle verdächtigen.“

„Jetzt bleib mal locker“, hielt Silka dagegen. „Anke ist voll okay! Vermutlich wollen die von uns nur wissen, ob wir was gesehen haben. Was sollten die uns sonst fragen?“

„Vielleicht, wo wir letzte Nacht waren“, schlug Mia vor.

„Und wo warst du?“ Silka grinste böse. „Hast du endlich mal einen Mann abgekriegt?“

„Blöde Kuh!“

Erik zog den Schutzanzug, die Überschuhe, Handschuhe und Kapuze aus und entsorgte alles in dem dafür vorgesehenen Behälter. Dabei beobachtete er seine Kollegin Anke, wie aus einem astronautenähnlichen Wesen eine hübsche Frau mit kurzen, dunklen Haaren, ebenmäßigem Gesicht und schlanker Figur wurde. Geistesabwesend schaute sie durch die Gegend. Der Leichenfund hatte ihren Sonntagsausflug zu einem Ermittlungsfall werden lassen, was ihr ganz und gar nicht behagte. Erik wusste, wie sehr Anke ihre Tochter liebte und dass sie sich über jede Auszeit freute, die sie zusammen mit Lisa nutzen konnte. Dann so etwas.

Als ihr Blick auf Erik traf, verwandelte sich ihre gleichmütige Miene zu einem Lächeln.

„Was denkst du gerade?“, fragte er.

„Ich denke lieber gar nicht, sonst fange ich an mich zu ärgern, dass der schöne Tag so ausgehen musste“, gab Anke zu. Doch ihr Lachen behauptete viel mehr das Gegenteil von dem, was sie sagte. „Aber wie hat unser guter alter Chef und Mentor mal zu mir gesagt: ‚Ein Jäger wäre vermutlich auf einem Reh gelandet oder ein Schuster auf einem alten Schuh. Du bist bei der Abteilung für Tötungsdelikte, prompt landest du auf einer Leiche.‘ Heute bin ich unmittelbar vor einer Leiche gelandet. Das ist fast dasselbe.“

„Kullmann kennt uns alle besser, als wir uns selbst.“

„Ob das hier ein idealer Ort zum Flirten ist, wage ich zu bezweifeln“, ertönte Bernhards Stimme im Hintergrund.

Es gab Momente, da könnte Erik den Kollegen auf den Mond schießen. Doch er beherrschte sich, lächelte Bernhard nur an und folgte ihm zusammen mit der Staatsanwältin, Schnur und Anke zu der Wandergruppe, die an einem hölzernen Torbogen seitlich des Hauptweges stand und auf sie wartete. Ihnen war deutlich ihre Ungeduld anzusehen. Auch die Hunde zerrten an den Leinen, verzankten sich und bellten in allen Tonlagen.

„Es tut uns leid, dass Sie so lange warten mussten. Aber es ist wichtig, dass wir mit Ihnen sprechen und dafür sorgen, dass wir in Kontakt bleiben können. Sie glauben gar nicht, welche noch so geringfügigen Details für eine Ermittlung bedeutend sein können“, begrüßte Schnur die Wartenden. Nachdem das Gemurre abgeebbt war, stellte er sein Team und sich selbst vor. Anschließend begannen sie, die Personalien aufzunehmen und ihre Standardfragen zu stellen. Doch wie zu erwarten, hatte niemand etwas Außergewöhnliches bemerkt.

Anke schloss sich nicht den Fragenden, sondern den Befragten an. Erik sah ihr an, dass sie sich ihrer eigenen Rolle in dieser Situation selbst nicht bewusst war. Also trat er auf sie zu und bat formell: „Darf ich bitte Ihre Personalien aufnehmen?“ Das gelang ihm jedoch nicht, ohne zu lachen. Anke warf ihm einen tadelnden Blick zu. „Hast du etwas gesehen, was uns vielleicht weiterhelfen könnte?“, fragte er weiter. „Du hast unter all den Leuten hier mit Sicherheit die beste Beobachtungsgabe.“

„Danke für die Blumen“, meinte Anke, „aber ich gebe zu, dass ich nur um Lisa besorgt war.“ Dabei schaute sie auf ihre Tochter, die immer noch mit dem braun-weißen Hund spielte.

Erik beugte sich hinunter, um den Jack Russel zu streicheln. Doch blitzschnell hatte der kleine Hund nach seinem Finger geschnappt und sich daran festgebissen. Dabei knurrte er unentwegt.

„Au!“, brummte Erik, erhob sich und wollte seinen Finger wegziehen. Doch der Hund war so hartnäckig, dass er daran hängen blieb und mit dem Finger in die Höhe schnellte.

„Scheiße, was ist das?“ Inzwischen schmerzte der Finger und Erik hatte Mühe, nicht die Geduld zu verlieren, da jede Menge Hundefreunde um ihn herum versammelt waren.

„Das ist Dr. Watson“, erklärte Lisa, wobei sie sich anstrengte, nicht loszulachen. „Endlich haben wir einen passenden Namen für ihn gefunden.“

„Piranha würde im Moment besser passen“, murrte Erik. „Nichtsdestotrotz - bitte deinen Dr. Watson, meinen Finger loszulassen.“

„Wenn er das jetzt macht, fällt er tief.“

Alle Umstehenden lachten laut los. Eriks Bemühungen, ruhig zu bleiben, bekamen Risse. Seine Gesichtsfarbe färbte sich rot und seine Augen funkelten böse.

Sanft packte Anke den kleinen Kerl am Rumpf und hob ihn an. Überrascht über diese Berührung ließ der Hund tatsächlich den Finger los. Dafür bellte er nun mit gefletschten Zähnen.

„Und diese kleine Hyäne willst du Opa Kullmann anvertrauen?“, fragte Anke mit Panik in der Stimme.

„Das ist keine Hyäne, sondern ein ganz lieber Hund“, mischte sich Ute Dincher in das Gespräch ein. „Dieser Hund hat einfach nur aus Angst zugebissen, weil der Polizeibeamte so riesengroß ist und er das so nicht kennt.“

„Kommt Dr. Watson aus dem Land der Zwerge?“ Diese Frage konnte sich Bernhard nicht verkneifen, der das Schauspiel amüsiert beobachtet hatte.

„Nein! Er kommt aus Mallorca.“ Ute warf dem Polizeibeamten einen giftigen Blick von unten nach oben zu. „Er war in der Tötungsstation. Dort wird nicht gerade Vertrauen zu Menschen aufgebaut. Das muss er hier erst wieder richtig lernen.“

Eriks Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, als er Ankes Stimme hinter sich hörte: „Du hast dich also schon für einen Namen entschieden?“ Er drehte sich um und beobachtete Mutter und Tochter.

„Passt doch super zu ihm, oder?“, entgegnete Lisa.

„Ich weiß, was du damit bezwecken willst. Aber das zwingt mich noch lange nicht, den Hund aufzunehmen. Was er gerade gezeigt hat, gehört nicht zu den Hundeeigenschaften, auf die ich besonderen Wert lege.“ Lisas Augen bekamen einen feuchten Schimmer. „Ich hatte dir von Anfang an gesagt, dass wir uns keinen Hund nehmen können. Und dein Dr. Watson ist eindeutig zu gefährlich, um ihn einem alten Mann anzuvertrauen.“

„Meinst du mit ‚alter Mann‘ unseren Norbert Kullmann?“, mischte sich Erik in das Gespräch ein. „Das wird ihm nicht gefallen.“

„Der Hund wird ihm auch nicht gefallen“, beharrte Anke.

„Es sei denn, Kullmann kann besser mit Hunden als ich.“

Ein überraschter Blick von Anke traf auf Erik. „Kann es sein, dass du diesen Hund verteidigst, nachdem, was du gerade erlebt hast?“

In einem Moment, als Erik sich unbeobachtet fühlte, zwinkerte er Lisa verschwörerisch zu. Doch Anke sah es und rammte ihm schmerzhaft in die Seite.

„Mist! Deine Mutter merkt auch alles.“

Büro Forseti

Forsetis Vorzimmerdame betrat das Büro, ließ einige Schriftstücke unterschreiben und verschwand wieder ohne ein Wort.

„Wo waren wir stehengeblieben?“, fragte Forseti nach der kleinen Unterbrechung.

Kullmann putzte in aller Seelenruhe seine Brille mit einem Taschentuch. Er sah nicht ein, diesen Mann daran zu erinnern. Als Kriminalrat mit Aussichten ins Innenministerium befördert zu werden, musste er schon selbst dazu in der Lage sein, beim Thema zu bleiben. Lieber verharrte er stumm, bis Forseti selbst den Faden wieder aufnahm: „Ich habe in unserem aktuellen Fall inzwischen Aussagen auf den Tisch bekommen, die alles in einem anderen Licht darstellen. Aussagen, die mit keinem Wort in den Ermittlungsakten vermerkt sind.“

Die beiden Männer starrten sich an.

„Daraufhin habe ich mich über Sie erkundigt und festgestellt, dass Sie es in all Ihren Dienstjahren geschafft haben, sich ständig um die Gesetze herumzuschleichen und Lösungen nach Ihren eigenen Maßstäben durchzusetzen.“

„Was fällt Ihnen ein?“ Kullmann spürte Wut in sich aufsteigen. „Sie haben nicht das Recht, meine Arbeit im Nachhinein zu verleumden – es sei denn, Sie haben Beweise für das, was Sie hier behaupten.“

„Der Begriff ‚Beweise‘ ist dehnbar – vor allem, wenn er aus Ihrem Mund kommt. Jedenfalls haben diese neuen Aussagen einen entscheidenden Einfluss auf die Ermittlungen genommen, was eine Aufklärung des Falles um einiges hätte beschleunigen können. Da frage ich mich doch, aus welchem Grund Sie solche Informationen zurückhalten. Einen beruflichen Vorteil können Sie wohl kaum noch erwarten.“

„Und Sie werden es doch nicht allen Ernstes für möglich halten, dass ich als KHK a.D. – man betone das A Punkt D Punkt“, wiederholte Kullmann unfreundlich Forsetis Wortlaut, „die Möglichkeit habe, etwas an den Berichten oder Akteneinträgen zu manipulieren.“

Forseti rümpfte die Nase, warf einen Blick auf die Ermittlungsakte und sprach weiter, als hätte Kullmann nichts gesagt: „Bisher war es untypisch, einen Außenstehenden in eine regionale Ermittlungseinheit – in diesem Fall das Saarland - zu versetzen und dazu noch zum Dienststellenleiter zu ernennen. Wie in meinem Fall. Doch nachdem ich einige Jahre hier im Saarland verbracht habe, erschien mir diese Maßnahme nicht nur als besonders sinnvoll, sondern sogar gezielt. Vermutlich hat mich das Innenministerium genau in dieser Absicht damals als Ihren Nachfolger eingestellt, um die innerbetriebliche Vetternwirtschaft zu unterbinden. Das hat auch funktioniert, solange ich diese Stelle innehatte. Während meiner Zeit als Dienststellenleiter in der Abteilung für Tötungs- und Sexualdelikte war es Ihnen nicht möglich, frei in unserem Haus herumzulaufen und Schaden anzurichten.“

Kullmann erinnerte sich daran. Niemand in seiner ehemaligen Abteilung war damals glücklich darüber gewesen, mit Forseti arbeiten zu müssen. Aber letztendlich hatten sie immer Mittel und Wege gefunden, Kullmann hinzuzuziehen. Wenn auch heimlich. Er musste ein Grinsen unterdrücken.

„Doch jetzt besetzt Jürgen Schnur diesen Posten“, sprach Forseti weiter. „KHK Schnur hat von Beginn seiner Dienstzeit in Ihrer Abteilung gearbeitet. Das war für Sie die ideale Voraussetzung, sich wieder in die Ermittlungen einzuschleichen.“

„So wie Sie das ausdrücken, könnte man meinen, ich hätte nichts anderes zu tun, als darauf zu lauern, wann ich Ihre Ermittlungen behindern kann“, meinte Kullmann. „Dabei kann ich Ihnen versichern, dass nichts davon zutrifft. Ob das Ihre Meinung über mich ändert oder nicht, ist mir egal. Ich will hier nur eines klarstellen: Ich dränge mich niemandem auf. Wenn ich um Hilfe gebeten werde, dann helfe ich gern. Ich habe durch meine langen Dienstjahre hier im Saarland den Vorteil, dass ich mich an frühere Ereignisse oder Namen erinnere, die nicht im Computer gespeichert sind. Damit kann ich den Kollegen die Arbeit erleichtern. Das ist meine Absicht.“

„Soso! Die Arbeit erleichtern! Dann erklären Sie mir mal bitte, inwiefern Sie die Ermittlungen erleichtert haben, als Sie – und nur Sie – zu einem Großeinsatz gerufen haben, der in einem höchst blamablen Reinfall endete?“

Kullmann hatte gewusst, dass dieser Lapsus irgendwann wie ein Bumerang auf ihn zurückschlagen würde. Blitzartig sah er das Einsatzkommando vor seinem missglückten Einsatz stehen. Die Worte des Einsatzleiters hatten sich für immer in sein Ohr gebrannt. Auch überraschte es ihn nicht, dass ausgerechnet Forseti dieses Argument vorbrachte, weil er damit genau ins Schwarze traf. Unter Aufbringung all seiner Beherrschung antwortete er: „Soweit ich weiß, haben wir den Fall trotzdem aufgeklärt.“

„Klar! Aber mit welchen Methoden? Und mit welchem Kostenaufwand?“

Dazu sagte Kullmann lieber nichts.

„Was glauben Sie, wer zu solchen überdimensionalen Aufwendungen die Erklärungen abgeben muss?“, fragte Forseti unbeirrt weiter. „Und was denken Sie, an wem eine solche Fehleinscheidung letztendlich haftet?“

Die aufreizende Mimik, die Forseti an den Tag legte, während er seine Argumente vorbrachte, empfand Kullmann als überflüssig. Damit bewies Forseti höchstens, dass er wütend war. Und mit Wut im Bauch war er bestimmt nicht kooperativ.

Es wäre nur wünschenswert, dass Forseti darüber nicht vergisst, dass dieses Zusammentreffen auf freiwilliger Basis stattfand.

Kapitel 2

Anke war erleichtert, als Lisa den Hund folgsam wieder an das Ehepaar der Pflegestelle zurückgab. Dr. Watson war ihr ans Herz gewachsen, das sah man ihr an. Aber einfach einen Hund aufzunehmen, ohne Kullmann wenigstens gefragt zu haben, war für Anke undenkbar.

Dämmerung war inzwischen hereingebrochen. Auch wenn das Wetter das trügerische Gefühl von Frühling vermittelt hatte, so waren die Tage kurz, die Dunkelheit schritt rasch voran.

Während der Heimfahrt saßen Mutter und Tochter schweigend im Auto – eine Situation, die sich für Anke fremd anfühlte. Wann hatten sie sich in letzter Zeit mal so beharrlich angeschwiegen? Dieser Zustand gefiel ihr nicht. Also unterbrach sie die Stille und fragte: „Was beschäftigt dich jetzt? Der Leichenfund oder der Hund?“

Mit einem flüchtigen Seitenblick erkannte Anke, dass Lisa ihr Haargummi entfernt hatte und ihre schulterlangen Haare offen trug. Diese Gelegenheit nutzte sie, um mit ihren Fingern darin zu spielen.

„Der Hund“, meinte sie nach einer Weile. „Er hat mich so traurig angeguckt, als ich ihn einfach weggegeben habe.“

„Du hast ihn nicht weggegeben, sondern der Pflegefamilie zurückgebracht“, stellte Anke schnell klar.

„Klar! Immer sich alles schönreden …“

„Lisa! Brich jetzt bitte keinen Streit vom Zaun. Damit erreichst du nämlich gar nichts.“

Lisa verstummte.

Den Rest der Fahrt lauschten sie der leisen Musik, die aus dem Autoradio lief. Egal wie unangenehm Anke dieses Schweigen war, es wollte ihr nicht mehr gelingen, es erneut zu brechen.

Als Kullmanns Haus in der Kaiserstraße in Sicht kam, rief Lisa: „Lass mich bitte hier aussteigen, damit ich Opa Norbert von Dr. Watson erzählen kann.“

Anke hielt an der stark befahrenen Straße an, obwohl ihre eigene Wohnung nur wenige Meter entfernt in der kleinen Seitenstraße lag. Licht brannte hinter einigen Fenstern, die zur Straße zeigten – das untrügliche Zeichen dafür, dass Norbert Kullmann und seine Frau zuhause waren. Anke schaute ihrer Tochter hinterher, wie sie die Treppenstufen nach oben lief, beobachtete, wie die Tür geöffnet wurde und Lisa im Haus verschwand. Erst dann konnte sie beruhigt in den Grumbachtalweg einbiegen und zu dem Mietshaus fahren, in dem ihre Wohnung lag. Nachdem sie das Auto in der Garage geparkt hatte, ging sie zum rückwärtigen Teil des Hauses, das direkt an Kullmanns Garten angrenzte. Das war der eigentliche Weg, den Lisa und Anke seit jeher benutzten, seit sie hier wohnten. Doch heute brannte Lisas Anliegen so sehr, dass sie keine Zeit hatte aufbringen können, um mit ihrer Mutter gemeinsam durch den Garten zu gehen. Anke stöhnte leise vor sich hin.

Wie würden Norbert und Martha Kullmann auf die Frage nach einem eigenen Hund reagieren?

Eigentlich wollte sie es noch gar nicht wissen. Die Tatsache, dass sie eine Brandleiche während ihres Freizeitvergnügens gefunden hatte, genügte, ihr die Laune zu verderben. Trotzdem setzte sie ihren Weg tapfer fort, stieg auf die Terrasse, die zu dieser Jahreszeit bereits leergeräumt war, und klopfte an die Tür. Martha schob einen Riegel geräuschvoll zur Seite, bevor sie die Glastür nach innen aufzog.

„Kommt ihr beide heute getrennt?“, fragte die kleine, rundliche Frau mit ihrem typischen Schmunzeln im Gesicht.

Damit traf sie Anke ganz empfindlich. Wortlos nahm sie Martha in ihre Arme und ging gemeinsam mit ihr ins Wohnzimmer, wo Kullmann und Lisa nebeneinander auf dem Sofa saßen und ihnen entgegen schauten.

„Was höre ich da?“, meinte Kullmann zur Begrüßung. „Da gehst du einmal mit deiner Tochter im Sonnenschein wandern, schon stößt du auf einen Toten.“

Anke rümpfte die Nase, begrüßte den alten Herrn ebenfalls mit einer Umarmung und meinte: „Ich schleppe wohl in meinem Unterbewusstsein die Arbeit immer mit mir herum.“

„Sieht tatsächlich so aus! Also, so einen Fall hatte ich noch nicht. Das klingt äußerst barbarisch.“

„Trotzdem habe ich beschlossen, erst morgen an dem Fall mitzuarbeiten. Heute ist mein freier Tag und so soll es auch bleiben.“

„Gute Entscheidung!“

„Ich habe Opa von dem Hund erzählt“, meldete sich endlich Lisa zu Wort. „Er ist ganz begeistert!“

„Moment mal, kleines Fräulein“, bremste Kullmann sofort Lisas Eifer. „ Von ‚ganz begeistert‘ kann keine Rede sein. Mir gefällt, was dieser Tierschutzverein für diese armen Hunde macht. Aber ich kann mich doch nicht für einen Hund begeistern, den ich gar nicht kenne.“

„Oh, das lässt sich ganz schnell ändern.“

„Außerdem solltest du bedenken, dass ich über siebzig Jahre alt bin“, ließ Kullmann sich nicht so leicht beirren, „da bin ich für einen Hund bestimmt viel zu alt. Hunde wollen toben und laufen. Wie soll das gehen, wenn ich nicht mehr hinterherkomme?“

„Ach was! Du bist nicht alt.“

„Ich bin 76 im August geworden. Ist das kein Alter?“

Darauf wusste Lisa tatsächlich nichts mehr zu sagen. Anke sah ihrer Tochter an, wie sie ihr Gesicht langsam verzog. Fehlte noch, wenn sie jetzt und hier anfing zu weinen.

Doch das geschah nicht. Lisa beherrschte sich.

„Heißt das, dass du den Hund nicht betreuen willst, während ich in der Schule bin – ohne ihn jemals gesehen zu haben?“ Diese Frage war geschickt gestellt.

Anke war schon auf Kullmanns Antwort gespannt.

Der ehemalige Kriminalhauptkommissar wirkte in der Tat verlegen. Eine Weile schaute er Lisa an, ließ dann seinen Blick auf Anke schweifen und sagte: „Ich glaube, mit Kriminalfällen komme ich besser klar als mit dieser pfiffigen, jungen Dame.“ Anke, Lisa und Martha lachten. Sofort wirkte die Stimmung wieder aufgelockert. „Ich kann mir den Hund ja mal anschauen. Dann sehen wir weiter.“

Lisa fiel dem Mann überschwänglich um den Hals und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Wange.

Die Krankenhausluft machte ihn noch nervöser, als er schon war. Die Geräusche, das Inventar, der Anblick der Krankenschwestern und der Ärzte – alles verursachte in ihm eine langsam aufsteigende Panik.

Ob es richtig war, hierher zu kommen?

Am Telefon hatte er keine Auskunft bekommen. Also blieb ihm gar nichts anderes übrig.