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Es ist ein richtiger Winter in Wien: Schnee zur Adventzeit, eiskalte Temperaturen, doch Bezirksinspektor Thomas J. Kratochwil hat wenig übrig für die besinnliche Zeit des Jahres. Neben seinem Beruf bemüht er sich um ein gutes Verhältnis zu seiner Tochter und ist froh, alleine zu arbeiten. Das ändert sich aber, als ihm eine neue Kollegin zugeteilt wird. Dabei handelt es sich um die Nichte des Innenministers, mit dem ihn eine komplizierte Vergangenheit verbindet. Schon der erste gemeinsame Fall sorgt für Aufsehen und stellt die Zusammenarbeit der beiden Bezirksinspektoren auf eine harte Probe. Mitten im Wahlkampf müssen sie ein Schussattentat auf eine umstrittene Politikerin aufklären. Der Hauptverdächtige ist schnell gefunden, noch dazu handelt es sich dabei um einen Bekannten des Bezirksinspektors. Immerhin hat Thomas Kratochwil ihn einst hinter Gitter gebracht. Nun sieht der mutmaßliche Attentäter nur eine Möglichkeit, seine Unschuld zu beweisen, doch die bringt den Bezirksinspektor beruflich und privat in große Bedrängnis.
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Seitenzahl: 370
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Bezirksinspektor Kratochwil – Teil 1
Falsche Hawara und krumme Touren
ISBN: 9783756238286
Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Es besteht kein Zusammenhang zu realen Politikern oder realen Ereignissen. Die Schauplätze entsprechen realen Orten in Wien.
1. Dezember
2. Dezember
3. Dezember
4. Dezember
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23. Dezember
24. Dezember
22:35 Uhr
Die Wohnungstür wurde aufgesperrt und mit Schwung aufgestoßen. Vom eisigen Wind durchgefroren betrat Thomas Kratochwil seine Wohnung und stellte erfreut fest, dass er die Heizung beim Verlassen nicht vollständig abgedreht hatte. Seine Jacke landete auf einem breiten Kleiderhaken neben der Tür, die Schuhe ließ er mitten im Gang liegen. Seine Dienstwaffe und die Erkennungsmarke, die ihn als Bezirksinspektor auswies, legte er griffbereit neben der Garderobe auf die Kommode. Dort stapelten sich Werbeprospekte und Briefe, die er seit über einer Woche nicht durchgesehen hatte. Da er seit seiner Scheidung vor über einem Jahr alleine in der Zwei-Zimmer-Wohnung im 9. Bezirk wohnte, sah er keinen Grund, übermäßig gründlich zu sein.
Mit einer Bierflasche in der Hand ließ er sich auf die Couch fallen und griff nach der Fernbedienung für den Fernseher.
In den Spätnachrichten saß ein bekannter Politwissenschaftler im Studio und nahm zur aktuellen Situation in Österreich Stellung.
»Nachdem wir die Pandemie, mitsamt dem damit verbundenen Chaos, überstanden haben, droht Österreich nun eine politische Schlammschlacht, mindestens bis zur Wahl im Februar. Angefangen bei der überraschenden Abspaltung einiger Mitglieder der FPÖ, welche als neugegründete »Neue Heimatpartei - Österreich Zuerst«, kurz NHÖ für ein noch strengeres Vorgehen im Asylrecht eintreten. Gleichzeitig sind die Mitglieder der neuen Partei ebenjene, die die Verwicklungen des Bundeskanzlers in unrechtmäßige Absprachen und strafrechtlich relevante Machenschaften aufgedeckt haben. Somit hat diese neue Partei auf Anhieb eine Schar Mitglieder hinter sich. Die tragischen Ereignisse vom 5. November haben der NHÖ zusätzlich Rückenwind verschafft.«
Der Bezirksinspektor erinnerte sich noch sehr genau an das Fiasko des besagten Tages. Eine hangreifliche Auseinandersetzung zwischen einer Gruppe Syrer und Afghanen in einem Wiener Gemeindebau eskalierte zu einer Schlägerei mit über 30 Personen. Die Polizei schritt mit einem Großaufgebot ein, woraufhin sich die Situation immer mehr zuspitzte. Zunächst kam es zu kleineren Übergriffen, bis ein Angreifer an die Dienstwaffe eines Polizisten gelangte. Daraufhin eskalierte die Situation auf beiden Seiten.
Am Ende zählte man drei getötete Polizisten und unzählige Verletzte auf allen Seiten. Von den Sachbeschädigungen in der Wohnanlage und an mehreren Fahrzeugen hatte Thomas nur ungefähre Zahlen gehört.
»Kurz darauf folgte der Bruch der schwarz-grünen Koalition, auch aufgrund des Bekanntwerdens der inzwischen erwiesenen illegalen Geschäfte von Bundeskanzler Kurt Schaller.
Nun stehen wir vor einer Wahl, bei der die bislang stimmenstärkste Partei selbst sagt, dass der Spitzenkandidat nicht mehr Kanzler werden wird. Man hört aus unterschiedlichen Kreisen, dass Innenminister Michael Steinberger diesen Posten übernehmen soll. Wobei er sich natürlich mit viel Kritik konfrontiert sieht.
Alle anderen Parteien sind immer noch völlig überrumpelt und haben nur zwei Monate Zeit, ihre Wähler zu mobilisieren. Wie zu erwarten, bekommen wir einen sehr schmutzigen, untergriffigen Wahlkampf, von allen Parteien.«
Thomas nahm einen großen Schluck aus der Flasche.
»So a Schas. Zuerst zwei Jahre lang nichts als das depperte Virus und jetzt nur Politikgerede«, fluchte er und schaltete von den Nachrichten zu einem Spielfilm. Sein Handy piepte, eine Nachricht seiner Tochter Anastasia, die mit ihrem Freund das Wochenende in Kärnten verbrachte. Thomas war froh, dass sie sich nicht an den Streitereien, die er mit seiner Ex-Frau hatte, beteiligte und den Kontakt mit ihm aufrecht hielt.
Das beigefügte Foto zeigte seine Tochter mit ihrem Freund an einem rustikalen Tisch in einem Lokal, beide mit einem vollen Schnapsglas in der Hand.
»Es ist so herrlich hier! Du solltest dir auch endlich einmal Urlaub nehmen. Bussi, Anastasia«
Thomas machte es sich mit einem weiteren Bier auf der Couch bequem. An Urlaub wollte er nicht denken, ebenso wenig wie an den bevorstehenden Termin mit seinem Chef am folgenden Tag, von dem er nicht wusste, was ihn erwartete.
»Das Wetter wird nun richtig winterlich«, sprach die Frauenstimme aus dem Radio und überließ dem Meteorologen das Wort.
»Nachdem wir letzte Woche noch Temperaturen um die 10 Grad hatten, trifft nun der Winter mit voller Wucht ein.
Die nächsten Tage werden richtig kalt, dazu ist mit starkem Wind zu rechnen. Die Wettermodelle deuten auf Schnee bis in die Niederungen hin. Es erwarten uns in ganz Österreich Temperaturen um minus 5 Grad, im Westen stark bewölkt. Der Osten des Landes wird stürmisch, Schneeschauer sind möglich.«
Die folgenden Verkehrsinformationen interessierten Thomas nicht mehr. Er drehte das Radio auf seinem Schreibtisch ab und erhob sich von seinem Arbeitsplatz.
»Dann schauen wir mal, was der Chef zu erzählen hat«, murmelte er und betrat das Büro seines Vorgesetzten, Oberst Erich Frimmel.
»Kratochwil! Endlich wieder frisch rasiert, so gefallen Sie mir viel besser«, grüßte ihn der Mann. Während der Oberst seit jeher einen perfekt getrimmten Schnauzbart trug, hatte sich Thomas die letzten Monate gehen lassen und seinen Vollbart nur geringfügig gestutzt und gepflegt. Zu seinem heutigen Termin hatte er sich entschieden, ihn komplett abzurasieren.
Mit strengem Blick deutete Erich Frimmel auf den Stuhl vor Thomas.
»Nehmen Sie Platz. Wir haben zu reden.«
Kaum hatte sich Thomas Kratochwil vor dem Schreibtisch hingesetzt, schob ihm sein Vorgesetzter einen Papierordner zu.
»So, Kratochwil, die Schonzeit ist vorbei«, sagte er und klopfte mit einem Finger auf den Ordner.
Thomas lehnte sich zurück und erwartete einen neuen Fall, nachdem er die bisherige Vorweihnachtszeit so gut wie nichts zu tun hatte.
»Sie waren lang genug alleine unterwegs. Es wird Zeit ...«
»Chef, bitte!«, unterbrach Thomas seinen Vorgesetzten.
»Nein! Ich werde diese Diskussion nicht schon wieder führen. Hören Sie zu, Kratochwil! Ich habe Sie lange genug machen lassen. Seit diesem unsäglichen Vorfall mit Ihrer ehemaligen Kollegin vor knapp zwei Jahren sind Sie alleine unterwegs. Ja, Sie machen Ihre Arbeit gut, aber es gibt nun einmal Gründe, die eine Änderung verlangen.«
»Welche Gründe?«, fragte Thomas sauer.
»Da wäre zum einen die Frauenquote.«
»Ernsthaft?« Thomas verdrehte die Augen.
»Ja, ernsthaft. Wir stehen vor einem Wechsel an der Spitze des Polizeiapparates. Wenn da eine Frau nachkommt und sieht, wie es bei uns aussieht, setzen die Ihnen eine Chefin vor die Nase. Ich bin alt genug, um bei einer Abberufung in den Ruhestand zu gehen, aber Sie? Wollen Sie sich von einer Frau herumkommandieren lassen? Vielleicht noch eine, die frisch vom Studium kommt, irgendeinen Minister kennt und glaubt, alles besser machen zu müssen?«
Thomas schwieg. Er hasste politische Intrigen und wollte sich so weit wie möglich davon distanzieren.
»Aber es gibt noch einen Grund, einen etwas Persönlicheren«, fuhr der Oberst fort.
Neugierig hob Thomas die Augenbrauen.
»Die neue Kollegin, also Ihre neue Kollegin ... Nun, es gibt sozusagen den Wunsch, dass sie mit Ihnen zusammenarbeitet.«
»Wie bitte? Warum?«, wunderte sich Thomas. Er galt weder als besonders umgänglich, noch als Vorbild für neue Kollegen.
»Anweisung von oben«, sagte sein Chef mit leiser Stimme.
Gleichzeitig wich er etwas von seinem Tisch zurück, als würde er jeden Moment einen Wutanfall des Bezirksinspektors erwarten.
»Wie bitte?«, wiederholte Thomas lauter.
Die Männer schwiegen sich einige Sekunden lang an, dann sprang Thomas von seinem Stuhl hoch.
»Sagen Sie nicht, die Anweisung kommt vom Innenminister.«
Erich Frimmel nickte.
»Ich wurde gebeten ...«, weiter kam er nicht, da Thomas bereits aus dem Zimmer gestürmt war und die Tür hinter sich zugeworfen hatte.
»Sekretariat des Innenministers, was kann ich für Sie tun?«
Die Stimme des jungen Sekretärs triefte vor Arroganz und erinnerte Thomas wieder daran, warum er sich nicht gerne mit Politikern herumschlug.
»Geben Sie mir Steinberger, sofort.«
»Der Herr Innenminister ist im Moment nicht zu sprechen.«
»Schon klar. Ist er da? Wenn ja, verbinden Sie mich mit ihm. Er wird sowieso schon darauf warten.«
»Haben Sie einen Termin?«
»Nein, aber ...«
»Sie benötigen einen Termin mit dem Herrn Innenminister und ...«
»Hearst, pudel di ned auf und stell mi durch. Sag dem Herrn Innenminister, sein Lieblingskieberer ist in der Leitung.«
»So geht das aber nicht«, kam die trotzige Antwort des Sekretärs.
»Doch, und jetzt flott«, keifte Thomas zornig, »Sonst kannst du dir morgen einen neuen Job suchen, haben wir uns verstanden?«
Thomas wurde in die Warteschleife gelegt, nach zehn Sekunden knackte es in der Leitung.
»Kratochwil, ich begrüße Sie«, sagte der Innenminister freundlich, »Eigentlich habe ich Ihren Anruf schon früher erwartet.«
»Ich war noch eine rauchen.«
»Kratochwil, Sie leben immer noch so ungesund«, tadelte ihn Michael Steinberger.
»Wer ist sie?«, überging Thomas die Meldung. Ihm war klar, dass der Innenminister genau wusste, weshalb er sich bei ihm meldete.
»Barbara ist meine Nichte, aber ...«
»Wie komme ich zu der Ehre, den Babysitter für Ihre Nichte zu spielen?«, fragte Thomas, bemüht darum, nicht zu aggressiv zu klingen.
»Moment!«, wurde der Innenminister ernst, »Zuerst möchte ich darauf hinweisen, dass wir von einer 35-jährigen Frau sprechen, die ihre Ausbildung abgeschlossen hat und eine Zuweisung zu einem Kriminalbeamten hat. Es erwartet Sie also eine vollwertige Kollegin. Ich vertraue darauf, dass Sie ihr Potential erkennen werden.«
Thomas erkannte aus der Stimme des Ministers, dass dies nicht der einzige Grund war.
»Und weiter? Was möchten Sie mir noch sagen, Herr Minister?«
Nach kurzem Schweigen und einem hörbaren Schmunzeln fuhr Steinberger fort.
»Sie und ich, wir brauchen keine Spielchen. Ja, es gibt noch einen Grund, welcher relativ einfach erklärt ist. Es hätte natürlich genug Postenkommandanten gegeben, die Barbara gerne aufgenommen hätten. Immerhin werde ich als zukünftiger Bundeskanzler gehandelt und da kommen viele Speichellecker aus ihren Löchern. Um dem vorzubeugen und weil meine Nichte keine Protektion benötigt, habe ich an Sie gedacht, Kratochwil. Außerdem, unter uns im Vertrauen, habe ich die Information erhalten, dass meine mögliche Nachfolgerin sehr auf Gleichberechtigung bedacht ist. Demnach sichere ich nicht nur Ihren Job, sondern auch den von Oberst Frimmel.«
Thomas strich sich mit der freien Hand über sein Gesicht.
»Das heißt, ich bekomme Ihre Nichte als Anhängsel, weil ich Ihnen nicht in den Arsch krieche?«
»So kann man es auch ausdrücken.«
Als Thomas zurück in das Büro seines Vorgesetzten kam, war dieser gerade am Telefonieren. Er schnappte sich den Ordner, der noch immer auf dem Tisch lag, und blätterte die Personalakte seiner zukünftigen Kollegin durch.
»Ernsthaft?«, wunderte er sich, gerade als Oberst Frimmel sein Telefonat beendete.
»Was stört sie, Kratochwil? Ich muss Ihnen eine Frau an die Seite stellen.«
»Manderl oder Weiberl, das ist mir Powidl. Aber wer nennt sein Kind bitte Barbara Chantal?«
»Sie sollten über solchen Kleinigkeiten stehen«, antwortete der Oberst, wobei er selbst ein Lächeln unterdrückte.
»Schon klar. Wann werde ich Frau Barbara Chantal Gugawitsch kennenlernen?«
»Morgen. Besprechung um 13 Uhr in meinem Büro. Ich habe eine gute Möglichkeit für sie beide, um sich kennenzulernen. Eine harmlose Sache, aber mehr dazu morgen.«
Auf dem Weg durch die Dienststelle entdeckte er seinen Freund aus der EDV-Abteilung.
»Mann eh, wie siehst du denn aus?«, fragte Dieter Brehme mit deutlich hörbarem deutschen Dialekt. Der 20 Jahre jüngere Kollege und Freund von Thomas war mit ihm erst vor wenigen Tagen durch einige Lokale gezogen.
»Ich habe gehört, dass du wieder einen Partner bekommst«, fuhr er fort.
»Es wurde mir gerade mitgeteilt. Morgen werde ich die Dame kennenlernen.«
Dieter sah sich um und beugte sich dann zu Thomas vor.
»Vielleicht ist es ja diese Schönheit da drüben.« Er deutete auf eine Frau, die an einem leeren Schreibtisch saß und mehrere Akten durchblätterte.
»Keine Ahnung, woher der blonde Lockenkopf kommt. Ich habe nur mitbekommen, dass sie einige alte Fallakten vom Oberst bekommen hat und diese studieren soll«, sagte Dieter und stieß Thomas an.
»Wie gesagt, morgen werde ich es erfahren«, brummte Thomas.
»Ist dir aufgefallen, wie eng ihr Hemd ist? Sie hat ordentlich Holz vor der Hütte und ein sehr ... nettes Gesicht.«
»Die Quasteln sind mir wurscht. Hauptsache ich kriege eine Kollegin, die gscheit haklt und mir nicht in den Rücken fällt.«
Dieter musste über den Satz nachdenken und in Gedanken die Wiener Ausdrücke übersetzen, dann nickte er Thomas zu.
»Das verstehe ich. Heute schon etwas vor?«
»Ja, ich fahre noch nach Hirtenberg. Ein Bekannter kommt heute aus dem Knast raus.«
»Dann die nächsten Tage. Da kannst du mir ja deine neue Kollegin vorstellen.« Dieter blickte nochmals zu der unbekannten Frau, von der er hoffte, sie näher kennenzulernen.
Pünktlich um 15 Uhr öffnete sich die Tür der Justizanstalt im niederösterreichischen Hirtenberg. Dort, wo normalerweise das Personal, Anwälte und Besucher ein und aus gingen, verließ ein Mann nach fünf Jahren Haft das Gebäude.
»Bleib sauber, Ibo. Hoffentlich sehen wir uns nicht so schnell wieder«, verabschiedete ihn der Justizbeamte am Tor.
»Ich werde nicht wiederkommen. Heute beginnt ein neues Leben, ein anständiges«, meinte der Mann gut gelaunt und strich sich seine schwarzen, gelockten Haare zur Seite. Sein Mantel, der schon vor fünf Jahren weder neu noch modisch war, bot nur wenig Schutz vor dem heftigen Schneegestöber. Der eisige Wind trieb die Schneeflocken waagrecht über die, im Moment dicht befahrene, Hauptstraße.
Kaum hatte er das Gittertor hinter sich geschlossen, verschwand sein Lächeln. Unsicher und fröstelnd sah er die Straße entlang und beobachtete die vorbeifahrenden Fahrzeuge.
»Ibo!«, rief eine Stimme hinter ihm, »Brauchst du ein Taxi zum Flughafen?«
Ibrahim Bočakčić, der sich selbst nur Ibo nannte, zuckte zusammen und wirbelte herum. Die Person zu der Stimme erkannte er auch nach den Jahren im Gefängnis sofort wieder.
»Inspektor Thomas Kratochwil! Der Mann, der mich geschnappt hat und dem ich die letzten fünf Jahre hier verdanke.«
»Und das nur, weil du mit einem Linienflug abhauen wolltest, bezahlt mit der eigenen Kreditkarte«, meinte Thomas und reichte ihm die Hand, »Du siehst gut aus, die Haft hat dir nicht geschadet.«
»Danke, Inspektor. Ich hatte viel Zeit für Sport und Bildung. Letzte Woche hatte ich meinen fünfzigsten Geburtstag. Ein guter Zeitpunkt, um ein neues Leben anzufangen, findest du nicht?«
»Ich werde dir nicht widersprechen.«
»Was verschafft mir die Ehre, von dir persönlich in Empfang genommen zu werden?«, fragte Ibo.
Thomas deutete auf das Gebäude neben der Justizanstalt, eine Bäckerei mit Café.
»Komm mit, ich zahl dir einen Kaffee«, sagte Thomas mit einem verschmitzten Lächeln.
Sie saßen an einem kleinen weißen Tisch neben dem Fenster. Der Schneesturm war intensiver geworden, dicke Flocken wirbelten an der Scheibe vorbei, eine feine Schicht Schnee legte sich über den Gehsteig und die parkenden Autos.
Neben einem Kaffee hatte Thomas für beide jeweils ein kleines Baguette mit Schinken, Käse und Ei bestellt.
»... und so habe ich eine Ausbildung als Koch abgeschlossen. Ich habe auch schon Bewerbungen verschickt.
Keine Bars oder sowas, echte Restaurants. Ich meine es ernst, Inspektor. Ich will den Rest meines Lebens sauber und ehrlich verbringen.«
»Gute Einstellung, Ibo. Ich habe mich zwischendurch nach dir erkundigt und die Beamten haben mir bestätigt, was für ein braver Junge du warst.«
»Deshalb hast du dir gedacht, du holst deinen alten Freund persönlich ab?«
Thomas schüttelte den Kopf.
»Freunde ist wohl ziemlich übertrieben. Aber ich muss zugeben, die Jagd nach dir war eines der Highlights meiner Karriere. Was du abgeliefert hast, war ja direkt filmreif.«
Ibo lehnte sich breit grinsend zurück.
»Erinnerst du dich an die Jagd durch die stillgelegte Fabrik?«
Thomas nippte an seinem Kaffee und musste bei der Erinnerung daran ebenfalls grinsen.
»Zwölf Mann stürmen hinein, sichern jede Tür, durchkämmen jeden Raum und was macht der liebe Ibo?
Versteckt sich im Freien, schnappt sich einen Polizeiwagen und rast mit Blaulicht davon«, rief sich Thomas den aufregenden Tag von damals wieder in Erinnerung.
Im Fernsehen war das Video des Polizeihubschraubers damals in jeder Sendung zu sehen. Ein Polizeiwagen, der von einem weiteren Polizeiwagen verfolgt wurde, die Szenerie ähnelte einem Actionstreifen aus dem Kino.
Thomas erinnerte sich noch genau daran, wie es Anrufe gegeben hatte, ob es sich um einen echter Polizeieinsatz handelte, oder Dreharbeiten zu einem Film.
»Es war aufregend und auch ich hatte etwas Spaß an der Sache. Habe ich jemals erzählt, was ich nach meiner Flucht vorhatte?«
Thomas schüttelte den Kopf.
»Wenn du mich nicht auf dem Flughafen geschnappt hättest, wäre ich zuerst in meiner Heimatstadt Sarajevo gelandet. Du hättest sogar eine Ansichtskarte bekommen, natürlich erst, nachdem ich weitergezogen wäre. Ein Komplize hat damals alles vorbereitet, um mich in Visoko, nahe der Stadt, zu treffen und mich mit einem Notgroschen zu versorgen. Da ich nie dort angekommen bin, wird er inzwischen ein glückliches Leben mit meinem Geld führen.«
»Geld, das wir nie gefunden haben, nehme ich an«, meinte Thomas.
»Noch besser, Geld, wovon ihr nie etwas gewusst habt. Ein Teil davon ist immer noch ... Aber wie gesagt, das ist Schnee von gestern.«
Thomas erkundigte sich, wie seine nächsten Pläne aussahen. Ibo erzählte, dass er schon vor Wochen eine Wohnung zugesichert bekommen hatte und dass in den folgenden Tagen mehrere Vorstellungsgespräche auf ihn warteten.
»Außerdem werde ich versuchen, Kontakt zu meiner Tochter aufzunehmen. Ihre Mutter ist vor zwei Jahren verstorben und sie hat keinen meiner Briefe beantwortet.
Wer will schon einen Verbrecher als Vater?«
»Das klingt alles sehr gut überlegt. Solltest du Hilfe brauchen ...«, Thomas schob ihm seine Visitenkarte hinüber, »... dann ruf mich an. Aber bleib sauber.«
»Versprochen, Inspektor«, meinte er und sah auf die Karte.
»Was ich immer schon wissen wollte, wofür steht eigentlich das ‚J‘ in deinem Namen?«
»Jaroslav. Aber niemand nennt mich so.«
Fünf Minuten vor 13 Uhr betrat Thomas ohne anzuklopfen das Büro seines Vorgesetzten. Oberst Frimmel saß telefonierend an seinem Schreibtisch, winkte ihn zu sich und zeigte auf einen freien Stuhl vor seinem Tisch.
»Ja, zwei Beamte in Zivil. Sie werden sich unter die Zuhörer mischen ... Nein, keine Einmischung, außer, sie bekommen Befehle ... Ja, ich werde ihm einen Ohrstecker aushändigen.
Der Bezirksinspektor ist gerade anwesend, ich werde ihn instruieren. ... Danke, auf Wiederhören.«
Thomas wollte etwas sagen, als hinter ihm die Tür aufging.
»Guten Tag, meine Herren«, begrüßte sie eine Frauenstimme.
Thomas wandte den Kopf und musste schmunzeln. Vor ihm stand jene Frau, von der Dieter gestern geschwärmt hatte. Er erhob sich und reichte ihr die Hand.
»Ich nehme an, wir sind hier, um uns kennen zu lernen.«
»Bezirksinspektorin Barbara Gugawitsch, Ihre neue Kollegin«, antwortete die Frau und schüttelte ihm die Hand, während Thomas sie kurz musterte. Als Erstes fielen ihm die dichten, rotblonden Locken und ihr blasser Teint auf. Im Gegensatz zu seinem Freund Dieter wanderte sein Blick nicht hinab. Vielmehr stellte er beruhigt fest, dass sie trotz des Altersunterschiedes auf den ersten Blick selbstbewusst wirkte. Da er ihre Personalakte bereits überflogen hatte, wusste Thomas, dass Barbara Gugawitsch schon mehrere berufliche Erfolge für sich verbuchen konnte.
»Ich mache es kurz«, sagte der Oberst, »Ihr seid morgen im Einsatz, etwas Einfaches für den Anfang. Ihr werdet morgen Nachmittag bei der Kundgebung der NHÖ zugegen sein und die Kollegen der WEGA in Zivil unterstützen.«
Gleichzeitig stöhnten Barbara und Thomas auf.
»Schön, dass ihr euch schon so einig seid. Wo liegt das Problem?«, fragte der Oberst.
»Sie kennen meine Meinung über Politiker«, antwortete Thomas missmutig.
»Diese ... Partei, wenn man sie so nennen will, widerspricht allen meinen Ansichten«, sagte Barbara angewidert.
»Es tut mir leid, dass ich nicht auf ihre persönlichen Befindlichkeiten eingehe, wäre Ihnen ein gemütliches Candlelight-Dinner lieber?«
Er wartete nicht auf eine Antwort und erhob sich.
»Morgen Punkt 12 Uhr, Treffpunkt mit der Einsatzleitung der WEGA vor dem Bahnhof Heiligenstadt in Döbling.
Noch Fragen?«
»Wie sieht es denn mit Ihrer politischen Meinung aus?«, wollte Barbara wissen, als sie das Büro des Obersts verlassen hatten und ins Freie gingen.
Thomas verzog das Gesicht und rauchte sich eine Zigarette an.
»Was hat Ihnen ihr Onkel erzählt?«
»Dass Sie beide sich kennen und, ich zitiere, Kratochwil vielleicht eigensinnig und nicht der sympathischste Kerl ist, aber garantiert kein Stiefellecker. Ich habe also keine Sonderbehandlung zu erwarten.«
»Ich tu es nicht gerne, aber ich stimme Steinberger in diesem Punkt vollkommen zu.«
Nach einigen Zügen an seiner Zigarette sprach Thomas weiter.
»Politik ist für mich beinahe gleichbedeutend mit Kriminalität. Ich weiß, dass ich keine Freunde in egal welcher Partei habe und damit kann ich gut leben. Mein Vertrauen in unsere Politik ist nicht gerade berauschend.«
»Okay, das ist eine direkte und ehrliche Meinung. Und abseits von Parteipolitik? Sie werden ja trotzdem eine Meinung haben, zum Beispiel zu dem hier«, Barbara deutete auf einen Plakataufsteller, wie sie zurzeit haufenweise in der Stadt verteilt standen. Dieser zeigte die Klubobfrau Anna Pauline Braunstein mit ernster Miene und verschränkten Armen. Darunter war zu lesen: Die Neue Heimatpartei - Österreich zuerst Grenzen dicht, Regierung weg - das versprechen wir!
Thomas strich sich über sein Kinn.
»Das übliche Geschwätz von Politikern, die im Wahlkampf um jede Stimme betteln. Sie wissen, wo die Kundgebung morgen stattfindet?«
Barbara nickte.
»Im Innenhof des Karl-Marx-Hof in Döbling. Genau dort, wo es zu diesem Polizeidesaster kam. Das hat dieser Partei einen gewaltigen Aufschwung beschert, neben der Korruptionsgeschichte rund um den Bundeskanzler.«
»Dafür soll Ihr Onkel nun der nächste Bundeskanzler werden«, sagte Thomas, während er bei einem Mistkübel stand und rauchte.
»Ich habe vom Oberst Ihre letzten Fälle zur Durchsicht bekommen. Vor Corona hatten Sie einige große Momente.
Aber was war in den letzten zwei Jahren los?«, überging sie seine Bemerkung.
»Ich brauchte etwas Ruhe.« Mehr wollte er nicht preisgeben.
Der gemeinsame Spaziergang endete bei einem nahe gelegenen Würstelstand. Der ovale, silberne Container, der am Anfang der Fußgängerzone stand, wurde regelmäßig von Thomas besucht.
»Nichts gegen die ganzen Kebab-Buden und Nudelläden, aber ein gscheites Hot Dog mit Käsekrainer, Senf und Ketchup dazu und ein 16er-Blech, das hilft beim Denken, beim Munterwerden, als Abendessen ...«
»Munterwerden? Sie meinen damit nicht wirklich, bei Ihnen gibt es Bier und Käsekrainer zum Frühstück?«
Thomas grinste.
»Meine Art des Wiener Frühstücks. Aber nur an speziellen Tagen.«
Der Verkäufer in dem kleinen Stand sah den Bezirksinspektor kommen und rief ihm ein erfreutes »Hallo, da kommt mein liebster Kunde!« entgegen.
Inzwischen wurde Thomas nicht mehr gefragt, welchen Hot Dog er wünschte.
»War es bereits ein heftiger Tag, oder brauchst du noch kein Bier?«
»Es ist noch zu früh für Alkohol, gib uns zwei Hot Dogs und dazu Almdudler.«
Barbara Gugawitsch musste zugeben, dass die Wurst gut schmeckte, auch wenn sie sich ansonsten nicht für Fleisch begeisterte.
»Interessant, aber ich bin immer offen für neue Gewohnheiten«, meinte sie und prostete ihm mit der Flasche zu.
Obwohl er ihre Personalakte bereits gelesen hatte, erkundigte sich Thomas nach ihrem Werdegang, schon alleine, um sich ein besseres Bild machen zu können. Ihr Lebenslauf zeigte, dass sie scheinbar ohne familiäre oder politische Hilfe zu beruflichen Erfolgen gekommen war.
Nachdem sie ihm von ihren bisherigen Stationen bei diversen Dienststellen berichtet hatte, war sie ebenfalls neugierig.
»Genau wie Sie habe auch ich Ihre Personalakte durchgesehen. Was mich aber ehrlich gesagt etwas stutzig machte, war die Andeutung des Obersts, dass es mit mir als Kollegin für Sie auch privat keine Probleme geben sollte.
Können Sie mir erklären, was er damit meinte?«
Thomas musste sich ein Grinsen verkneifen.
»Er meinte damit, dass ich eine Affäre mit meiner Ex-Kollegin hatte, die aber tragisch endete, da sie mich hintergangen hat.«
»Das kann passieren ...«
»In der Form, dass sie mich benutzt und nebenbei den Staat nach einem inszenierten Banküberfall erpresst hat«, unterbrach er sie.
Barbara wusste sofort, von welchem Fall er sprach.
»Oh, das stand so nicht im Bericht. Aber ich habe den Fall verfolgt, und um ehrlich zu sein, mein lieber Onkel hat auf mein Drängen auch Hintergründe preisgegeben.«
Sie trank ihre Kräuterlimonade aus und bestellte eine weitere Runde.
»Darf ich fragen, wie es jetzt privat bei Ihnen aussieht?«
»Dürfen Sie. Frisch geschieden, meine Tochter hat zum Glück den Kontakt nicht abgebrochen und kommt gut damit zurecht. Sie ist 16 Jahre alt, zum Glück nicht pubertätsgeschädigt, schwer verliebt und schulisch erfolgreich unterwegs. Wir haben uns darauf geeinigt, dass meine Frau das Sorgerecht hat, sie aber jederzeit zu mir kann. Jedenfalls, wenn es der Job erlaubt, was auch ein Grund für die Probleme daheim war.«
»Das verstehe ich«, meinte Barbara, »Deshalb bin ich Single und glücklich damit.«
Wenn das Dieter hört, dachte Thomas innerlich grinsend.
Eine Stunde später entschied Thomas für sie beide, dass ihr Feierabend schon beginnen durfte.
»Wir müssen uns morgen mit dieser Kundgebung herumschlagen, da haben wir uns im Vorfeld einen erholsamen Abend verdient, meinen Sie nicht?«
»Garantiert. Auch wenn mir dieser Ausflug nicht gerade zusagt.«
»Ich werde auch schwer die nötige Motivation aufbringen können, aber so ist unser Job.«
Barbara Gugawitsch stimmte ihm zu. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag direkt bei dem Gemeindebau, in dem die neue Partei ihre Kundgebung abhalten sollte.
Zum Glück hatte der Wetterbericht nicht Recht, wie Thomas feststellte, als er ausgeschlafen und mit einem ausgiebigen Frühstück im Magen seine Wohnung verließ.
Der angekündigte Schneefall war ausgeblieben. Dennoch blies ein eisiger Wind durch die Gassen und zwang ihn, den Verschluss seiner Jacke bis zum Anschlag hochzuziehen.
Außerdem war er froh darüber, dass er gestern mit einem Dienstwagen heimfuhr. Nach nur wenigen Minuten war es im Auto angenehm warm. Zu seinem Leidwesen dauerte die Fahrt nicht viel länger. Sobald er aus dem Wagen stieg, kroch die Kälte in seine Glieder und ließ ihn frösteln.
Die Wohnanlage im 19. Bezirk war unübersehbar. Dafür sorgte besonders die rote Fassade des Gebäudes mit einer Gesamtlänge von einem Kilometer. Der Bau lag gegenüber dem Bahnhof Heiligenstadt und wurde von mehreren Straßen durchquert, die zur Heiligenstädter Straße führten.
Mit über 1.000 Gemeindewohnungen, zwei Innenhöfen mit Spielplätzen und Grünflächen gab es genug Platz für Veranstaltungen jeglicher Art.
Als Treffpunkt hatten sie sich eine direkt zur Anlage gehörende Apotheke ausgemacht. Unweit davon befand sich einer der Durchgänge zu dem Innenhof, in welchem die Kundgebung stattfinden sollte. Ein massives rotes Gitter beschränkte den Eingang auf eine Breite von ungefähr drei Metern. Das leuchtende Rot stach durch die dunkelbraunen Ziegelblöcke zu beiden Seiten noch deutlicher hervor.
Barbara Gugawitsch erschien pünktlich um 12:30 Uhr.
Inzwischen hatte Thomas mit den leitenden Beamten vor Ort gesprochen. Ihre Anwesenheit war den Einsatzkräften bekannt, wobei sie nur als Beobachter fungierten.
»Was wissen Sie über den Karl-Marx Hof?«, fragte Barbara, gleich, nachdem sie sich begrüßt hatten.
»Ein Gemeindebau, groß und schon älter«, antwortete Thomas, etwas verwundert über die Frage.
»Ich habe mich gestern noch schlaugemacht. 1930 wurde der Gemeindebau fertiggestellt, er gilt heute noch als besonderes Beispiel der Wohnbauarchitektur und längster zusammenhängender Wohnbau der Welt. Schon in der Zwischenkriegszeit war der Hof Schauplatz politischer Auseinandersetzungen. 1934, bei den Februarkämpfen und vor allem nach dem Anschluss an das Dritte Reich ...«
»Stopp!«, fiel ihr Thomas ins Wort, »Inwiefern ist die Geschichtsstunde für uns relevant?«
»Nur insofern, dass die NHÖ diesen Ort bewusst ausgewählt hat. Natürlich hauptsächlich aufgrund des Vorfalls im November, aber auch als klare Provokation gegen die SPÖ, da der Karl-Marx-Hof als das Vorzeigeprojekt des Roten Wien gilt«, klärte sie ihn auf.
»Dann lassen Sie uns hoffen, dass dies die einzige Provokation bleibt.«
Es herrschte Volksfeststimmung in dem überfüllten Innenhof. Neben den Durchgängen waren Informationsstände aufgebaut, außerdem reihten sich Getränkestände an Hütten, die Hot Dogs und Schnitzelsemmeln verkauften. Die Bühne war in schlichtem weiß und blau gehalten, als Hintergrund prangte groß das Logo der Neuen Heimatpartei. Vor dunkelblauem Hintergrund prangten die Buchstaben NHÖ in dicken weißen Lettern. Darunter, ebenfalls in Weiß »Neue Heimatpartei Österreich – Österreich zuerst«.
Der Spruch, den bereits die ehemalige Partei von Anna Pauline Braunstein benutzt hatte, fand sich auch auf den meisten Schildern und Transparenten in der Menschenmenge. Darunter noch andere Sprüche wie »Ausländer raus!«, »Asyl – nein danke!«, »Wir brauchen keine Asylanten!« und »Anna an die Macht!«
»Mit ihrer überraschenden Abspaltung und einem doch deutlicheren rechtsgerichteten Programm hat Braunstein für einigen Wirbel gesorgt«, sagte Barbara, die mit Thomas neben einem Torbogen an der Hauswand stand. Sie befanden sich seitlich der Bühne und konnten somit diese und auch die Menschenmenge davor im Auge behalten.
»Sie hat ein altes Parteiprogramm der Freiheitlichen übernommen und es einfach in ein neues Gewand gepackt.
Ziemlich ideenlos«, ätzte Barbara, während sich Thomas eine Zigarette anzündete. Als er ihr eine anbot, schüttelte sie den Kopf.
»Viel zu ungesund.«
»Das hat Ihr Onkel auch gemeint. Schön, dass ihr euch so einig seid«, spottete Thomas.
»Sie müssen aufhören, mir meinen Onkel vorzuhalten, verstanden?«, sagte sie ernst.
»Jawohl, Frau Gugawitsch«, antwortete er mit einem angedeuteten Salut.
Barbara deutete zur Menge, die im Innenhof immer weiter ihre Parolen skandierten.
»Wenn die meine Einstellung kennen würden, hätten wir es weniger gemütlich.«
»Sind Sie politisch engagiert?«, wollte Thomas wissen.
»Nur politisch interessiert. Sie werden doch auch eine Meinung dazu haben. Oder stimmen Sie diesen Ansichten zu?«
»Die Politik, der ich mich verbunden fühle, wurde noch nicht erfunden«, antwortete Thomas.
»Ich nehme an, Sie haben aber dennoch Ihre Meinung zu bestimmten politischen Themen.«
»Ja, aber die ist unabhängig von der Parteifarbe und meine Abneigung bezieht sich vorwiegend auf bestimmte Personen in politischen Positionen, die diese zu sehr ausnutzen«, gab er ihr eine kurze Erklärung. Weiter kam er nicht, da in diesem Moment die Bühnenscheinwerfer eingeschaltet wurden. Vor ihnen wurde es lauter, weiße und blaue Lichtkegel wanderten über die Bühne, eine dramatische Orchestermusik versuchte Spannung aufzubauen. Dazu blies ein Nebelgerät dicke, weiße Rauchschwaden über den Boden der Bühne. Nach einer Minute trat Anna Pauline Braunstein unter frenetischem Applaus auf die Bühne, flankiert von zwei Bodyguards. Sie war leger gekleidet, Jeans und eine dicke, dunkelblaue Daunenjacke. Ihre blonden Haare, die zum Teil schon grau wurden, waren wie auf den Plakaten, zu einem festen Zopf zusammengebunden. Mit einem Ausdruck von Begeisterung blickte sie über ihre Anhänger vor der Bühne.
Österreichfahnen wurden geschwungen, die Rufe und der Beifall dröhnten durch den Innenhof.
»Liebe Freunde ...«, begann sie, hielt dann aber inne und genoss die Stimmung.
»Es gehört einiges dazu, dass es mir die Sprache verschlägt, aber das hier ...«, Braunstein winkte der Masse zu, »ist überwältigend. Es tut gut, zu sehen, wie viele bereit sind, mit uns diesen Weg zu gehen. Jung und Alt, gemeinsam gegen einen Feind, der unser Österreich bedroht. Dieser Feind, diese Regierung gehört aus dem Weg geräumt. Für einen Weg, der endlich wieder Freiheit und Gerechtigkeit zu den Österreichern bringen wird.«
Sie wartete den folgenden Applaus ab, bevor sie mit lauter Stimme, fast schon schreiend, weitersprach.
»Über drei Jahre haben wir zusehen müssen, wie diese Regierung unser Land verraten und verkauft hat. Erinnert euch an den Wahnsinn, den sie aufgeführt haben bei dieser sogenannten Pandemie. Wie sie euch eingesperrt haben, wie sie euch eure Jobs weggenommen haben. Die Hetze gegen alle Ungeimpfte, fernab jeder wissenschaftlichen Evidenz, und wie sie unseren Kindern einen Teil der Kindheit genommen haben?
Die Regierung hat nichts gelernt. Nein, sie haben sogar in der größten Wirtschaftskrise darauf geschaut, dass ihre Klientel noch mehr Geld scheffelt. Auf unsere Kosten!
Aber damit ist jetzt Schluss!«
Wieder gab es laute Zustimmung aus dem Publikum.
»Statusinformation für alle«, meldete sich der Einsatzleiter über Thomas‘ Ohrstecker, »Die Demonstranten gegen die Kundgebung kommen von stadteinwärts über die Heiligenstädter Straße. Entfernung derzeit etwa 500 Meter.
Kleinere Gruppen vor dem Bahnhof, diese sollten im Auge behalten werden. Im Moment keine Aggressionen. Also bleibt alle ruhig.«
»Meine Freunde, es gibt einen Grund, warum ich hier mit meinen Verbündeten stehe. Es geht darum, die Macht, die diese Regierung missbraucht hat, zu stürzen.
Ihr wisst es selbst, wir haben aufgedeckt, in welchem Sumpf der Bundeskanzler steckt. Wir haben seine korrupten Geschäfte ans Licht gebracht und dafür gesorgt, dass er sich aus der Politik verabschieden muss. Lange genug hat er sich auf eure Kosten bereichert, meine Freunde. Aber damit ist nun Schluss.“
Applaus brandete auf. Anna Braunstein stoppte ihre Rede und genoss die lautstarken Anfeuerungsrufe und Zustimmungsbekundungen, die ihr entgegengerufen wurden. Nach einer halben Minute wurde es langsam wieder ruhiger, die Parteichefin deutete dem Publikum, dass sie weitersprechen wollte.
„Danke, ihr seid ein Wahnsinn!“, rief sie ins Mikrofon, bevor sie mit ihrer Rede fortfuhr.
„Doch das ist nur ein Teilerfolg. Wir wissen doch alle, dass diese ganze Partei in einem Sumpf aus Korruption und illegaler Absprachen steckt. Alle Anhänger dieses, immer noch nicht verhafteten, Bundeskanzlers gehören weg. Wir müssen dafür sorgen, dass es diese Partei nicht noch einmal in die Regierung schafft. Noch besser, wenn diese Partei einen Denkzettel bekommt und ausgelöscht wird. Weg mit Schaller!«
Die Menge wiederholte mehrmals lautstark den inzwischen bekannten Slogan »Weg mit Schaller!«.
Barbara lehnte sich zu Thomas.
»Ihre Ausdrucksweise ist typisch für rechtspopulistische Parteien. Die Aggressivität und die Wortwahl. Und immer wieder die Betonung, dass sie alle Freunde sind.«
Nach einer Minute wurde es wieder etwas leiser und die Obfrau konnte weitersprechen. Inzwischen war sie in ihrem Element und schrie die Worte ins Mikrofon. Durch den zu allen Seiten verbauten Innenhof dröhnten ihre Worte noch lauter über den Gemeindebau hinweg.
»Es gibt noch einen Grund, warum es gerade jetzt eine echte Heimatpartei für Österreich braucht. Für uns Österreicher, nicht den Multikulti-Brutallo-Mix.
Der bestialische Mord an den unschuldigen Polizisten scheint von allen anderen Parteien vergessen. Aber nicht von uns!
Nach den Ereignissen, die uns alle geschockt haben, braucht es jetzt eine starke rechte Macht, die für Ordnung sorgt.
Was es nun für unser Land braucht, ist ein sofortiger Einwanderungsstopp und das Aussetzen aller Asylanträge.
Solche Gestalten brauchen wir nicht in unserem Österreich!«
»Ob sie weiß, dass diese Forderungen nicht mit geltendem EU-Recht vereinbar sind?«, fragte sich Barbara.
»Sie wird es wissen, aber sie hofft auf die Unwissenheit der Mehrheit. Außerdem gehört das rechtsradikale Klientel bedient«, war sich Thomas sicher.
»Österreich darf nicht mehr als Einwanderungsland herhalten. Vielleicht werden einige von euch sagen, dass einige unserer Punkte schon vor Jahren von unseren Vorgängern in einem Volksbegehren der damaligen FPÖ verlangt wurden. Das ist zum Teil richtig, aber unsere ehemaligen Weggefährten sind schwach geworden. Das war auch der Grund für die Bildung dieser neuen Bewegung, der einzig wirklichen Heimatpartei. Wir wollen Österreich den Österreichern zurückgeben!
Wir werden kein Volksbegehren organisieren, keine Protestaktionen. Mit eurer Hilfe, meine Freunde, mit eurer Unterstützung werden wir unsere Forderungen auf den Tisch knallen und jeden einzelnen Punkt verlangen.
Verlangen, nicht verhandeln.
Ihr wisst alle, was hier in diesem Gemeindebau passiert ist.
In einer Großstadt, die von Politikern regiert wird, die lieber den Kopf einziehen und jeden Ausländer willkommen heißen, hat man als echter Österreicher keine Chancen mehr. Ohne eine deutliche Kursänderung erleben wir noch mehr von diesen brutalen Schlägereien.
Schlägereien, bei denen unschuldige Polizisten und unschuldige Österreicher und Österreicherinnen betroffen sind.
Nicht nur Wien, nein, ganz Österreich muss wieder zu unserer Heimat werden. Wir dürfen nicht zu einem Sammelbecken für illegale Asylanten, Drogenhändler und mutmaßliche Terroristen werden. Der Innenminister, der Bundeskanzler werden möchte, wird nichts dagegen tun, aber wir werden es.
Ich verspreche euch, mit uns wird es nicht so weit kommen. Mit euren Stimmen werden wir zu einer Macht, damit diese linken Ausländerfreunde und korrupten Verbrecher keine Chance mehr bekommen.
Geht gemeinsam mit uns diesen Weg für ein sicheres Österreich. Ein Österreich, das wieder uns Österreichern gehört!«
Sie trat neben das Rednerpult und hob beide Hände hoch.
Es folgte Applaus, der von »Ausländer raus« und »Österreich zuerst« - Rufen begleitet wurde. Die Akustik des Innenhofes ließ es noch lauter wirken.
»Das war wieder eine typische hetzerische und verlogene Rede. Aber die Leute fallen auf ihre Schlagwörter herein«, kommentierte Barbara erbost den lauten Jubel und Beifall.
»Es sind viele angefressen, die Regierung hat sich zu viel erlaubt«, sagte Thomas, » Das große Problem für Ihren Onkel und seine Partei ist, dass es stichhaltige Beweise für Veruntreuungen und Schmiergeldzahlung gibt.«
»Da muss ich Ihnen zustimmen, das war idiotisch.
Nichtsdestotrotz sind die Ansichten, die diese Partei vertritt viel gefährlicher für die Sicherheit im Land. Ist Ihnen die typisch provokante Geste aufgefallen?«
Sie gab Thomas keine Möglichkeit zum Überlegen und sprach weiter.
»Zuerst wandert die rechte Hand ausgestreckt hoch, zu kurz, um es als Hitler-Gruß durchgehen zu lassen. Aber ...«
Der Schuss war trotz der lauten Geräuschkulisse zu hören.
Thomas zuckte zusammen, seine Hand griff automatisch nach seiner Dienstwaffe. Im Augenwinkel konnte er sehen, wie seine Kollegin neben ihm die idente Bewegung vollführte. Beide hielten ihre Waffe jedoch noch unter der Jacke versteckt.
Auf der Bühne schwankte Anna Braunstein nach hinten, beide Hände auf die rechte Brust gedrückt. Von beiden Seiten stürmten Personen auf die Bühne. Einige stellten sich schützend an den Rand der Bühne, zwei hatten eine Pistole in der Hand. Andere packten Braunstein, die zu Boden ging, und zogen sie nach hinten.
Der Applaus und die Schreie verstummten, binnen weniger Sekunden wurde es beinahe totenstill im Innenhof des Gemeindebaus.
»Es gab einen Schuss auf Braunstein!«, brüllte der Einsatzleiter der WEGA in Thomas´ Ohr, »Höchste Gefahrenstufe, alle Einheiten sofort in Alarmbereitschaft!«
»Woher kam der Schuss?« Thomas sah sich um.
Die Menge war wie versteinert, aber der Bezirksinspektor wusste, dass dieser Zustand nur noch Sekunden anhielt.
Dann würde hier das Chaos ausbrechen.
»Dort hinten, das offene Fenster im zweiten Stock«, Barbara Gugawitsch deutete über den Hof zur rückwärtigen Hauswand. An einigen standen die Bewohner, der Großteil war geschlossen. Ein Fenster stand offen, ohne, dass jemand zu sehen war.
»Das würde hinkommen«, stimmte er seiner Kollegin zu.
In diesem Moment brach der von Thomas erwartete Tumult aus.
Wie auf Befehl wurde es wieder laut, Schreie hallten durch den Hof.
»Attentat!«
»Da wird geschossen!«
»Angriff!«
Darunter Angstschreie, während die Menschenmenge aus der Schockstarre erwachte und panisch zu den Ausgängen drängte.
Thomas und Barbara wichen den ersten Personen aus und drückten sich gegen die Hauswand hinter sich.
»Verdammte Schei…! Einheit 1, 2 und 3! Wir brauchen sofort einen Korridor, weg vom Bahnhof. Leitet die Personen aus dem Hof in die Gassen stadtauswärts. Alle anderen drängen die Demonstranten ab. Stoppt die Gegendemo, die dürfen nicht in die Nähe kommen«, schallten die Befehle des Einsatzkommandanten in Thomas‘ Ohr.
Entlang der Hauswand rannte er los.
»Der Hauseingang ist dort vorne, zweiter Stock. Wir müssen den Schützen ...«
»Er darf das Gebäude nicht verlassen, sonst kann er in der flüchtenden Menge untertauchen«, warf Barbara ein und folgte ihm.
Die Bühne war leer, dafür herrschte im Innenhof des Gemeindebaus das totale Chaos. Mehr als sechshundert Personen stürmten in Panik zu den Steinbögen, die zu den Straßen führten, nun aber zu gefährlichen Engstellen wurden. Dabei wurde keine Rücksicht genommen, Leute zur Seite und zu Boden gestoßen, jeder wollte so schnell wie möglich weg.
Die Informationsstände und Verköstigungsbuden brachen zusammen, als die aufgebrachte Menge erbarmungslos in Richtung der Ausgänge drängte.
»Wir kommen nicht rein, hier draußen drehen die Ersten durch«, erfuhr Thomas von den Einsatzkräften.
Sie liefen an der Hauswand entlang, bis sie auf den Pulk von Menschen trafen, die durch das Gittertor ins Freie drängten. Das Eisengitter war zu eng und sowohl seitlich als auch am oberen Ende in die Fassadenwand eingemauert, somit blieb nur ein Durchgang von drei Metern. Einige hatten Glück und gelangten unbeschadet durch das Tor auf den breiten Gehsteig vor dem Gemeindebau. Wer seitlich abgedrängt wurde, landete unweigerlich an der Wand aus Ziegelsteinen oder den roten Gitterstäben, die dem Andrang der Massen standhielten.
Zu den Schreien aus Panik mischten sich nun auch Schmerzensschreie. Ohne Rücksicht kämpften sich die kürzlich noch gemeinsam Jubelnden den Weg frei, wer im Weg stand, wurde brutal zur Seite gestoßen.
Auch Thomas musste sich durchdrängen, obwohl er in die andere Richtung unterwegs war. Ein Blick nach hinten zeigte ihm, wie sich seine Kollegin im wahrsten Sinn durchkämpfte. Zwei Männer, die sie niederstoßen wollten, bekamen ihre Faust zu spüren, der nächsten Gruppe aus drei Frauen wich sie mit einer Drehung aus und schlüpfte durch ein Loch in der Menge hindurch.
»Ich komme schon zurecht, lauf!«, rief sie ihm zu.
Sie erreichten die unversperrte Eingangstür und liefen hinein. Ohne Pause rannte Thomas in den zweiten Stock, wo er sich mit einem Blick aus dem Fenster neben dem Aufgang versicherte, auf der richtigen Höhe zu sein.
»In diesem Gang, eine der Wohnungen auf der rechten Seite«, keuchte er, als Barbara zu ihm stieß.
Sie bogen um die Ecke in einen langen, weiß ausgemalten Flur. Zur linken Seite befanden sich die Eingangstüren, gegenüber eine Fensterreihe, die den Blick auf die Heiligenstädter Straße ermöglichte. Dort kamen aus den umliegenden Gassen weitere Polizisten zum Karl-Marx-Hof gerannt. Am Ende des Ganges befanden sich ebenfalls Stiegen. Genau auf diese rannte eine Person zu.
»Niemand verlässt diesen Gang, ich schnappe ihn mir«, befahl Thomas und legte noch einen Zahn zu. Die Person bog zu den Stiegen ab, der kurze Blick auf die Rückseite der Gestalt erinnerte ihn an Ibo.
Was sollte der hier machen, überlegte er, erreichte die Stiegen und blickte hinab. Der flüchtende Mann hatte auch von seinem Blick auf ihn herab Ähnlichkeiten mit Ibo.
Thomas sprang die Stiegen hinab, nahm mehrere Stufen auf einmal und schwang sich um die Ecke. Doch als er im Erdgeschoss ankam, hatte der Flüchtende bereits das Haus verlassen. Thomas stieß die Tür auf und wurde augenblicklich zurückgedrängt. Die zusammengepferchte und verängstigte Meute an Menschen, die an ihm vorbei Richtung Straße lief, nahm keine Notiz von ihm. Immer noch hörte er Schreie, die meisten befürchteten weitere Schüsse. Auf der gegenüberliegenden Seite wurde ein junger Mann von den panischen Personen gegen die Wand gedrückt. Da er einen Kopf kleiner war, als die aufgebrachten Drängler, wurde sein Kopf rücksichtslos gegen die raue Wand geschleudert. Sein Gesicht radierte über die hervorstehenden Mauersteine, Thomas konnte seinen Aufschrei deutlich heraushören. Bevor der Mann in einer Menschentraube verschwand, sah Thomas noch die blutüberströmte Gesichtshälfte. Eine dicke Platzwunde über seinem Auge dürfte der Auslöser dafür gewesen sein.
»Oida«, fluchte er keuchend, als er erkannte, dass er keine Möglichkeit hatte, die Person aus dem Stiegenhaus in der Menschenmenge ausfindig zu machen.
»Erste Konfrontationen! Schickt die schwere Kavallerie, es wird brenzlich!«, rief der Einsatzleiter in seinem Ohr.
Denen kann ich nicht helfen, entschied Thomas und schloss die Tür von innen.
Zurück im zweiten Stock fand er seine Kollegin vor einer offenen Tür.
»Wir sind richtig gelegen, aus dieser Wohnung wurde geschossen«, sagte Barbara.
»Die Wohnung ist leer, dafür wurde das mutmaßlich benutzte Gewehr liegen gelassen«, fuhr sie fort.
Es genügte ein schneller Blick durch die Räume, um zu erkennen, dass die Wohnung unbewohnt war. Bis auf das Wohnzimmer mit dem offenen Fenster in den Hof waren alle Räumlichkeiten leer, keine Möbel, keine Lampen, teilweise nicht einmal Steckdosen in den Wänden.
Im Wohnzimmer standen ein Tisch und ein Hocker beim Fenster, daneben ein offener Gewehrkoffer. Das dazugehörige Gewehr lehnte neben dem Fenster an der Wand, genauso wie eine Packung Patronen.
»Okay, ich rufe die Spurensicherung an. Den Typen selbst finden wir in dem Chaos dort unten nicht mehr«, meinte Thomas und blickte aus dem Fenster.
Der Innenhof war zur Hälfte geleert, inzwischen drang der Lärm von der Straße zu ihnen.
»Zusammenstöße! Verdammt, drängt die Demos auseinander. Die Rechten glauben, einer der Linken hat auf Braunstein geschossen. Es gibt Demolierungen und Verletzte auf der Heiligenstädter Straße. Wir brauchen einen Korridor«, erfuhr er gleichzeitig über sein Ohr.
Auf den fragenden Blick von Barbara erzählte er ihr von den Ausschreitungen.
»Sollten wir vielleicht auch runtergehen und versuchen etwas Ordnung zu schaffen?«, fragte Barbara, erntete aber nur ein Kopfschütteln.
»Das Einzige, was wir da unten schaffen ist, dass uns die Leute niedertrampeln. Wir bleiben vorerst hier, bis das Gröbste vorüber ist. Der WEGA können wir nicht helfen«, sagte er.
»Dann müssen wir es uns hier etwas bequem machen und warten, Herr Kollege«, meinte Barbara und hockte sich auf den Boden des Vorraums.
Eine Stunde später wusste Barbara detailliert, wie Thomas von seiner letzten Kollegin hintergangen worden war, warum er ein spezielles Verhältnis zu ihrem Onkel hatte und wie froh er war, dass seine Tochter nicht den Kontakt abgebrochen hatte.
»Und Ihre Ex?«, fragte sie nach.
»Die will mich nicht sehen. Unser Kontakt beschränkt sich auf Absprachen bezüglich Anastasia. Bei den Scheidungsterminen hat sie zumindest darauf verzichtet, es schmutzig werden zu lassen. Ihr ging es in erster Linie darum, dass Anastasia gut versorgt war. Aber die Wohnung, unser Auto und ein Großteil des Ersparten gehören nun ihr.«
»Verletzte Frauen können ziemlich giftig werden.«
Thomas lehnte sich zurück.
»Was ist mit Ihnen? Barbara Chantal Gugawitsch, was gibt es über Sie zu wissen?«
»Meine Akte kennen Sie schon.« Barbara stand auf und ging zum Fenster.
Thomas nickte und folgte ihr.
»Eine flotte Karriere, keine Beschwerden und ein paar Empfehlungsschreiben.«
Sie blickten aus dem Fenster. Inzwischen war der Innenhof leer, abgesehen von bewaffneten WEGA-Beamten, die die Zugänge bewachten. Von dem Gefolge der Politikerin war niemand mehr anwesend, die Stände waren zerstört, die Planen zerfetzt und zusammen mit Prospekten, Getränkebechern und Mist über den ganzen Innenhof verteilt.
»Sie möchten doch eigentlich nur eines wissen, also raus mit der Frage«, meinte sie herausfordernd.
Thomas nahm sein Handy und durchsuchte die aktuellen Nachrichten.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, log er.