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Bezirksinspektor Thomas J. Kratochwil und seine Kollegin Bezirksinspektorin Barbara Gugawitsch haben einen neuen Fall. Bezirksinspektor Thomas J. Kratochwil scheint sein privates Glück gefunden zu haben. Doch das Schicksal treibt ein verrücktes Spiel mit ihm. Beruflich hingegen steht er mit seiner Kollegin vor einem Rätsel. Eine Mordserie erschüttert Wien. Die Opfer scheinen willkürlich ausgewählt, der Täter hinterlässt keine Spuren. Während die beiden Bezirksinspektoren bei ihren Ermittlungen trotz Unterstützung ständig in Sackgassen landen, erkennen sie nicht, wie gefährlich nahe sie dem Täter sind.
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Seitenzahl: 319
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Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden und es besteht kein Bezug zu existierenden Personen. Die Handlungsorte entsprechen der Realität.
Sonntag, 3. März
Kurz nach 2 Uhr
Sonntag, 3. März
9:10 Uhr
Montag, 4. März
8:45 Uhr
19:00 Uhr
19:30 Uhr
5. März
8:10 Uhr
6. März
9:10 Uhr
Montag, 11. März
9:30 Uhr
18:30 Uhr
Dienstag, 12. März
6:20 Uhr
9:05 Uhr
9:45 Uhr
12:10 Uhr
Mittwoch, 13. März
8:00 Uhr
Donnerstag, 14. März
8:00 Uhr
10:25 Uhr
12:15 Uhr
14. März
00:50 Uhr
9:05 Uhr
15. März
9 Uhr
16. März
1:20 Uhr
9:20 Uhr
17. März
10:20 Uhr
18. März
7:55 Uhr
8:30 Uhr
10:30 Uhr
14 Uhr
18 Uhr
19:35 Uhr
20:45 Uhr
20. März
23. März
30. März
15 Uhr
1. April
9 Uhr
3. April
2:35 Uhr
10 Uhr
14:30 Uhr
15:45 Uhr
16:15 Uhr
17:00 Uhr
17:20 Uhr
17:40 Uhr
18 Uhr
18: 40 Uhr
19 Uhr
4. April
10 Uhr
12:50 Uhr
»Warum?«, schrie die junge Frau ihren Peiniger an.
Zu mehr war sie nicht imstande. Mit einem breiten Lederriemen über ihrem nackten Oberkörper an einen Metalltisch festgebunden, war sie nicht in der Lage, sich zu bewegen. Ihre Arme waren zur Seite ausgestreckt und jeweils auf einem Holztisch neben ihrem Tisch fixiert. Die Riemen an den Handgelenken waren gepolstert, aber so festgezogen, dass sie ihre Arme nicht einmal millimeterweise bewegen konnte.
»Weil du wunderschöne Hände hast«, antwortete eine männliche Stimme. Sie konnte ihn nicht sehen, erkannte aber die Stimme.
»Was willst du?«, schrie sie erneut.
Schritte näherten sich. Sie drehte den Kopf zur Seite und sah ihren Entführer, der noch vor einigen Stunden ihr Date gewesen war. Sie hatten sich in einem noblen Restaurant im ersten Wiener Gemeindebezirk getroffen und von Anfang an gut unterhalten. Er hatte sich sehr für sie interessiert, wirkte sympathisch und zuvorkommend. Auch, als sie ihn zu seinem Wagen begleitet hatte. Dort stand er plötzlich dicht neben ihr und sie spürte einen Stich an ihrem Hals. Sie erinnerte sich, dass sie zur Seite gewichen war und ihn weggestoßen hatte. Er hatte nur dagestanden und gelächelt, während alles um sie verschwamm. Sie war mit leichten Kopfschmerzen auf diesem eiskalten Tisch wieder zu sich gekommen, halbnackt und gefesselt.
»Zunächst ist es wichtig, dass du vollkommen munter bist. Ich kann erst beginnen, wenn du bei vollem Bewusstsein bist. Es ist für den Erfolg notwendig, dass dein Körper viel Adrenalin produziert.«
»Wovon redest du? Was hast du mit mir vor?« Sie schrie ihre Verzweiflung hinaus, während ihr Gegenüber völlig ruhig blieb, sich abwandte und außerhalb ihres Sichtfeldes an etwas Metallischem hantierte.
»Ich werde dich unsterblich machen, jedenfalls einen Teil von dir«, sagte er mit ruhiger Stimme.
»Was? Bitte, binde mich los. Ich mache alles, nur lass mich bitte frei!«, bettelte sie.
»Das kann ich nicht. Du musst verstehen, bei dieser Behandlung darfst du dich nicht bewegen.«
»Welche Behandlung? Was hast du vor? Du musst mich nicht festbinden, wenn du mich haben willst«, versuchte sie, ihn umzustimmen.
»Du verstehst es nicht.«
»Dann erkläre es mir, bitte!«
»Ich werde deine Hände, deine wunderschönen Hände…«, er strich sanft über ihren Handrücken, »für immer verewigen.«
Sie hörte seine Worte, doch sie ergaben keinen Sinn.
»Was willst du mit meinen Händen, du perverses Schwein!?«, schrie sie ihn wütend an.
Nun wandte sich der Mann ihr zu. Er blickte prüfend über ihren Körper.
»Du bist eine attraktive Frau, aber keine Sorge, pervers wird es nicht. Ich werde mich nicht an dir vergehen, ich werde nur deine Hände abtrennen und sie sorgfältig konservieren. So werden sie für immer in dieser Schönheit erhalten bleiben.«
»Was?«, stieß sie ungläubig hervor.
»Verstehst du nicht? Deine Hände sind perfekt. Aber das sind sie jetzt. Du bist 24, mit den Jahren werden Falten kommen, du bekommst vielleicht Flecken, oder noch schlimmer, du brichst dir einen Finger. Dank mir werden deine Hände für immer so bleiben wie sie heute aussehen.«
Seine gefühlslose, monotone Stimme machte ihr noch mehr Angst.
Er trat zur Seite und gab den Blick auf die Maschine neben dem Holztisch frei.
»Oh mein Gott… Du bist doch komplett durchgeknallt!«, stotterte sie voller Entsetzen.
Ihr Arm lag nicht auf einem herkömmlichen Holztisch, sondern auf der Platte einer Tischkreissäge. Sie kannte das Gerät aus ihrer Kindheit. Ihre Großeltern hatten so eine Maschine, mit welcher jeden Herbst das Holz aus dem eigenen Wald zurechtgeschnitten wurde.
Panisch versuchte sie ihren Arm loszureißen, doch die Fesseln gaben nicht nach.
»Es soll doch ein sauberer, gerader Schnitt werden«, kommentierte ihr Entführer den aussichtslosen Versuch.
»Du bist verrückt«, kreischte sie panisch, während sie zusah, wie er mit einem Maßband von ihren Fingern die Hand entlang maß.
»Wie ich mir gedacht habe. Es werden auf beiden Seiten genau 25 Zentimeter sein.«
An beiden Armen markierte er mit einem Stift den abgemessenen Abstand. Dabei war er konzentriert und hatte ein sanftes Lächeln auf den Lippen.
»So, jetzt kommt der wichtigste Teil«, sagte er, nun etwas aufgeregt und schaltete die Kreissäge ein. Das Kreischen der Säge übertönte den angsterfüllten Schrei, den die Frau ausstieß. Der Schrei wurde noch schriller, als sich die Säge Sekunden später langsam und mit gleichbleibender Bewegung durch ihren Arm fraß. Sie spürte einen kurzen Schmerz, als das Sägeblatt ohne Widerstand durch ihre Haut drang, hörte, wie die Säge mühelos durch ihre Knochen glitt. Dabei wunderte sie sich, dass die Schmerzen weitaus geringer waren, als sie erwartet hatte.
Wahrscheinlich stehe ich längst unter Schock, dachte sie.
Das blutige Blatt der Kreissäge verlangsamte sich, womit auch das unangenehm durchdringende Geräusch nachließ. Ihr Peiniger hob die abgetrennte Hand hoch und verschwand damit aus ihrem Blickfeld.
In ihrem Schock wunderte sie sich, dass nicht alles mit Blut vollgespritzt war, wie sie es aus verschiedenen Horrorfilmen kannte.
»Jetzt muss es schnell gehen. Ich habe keine zweite Chance, das verstehst du sicherlich«, erklärte er ihr und schaltete die zweite Säge ein.
»Bitte… nicht!«, flehte sie, merkte aber bereits, wie sie aufgrund des Blutverlustes zunehmend schwächer wurde. Sie spürte noch, wie die Säge in ihren anderen Arm fuhr, das Letzte was sie in ihrem Leben hörte war die Stimme ihres Mörders.
»Deine Hände werden mich immer an dich erinnern.«
»Warum?«, fragte Barbara Gugawitsch.
»Weil Anastasia es vorgeschlagen hat«, antwortete Thomas Kratochwil, der neben ihr ging, »Ihr zwei versteht euch doch eh so gut.«
Es war kurz nach 9 Uhr in der Früh und die beiden Bezirksinspektoren spazierten in Zivilkleidung zu ihrer Dienststelle, der Polizeidirektion im ersten Bezirk.
Obwohl es erst Anfang März war, strahlte die Sonne bereits warm auf sie herab und versprach einen frühsommerlichen Tag.
»Es ist ein Abendessen deiner Tochter mit ihrem Freund und deiner Freundin mit dir. Das ist eine Familienangelegenheit, da bin ich doch fehl am Platz. Auch wenn ich neugierig bin, wer es geschafft hat, dich etwas zu kultivieren.«
Thomas überging ihre spitze Meldung, auch wenn er ihr das Kennenlernen mit Elisabeth zu verdanken hatte. Barbara hatte ihm vor einigen Monaten die Dating-App »FiLo« auf seinem Handy installiert und näher erklärt. Obwohl Thomas zuerst nicht begeistert darüber war, hatte er auf diesem Weg Elisabeth kennengelernt und sich Anfang Jänner zum ersten Mal mit ihr getroffen. Beide waren sich vom ersten Treffen an sympathisch und hatten schnell zueinander gefunden. Da er nach seiner Scheidung und schlechten Erfahrungen noch etwas zurückhaltend war, wusste Barbara nur wenig über die Frau. Dafür kannte sie seine Tochter Anastasia inzwischen sehr gut.
»Mein Kind hat ein gutes Argument angeführt. Du bist die Frau, mit der ich mehr Zeit verbringe, als mit Anastasia oder auch meiner Freundin. Außerdem bist du nun mal nicht nur eine einfache Kollegin, sondern auch eine gute Freundin.«
Barbara grinste ihn an.
»Und das, obwohl du eine, nennen wir es besondere, Beziehung zu meinem Onkel hast«, spielte sie auf sein ehemals sehr angespanntes Verhältnis zum amtierenden Innenminister Michael Steinberger an.
»Du kannst gerne auch jemanden mitnehmen. Dieter würde sich freuen.« Damit meinte Thomas seinen Freund und Kollegen Dieter Brehme. Der zwanzig Jahre jüngere Deutsche arbeitete in der IT-Abteilung der Wiener Polizei und hatte seit dem ersten Treffen mit Barbara ein Auge auf sie geworfen. Zu seinem Pech wurden diese Gefühle nicht erwidert.
»Jemanden mitnehmen? Ich könnte Onkel Michael fragen.«
Thomas seufzte.
»Von mir aus sogar er. Hauptsache es wird ein netter Abend.«
Eine Gasse von ihrem Arbeitsplatz entfernt, spazierten sie an einer Bankfiliale vorbei, in der Thomas noch seine neue Bankomatkarte abholen musste.
Da die Bank erst seit wenigen Minuten geöffnet hatte, standen nur zwei Personen vor dem einzigen besetzten Bankschalter. Thomas und Barbara blieben in der Mitte des Raums stehen und warteten. Nur Sekunden später stürmte hinter ihnen jemand hinein.
»Hände hoch! Alle hier, Hände hoch! Das... das ist ein Überfall!«, rief die Person, stieß den bei der Eingangstür stehenden Sicherheitsbeamten zu Boden und zog eine Pistole hervor.
Gleichzeitig drehten sich die zwei Bezirksinspektoren um und sahen den Mann an.
»Ernsthaft?«, stöhnte Thomas auf.
Vor ihm stand ein Mann um die 50, ungepflegt und mit verschlissener Kleidung. Die Pistole in seiner Hand wirkte sauberer, als alles andere an ihm. Er zitterte, seine Augen wanderten aufgeregt hin und her. Thomas war sich sicher, dass sein Gegenüber keine große Erfahrung mit Überfällen hatte. Neben ihm ging Barbara einen Schritt zur Seite, ihre Hand wanderte langsam in Richtung der Innentasche ihrer Jacke. Thomas blickte zu ihr und schüttelte den Kopf.
»Ich sagte, Hände...«
»Gusch, du Armutschkerl!«, fuhr ihn Thomas an. Der Mann zuckte zusammen, die Waffe in seiner Hand zitterte vor Thomas.
»Wenn Sie nicht sofort ... ich meine es ernst. Ich will niemanden verletzen, nur das Geld.«
Barbara bemerkte, wie sich der Sicherheitsbeamte aufsetzte und deutete ihm, auf dem Boden zu bleiben. Sie wies auf die Stelle ihrer Jacke, unter der ihre Dienstwaffe im Holster ruhte.
»Du machst dir doch gleich in die Hose. Mach nen Meter und wir vergessen das hier«, meinte Thomas mit ernster Stimme.
»Nein ... Ich werde hier mit dem Geld rausgehen. Wenn Sie mir nicht sofort aus dem Weg gehen, dann drücke ich ...«
»Pudel dich nicht auf, Eierbär!«, unterbrach Thomas ihn kaltschnäuzig, »Und dann hörst du mir genau zu. Punkt eins, meine Kollegin und ich haben einen Ausweis einstecken, auf dem Bezirksinspektor steht.«
Der Mann riss die Augen auf.
»Punkt zwei, zu deinem Glück hatte ich eine schöne Nacht und bin dementsprechend gut gelaunt. Deshalb gebe ich dir eine Chance, den Tag nicht im Knast zu verbringen.«
Die Augen des Mannes wurden größer, sein Zittern stärker.
»Und Punkt drei, wie deppert muss man sein, um mit einer nicht entsicherten Gaspuffn gerade hier aufzutauchen, ein paar Meter entfernt von einer der größten Polizeistationen in Wien?«
Neben Thomas musste sich Barbara ein Grinsen verkneifen.
»Diese Pistole ... sie ist echt!« Es klang mehr nach einer Frage, der Mann wurde immer nervöser. Seine Hand zitterte nun deutlich sichtbar, auch seine Beine konnte er nicht ruhig halten.
»So echt, dass du mir auf diese Entfernung eine leichte Brandwunde zufügst. Danach wird dich meine Kollegin innerhalb von drei Sekunden auf den Boden befördern und dir die Achter anlegen.«
Thomas machte einen Schritt auf ihn zu und zeigte auf die Seite der Pistole.
»Der Hebel gehört nach unten, erst dann kannst du abdrücken.«
Wie erwartet folgte der Mann seinem Finger und drehte die Waffe, um den besagten Hebel zu sehen. Blitzschnell griff Thomas zu, verdrehte ihm das Handgelenk und entriss ihm die Waffe. Er reichte sie an Barbara weiter.
»Und jetzt schleich dich!«
»Aber...« Der Mann zitterte am ganzen Körper, schwitzte und blickte nervös von Thomas zu Barbara.
»Hau di über die Häuser!«, schrie Thomas ihn an.
Es dauerte noch ein paar Sekunden, bis der mutmaßliche Bankräuber reagierte und wortlos aus der Bank stürmte.
»Was war denn das?«, wollte Barbara wissen.
»Das, meine liebe Kollegin, war ein Sandler, den ich schon mehrmals am Graben und beim Stephansdom gesehen habe. Keine Ahnung, wie er an die Waffe gekommen ist, aber das war nicht der Typ Mann, der entschlossen war, abzudrücken.«
»Und deshalb lassen wir einen Bankräuber einfach laufen?«
»Ich habe heute einen guten Tag«, meinte Thomas und trat vor den Bankangestellten, der ihn völlig entgeistert anstarrte.
»Ich möchte meine neue Bankkarte abholen«, meinte der Bezirksinspektor gelassen.
»Kratochwil, Gugawitsch!«, dröhnte die Stimme von Oberst Frimmel durch den Raum.
Die beiden Bezirksinspektoren hatten gerade erst auf ihren Stühlen Platz genommen und standen sofort auf, als ihr Vorgesetzter nach ihnen rief.
»In mein Büro!«
Kaum hatte Barbara die Tür hinter sich geschlossen, setzte sich der Oberst hinter seinen Schreibtisch.
»Vor der Jesuitenkriche wurde eine verstümmelte Leiche gefunden. Sie beide kümmern sich darum. Auf den ersten Blick scheint es keine politischen Verbindungen zu geben, deshalb hoffe ich, dass Sie dieses Mal nicht für österreichweite Aufregung sorgen«, spielte der Oberst auf den letzten Fall des Bezirksinspektors an, der die politische Landschaft in Österreich mitverändert hatte.
»Was heißt verstümmelt?«, fragte Thomas nach.
»Der Frau wurden beide Hände abgetrennt. Der Körper ist bereits in der Gerichtsmedizin.«
Mehr Informationen hatte der Oberst nicht anzubieten.
Dafür scheuchte er beide aus seinem Büro, mit dem Hinweis, den Fall möglichst rasch aufzuklären.
Barbara und Thomas gingen an die frische Luft, um ihre Vorgehensweise zu besprechen. Als Thomas nach seinen Zigaretten kramte, schmunzelte seine Kollegin.
»Doch nicht ganz aufgehört?«
»Nein, aber drastisch eingeschränkt. Ich komme mit einem Packerl zwei Tage lang aus.«
»Was eine neue Freundin so alles ausmacht. Du trinkst viel weniger, rauchst und schimpfst weniger. Wenn man von dem kleinen Intermezzo in der Bank vorhin absieht.«
»Irgendwann muss man ja anfangen, gesünder zu leben.
Und meine Freundin ist ein guter Grund dafür.«
Thomas schlug vor, den Fall aufgeteilt anzugehen. Barbara sollte zum Tatort fahren und mögliche Zeugen befragen, während Thomas der Gerichtsmedizin einen Besuch abstatten würde.
»Ich werde es mit einem Mittagessen mit Dieter verbinden«, sagte er. Sein Freund und Kollege aus der IT-Abteilung arbeitete im 9. Bezirk im Hauptsitz des Bundeskriminalamtes, wo auch die gerichtsmedizinische Abteilung untergebracht war.
»Darf ich vorstellen, Valerie Kainz, 24«, sagte der jugendlich aussehende Gerichtsmediziner und zog das grüne Tuch so weit von der Leiche, bis ihr Kopf zum Vorschein kam. Es war eine hübsche Frau gewesen, lange braune Haare, ein liebliches Gesicht. Ein kleines Muttermal auf der Wange war deutlich auf ihrer blassen Haut zu erkennen.
»Sie stammt aus Kärnten, wohnte in Wien und studierte Rechtswissenschaft. Ihre persönlichen Gegenstände habe ich bereits vorbereitet, die Kollegen in Kärnten sind informiert und werden die traurige Nachricht ihren Eltern überbringen.«
»Werde ich überhaupt noch gebraucht, oder übernehmen Sie gleich den Fall«, scherzte Thomas.
»Nein, nein. Die Auflösung überlasse ich Ihnen. Das Mädchen hatte ihren Ausweis bei sich, somit war es ein Leichtes. Nebenbei bemerkt, sie war nur abwärts der Gürtellinie bekleidet, in ihrer Geldbörse dürfte nichts entwendet worden sein. Ausweis, Karten und Geld, alles vorhanden.
Nun zu meinem Aufgabenbereich. Valerie Kainz verstarb letzte Nacht, 3 Uhr plus minus eine Stunde. Die Todesursache ist offensichtlich und inzwischen auch bestätigt, massiver Blutverlust nach dem Abtrennen beider Hände. Es wurden mehrere Benzodiazepine in ihrem Körper nachgewiesen, umgangssprachlich bekannt als K.O.-Tropfen. Die Konzentration lässt mich vermuten, dass sie es nicht über einen Drink eingenommen hat, vielmehr dürfte es ihr intravenös verabreicht worden sein. Sonst wurden keine Anästhetika entdeckt, was darauf schließen lässt, dass ihr die Hände bei vollem Bewusstsein abgetrennt wurden.«
Bei der Vorstellung zog es Thomas den Magen zusammen, instinktiv griff er nach seinem Handgelenk. Mit einer schnellen Bewegung, entblößte der Gerichtsmediziner den ganzen Körper. Auch wenn es ihm widerstrebte, sah Thomas auf die junge Frau hinab. Der Y-Schnitt, mittels dem der Pathologe ihre inneren Organe begutachtet hatte, war wieder zugenäht worden, was den Anblick erträglicher machte. Die nicht verbundenen Arme und die fehlenden Hände erinnerten ihn zunächst an einen billig gemachten Horrorfilm. Er hatte in seiner Laufbahn schon mehrere schwerste Verletzungen und auch abgetrennte Gliedmaßen gesehen, aber an dieser Leiche war etwas anders.
»Abgetrennt mit einer scharfen, metallenen Säge, eine Kreissäge oder Ähnliches würde ich tippen.«
»Eine Kreissäge?«, wunderte sich Thomas. Das war es, was ihn irritiert hatte. Die Wunde sah glatt und säuberlich geschnitten aus. Das war kein Resultat eines Kampfes oder eines Unfalls, sondern eindeutig geplant.
»Ja. Es gibt deutliche Spuren an ihren Armen, Brust, und Beinen, die erkennen lassen, dass sie festgebunden war. Deshalb sind die Schnitte auch gerade und nicht ausgefranst. Sie hatte keine Möglichkeit, sich zu wehren.«
Thomas wandte sich ab, die Bilder in seinem Kopf reichten, dass sein Mageninhalt drohte, hochzukommen.
»Weitere Verletzungen?«
»Nein. Keine Hämatome, abgesehen von den Fesselspuren, keine Verletzungen, weder sichtbar noch intrakorporal. Der Täter hat sich weder an ihr vergangen, noch sie davor gefoltert. Es gibt keine Fingerabdrücke.«
Der Mediziner griff hinter sich und holte eine Trinkflasche hervor. Nach einem Schluck sprach er weiter.
»Meine erste und im Moment auch sicherste Vermutung: Frau Kainz wurde zuerst betäubt. Als sie wieder munter war, fand die Amputation statt, bei der sie erneut das Bewusstsein verloren haben wird, danach wurde sie liegen gelassen, bis sie ausgeblutet war. Der Fundort der Leiche ist definitiv nicht der primäre Tatort. Sie wurde in einem Plastiksack verpackt abgelegt, daher gibt es keinen Hinweis auf den Ort der Tötung. Im Sack und an der Leiche habe ich Desinfektionsmittel, aber ansonsten keine Spuren gefunden, ich werde aber noch genauer suchen.«
Thomas bat darum, dass sie den Raum verlassen konnten. Im Büro des Gerichtsmediziners bekam er den vorläufigen Obduktionsbericht ausgehändigt. Weitere Informationen würde er per Mail erhalten.
Zurück an der frischen Luft lehnte sich Thomas an die Hauswand und rauchte. Auch wenn er mit Dieter verabredet war, hatte Thomas im Moment keine Lust, etwas zu essen. Es war nicht sein erster Mordfall, auch nicht seine erste verstümmelte Leiche, trotzdem machte es ihm jedes Mal zu schaffen. Gleichzeitig motivierte es ihn, den Mörder zu finden.
Er rief Dieter an und verabredete sich mit ihm bei einem nahe gelegenen Würstelstand.
Dort konnte er sich doch zu einer Käsekrainer durchringen, zusammen mit einem alkoholfreien Getränk. Sie hatten noch nicht fertig gegessen, als Barbara angefahren kam, sehr zur Freude von Dieter. Sie parkte den Polizeiwagen direkt neben ihnen auf dem Gehsteig. Ein Blick genügte, um Thomas erkennen zu lassen, dass sie wenig bis nichts herausgefunden hatte. In wenigen Sätzen bestätigte sie seine Einschätzung. Der Plastiksack mit der Leiche war gegenüber der Kirche neben einem Lokal abgelegt worden. Der Müllabfuhr war der Sack aufgefallen, als sie die Müllcontainer leeren wollten. Nur durch Zufall hatte einer der Männer bemerkt, dass Blut aus einem kleinen Riss tropfte. Als er den Sack öffnete und erkannte, dass es sich um eine Leiche handelte, hatte er sofort die Polizei gerufen. Ansonsten gab es weder Hinweise noch Zeugen.
Die Eltern der jungen Frau waren bereits von den Kollegen in Kärnten informiert worden. Da die Wohnadresse der Frau in Wien nur wenige Minuten zu Fuß vom Bundeskriminalamt entfernt lag, meinte Barbara, »Nutzen wir die Zeit. Die ersten 24 Stunden sind die Entscheidendsten.«
»Sagt das Lehrbuch«, murrte Thomas, »Die Wahrheit sieht anders aus.«
Dieter, der bereits von Thomas informiert war, bot seine Fähigkeiten an und versprach den beiden, den digitalen Fußabdruck der Frau zu überprüfen.
Die Adresse von Valerie Kainz gehörte zu einem sechsstöckigen Haus, in dem offensichtlich mehrere Wohngemeinschaften untergebracht waren. An beinahe jeder Türklingel standen mehrere Namen, teilweise so klein geschrieben, dass sie nur schwer zu entziffern waren. Neben der Nummer 7 konnten Barbara und Thomas die Namen Corban, Kainz und Hafner entziffern.
Ohne Nachzufragen wurde die Tür Sekunden nach ihrem Klingeln geöffnet. Als sie eintraten, hörten sie aus dem ersten Stock eine Männerstimme rufen: »Süße, ich hoffe, du hast eine gute Erklärung. Wir machen uns hier schon in die ...«
Er stoppte, als er sah, dass es nicht die erwartete Person war, die die Stiegen hinaufkam. Thomas hielt bereits seinen Dienstausweis in der Hand.
»Sie erwarten Valerie Kainz?«
»Ja. Das Mädchen ist seit gestern nicht heimgekommen und ... Moment, Sie sind von der Polizei?« Der deutlich erkennbare englische Akzent ließ Thomas vermuten, dass Herr Corban vor ihnen stand.
Beide Bezirksinspektoren nickten, im nächsten Moment veränderte sich die Miene des Mannes.
»Oh my goodness, was ist passiert?«, fragte er entsetzt.
Barbara bat darum, in die Wohnung zu gehen.
Der Mann stellte sich als Mark Corban vor, Student aus England. Als Barbara ihm mitteilte, dass sie in der Früh die Leiche von Valerie Kainz gefunden hatten, starrte er sie zunächst ungläubig an, bevor er sich auf einen Stuhl fallen ließ.
»Das kann nicht sein ... Valerie war so eine liebe, nette ...« Er kämpfte mit den Tränen.
Stockend fragte er nach, was mit ihr passiert war, worauf Barbara ausweichend meinte, dass sie ermordet aufgefunden wurde, genauere Details konnte sie aus ermittlungstechnischen Gründen nicht weitergeben. Mark stand langsam auf.
»Sie wollen sicherlich ihr Zimmer sehen? So machen die das doch im Film?«
»Ja«, stimmte Thomas zu, »Eines der wenigen Dinge aus Krimis, die tatsächlich stimmen.«
Wenn Thomas nicht gewusst hätte, dass Valerie Kainz bereits 24 Jahre alt war, hätte er auf ein Kinderzimmer getippt. Plüschbären lagen auf ihrem sauber gemachten Bett, Poster von einer Boyband hingen an der Wand. Im Zimmer dominierte die Farbe rosa. Sogar der aufgeklappte Laptop auf ihrem Schreibtisch war in rosa gehalten.
»Valerie war ... Sie war unser Nesthäkchen, wir haben sie ‚Little Virgin‘, die kleine Unschuld genannt«, sagte Mark leise, »Sie hatte noch nie einen Freund und ... Nur ein paar Bekanntschaften über Internetseiten.«
Während Thomas weiterhin mit Mark sprach, trat Barbara zum Laptop und fuhr über das Touchpad. Der Laptop war aufgedreht, auf dem Bildschirm erschien augenblicklich ihr Desktop. Sie hatte nur wenige Symbole auf diesem abgelegt, Barbara erkannte die üblichen Office-Programme und zwei Programme, die mit der Universität in Verbindung standen. Barbara ließ den Laptop stehen und notierte sich in Gedanken, dass sich Dieter darum kümmern sollte.
»Wie lange kannten Sie Valerie Kainz?«, hörte sie Thomas aus dem Nebenraum und kam zurück an seine Seite.
»Valerie wohnt seit knapp einem Jahr in unserer WG.«
»Ist sie oft ausgegangen?«
»Never ever! Nein, wir mussten sie regelrecht dazu zwingen. Erst seit einiger Zeit hat sie mehr unternommen, also mehr Partys und Abendprogramm. Sie hat auch eine Datingseite ausprobiert, dieses FiLo.«
Kaum hatte er den Satz ausgesprochen schlug er sich die Hand vor den Mund. Thomas kannte diese Reaktion, wenn Betroffene von einem Todesopfer sprachen. Mark Corban realisierte erst jetzt, dass er von Valerie in der Vergangenheitsform sprechen musste. Ab diesem Zeitpunkt wurde es schwer, brauchbare Informationen zu erhalten, der Schock machte dem jungen Mann zu schaffen.
Dementsprechend verabschiedeten sich Barbara und Thomas recht schnell, baten Mark darum, ihnen sofort Bescheid zu geben, wenn ihm noch etwas einfiel. Außerdem bereiteten sie ihn darauf vor, dass ihre Kollegen der Spurensicherung demnächst auftauchen würden. Bis dahin sollten er und die anderen Mitbewohner nicht mehr das Zimmer betreten.
Eine Viertelstunde später standen Barbara und Thomas wieder vor ihrem Fahrzeug, als sich Dieter meldete. Er bat die Bezirksinspektoren, ihn in seinem Büro zu besuchen.
»Was hast du herausgefunden?«, fragte Barbara, als sie zusammen Dieters Büro betraten. Das Büro erinnerte an Großraumbüros von Call-Centern. Tische mit Computern, Druckern und mehreren Monitoren standen in mehreren Reihen, in der vordersten Reihe befanden sich Schiebekästen und zwei übergroße Bildschirme an der Wand, die abgeschaltet waren. Des Weiteren hingen an den Wänden unterschiedliche Diagramme, Schaltpläne und Infotafeln über Handymasten in Wien und Umgebung.
Dieter lotste die beiden in einen Nebenraum, in dessen Mitte sie ein leerer Tisch und vier Stühle erwarteten. An der Fensterseite, die den Blick in den Innenhof des Bundeskriminalamtes freigab, stand eine Kaffeemaschine neben einem kleinen Schrank. In diesem waren Tassen, Haltbarmilch und Zucker aufbewahrt, wie Thomas von seinen früheren Besuchen wusste.
»Nehmt Platz. Ich habe es inzwischen auch für dich ausgedruckt, TJ. Ich weiß ja, dass du Papier dem Computer vorziehst.«
»Stimmt. Aber ich lasse mich auch gerne berieseln. Also sprich dich aus«, meinte Thomas, der sich bereits an der Kaffeemaschine bediente und für sie alle Kaffee herrichtete.
»Okay, dann lasst uns loslegen. Valerie Kainz ist sehr aktiv gewesen, auf unterschiedlichen sozialen Medien. Ich kann euch einen detaillierten Lebenslauf anbieten, von den letzten Schuljahren, ihren Urlauben, ihrer Familie, Musikgeschmack und...«, er legte ein Bild auf den Tisch, »dem letzten Bild von ihr. Es zeigt sie mit einer Freundin, gestern Nachmittag. Kurz danach haben sie sich mit anderen Frauen getroffen und planten einen Mädelsabend in der Stadt.«
»Irgendwelche Hinweise auf ihren Mörder?«
»Ich glaube schon. Ihr Handy wurde zwar nicht gefunden, aber ich habe ihre Nummer herausbekommen und einen Bekannten bei der Handyfirma um einen Gefallen gebeten.
Ihr solltet umgehend einen Bescheid zur Durchsicht der Handydaten organisieren, damit die folgenden Daten auch rechtskräftig verwendet werden können.«
Thomas nickte und deutete Dieter, weiterzureden.
»Ich habe ihren SMS-Verlauf ausgedruckt.«
»SMS?«
»Ja, nicht jeder schreibt auf WhatsApp. Zu unserem Glück, denn die Daten auf der App sind sehr gut verschlüsselt«
»Und?«
»Die Nummer ist nicht registriert.«
»Ich dachte, das sollte nicht mehr möglich sein.«
»Oh doch. Du kannst immer noch SIM-Karten kaufen und benutzen, zwar nur bis zum Aufbrauchen des Gratisguthabens, aber das hat in diesem Fall gereicht.«
Er reichte ihnen einen Ausdruck der Nachrichten.
»Anhand der ersten SMS ist klar, sie haben sich über FiLo kennengelernt und ein Date ausgemacht. Hier schrieb der Unbekannte: Ich bin bereits in der Stadt. Freue mich schon auf unser Treffen, auf Dich.«
»Sie antwortete, dass sie sich auch freut, aber nervös ist, da solche spontanen Treffen nicht ihres seien. Er versicherte ihr, dass sie keine Angst zu haben braucht. Ihr Treffpunkt war der Schwedenplatz, direkt vor einem Burgerladen. Er hat auch geschrieben, dass sie an diesem Abend nie alleine sein werden und er ihre Bedenken versteht.«
»Dieses Arschloch«, entfuhr es Barbara.
»Diese SMS-Nachricht könnte für euch interessant sein.«
Er hielt den Zettel hoch und deutete auf eine der letzten Nachrichten.
»Bislang kenne ich dich nur von Bildern, aber deine Texte lassen erkennen, was für eine liebenswerte Frau du bist. Deshalb bin ich so gespannt auf deinen Charakter, weil über dein Aussehen, deine Figur und deine zarten Hände habe ich schon viel geschrieben und geschwärmt.«
»Klingt nach einem kranken Fetisch«, meinte Thomas.
»Ich habe ihr FiLo-Profil gefunden«, sagte Dieter und reichte ihnen einen Ausdruck des Profils mitsamt einigen Bildern.
Barbara überflog das Profil.
»Sie hat nicht viel über sich verraten. Das Bild ist jedenfalls tatsächlich von ihr. Die Infos in ihrem Profil deuten auf eine wirklich schüchterne Person hin. Sie war auf der Suche nach Freundschaften und Beziehungen, zu ihren Hobbies zählen Lesen und Musik, wie langweilig. Sie hat nichts ausgefüllt, was ihren Wunschpartner betrifft, keine Vorlieben angegeben. Dafür findet man hier, dass sie im neunten Bezirk wohnt.«
»Ist dieses FiLo eine App aus Österreich?«, fragte Thomas.
»Ich habe gewusst, dass du das fragst«, antwortete Dieter und reichte ihm ein weiteres Blatt Papier.
»Die Firmenadresse, im dritten Bezirk. Der Geschäftsführer heißt Marco Ansprenger. Er ist heute im Büro«, sagte Dieter voller Stolz.
Barbara grinste, legte den Arm um ihn und drückte ihn zu sich.
»Du bist ein Schatz, Dieter«, lobte sie ihn und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn.
Sogar in dem schwach beleuchteten Raum war deutlich zu sehen, wie Dieter knallrot wurde.
Bevor sie sich verabschiedeten, bat Barbara Dieter, sich den Laptop von Valerie Kainz anzusehen. Er versprach ihr, sich persönlich darum zu kümmern und ihnen umgehend Bescheid zu geben, sobald er etwas herausfand.
Thomas parkte den Wagen direkt vor einem modernen Hochhaus, in welchem sich der Firmensitz von FiLo befand.
»Diese Gegend hier, ein Teil von St. Marx, ist in den letzten Jahren wie aus dem Nichts neu erbaut worden«, meinte Barbara und sah sich um.
Sie standen inmitten von Neubauten, bei denen die unterschiedlichsten Architekten ihre Hände im Spiel hatten. Das für sie interessante Gebäude hatte eine Fassade aus senkrechten weißen Metallstreben, die sich mit verdunkelten Glasscheiben abwechselten. Dabei waren die Elemente unterschiedlich breit. Einige Etagen des mittleren Teils waren wie ein Block in die Fassade gesetzt worden und ragten hinaus.
Eine Informationstafel neben der Eingangstür aus dunklem Glas verriet ihnen, dass die Firma ihren Sitz zusammen mit drei weiteren Unternehmen im 4. Stock hatte.
Als Barbara und Thomas aus dem Aufzug ausstiegen, wurde sofort klar, wohin sie gehen mussten. Zu ihrer Linken befand sich eine Milchglastür, auf der das Logo von FiLo prangte. Ein knallrotes Herz, links die Buchstaben »Fi«, die beinahe ins Herz verschwanden und rechts kamen die Buchstaben »Lo« aus dem Herz heraus.
Darunter stand in roten Buchstaben "FInd your LOve". Barbara musste schmunzeln.
»Mein ehemaliger Kollege würde dieses Logo sowas von kitschig finden«, meinte sie.
»Welcher deiner ehemaligen?«, fragte Thomas nach.
»Derjenige, der mir seine aktuelle Freundin zu verdanken hat, die aus ihm einen anderen Menschen…«
»Danke, ich hab´s verstanden«, unterbrach er sie, schüttelte den Kopf und öffnete die Tür.
Sie mussten der Empfangsdame, die bereits instruiert war, nur ihren Ausweis zeigen. Sie sprang regelrecht aus ihrem Sitz hoch und begleitete die beiden Bezirksinspektoren in ein modern eingerichtetes Büro mit großer Fensterfront.
»Marco kommt sofort, nur einen kleinen Moment. Nehmen Sie ruhig Platz.«
Keine zehn Sekunden später betrat Marco Ansprenger den Raum. Er schien noch keine dreißig Jahre alt zu sein und wirkte in seinem gestriegelten Aussehen und dem lockeren Kleidungsstil, Jeans und dünnem karierten Pulli, wie ein Student, der gerade von einer Vorlesung kam.
»Hallo zusammen. Bitte bleiben Sie sitzen«, begann er, nahm sich einen Stuhl und setzte sich anstatt hinter seinen Schreibtisch vor Barbara und Thomas mitten in den Raum.
»Wie kann ich der Polizei helfen?«
»Bezirksinspektor Kratochwil«, stellte sich Thomas vor,
»und das ist meine Kollegin, Bezirksinspektorin Gugawitsch. Wir arbeiten an einem Mordfall und Ihre App kann uns vielleicht weiterhelfen.«
Das Lächeln verschwand aus Ansprengers Gesicht, seine Freundlichkeit blieb.
»Natürlich. Womit kann ich Ihnen helfen?«
»Wir benötigen den Chatverlauf von...«, begann Barbara.
»Das wird nicht möglich sein«, unterbrach Ansprenger augenblicklich.
»Doch, entweder jetzt gleich oder mit einem Durchsuchungsbeschluss, wobei wir dann aber die ganze Bude auf den Kopf stellen«, meinte Thomas mit strengem Tonfall.
Marco Ansprenger lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blickte den Bezirksinspektor verständnisvoll an.
»Herr Inspektor, Sie verstehen nicht. Ich bin gerne bereit Ihnen jegliche Unterstützung zukommen zu lassen. FiLo ist mein Baby und wir leben von guter Publicity. Ich habe diese Datingplattform zusammen mit Experten für
Datenschutz, Internetsecurity und sogar einigen Hackern aufgebaut. Wir versprechen absolute Diskretion, Transparenz und...«
»Kommen Sie zum Punkt«, fiel ihm Thomas ins Wort.
»Jede Nachricht wird nur solange auf unseren Servern gespeichert, bis sie von einem User abgerufen wird. Dann wird sie auf seinem Device gespeichert und bei uns gelöscht. Aufgrund der großen Anzahl von Nachrichten kann ich Ihnen auch versichern, dass diese gelöschten Daten längst mehrmals überschrieben wurden und eine Wiederherstellung unmöglich ist. So leid es mir tut, aber genau dieser Punkt, die Privatsphäre bei den Nachrichten, ist eines unserer Versprechen an unsere Mitglieder. Wir haben selbst schon mehrmals außenstehende Experten darauf angesetzt und wurden für unsere Datenschutzbestimmungen sogar ausgezeichnet.«
»So ein Schas«, fluchte Thomas.
»Okay«, übernahm Barbara, »was können Sie uns von einer Userin anbieten?«
»Ihr Profil, Kundenkennwort und Passwort, ihre Liste von Likes und Dislikes und eine Statistik der Zugriffe. Diese kann ich filtern nach Datum, Uhrzeit und IP-Adresse.«
Barbara hob die Augenbrauen.
»Da kommt mir eine Idee«, sagte sie entschlossen.
Dieter saß vor seinem Computer, auf welchem gerade die Daten des FiLo-Geschäftsführers eintrafen.
»Das hast du wohl bei ‚CSI Miami‘ oder einer dieser Serien gesehen«, sagte er zu dem Telefonlautsprecher vor ihm.
»Aber es ist möglich, oder?«, meinte Barbara aus dem Lautsprecher.
»Wenn die Daten genau genug sind, kann ich ein Bewegungsprofil erstellen, zusammen mit den Handydaten. Es sollte kein Problem sein, herauszufinden, wo sie sich zuletzt eingeloggt hat. Ich werde mich etwas spielen und euch anrufen, sobald ich Ergebnisse habe.«
»Danke, du bist wirklich ein Schatz.«
»Dieter hat eine Beschäftigung, was machen wir?«, fragte Barbara nach dem Telefonat.
Thomas stand neben ihr vor dem Bürogebäude, war aber selbst mit seinem Handy beschäftigt und reagierte erst, als sie ihm einen kleinen Schubs gab.
»Alles gut?«
Thomas nickte und steckte sein Handy ein.
»Wir müssen auf die Berichte von Dieter und der Gerichtsmedizin warten«, sagte er, »Laut ihrem Facebook-Profil hätte Valerie Kainz am Abend ein Treffen mit ihren Freundinnen geplant. Kannst du dich da schlau machen? Vielleicht bringt uns das weiter.«
»Jawohl, Chef. Was machst du?«, wollte Barbra wissen.
»Um ehrlich zu sein, einen Wohnzimmerkasten abholen und aufbauen. Meine Freundin hat mich gebeten, ihr zu helfen. Sollte es irgendwelche Neuigkeiten geben, bin ich natürlich…«
Sie winkte ab.
»Schon okay, Thomas. Ich kümmere mich um die Freundinnen und erstatte dir morgen Bericht.«
Nachdem er ihr für ihr Verständnis gedankt hatte, machte sich Thomas auf den Weg zu seiner Freundin Elisabeth.
Sie hatte ihm bereits geschrieben, dass sie die Pakete aus dem Möbelhaus in ihrem Wagen hatte und auf dem Heimweg war. Im Geschäft hatte man ihr noch beim Einladen geholfen, daheim würde sie aber eine starke Männerhand benötigen.
Eigentlich wollte Barbara Valeries Mitbewohner nur einen Besuch abstatten, um die Daten der besagten Freundinnen zu erfahren. Doch zu ihrem Glück, waren die beiden Damen gerade anwesend. Zusammen mit Mark Corban saßen sie mit tränenverheulten Augen im Wohnzimmer.
»Wissen Sie schon, wer ihr das angetan hat, Frau Inspektor?«, fragte die blonde Freundin, die sich als Nicole vorstellte.
»Wir sind gerade erst am Anfang und gehen jeder Spur nach. Sie haben sich gestern zu einem Mädchenabend verabredet, stimmt das?«
»Ja«, antwortete die andere. Sie war schwarzhaarig und extrem dünn. Im Gegensatz zu ihrer Freundin hatte sie sich noch nicht im Griff, sie zitterte am ganzen Körper. Mark hatte den Arm um sie gelegt, doch auch er schien es nicht zu schaffen, sie zu beruhigen.
»Wir kennen uns von der Uni und wollten etwas trinken gehen. Valerie… sie hat gemeint, sie mag keinen Alkohol und deshalb… Also wir beide trinken auch keinen, darum wollten wir ja gemeinsam gehen.«
»Aber gegen 17 Uhr hat sie abgesagt«, übernahm Nicole wieder das Wort, »Sie hat gemeint, sie muss noch etwas für die Uni erledigen und hat völlig darauf vergessen. Ich habe versucht, sie umzustimmen, aber wir kennen sie…« Sie schniefte und erneut traten ihr Tränen in die Augen.
»Die Mädels kannten Valeries Ehrgeiz«, sprach Mark mit leiser, trockener Stimme, »Wenn es um das Studium ging, war alles andere Nebensache.«
Er stockte und Barbara gab ihm die Zeit, sich zu sammeln.
»Ich wollte sie ebenfalls überreden«, fuhr er nach einigen Sekunden fort, »Ich habe ihr noch gesagt, sie soll doch auch einmal ihr Leben genießen. Und dann…«, Er verstummte, riss die Augen auf und starrte Barbara entgeistert an.
»Oh fuck, ich habe sie quasi überredet!«, stieß er hervor.
»Moment, erstmal der Reihe nach«, bat Barbara, »Wir sind im Moment bei Valerie, die nicht gehen wollte. Wieso ist sie dann doch ausgegangen und vor allem, wohin und mit wem?«
Mark schluckte und überlegte einige Sekunden lang.
»Es muss so halb acht gewesen sein… Kurz nach 19:45, die Nachrichten im ORF waren gerade zu Ende. Da ist sie fertig gestylt und angezogen aus ihrem Zimmer gekommen und hat gemeint, dass sie mit allem fertig sei. Ich habe nicht weiter nachgefragt und bin davon ausgegangen, dass sie die Mädchen trifft. Ich habe noch gemeint, sie solle Chantal grüßen lassen du sich einen schönen Abend machen.«
»Chantal?«, fragte Barbara nach.
Die Schwarzhaarige blickte auf.
»Das bin ich.«
»Okay. Aber sie hat sich nicht mit euch getroffen und auch niemand informiert, wohin sie gegangen ist.«
Alle drei schüttelten den Kopf.
»Wusstet ihr, dass sie auf der Dating-App FiLo angemeldet war?«
»Klar, das haben wir alle gemeinsam gemacht«, sagte Nicole.
»Ich habe mit Valerie ihr Profil erstellt. Sie war nicht sehr begeistert und hat sehr wenig von sich verraten, aber wenigstens hat sie es probiert«, sagte Chantal, stockte aber dann.
»Ich habe ihr das Profil eingeredet, wegen dem sie jetzt…«, sie brach in Tränen aus.
»Nein, niemand von euch ist an irgendetwas schuld«, versuchte Barbara sie zu beruhigen. Ihr war aber klar, dass sie wenig Erfolg hatte. Deshalb verschwand sie kurz aus dem Zimmer und rief die polizeiliche Kriseninterventionsabteilung an. Sie bat um eine Beamtin, die sich um die Jugendlichen kümmern sollte. Die Beamten des Kriseninterventionsteams waren speziell geschultes Personal, die bei akuten traumatischen Situationen den Angehörigen und nahen Bekannten zur Seite standen.
»Das wäre vorerst alles«, sagte Barbara, als sie wieder ins Zimmer trat.
»Eine Kollegin wird in einer halben Stunde vorbeikommen, aber die stellt keine Fragen zu dem Verbrechen. Sie kommt, um sich um euch zu kümmern, um eure Trauer«, erklärte sie den drei Jugendlichen.
Mark nickte und flüsterte ein »Danke«. Barbara fiel es nicht leicht, aber sie musste die Jugendlichen sich selbst überlassen, auch wenn sie die vor Trauer geschockten Gesichter im Geiste verfolgten.
»Du hast es gut, Thomas. Du bist bei deiner Freundin und hast eine hoffentlich gelungene Ablenkung«, murmelte sie auf dem Weg zu ihrem Fahrzeug. Sie entschied, ihren Bericht von daheim aus zu schreiben und ebenfalls nach Ablenkung zu suchen, bis weitere Ergebnisse erzielt wurden.
Barbara war gerade im Begriff, die Polizeidienstelle zu betreten, als Thomas hinter ihr erschien.
»Morgen!«
Barbara drehte sich um und blickte in das bestens gelaunte
Gesicht ihres Kollegen.
»Na, du bist ja heute in besonders guter Stimmung.«
»Und das obwohl ich schon länger munter bin«, antwortete Thomas grinsend.
»Lass mich raten, Guten-Morgen-Sex?«
Thomas' Lächeln wurde noch eine Spur breiter.
»Die Details erspare ich dir, aber ihre Nachbarn sind sicherlich angefressen, weil sie seit 5 Uhr nicht mehr schlafen konnten.«
Thomas zog einen grünen, zehn Zentimeter langen Stab hervor und zog am Mundstück.
»Was ist denn das?«, fragte Barbara.
»Eine Einweg-E-Zigarette. Damit ich nicht ständig nach Zigarettenrauch schmecke.«
Die ausgestoßene Wolke streifte Barbara, die schnupperte.
»Irgendwas mit Apfel. Riecht auf alle Fälle besser.«
»Okay, soviel dazu. Nun zu den weniger angenehmen Dingen des Tages«, meinte Thomas und legte sein Grinsen ab, »Dieter hat uns eine Karte geschickt, darauf werden wir die letzten Stunden von Valerie Kainz nachvollziehen können. Unsere Vermutung dürfte richtig sein, sie war bis zuletzt auf FiLo eingeloggt. Aufgrund der wirklich strengen Datenschutzmaßnahmen können wir nicht feststellen, welches Profil sie zuletzt angesehen hat.«
»Wie viele Personen kommen in Frage?«
»Sie hat 36 Männer geliked, 21 davon wohnen in Wien.« Barbara stöhnte auf.