Unter den Augen des Minotaurus - Joachim Koller - E-Book

Unter den Augen des Minotaurus E-Book

Joachim Koller

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Beschreibung

Kreta: Gerade auf die Insel, die er nie betreten wollte, verschlägt es Niko, um die Tochter seines Freundes zu finden. Sonne, Strand und Meer interessieren ihn dabei nicht, er will nur so schnell wie möglich wieder zurück. Doch dann überschlagen sich die Ereignisse und aus dem einfachen Auftrag wird ein riskantes Unterfangen, als er sich inmitten eines alten Familiengeheimnisses wiederfindet. So landet Niko in einem Abenteuer rund um die griechische Mythologie des Minotaurus und der Minoer. Ganz nebenbei holt ihn auch noch seine Vergangenheit ein, die er eigentlich hinter sich lassen wollte.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Prolog

1. September

Niko lehnte sich zurück, schloss die Augen und wartete auf den Beginn des Liedes »Lava« von der griechischen Sängerin Alkistis Protopsalti.

Das Haus, vor dem er parkte, war stockdunkel. Es sollte mindestens noch zwei Stunden dauern, bis die Eigentümer zurückkommen würden. Auch die Nachbarhäuser waren unbeleuchtet, nur die Straßenlaternen sorgten für etwas Licht auf der schmalen Gasse. Nikos Wagen stand außerhalb des Lichtkegels und somit im Dunkeln der wolkenverhangenen Nacht.

Ruhige Gegend, hier in Klosterneuburg, dachte er und konzentrierte sich auf die Melodie. Schon die ersten Klänge des melancholischen Liedes wirkten für ihn entspannend, denn mithilfe des Songs hatte er gelernt, zu seiner inneren Ruhe zu finden. Dies war eine der wichtigsten Lektionen seiner Anti-Aggression-Therapie, welche er heute noch anwandte. Die tiefe, beruhigende Frauenstimme half ihm dabei, sich zu konzentrieren. Er saß regungslos im Wagen und verdrängte alle Gedanken aus seinem Kopf. Den Text des Liebesliedes verstand er zwar, dieser hatte aber wenig Bedeutung für ihn. Vielmehr erinnerte das Lied Niko an seine verstorbene Mutter.

Mit den letzten Klängen nach knapp fünf Minuten holte er tief Luft und atmete lange und entspannt aus.

»Es kann losgehen«, sprach er zu sich selbst und öffnete die Augen.

Niko stieg aus dem Wagen und langte nach seinem schwarzen Sling-Rucksack. Lautlos schloss er die Tür, vergewisserte sich, dass er alleine war und spurtete los.

Der Zaun vor ihm stellte kein Hindernis dar, mit einem Satz schwang er sich hinüber. Kaum gelandet, rannte er an einigen Büschen vorbei, machte dabei einen großen Bogen um das einstöckige Familienhaus und vermied, dass sich die automatische Beleuchtung vor der Eingangstür aktivierte.

Auf der Rückseite des Hauses musste er nur über einen ein Meter hohen Zaun springen, um auf die Terrasse zu gelangen.

Durch die gläserne Schiebetür sah er die Steuerung der aktivierten Alarmanlage neben der Eingangstür. Die Terrassentüren waren keinen Versuch wert, er ging davon aus, dass sie besonders gut gesichert waren.

Nikos Blick über die Fassade des Hauses blieb beim Regenrohr hängen. Außerdem waren die Fenster im ersten Stock nah genug um sie als zusätzlichen Halt nutzen zu können. Die Terrasse hatte keinen Bewegungsmelder, er sprintete über die Betonfliesen und begann zu klettern. Mühelos zog er seinen durchtrainierten Körper an dem Rohr hinauf, benötigte keine zwei Minuten, um den Dachgiebel zu erreichen. Mit etwas Schwung gelangte er auf das Dach und kroch vorwärts, bis er über einem gekippten Fenster lag. Während er sich mit einer Hand festhielt, zog er mit der anderen einen langen Draht aus seinem Rucksack. Mit geübtem Griff bog er diesen zurecht und lehnte sich über die Regenrinne. Den Draht, dessen Ende aus einem stärkeren Haken bestand, ließ er langsam hinabgleiten, fädelte ihn durch das gekippte Fenster und erwischte den Griff.

»Viel zu leicht«, murmelte er und zog am Draht. Das Fenster fiel zu, gleichzeitig wurde der Griff in die richtige Position gedreht. Das Fenster war offen.

Niko hängte sich an die Regenrinne, die unter seinem Gewicht leicht nachgab. Ohne Zeit zu verlieren, platzierte er sich über dem offenen Fenster und ließ sich fallen. Sekundenbruchteile später riss er die Hände nach vor und krallte sich am inneren Fensterbrett fest. Im dunklen Raum vor ihm erkannte er ein Doppelbett aus massivem Holz sowie einen Kleiderschrank, der sich über die ganze Wand erstreckte.

Er zog sich hoch und landete im Zimmer, wo er in der Hocke blieb und lauschte. Wie vermutet gab es im Zimmer keine Sicherungen. Obwohl er wusste, dass niemand im Haus war, verhielt er sich lautlos, als er zur Treppe schlich. Von dort konnte er die Alarmanlagensteuerung wieder sehen und feststellen, dass immer noch kein Alarm ausgelöst wurde. Er hatte mit seiner Vermutung richtig gelegen, nur die offensichtlichen Einbruchsmöglichkeiten waren gesichert worden.

»Eindeutig an der falschen Stelle gespart.«

Zurück im Schlafzimmer, verstaute er den Draht in seinem Rucksack und öffnete die Schranktüren. Hinter einer Sammlung von eleganten Abendkleidern befand sich ein Wandsafe, der durch ein Tastenfeld gesichert war.

Mit etwas weißen Puder aus seinem Rucksack, den er vorsichtig über die zwölf Zifferntasten verteilte, erkannte er die zuletzt gedrückten Nummern.

Ernsthaft? Wie leicht willst Du es mir noch machen?

Fast war er enttäuscht, als er die Zahlen durchging.

»023578. Oder, weil es Dein Geburtsdatum ist, 230578.« Er wollte gerade die Kombination eingeben, als die Eingangstür im Erdgeschoss aufgesperrt wurde. Niko erstarrte und lauschte.

»So ein schlechtes Stück habe ich schon lange nicht mehr erlebt. Nein, eigentlich noch nie.« Die aufgebrachte Stimme gehörte einer Frau.

Niko wischte den Puder von den Tasten und schob die Kleider wieder in Position.

»Ich ziehe mich um, machst Du uns eine Flasche Rotwein auf? Lass es uns auf der Terrasse gemütlich machen, bis mein Ärger verflogen ist.«

Mit diesen Worten ging sie die Treppen hinauf. Kurz darauf schaltete sie das Licht im Schlafzimmer ein und blickte auf das geöffnete Fenster.

»Martin, Du hast das Fenster ganz offen gelassen. Wenn es geregnet hätte ...«

»Dann ist es ja gut, dass wir so früh daheim sind. Ich muss noch telefonieren, immerhin brauchen wir heute keinen Besuch mehr.«

Während sich die Frau umzog, lag Niko regungslos unter dem Bett. Er sah, wie die Füße zwischen Bett und Wandschrank hin und her gingen. Das dunkelrote Kleid wurde sorgfältig wieder im Kasten verstaut. Vor seinen Augen landete ein T-Shirt auf dem Teppichboden. Im nächsten Moment griff eine Hand danach, ohne sich herabzubeugen. Nach zwei Minuten war sie fertig und verließ das Zimmer. Die Tür zum Schlafzimmer ließ sie offen. Niko wollte sich wieder bewegen, als er realisierte, dass sie noch immer im oberen Stockwerk war. Die Tür ins Badezimmer wurde geöffnet. Er entspannte sich und blieb unter dem Bett versteckt. Es dauerte einige Minuten, bis sie im Bad fertig war. Erneut betrat sie das Schlafzimmer, drehte kurz das Licht auf und blieb an der Tür stehen. Niko überlegte fieberhaft, ob er irgendwelche verräterischen Spuren hinterlassen hatte. Dann erlosch das Licht und einige Sekunden später hörte er ihre Schritte auf der Treppe. Kurz darauf waren Stimmen von der Terrasse zu hören, für Niko ein Zeichen, dass er hervorkriechen konnte.

»Wie gesagt, viel zu leicht«, flüsterte er.

Martin und seine Frau Claudia saßen mit einer Flasche Rotwein auf der Terrasse und blickten über die Stadt.

»Dafür haben wir kinderfrei?« Trotz mehrere Gläser Rotwein war sie immer noch über die völlig misslungene Theateraufführung verärgert.

»Du hast ja Recht. Aber wir können uns auch einen schönen Abend daheim machen. Es ist kurz nach elf ...«

Das Klingeln der Haustür unterbrach ihn. Verwundert blickte er von Claudia zur Tür.

»Um diese Zeit?«, wunderte sie sich.

Martin sah nach, wer sie um diese Uhrzeit besuchen wollte und erkannte den Mann vor der Tür sofort.

»Claudia, es ist Niko!«, rief er ihr zu und öffnete die Eingangstür.

»Guten Abend. War die Vorstellung wirklich so schlecht?«, fragte Niko. Die beiden Männer schüttelten sich die Hände. Obwohl Martin zu den wenigen Leuten zählte, denen Niko vertraute und die er als Freunde ansah, war sein Blick ernst. Es kam nur selten vor, dass er lächelte, meistens wirkte er eher kühl und unnahbar.

»Ja, und wie. Fast die Hälfte der Besucher hat in der Pause das Theater verlassen. Komm herein, was darf ich Dir anbieten? Ich habe schon versucht, Dich zu erreichen.«

Niko folgte ihm durch das geräumige Wohnzimmer zur Terrasse, wo ihn Claudia begrüßte.

»Ich nehme an, wir haben Dir mit unserem verfrühten Heimkommen die Möglichkeit versaut?«

»Damit muss man rechnen.«

Martin gesellte sich zu ihnen, in seiner Hand eine Bierdose für Niko.

»Ich bleibe sowieso dabei, das Haus ist einbruchsicher.«

»Das ist so nicht ganz richtig«, antwortete Niko gelassen und nahm die Dose. Nach einem kräftigen Schluck wandte er sich Claudia zu.

»Ein passendes Accessoire, wenn Du Dein rotes Abendkleid anbehalten hättest.«

Claudia stutzte.

Er streckte die Hand aus und zeigte ihr einen Ring, der mit drei unterschiedlich großen Diamanten besetzt war.

Claudia riss die Augen auf und starrte ungläubig auf die Handfläche.

»Mein Verlobungsring!«

»Er erschien mir als das beste Beweisstück, wie leicht man ins Haus kommt.«

»Der war doch im Safe. Wann? Wie? Warst Du etwa ...«

Martin fand keine Worte.

»Ich habe mich vorhin im Schlafzimmer umgezogen«, fiel Claudia ein.

»Ich weiß«, war Nikos trockener Kommentar.

Die nächste Stunde berichtete Niko in allen Details, wie er ins Haus eingedrungen war. Er erklärte ihnen auch, welche Schwachstellen unbedingt beseitigt werden sollten.

Was Einbrüche betraf, hatte Niko eine lange Vorgeschichte, die ihn letztendlich auch mit Martin zusammengebracht hatte. Niko hatte den Anwalt vor einigen Jahren kennengelernt, als er nach einem mehr als misslungenen Einbruch im Gefängnis landete. Martin hatte seine Verteidigung übernommen, wobei sich die beiden Männer anfreundeten. Niko musste eine neunmonatige Haftstrafe absitzen, dank Martin blieben ihm weitere erspart. Er ließ sich zu einer Therapie überreden, um seine Aggressionen unter Kontrolle zu bekommen und bemühte sich, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen.

Zurzeit war er in einem Fitnessstudio und Kampfsportzentrum tätig, was deutlich an seiner Statur erkennbar war. Niko war bestens durchtrainiert, wobei er eher drahtig als muskulös wirkte.

Die Idee mit dem Einbruch schlug Niko vor zwei Wochen vor, als er bei der Familie zum Essen eingeladen war. Claudia hatte erwähnt, dass es in der Nachbarschaft Einbrüche gegeben hatte und sie Angst hatte, vor allem der beiden Kinder wegen. Paul war sechszehn und verbrachte den Großteil seiner Freizeit bei seiner Freundin. Ihre Tochter Denise war gerade achtzehn geworden. Um einen ungestörten Abend erleben zu können, schlief sie an diesem Abend ebenfalls bei einer Freundin.

Martin war überzeugt, dass die Alarmanlage ein ausreichender Schutz wäre, doch Niko hatte ihm widersprochen. Er bot an, zu beweisen, wie leicht ein Einbruch möglich wäre. Und das hatte er heute eindrucksvoll bewiesen.

»Müssen wir irgendetwas reparieren, oder hast Du keine Spuren hinterlassen?«, wollte Claudia wissen.

»Bei einem echten Einbruch hätte ich das Fenster zerstört und Handschuhe getragen. So war ich vorsichtig und habe alles intakt gelassen.«

»Ich werde gleich morgen die Firma anrufen und denen Druck machen, dass wir besser abgesichert sind. Danke für diese ... Vorführung.«

»Manche Fähigkeiten verlernt man nicht.«

Kapitel 1

Zwei Wochen später

Langsam setzte sich das Flugzeug in Bewegung. Der Fensterplatz ermöglichte es Niko, das Flughafengebäude von Wien vor der aufgehenden Sonne zu sehen und die unterschiedlichen Flugzeuge zu betrachten. Er versuchte sich zu erinnern, wann er zuletzt geflogen war, aber es gelang ihm nicht. Die letzten Jahre waren geprägt von falschen Freunden, Einbrüchen, Diebstählen und einem Aufenthalt hinter Gittern. Sein letzter Flug war in der Kindheit gewesen, damals noch als Familie mit seiner Mutter und seinem Bruder. Seinen Vater hatte er nie kennengelernt.

Beim Blick auf die Uhrzeit, 06:13, dachte er daran, dass er noch vor 24 Stunden keine Ahnung davon hatte, was ihn erwarten würde. Während das Flugzeug abhob, schloss er die Augen und erinnerte sich, wie der gestrige Tag verlaufen war.

Tags zuvor 16:50 Uhr

Nach einem langen Arbeitstag im Fitnessstudio entspannte Niko auf seiner Couch. Vor ihm lagen die auf dem Heimweg gekauften Zeitschriften, die sich mit den Themen Kampfsport, Messern und Survival beschäftigten.

Er wollte gerade aufstehen, als sein Handy läutete.

»Martin, grüß Dich. Wie geht ...«

»Ich brauche Deine Hilfe, Niko. Es betrifft Denise, ich hoffe, Du kannst mir helfen. Wo bist Du?« Der Anwalt klang aufgeregt, nervös.

»Was ist passiert?«

»Sie ist weg! Meine Tochter ist abgehauen!« Martin schrie förmlich vor Aufregung.

»Ich kann in zwanzig Minuten bei Dir daheim sein.«

Während der Autofahrt dachte Niko über die achtzehnjährige Tochter seines Freundes nach. Er war schon einige Male mit dem Paar und den Kindern unterwegs gewesen und hatte Denise als ruhiges, besonnenes Mädchen kennengelernt. Von Martins Erzählungen wusste er, dass sie die Schule abgeschlossen hatte und studieren gehen wollte.

Martin und Claudia standen im Wohnzimmer, beiden war die Aufregung anzusehen.

»Schuld ist dieser Grieche. Er hat ihr diese Flausen in den Kopf gesetzt«, fluchte Claudia.

»Das wissen wir nicht. Vielleicht hat sie auch selbst ...«

»Nein, sie ist ein braves, kluges und verantwortungsvolles Kind. Sie würde niemals von alleine auf solche verrückten Ideen kommen.«

Niko bat, ihm die Geschichte in Ruhe zu erzählen.

Martin drückte ihm eine geöffnete Flasche Bier in die Hand und holte sich eine weitere, während er anfing zu berichten.

»Diese Liebesgeschichte, wegen der Denise weg ist, hat letzten Herbst angefangen. Ich hatte einen Mandanten aus einem österreichischen Unternehmen mit Sitz in Athen. Da die Besprechungen für vier Tage angesetzt waren und genau auf die Woche fielen, in der Denise und Paul nur zwei Schultage hatten, sind wir alle geflogen.«

Martin nahm einen Schluck aus der Bierflasche. Er hatte große Mühe, seine Erregung zu unterdrücken.

»Denise hat diesen Jungen am ersten Abend in der Hotelbar kennengelernt. Auf den ersten Blick ein ganz netter Kerl.«

»Wie heißt er, was kannst Du mir über ihn verraten?«, unterbrach Niko. Er blickte über die schwach beleuchtete Stadt unter ihnen und wirkte abwesend. Doch der Eindruck täuschte, er war darauf konzentriert, jede Einzelheit zu speichern.

»Aléxandros, den Nachnamen weiß ich nicht. Er ist drei- oder vierundzwanzig und studiert Medizin. Angeblich ist er sehr flott und so gut wie fertig. Er lebt mit zwei Freunden am Stadtrand Athens, jedenfalls war es damals so.

Seit ihrem ersten Treffen waren Denise und er unzertrennlich. Er hat Sightseeing-Touren und einen Chauffeur für uns organisiert und meine Tochter jeden Abend heimgebracht. Ich weiß, dass er mehrmals die Nacht bei ihr verbracht hat.«

»Was mich schon damals gestört hat«, sagte Claudia, die aufgewühlt neben der offenen Terrassentür auf und ab ging.

»Eine typisch, kitschige Ferienliebe. Wie ging es weiter?«

»Nach der Woche blieben die beiden in Kontakt. Jeden Tag ist sie stundenlang vor dem PC gesessen und hat mit ihm geschrieben oder gesprochen. Ein schwerer Fall von Liebeskummer, der sich aber nicht auf ihre Noten ausgewirkt hat.«

»Denise war immer schon eine sehr gute Schülerin. Ihr war die Schule wichtig und sie wollte studieren. Und jetzt wirft sie alles hin, nur um zu diesem Jungen abzuhauen. Das passt nicht zu ihr, er hat sicherlich ...«, meinte Claudia aufgeregt.

»Sie wird nicht viel nachgedacht haben. Blind und naiv vor Liebe.«

Niko blickte zu Martin, um ihm weiter zuzuhören.

»Vor drei Monaten, Mitte Juni, ist Aléxandros zu Besuch gewesen. Denise hat ihm Wien gezeigt und er war auch mehrmals bei uns. Er hat von seinen Plänen erzählt, nach dem Studium nach Wien zu ziehen, da die Chancen in Griechenland zurzeit eher schlecht sind. Ein sehr vernünftig klingender Mann ...«

»Vernünftig? Er hat unserer Tochter den Kopf verdreht und jetzt ist sie alleine in einer fremden Stadt.«

Im Gegensatz zu Martin ließ sich Claudia nicht beruhigen.

»Sie wird nicht ganz unschuldig sein«, sagte Niko und erhob sich.

Claudia reichte ihm ein gefaltetes Stück Papier.

»Sie hat nur diesen Zettel hinterlassen.«

»Keine Sorge, mir geht es gut. Ich kann einfach nicht ohne Aléxandros leben und er hat mir angeboten, mit ihm ein eigenes Leben aufzubauen.

Bitte versucht mich zu verstehen, ich liebe ihn und muss bei ihm sein.

Hab Euch lieb, Denise«

»Kein Hinweis, wohin sie geht, oder ob sie sich meldet. Wir kommen hier um vor Angst und sie ...«

»Wie soll ich helfen?«, fragte Niko.

»Wir vermuten, dass sie nach Athen geflogen ist.«

Niko sah seinen Freund an.

»Ich soll nach Athen und sie holen?«

»Da Du Griechisch sprichst, habe ich gedacht ...«

»Gib mir ein Bier und eine Stunde Zeit, dann weiß ich mehr, um sie zu finden.«

»Du klingst sehr zuversichtlich.«

»Sie ist jung, verliebt und naiv.«

Zu dritt suchten sie Denises Zimmer auf, wo sich Niko umgehend mit ihrem Computer beschäftigte. Nachdem Martin die Logindaten eingegeben hatte, durchforstete Niko alle Ordner und gespeicherten Internetseiten der jungen Frau. Schnell kam er auf diverse Hotel- und Flugseiten. Als er den Internetverlauf studierte, musste er der jungen Frau kurz in Gedanken gratulieren.

Gar nicht dumm. Mehrere Hotels in Athen, Korfu, Kreta, Rhodos. Damit ich es nicht zu leicht habe.

»Gab es in letzter Zeit oft Streit?«, fragte er nach.

»Naja ...«

»Sei ruhig ehrlich, Claudia. Natürlich gab es den. Denise wollte unbedingt nach Griechenland und wir haben ihr klargemacht, dass sie sich auf die Uni konzentrieren soll. Sie war im Sommer zwei Wochen mit Aléxandros auf Kreta. Nachdem sie zurückgekommen ist, hat sie nur geheult und wollte zurück zu ihm.«

»Wieso Kreta?«, wollte Niko wissen, der bei der Erwähnung der Insel zusammenzucke.

»Seine Eltern leben dort«, erklärte Martin.

Bitte nicht Kreta, durchfuhr es Niko.

»Erst vor Kurzem hat sie uns an den Kopf geworfen, dass wir ihr Leben zerstören und sie es uns nie verzeihen wird ...«

»Seit wann genau ist sie weg?«, bohrte Niko weiter nach.

»Sie hat vor einer Woche einen mehrtägigen Ausflug mit ihrer Freundin geplant. Erst gestern haben wir zufällig erfahren, dass dies gelogen war.«

Niko öffnete einen Ordner mit Bildern und sah sich die Miniaturansichten durch. Martin hörte sein Telefon und ließ seinen Freund mit seiner Frau alleine im Zimmer.

»Zuerst muss ich wissen, wohin sie geflüchtet ist«, überlegte Niko.

Er ging davon aus, dass die Flucht wohlüberlegt war. Denise musste obendrein davon ausgehen, dass ihre Eltern sie suchen würden.

»Nach Athen, wohin sonst? Zu diesem Alex«, gab sich Claudia überzeugt.

Niko öffnete ein Bild. Darauf war Denise zu sehen, wie sie in Unterwäsche auf ihrem Bett saß. Mit einem verführerischen Lächeln und großen Augen blickte sie in die Kamera. Niko wunderte sich kurz über ihre Frisur, er kannte sie nur mit langen, braunen Haaren, doch nun waren sie zu einem Pagenkopf zurechtgeschnitten.

»Genau solche Fotos hat sie ihm geschickt«, meinte Claudia verärgert.

»Das Bild hat eine sehr hohe Auflösung.«

»Sie hat vor ihrem Urlaub auf Kreta eine neue Kamera von uns bekommen«, erklärte Claudia.

Da Niko längere Zeit auf das Bild blickte, sah sie ihn skeptisch an.

»Hilft es Dir, wenn Du sie so anstarrst?«

»Sie ist mir egal, aber das hier ...«, er vergrößert einen Ausschnitt, »... könnte interessant sein.«

Unter ihrem Oberschenkel lugte ein Reiseführer hervor. In der Vergrößerung war zu erkennen, dass es sich um ein Buch über Kreta handelte.

»Das Bild ist vor zwei Wochen entstanden.«

»Kreta? Dort war sie doch erst? Oder glaubst Du, sie ist wieder auf die Insel geflogen?«, Claudias Stimmung wechselte zwischen Verärgerung und Angst um ihre Tochter.

Niko reichte ihr die leere Bierflasche und bat um ein weiteres. Er wollte ihr nicht ins Gesicht sagen, dass es leichter wäre, wenn sie ihm nicht andauernd über die Schulter sehen würde.

Als er alleine war, öffnete er den Ordner mit den Bildern von Denises Urlaub im Kreta und ging jede Aufnahme durch. Dabei kam ihm wieder in den Sinn, dass er gerade diese Insel immer meiden wollte und jetzt im Begriff war, genau dorthin zu fliegen.

Die Fotos zeigten sie und Aléxandros in verschiedensten Situationen. Zusammen auf dem Zimmer, bei einer Shoppingtour durch einen Straßenmarkt, Bilder von einem Bootsausflug, eng umschlungen am Strand vor einer Bar. Dass nicht alle Fotos jugendfrei waren, interessierte ihn nicht. Bei einer Aufnahme von Denise beim Sonnenbaden an Deck eines Bootes blieb er hängen.

»Sie hätte wenigsten ein Oberteil anziehen können«, meinte Claudia empört, die mit einer neuen Bierflasche hereinkam.

»Ich weiß, wie eine Frau aussieht«, kommentierte Niko ihren strafenden Blick, »Gib mir noch zehn, zwanzig Minuten alleine, dann komme ich zu Euch hinaus.«

Obwohl sie offensichtlich wenig begeistert von seiner Aufforderung war, ließ sie ihn alleine im Zimmer.

Eine halbe Stunde später erschien Niko bei dem Paar auf der Terrasse.

»Weißt Du, wo sie ist?«

»Ja.«

»Du bist Dir ganz sicher?«, hakte Claudia nach.

Niko legte einige ausgedruckte Fotos auf den Tisch.

»Es war eine gute Idee, ihr einen neuen Fotoapparat zu besorgen.

Eine der vielen Funktionen der Kamera ist die Möglichkeit, Fotos via WLAN gleich an einen Computer zu schicken. Oder, wie es hier der Fall war, auf ihren Dropbox-Account. Sie hat in den letzten Tagen einige Bilder gemacht.«

Insgesamt vier Bilder hatte er ausgedruckt und ihnen vorgelegt.

Auf dem ersten standen Denise und Aléxandros auf eine Straße, links davon eine Strandbar. An der Steinmauer war der Name der Bar deutlich zu lesen: »Porto Paradiso«

Rechts war ein Sandstrand mit einigen Liegen zu sehen. Hinter ihnen führte eine Straße den Hügel hinauf, vorbei an Souvenirläden und Lokalen.

Auf dem zweiten stand Denise auf einem hohen Felsen, hinter ihr war ein Strandabschnitt mit Lokalen zu sehen. Es war derselbe Strandabschnitt, an dem auch das vorige Bild entstanden war, nun war mehr von der Ortschaft zu erkennen. Beim nächsten Bild verdrehte Claudia erneut die Augen. Denise lag hüllenlos auf einer Sonnenliege und ließ die Sonne auf ihren Rücken scheinen.

»Schon wieder«, stöhnte Claudia auf.

»Vergiss den Hintern. Sie ist nackt und vermutlich auf einer privaten Terrasse. Im Hintergrund sieht man einen Berg, davor eine Küstenstraße«, erklärte Niko. Er legte eine ausgedruckte Karte von Kreta dazu.

»Wenn man die Bilder als Anhaltspunkt nimmt, kommt man zum Ort Bali. Derselbe wie im Sommer.«

»Also wird sie jetzt in Kreta sein?«

»Auf jeden Fall vor zwei Tagen. Deshalb werde ich an diesem Ort anfangen. Wenn sie nicht mehr dort ist, wird man mir sicherlich weiterhelfen.«

»Wer sind die anderen zwei Personen?«, fragte Martin und deutete auf das letzte Bild.

Denise und Aléxandros saßen zusammen mit einem älteren Herrn und einer Jugendlichen beim Abendessen an einem reichlich gedeckten Tisch im Freien. Die junge Frau fiel dabei besonders auf.

Ihre Haare waren blond mit knallroten Strähnen. Auf der Lippe trug sie ein silbernes Piercing. Auch in der Rinne zwischen Nase und Oberlippe blitzte ein kleiner Stein.

»Könnten Vater und Tochter sein. Jedenfalls kennen sie Denise. Ich werde sie suchen und fragen, wo Eure Ausreißerin ist.«

»Und wenn keiner etwas verraten will?«, fragte Claudia.

»Ich werde erfahren, wo sie ist«, war sich Niko sicher.

Martin deutete auf sein Smartphone.

»Der nächste Flug geht schon morgen früh. Ist das ein Problem für Dich?«

»Nicht für mich, aber ich habe einen Job und einen Bewährungshelfer.«

»Darum kümmere ich mich«, versicherte ihm Martin, »Natürlich auch um die Kosten für die Unterkunft und den Mietwagen.«

»Das klingt fast wie Urlaub. Ich hatte schon sehr lange keinen Urlaub mehr.«

»Wenn Du Dich ein, zwei Tage erholst, soll es kein Problem sein ...«

»Hauptsache, Du bringst Denise so schnell wie möglich wieder zurück«, warf Claudia ein.

»Sie ist nicht in Gefahr. Ich werde sie ausfindig machen, in den nächsten Flieger setzen und zurückkommen. Das wird keine große Sache werden.«

»Das glaube ich auch. Es wird ein Spaziergang für Dich, inklusive etwas Urlaub«, meinte Martin zuversichtlich.

Niko besaß nicht viel, weshalb das Einpacken sehr schnell erledigt war. In einer Schublade hatte er seine Messersammlung untergebracht. Ein Schweizer Taschenmesser mit unzähligen Funktionen, einigen Wurfmessern, Klappmessern und eine 30cm lange Machete befanden sich darin.

Ohne nachzudenken, packte Niko seinen Umhängerucksack.

Nur als Glücksbringer, sagte er zu sich, als ein weiteres Klappmesser in die Tasche wanderte.

Als würde ich diese Dinge wirklich brauchen.

Trotzdem landeten neben seinem Taschenmesser und einem Wurfmesser noch eine Box mit Survivalutensilien und ein Dietrich-Set in seinem Gepäck.

An Schlafen war nicht zu denken. Immer wieder kreisten seine Gedanken um seine Mutter, Erinnerungsfetzen aus seiner Kindheit kamen hoch.

»Warum gerade Kreta?«, fragte er sich. Martin hatte ihm nahegelegt, auch ein paar Tage Urlaub zu machen, aber daran wollte er nicht denken. Kreta war seit dem Tod seiner Mutter zu einem Ort geworden, den er niemals besuchen wollte.

»Das Schicksal mischt die Karten, aber wir spielen«, kam ihm die Stimme seines Bewährungshelfers in den Sinn.

Was soll´s. Hinunterfliegen, die kleine Ausreißerin finden und mit ihr retour, das kann nicht so schwer werden, war er sich sicher.

Kapitel 2

Ein heißer Schwall Luft klatschte Niko entgegen, als er aus dem klimatisierten Flugzeug ins Freie trat. Flugzeugabgase, gemischt mit einer salzigen Brise vom Meer.

Gut mitgedacht, fluchte er beim Blick auf seine schwarze, lange Jeans. Er war sich sicher, dass er auch seine Lederjacke in den nächsten Tagen nicht tragen würde. Er setzte seine Sonnenbrille auf, ein Markenstück mit dünnem Rahmen und dunklen Gläsern, die seine Augen versteckten.

Der ehemalige Militärflughafen Chania war klein und überschaubar. Das bedeutete ebenso, dass seine Sporttasche binnen weniger Minuten auf dem Gepäckband erschien.

In der Ankunftshalle versuchte Niko erfolglos, das Logo seiner Mietwagenfirma ausfindig zu machen. Erst beim erneuten Durchlesen seiner Unterlagen fand er heraus, dass sein Wagen im Stadtbüro auf ihn wartete.

Somit beginnt meine Reise mit einer Sightseeingtour durch Chania.

Er trat ins Freie und steuerte den ersten Taxiwagen in der Reihe vor dem Flughafen an.

»Ich muss zu dieser Adresse in Chania«, meinte er auf Griechisch und zeigte dem jungen Mann die Adresse der Autovermietung.

»Aber natürlich, mein Freund, sofort!«

Während seine Reisetasche im Kofferraum verschwand, wurde Niko mit Fragen bombardiert. Der Fahrer schien äußerst erfreut, einen Landsmann zu treffen, fragte ihn nach seiner Herkunft und was ihn auf diese Insel verschlagen hatte.

»Wie lange machst Du Urlaub auf Kreta?«

»Kein Urlaub. Ich bin ... Ich habe einen Auftrag hier und dann fliege ich wieder zurück.«

»Das Wetter im September ist perfekt für einige erholsame Tage, glaub mir. Das Wasser ist angenehm warm nach dem heißen Sommer und die Insel bietet so viel, nutze Deine Zeit hier, mein Freund.«

Niko nickte ihm nur zu.

Es ist zu heiß, ich habe keine Lust auf Erholung und das Meer interessiert mich auch nicht.

Innerhalb von zehn Minuten landeten sie an der Hafenpromenade von Chania.

»Dort vorne ist das Büro. Ich wünsche Dir einen schönen Aufenthalt. Das erste Mal in Chania?«

Niko nickte stumm.

»Wenn Du Frauen suchst ...«

»Nein.«

»Okay, vielleicht hast Du Interesse an einem besonderen Messer?«

Niko stutzte und wandte sich seinem Fahrer zu.

»Ich höre.«

Das Grinsen im Gesicht des Mannes wurde breiter. Er zog eine Visitenkarte aus der Ablage neben dem Lenkrad und reichte sie Niko.

»In der Sifaka Straße wirst Du fündig werden. Sie ist allgemein als Messerstraße bekannt. Du findest dort noch echte Handarbeit, keine importierte Billigware.

Wenn Du ein ordentliches Messer suchst, dann bist Du dort genau richtig.«

Niko dankte dem Mann für den Tipp und marschierte mit seiner Tasche zum Büro der Autovermietung.

Im, dank einer modernen Klimaanlage zu tief gekühlten, Büro wurde er schon erwartet. Der Mann hinter dem Tresen blickte ihn an, und nachdem Niko erwähnte, einen Wagen reserviert zu haben, wusste dieser sofort Bescheid.

»Herr Dovas Nikólaos?«

Es war ungewohnt, seinen vollständigen Namen zu hören. Seit Jahren stellte sich Niko nur mit seinem Kurznamen vor.

»Ja, das bin ich.«

»Sie sind Grieche?«

»Mehr oder weniger«, antwortete er auf Griechisch und erntete ein breites Grinsen.

»Wenn das so ist, dann habe ich ein ganz spezielles Angebot für Sie. Wir haben gerade einen Wagen zurückbekommen. Wenn sie möchten, können sie diesen für die gebuchte Woche nutzen, zum selben Preis versteht sich.«

»Und wo ist der Unterschied?«

»Dass Sie statt eines Kleinwagens mit einem Opel Cascada Cabriolet fahren würden.«

Niko kannte sich nicht besonders mit Automodellen aus, aber die Aussicht auf ein offenes Verdeck gefiel ihm.

Der weiße Wagen wartete bereits unübersehbar neben der Tür auf ihn. Nichtsdestotrotz entschied sich Niko für einen kleinen Spaziergang durch die Hafenstadt, dem Hinweis des Taxifahrers wollte er nachgehen. Aber nicht, bevor er seine Hose gegen eine kürzere getauscht und die Tasche im Kofferraum verstaut hatte.

Die Besichtigung der Hafenpromenade war ihm nur ein paar Minuten wert. Die Fassaden der Gebäude direkt an der Promenade wirkten alt und renovierungsbedürftig.

Was für die Touristen ein Relikt der venezianischen Zeit war und auf unzähligen Fotos festgehalten wurde, weckte bei Niko kein Interesse. Souvenirläden reihten sich an Restaurants, beides interessierte ihn nicht im Geringsten. Durch eine schmale Gasse gelangte er stadteinwärts und nach wenigen Minuten in die erwähnte Messerstraße. Die Adresse auf der Visitenkarte war schnell gefunden.

Das Geschäft war eindeutig schon viele Jahrzehnte hier untergebracht, die Tafel über der Auslage war stellenweise rostig und vergilbt. Der Schriftzug war aber noch deutlich zu erkennen: »Armenis – Traditionelle Messerschmiede«

In der Auslage fanden sich die unterschiedlichsten Messer. Einfache Küchenmesser, Hackbeile, Taschenmesser und kunstvolle Souvenirmesser mit gebogenen Griffen aus Horn waren ausgestellt. Niko erkannte, dass die Klingen nicht maschinenbearbeitet waren.

Echte Handarbeit findet man nicht allzu oft.

Neben dem Geschäft war die unbesetzte Messerschmiede zu sehen. Niko riskierte einen Blick und sah eine Werkstatt, die scheinbar in der alten Zeit stehen geblieben war. Keine hochmodernen Maschinen, dafür unzählige Hämmer und Schleifwerkzeuge. Die Werkbank mit Trockenschleifer funktionierte noch handbetrieben.

Neben ihm erschien eine schwarzhaarige Frau in seinem Alter. Sie stellte sich als Tochter des Eigentümers vor und bat ihm in das Verkaufslokal.

Obwohl das Geschäft recht klein war, ließ es für Niko kaum Wünsche offen. Als Messernarr konnte er sich nicht an den unterschiedlichen Angeboten sattsehen.

Auch die Verkäuferin erkannte rasch, dass er sich weniger für die herkömmlichen Klappmesser und mit kitschigen Motiven versehene Fahrtenmesser interessierte und legte ihm ein Exemplar eines traditionellen Messers vor.

»Diese Art wurde und wird noch heute zur typischen Tracht getragen. Die Besonderheit ist der weiße Griff, er ist aus einem Knochen geformt. Das gehörnte Ende dient dazu, es besser halten zu können, immerhin diente es früher zusätzlich als Waffe. Heute sind sie mehr ein Accessoire. Unsere Messer dieser Art hier im Laden sind alle selbstgemacht, ich habe unterschiedliche Größen im Angebot.«

Niko nahm das Messer in die Hand und begutachtete es genauer.

»Obwohl die Klinge recht scharf ist, ich würde es eher als Erinnerungsstück nehmen, nicht für den alltäglichen Gebrauch. Ein Messer für den normalen Einsatz wäre dieses hier.«

Sie legte ihm ein weiteres Messer hin. Die breite Klinge, auf der ein Text eingraviert war, wirkte sehr scharf. Der Griff aus Olivenholz passte bestens in Nikos Hand, der sich sofort mit dem Messer anfreunden konnte.

»Ich nehme beide«, entschied er.

Er sprach noch einige Zeit mit der Verkäuferin über Messer und seine eigene Sammlung, bevor er sich wieder in die Hitze hinauswagte.

Es war nur eine kurze Überlegung, ob Niko noch weiter in Chania verbleiben wollte. Auf direktem Weg spazierte er zu seinem Wagen.

Das Navigationsgerät auf seinem Handy rechnete mit einer eineinhalbstündigen Fahrzeit bis zu seinem Ziel.

Während er in Richtung Hauptstraße fuhr, welche entlang der Nordküste verlief, schaltete er durch die unterschiedlichen Radiosender.

»... hören Sie nun eine Diskussionsrunde aus Athen.

Thema der gestern aufgezeichneten Diskussion ist die Rückkehr zur Normalität für die griechischen Bauern, denen die Wirtschaftskrise besonders zugesetzt hat.«

Zufrieden stellte Niko fest, dass er seine Muttersprache immer noch sehr gut verstand, und schaltete weiter.

»... Wetter für Kreta. Es bleibt weiterhin leicht unbeständig. Hitze und Sonnenschein überwiegen, dennoch kann es immer wieder zu kurzen, heftigen Gewittern kommen, vor allem in den Nachmittagsstunden.«

Es wird auch ein Gewitter geben, wenn ich Denise gefunden habe, dachte Niko und suchte den nächsten Sender.

»... warnt die Erdbebenwarte von Athen. Leichte seismologische Aktivitäten wurden in den letzten Tagen fünfunddreissig Kilometer nordwestlich von Kreta gemessen. Ein stärkeres Erdbeben ist daher jederzeit möglich.«

Auch nicht, was ich suche.

Niko versuchte nochmals sein Glück, dieses Mal wurde er fündig.

»... Rock FM. Wir spielen ehrliche, laute Musik.«

Schon bei den ersten Takten des folgenden Songs drehte Niko die Lautstärke hoch. Zu AC/DC´s »Highway to Hell« fuhr er auf die Küstenstraße auf. Der kühlende Fahrtwind machte die Temperaturen erträglich. Er hatte wenig übrig für die Umgebung, seine Gedanken kreisten nur um den Auftrag, Denise zu finden. Außerdem musste er immer wieder daran denken, dass Kreta die Insel seiner Mutter gewesen war.

Eineinhalb Stunden später sah Niko den gesuchten Berg neben der Küstenstraße. Kurz vor der Ausfahrt bekam Niko einen Blick über den Ort direkt am Meer präsentiert. Die weißen Häuser zogen sich entlang der Bucht und einen Hügel hinauf. Er konnte erkennen, dass der Ort mehrere Badestrände hatte, die durch Felsen voneinander getrennt waren.

Von der Autobahnausfahrt landete er auf einer Hauptstraße, die durch den Ort führte. Zunächst kam er an einigen nicht fertiggestellten Häusern vorbei, bis der touristische Teil des Ortes begann. Supermärkte und Souvenirläden reihten sich an Autovermietungen, Pensionen und Apartmentanlagen. Was er nicht fand, waren große Hotelkomplexe.

Die Ortschaft erstreckte sich über mehrere Hügel, von der Hauptstraße führten immer wieder kleiner Seitengassen hinunter zum Meer. Als er einen weiteren Hügel hinabfuhr und zu einer Kreuzung gelangte, sprang ihm eine Werbetafel ins Auge:

Porto Paradiso

Tropical Bar

Taverna Pizzeria

Zuerst ein Zimmer, dann die Bar, beschloss er, davon überzeugt, dass er die Ausreißerin schon bald finden würde.

Kurz bevor sich die Straße teilte und zum Hafen hinab führte, sah er ein Apartmenthotel. Direkt davor waren Parkplätze frei, die er nutzte. Mit dem ausgedruckten Bild von Denise und Aléxandros spazierte er neben dem Hotel auf eine Terrasse und sah hinab zum Hafen. Es war eindeutig derselbe. Am kleinen Sandstrand neben dem Pier lagen vereinzelt Personen auf den Liegen. Im Wasser fuhren Tretboote und Jet-Skis über das ruhige Meer. Gegenüber der Bucht konnte er die Küstenstraße und erneut den Berg erkennen, den er inzwischen eindeutig als den von den Urlaubsbildern identifizierte.

Unzählige Sträucher und Baumgruppen ließen ihn in unterschiedlichen Grüntönen vom blauen Himmel und dem Meer hervorstechen.

»Suchen Sie ein Zimmer?«, holte ihn eine tiefe männliche Stimme aus seinen Gedanken.

Niko drehte sich zu dem Mann um und erfuhr, dass die Terrasse zu den Studios des Hotels gehörte. Es gab noch freie Zimmer und nach einem kurzen Blick in das Zimmer entschied sich Niko, seinen Aufenthalt hier zu verbringen.

»Wie lange werden Sie bleiben?«

»Ich nehme an, nicht länger als eine Woche.«

Viel länger kann es nicht dauern, war er sich sicher. Er gab dem Vermieter eine Anzahlung, die für drei Nächte reichte, und versicherte ihm, bei der Abreise für die restlichen Nächte zu bezahlen.

»Kein Problem. Du findest mich auf der anderen Seite des Hafens bei der Sea View Bar. Komm einfach vorbei.«

Zurück auf der Straße stöhnte Niko auf. In Wien hatte schon der Herbst Einzug gehalten, hier brannte die Sonne herab. Während er überlegte, ob er den Ort über den Hafen und von dort den Hügel hinauf, oder in die andere Richtung erkunden sollte, fiel sein Blick auf zwei Männer auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die beiden alten, vollbärtigen Männer saßen auf einem klapprigen Stuhl an einem maroden Tisch, eine Flasche mit klarer Flüssigkeit und zwei Gläsern vor sich. Beide trugen dunkle Leinenhosen und ein schwarzes, langärmliges Hemd. Sie blickten über die Straße, in einer Hand ließen sie ein Komboloi durch die Finger gleiten.