Eiskaltes Erzgebirge - Danielle Zinn - E-Book

Eiskaltes Erzgebirge E-Book

Danielle Zinn

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Beschreibung

Ergreifend, authentisch, intensiv: Ein verschneites Dorf, ein kaltblütiger Mörder und jede Menge ungeheuerliche Geheimnisse. In einem kleinen Dorf im Erzgebirge wird inmitten der winterlichen Idylle eine Leiche entdeckt. Aufgespießt mit einem Degen, drapiert auf der Weihnachtspyramide des Marktplatzes. Schnell wird klar, dass die wahre Identität des Toten der Schlüssel zu einem lange zurückliegenden schrecklichen Verbrechen ist. Die Kommissare Alexander Berghaus und Anne Keller müssen ihre Konflikte überwinden, um eine Familientragödie aufzuklären – und um weitere Morde zu verhindern.

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Danielle Zinn, 1986 in Annaberg-Buchholz im Erzgebirge geboren, besitzt eine ausgeprägte Leidenschaft für englische Literatur. Deshalb sind ihre beiden Kriminalromane aus dem Erzgebirge »Snow Light« und »Sophomania« auch zuerst in englischer Sprache erschienen und haben international ein treues Publikum gefunden. Sie hat einen Hochschulabschluss in Wirtschaft und Management des New College Durham/UK. Nachdem sie Berufserfahrung in Großbritannien, den USA und Frankfurt/Main gesammelt hat, arbeitet sie heute in Leipzig als Managerin in einer IT-Beratung. Zu ihren Hobbys zählen neben der Literatur auch das Reisen sowie Wintersport.

Nähere Informationen zur Buchreihe, zum Buch und zu den Handlungsorten: www.erzgebirgekrimi.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang befindet sich ein Personenverzeichnis.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: arcangel.com/Des Panteva

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Karte: René Seidenglanz

Lektorat: Lothar Strüh

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-094-5

Überarbeitete Neuausgabe

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Snow Light« bei Bloodhound Books.

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Für RenéUnd unsere Eltern

1

Alle Jahre wieder, denkt sich Alexander Berghaus, als er den Heimweg von der monotonen Weihnachtsfeier im Morddezernat Dresden einschlägt.

Schon im September wurden große Pläne für ein opulentes Festessen geschmiedet, nur um später der fehlenden Organisation und dem generellen Chaos am Jahresende zum Opfer zu fallen. Billiges chinesisches Essen wird mit schalem Champagner aus Plastikbechern heruntergespült, während die ausgeleierte Weihnachts-CD eine weitere Generation von Mitarbeitern pflichtbewusst daran erinnert, an Weihnachten ja nach Hause zu fahren.

Alexander Berghaus stört die Schulfeieratmosphäre allerdings nicht. So kann er endlich eine Auszeit mit seinem Team genießen, nachdem sie ein weiteres nervenaufreibendes Jahr hinter sich gebracht haben. Als dann zu fortgeschrittener Stunde, nach zu viel Hochprozentigem, die Feier langsam in den peinlichen Teil abrutscht, nimmt Berghaus still und leise seinen Parka und verlässt den riesigen Glaskomplex durch einen Seitenausgang. Um noch ein wenig auszunüchtern, entscheidet er sich für die längere Route durch den Park als Heimweg. Eine klare, milde Winternacht umgibt ihn – viel zu warm für Mitte Dezember. Der Boden ist noch nicht einmal gefroren. Der riesige, fleckige Vollmond wirft ein sanftes Licht über das verlassene Gelände, die hölzernen Bänke und die blattlosen Bäume.

Berghaus liebt diese Stille; er kann davon nie genug bekommen, um mit alten Gedanken abzuschließen und eine neue, leere Seite in seinem Kopf mit einer frischen Aufgabenliste zu füllen. Er liebt es, seine Gedanken in Übersichten zu sortieren und erledigte Punkte abzuhaken. Höchste Priorität haben die Weihnachtsbesorgungen. Für seine Mutter benötigt er noch – doch weiter kommt er nicht. Ein markerschütternder Schrei durchbricht die Nacht, und seine Liste fällt zu Boden. Sein Herz reagiert mit wildem Pochen, noch bevor sein Kopf überhaupt versteht, was passiert ist.

Links neben dem Schotterweg rankt eine lange Hecke immergrüner Sträucher, die den Weg von einem Kinderspielplatz mit einem riesigen Piratenschiff trennt. Er schleicht in Richtung der Büsche. Sie sind jedoch zu hoch und zu dicht, um etwas zu sehen, aber das lauter werdende Geräusch von kurzen, schnellen Atemzügen bestätigt seinen Verdacht, dass er nicht der Einzige ist, der sich um diese Uhrzeit noch draußen herumtreibt. Er wechselt die Richtung und geht zügig um die Hecke herum.

Eine dunkel gekleidete Gestalt kniet über einer jungen Frau, nicht älter als sechzehn Jahre, und drückt sie fest in das moosige Gras. Im Mondschein kann Berghaus die Panik in ihren Augen sehen. Ihre langen blonden Haare sind zerzaust, und kleine Zweige und Blätter haben sich darin verfangen. Der Angreifer presst seine Hand auf ihren Mund, und die verzerrten Geräusche, die das Mädchen von sich gibt, lassen keine Zweifel, dass sie die Nacht nicht freiwillig im Gebüsch verbringt.

»Polizei! Stehen Sie auf und lassen Sie sie gehen. Sofort!«, ruft Berghaus.

Ruckartig dreht sich der Kopf um, und Berghaus blickt in das feixende, schmuddelige Gesicht eines ungefähr gleich alten Mannes. Ein dunkler Pullover hängt an seinem schlanken Körper, dazu trägt er ein abgewetztes Basecap, ausgetretene Turnschuhe und eine Trainingshose, die ein Stück nach unten gezogen ist. Er nimmt seine Hand nicht vom Mund des Mädchens.

»Zu spät, Herr Polizist. Aber dieses süße Ding hier hat sicher noch ein bisschen Kraft für Sie übrig. Aber Vorsicht«, höhnt er, »sie kratzt.«

Mit einer flinken Bewegung trifft Berghaus’ ausgestreckte Hand frontal auf die Kehle des Angreifers. Nach Luft schnappend, sackt er zu Boden.

Das Mädchen rappelt sich schnell auf. Sie trägt nur ein dünnes, elegantes Cocktailkleid, keine Schuhe. Berghaus will ihre Hand nehmen und ihr versprechen, dass alles wieder gut wird, obwohl er genau weiß, dass es nie wieder gut sein wird. Doch sie dreht sich abrupt um und läuft in Richtung Spielplatz davon.

»Warte! Ich bin Hauptkommissar Berghaus! Ich will dir helfen!«

Dicke Wolken schieben sich vor den Mond und hüllen den Park augenblicklich in absolute Dunkelheit.

Berghaus spürt einen kräftigen Tritt in seine Kniekehlen. Für einen Moment scheint es, als könne er dem plötzlichen Ungleichgewicht standhalten, doch schließlich geben seine Beine nach. Er taumelt kopfüber in eine dornige Hecke, sein Gesicht und seine Hände werden mit brennenden Schnitten zerkratzt, und sein Parka reißt auf.

Der Typ hat sich zu schnell vom Schlag gegen die Kehle erholt und rennt dem Mädchen hinterher.

Blut rinnt langsam Berghaus’ Gesicht hinunter, von dort, wo die Dornen sich tief ins Fleisch gegraben haben. Er wischt mit seinem Ärmel darüber, bevor er sich hochhievt. Sein erster Neujahrsvorsatz ist gefasst: Endlich abnehmen! Nächstes Jahr aber wirklich, denkt er. Wie jedes Jahr.

Er späht in die Dunkelheit. Wohin sind die beiden verschwunden? Blind entscheidet er sich für eine Richtung und rennt los, so schnell, wie seine schwachen Beine den enormen Körper tragen können. Nur allzu bald würde seine Lunge zu brennen beginnen, das Blut würde in seinen Ohren pochen, und ein stechendes Gefühl, wie ein Messer zwischen den Rippen, würde das Ende seiner Ausdauer ankündigen. Dieses schreckliche Gefühl von Schwäche und die daraus resultierende Scham sind zwei Gründe, warum er die Fitnessräume der Polizei meidet wie der Teufel das Weihwasser.

Der Sand auf dem Boden des Spielplatzes erschwert das Rennen zusätzlich – einen Schritt vorwärts und einen halben zurück. Es fühlt sich an, als würde man auf Eis laufen.

Am Bug des Piratenschiffes entdeckt er schließlich den Mann, der nach dem Mädchen Ausschau hält. Das große hölzerne Schiff ist zweistöckig, mit eingebauten Schaukeln, Seilen, Rutschen und Kletterstangen. Kinder können durch den Rumpf gehen, innen hochklettern und am anderen Ende herunterrutschen.

Berghaus steht am Eingang des Rumpfes, als er leise Schritte und das Knirschen von Sand auf den Holzbalken über sich hört. Er tastet nach einem Weg, um ins obere Stockwerk zu gelangen, aber alle möglichen Eingänge und Schlupflöcher sind einfach nicht für seine Größe gemacht.

Da ist eine Kletterwand mit kleinen bunten Plastikgriffen, die ihn nicht tragen werden, eine rutschige Kletterstange, an der er sich nicht hochziehen kann, und ein Spinnennetz aus Seilen. Vielleicht könnte er dort emporrobben.

Berghaus zieht sein Handy aus der Jackentasche, um etwas Licht vom Display zu haben.

Zwei Uhr dreiundzwanzig.

Ein paar Meter zu seiner Rechten taucht erneut das feixende, fettige Gesicht des Mannes auf. Mit zwei kräftigen Zügen zieht er sich die Kletterstange hoch, als sei es ein Kinderspiel. Ist es vermutlich auch. Für ihn. Im schummrigen Licht sieht Berghaus kurz eine Metallklinge aufblitzen. Blanker Horror lässt ihm die Haare zu Berge stehen. Seine Hände sind schweißnass. Er darf keine Angst haben. So diktiert es seine Stellenbeschreibung. Aber normalerweise ist das Opfer auch schon tot, wenn er am Tatort ankommt – Waffen oder Verteidigungstechniken werden nur selten benötigt.

Über ihm hallen die Schritte des Angreifers auf den Holzplanken nach, während Berghaus immer noch ein Stockwerk tiefer in den Seilen hängt, gefangen wie eine Fliege im Spinnennetz. Völlig erschöpft lässt er schließlich den Strick los und rutscht nach unten – bestimmt einen halben Meter.

Draußen sind die wattig weichen Wolken weitergezogen, und der Mondschein offenbart eine zwei Meter hohe Spielplatz-Hafenmauer mit einem rot-weiß gestreiften Leuchtturm, ungefähr fünfzig Meter entfernt. Auch die Mauer ist mit farbigen Plastikgriffen besetzt, und Berghaus sieht, wie sich jemand krampfhaft nach oben zieht.

Er schleicht vorwärts, als plötzlich ein Basecap im Sand neben ihm landet, gefolgt von der dunklen Gestalt. Beide Männer sehen sich kurz an, bevor sie gleichzeitig in Richtung Hafenmauer sprinten. Sand spritzt auf, und Schuhsohlen reiben auf Beton, während der Angreifer mit schnellen Zügen den oberen Rand der Hafenmauer erreicht. Er schwingt seinen Körper mühelos darüber und landet mit einem kurzen, dumpfen Aufprall im Sand auf der anderen Seite, nur wenige Meter von dem Mädchen entfernt, das breitbeinig oben auf der Mauer sitzt.

Berghaus hat es auch geschafft, sich einige Zentimeter nach oben zu ziehen, und versucht, ihren Arm zu greifen. Doch sein enormer Bauch drückt ihn immer wieder von der Wand weg, und seine Hände sind zu fleischig, um sich an den Plastikgriffen zu halten. Er spürt, wie sein letztes bisschen Kraft dahinschwindet.

Die junge Frau starrt ihn reglos an. Ihr stummes Gesicht schreit vor Angst und Panik. Verzweifelt versucht Berghaus, ihre Hand zu packen, aber er ist zu langsam. Sie verliert das Gleichgewicht und kippt wie eine Puppe in Zeitlupe hinter die Mauer. Stillschweigend verschluckt von der Dunkelheit. Ihr letzter Blick brennt sich in Berghaus’ Augen. Der Mann muss sie brutal am Fuß herabgezerrt haben.

Berghaus lässt die Griffe los. Ein stechender Schmerz durchzieht seinen gesamten Körper. Er weiß, dass er es niemals über die Mauer schaffen wird. Verzweifelt sucht er nach einem anderen Weg, als ein erstickter Schrei, gefolgt von einem glucksenden Gurgeln, durch die Nacht gellt.

2

Das Vibrieren seines Telefons auf dem Nachttisch riss Berghaus aus seinem Alptraum. Schweiß rann an seiner Schläfe herab. Bettdecke und Kissen waren über den gesamten Schlafzimmerboden verstreut. Ihm war übel, und er fühlte sich zittrig. Wie in unzähligen Nächten zuvor wurde ihm schlagartig wieder klar, dass dieser Traum für immer seine Realität bleiben würde. Die zeitlupenartigen Bewegungen, die Träume mit sich brachten, waren tatsächlich passiert und hatten ihn gelähmt und apathisch zurückgelassen.

Der Anrufer war erbarmungslos. Berghaus griff nach dem Telefon, ohne auf das Display zu schauen. »Was?«, bellte er.

»Guten Morgen, Herr Hauptkommissar. Ich wusste, Sie würden diesen Anruf zu schätzen wissen.« Die kratzige Stimme von Kriminaldirektor Gerold Siebert war kaum hörbar, sogar im totenstillen Schlafzimmer. Zu viele ungefilterte Zigaretten hatten schon lange ihren Tribut gefordert.

»Morgen. Ich hoffe sehr, dass dies nicht der einzige freie Termin für ein Gespräch war.«

Siebert hatte schon bei der Volkspolizei der DDR als Kriminalist gearbeitet und unzählige Verbrechen aufgeklärt. Deshalb hatte er auch nach der Wende Karriere gemacht und war immer noch da, obwohl er schon das Rentenalter erreicht hatte. Offenbar war er unentbehrlich. Auch Siebert wusste, dass Berghaus einer der besten Ermittler im Freistaat war, trotz der Sache, die ihn so aus der Bahn geworfen hatte.

»Ich habe überlegt, ob ich Sie anrufen soll oder nicht. Wir haben einen Mordfall.«

»Und? Wieso rufen Sie mich an?« Berghaus setzte sich langsam auf. Er ahnte, dass sein Kopf diese Nacht nicht mehr das Kissen finden würde.

»Weil Sie immer noch auf der verdammten Gehaltsliste stehen. Sie sind ein Mordermittler, der eine wohlverdiente Pause bekommen hat – zu lange für meinen Geschmack –, und jetzt brauche ich Sie wieder an Bord.«

Wenn er provoziert wurde, schimmerten Sieberts frühe Jahre als DDR-Funktionär durch.

»Okay, aber Sie wissen schon, dass ich nicht mehr in der Nähe vom Dresdner Dezernat wohne, sondern zwei Stunden entfernt in den Bergen, wo der Schnee gerade bis zu den Fensterbrettern reicht?«

»Wie heißt dieses gottverlassene Dorf noch mal, wo Sie wohnen?«

»Crottendorf.«

»Perfekt. Dann sind Sie ja bereits vor Ort.« Siebert lachte höhnisch.

»Jemand wurde in diesem Dorf ermordet?« Plötzlich war Berghaus hellwach, sein Traum nur noch ein nebliger Fleck im Hinterkopf.

Er hatte Dresden und das Dezernat nach dem Vorfall mit der jungen Frau im Park vor ungefähr einem Jahr verlassen und seitdem nichts mehr mit Mordfällen zu tun gehabt – außer im Fernsehen oder in Büchern. Eine sehr beruhigende Erfahrung. Die einzigen Ereignisse, die hier seine Aufmerksamkeit verlangten, waren Kneipenschlägereien, weggelaufene Teenager, kleinere Autounfälle und Nachbarschaftsstreitigkeiten.

Berghaus war mit keinem seiner Kollegen in Kontakt geblieben, außer mit dem Kriminaldirektor, der ihn dazu ermutigt hatte, die Position als »Crottendorfer Dorfpolizist«, wie er es scherzhaft nannte, anzunehmen, nachdem der vorherige Wachtmeister Robert Mayer in Rente gegangen war und der Bürgermeister nach Ersatz suchte. Crottendorf und die umliegenden kleinen Städte und Dörfer waren vollkommen friedlich gewesen – zumindest bis jetzt.

Berghaus war sich nicht sicher, ob er für seine erste Leiche nach dem Vorfall im Park bereit war. Er atmete tief ein. Er hatte keine Wahl.

»Wo ist es passiert?«, fragte er vorsichtig.

»Mitten auf dem Marktplatz, wurde mir gesagt. Ihr zänkisches Bergvolk hat einen Sinn für Dramatik. Ich habe Kommissarin Anne Keller als Unterstützung geschickt. Sie braucht mal eine Luftveränderung, und sie hat schließlich Erfahrung mit merkwürdigen Kriminalfällen in abgelegenen Erzgebirgsdörfern. Immerhin hat sie letztes Jahr diese Kaltenhaide-Sache gelöst.«

»Ich komme auch ohne sie klar, danke. Und das ist nicht mein Bergvolk«, murmelte Berghaus.

Ausgerechnet Anne Keller. Er hasste ihre schnippische Art und ihr fehlendes Taktgefühl. Sie hatte immer das letzte Wort, wusste alles besser und stellte jede Anordnung ihrer Vorgesetzten in Frage. Kurzum – sie war eine Nervensäge.

Kaltenhaide, natürlich. Jeder kannte die Geschichte. Und Anne Keller band sie jedem auf die Nase, ob derjenige sie hören wollte oder nicht. Sie, die großartige Polizistin, die zwei geheimnisvolle Todesfälle in diesem abgelegenen Dorf auf dem Erzgebirgskamm aufgeklärt hatte – und dazu noch eine Mordserie aus der Nachkriegszeit. Danach war sie noch unerträglicher geworden. Aber das war noch nicht alles. Denn wer hatte ihr bei diesem Fall geholfen? Seine eigene Nichte Sascha – die merkwürdige Tochter seines ebenso merkwürdigen Halbbruders Jan. Anne Keller und Sascha Berghaus waren wohl befreundet – sofern das bei solchen verschrobenen Einzelgängern wie Anne und Sascha überhaupt möglich war. Vielleicht auch gerade deshalb.

Anne Keller, Sascha, Jan – genau die drei Menschen hier oben, mit denen er garantiert nichts zu tun haben wollte. Mit nur einem Anruf waren sie wieder da. Verflucht!

Gerold Siebert wusste das alles. Selbstverständlich wusste er das. Vielleicht genoss er es sogar. Aber er ließ sich nichts anmerken, sondern fuhr ungerührt fort. »Sollte aber noch eine gute Stunde dauern, bis Anne Keller bei Ihnen ankommt. Rufen Sie mich an, wenn Sie Neuigkeiten haben.« Dann war die Leitung stumm.

Berghaus stand auf, duschte und zog seine Skiunterwäsche und noch zwei Lagen warme Kleidung an. Dann sammelte er Kissen und Decken vom Boden auf und legte alles zurück aufs Bett. Sein Blick fiel auf das Schlafzimmerfenster, das zum Garten hinausging. Alles, was er jedoch sah, waren Dunkelheit und sein eigenes Spiegelbild. Das blasse, ovale Gesicht eines Mannes in seinen späten Dreißigern starrte zurück. Trotz der Müdigkeit hatte er keine Ringe unter seinen warmen, haselnussbraunen Augen. Die kurzen schwarzen Haare waren schnell frisiert. Mit den Fingern einmal durchfahren. Fertig. Heute verweilte seine Hand jedoch länger als sonst an der auffälligen, vier Zentimeter langen Narbe an seiner Schläfe – ein Andenken an den dornigen Strauch, in den er vor einem Jahr gefallen war.

Sein Blick blieb bei seinen von Natur aus breiten Schultern hängen, die in der dicken Kleidung noch kräftiger wirkten, so als würde er die Robe eines Tudor-Königs tragen.

Er atmete tief ein, ballte die Fäuste und richtete sich zu voller Größe auf. Sein ernster, entschlossener Blick drang tief hinaus in die mondlose Nacht. Er war unverwundbar. Doch ein sanftes Lächeln und die weichen Linien, die um die Mundwinkel spielten, verrieten auch eine andere Seite von ihm.

Gefrorene Erde, bedeckt mit ein, zwei Metern Schnee, lag draußen vor ihm – im Gegensatz zu vergangenem Jahr. Auch wenn er weder Erde noch Erinnerungen sehen konnte, wusste er, dass beides da war.

Damals hatte er einen Mord nicht verhindern können, dieses Jahr würde er einen aufklären.

Berghaus öffnete die Schlafzimmertür und trat in den Flur, der wie ein Innenbalkon gebaut war und das darunterliegende Wohnzimmer, den Essbereich und die offene Küche überblickte. Zu seiner Linken lagen drei weitere Schlafzimmer und ein Bad.

Als er vor fast einem Jahr in das Haus gezogen war, hatte er alle Innenwände abreißen lassen. Lediglich Säulen trugen das Gewicht des Gebäudes und kreierten so einen riesigen, offenen Wohnbereich. In kleinen Räumen oder bei niedrigen Decken fühlte er sich wie ein Tier im Käfig. Mit fast zwei Metern Körpergröße genoss Berghaus es, ungehindert in seinem Wohnbereich umherlaufen zu können, ohne sich durch zu niedrige Türrahmen ducken zu müssen.

Das Zentrum des Wohnzimmers nahm eine gemütliche, cremefarbene Couch voller Decken und Kissen ein. Der offene Kamin in der Ecke strahlte noch immer etwas Restwärme vom Vorabend aus. Hinter dem Sofa führte eine Terrassentür in den Garten und zu einem kleinen Sommerhäuschen sowie mehreren Schuppen, in denen sein Vorrat an Feuerholz lagerte. Hoffentlich komme ich damit durch den Winter, dachte er.

Die Wände waren elegant mit teuren Turner- und Monet-Repliken dekoriert. Berghaus war ein großer Kunst-Fan und selbst nicht ganz unbegabt. Die meisten seiner Gemälde lagerten noch im Haus seiner Mutter in Dresden, doch im Frühjahr würde er endlich einige holen und sie ins obere Schlafzimmer und sein Büro hängen – welches der einzige Raum im Erdgeschoss war, der eine Tür hatte, um neugierige Blicke von vertraulichen Dokumenten fernzuhalten.

Gleich neben seinem Arbeitszimmer befand sich eine hochmoderne Küche mit einer hellen Kochinsel aus Ahornholz, die er von einer ortsansässigen Firma hatte maßschneidern lassen.

So, wie Berghaus es liebte, Aufgaben in seinem Kopf zu organisieren, liebte er es, sein Haus sauber und aufgeräumt zu halten. Alles hatte seinen Platz. Ihm gefiel die einfache, asiatisch inspirierte Art, einen Wohnbereich zu möblieren, und seiner brachte ihm Beruhigung durch das minimale Interieur.

In dem Haus, das einst einer Uhrmacherfamilie gehört hatte, gab es ursprünglich eine Werkstatt im hinteren Teil und einen Ausstellungsraum auf der Vorderseite. Die einzigen Erinnerungsstücke aus dieser Zeit waren zwei große Frontfenster zur Straße hin. Berghaus hatte diese Fenster und seine ganze Wohnung mit Weihnachtsdekoration geschmückt, die sowohl einzigartig als auch traditionell in der Gegend war und nirgendwo sonst auf der Welt gefunden werden konnte.

Crottendorf war ein kleines, friedliches Dorf mitten im Erzgebirge. Die Grenze zu Böhmen verlief nur etwa zwanzig Kilometer entfernt. Obwohl die Region reich an Geschichte, Tradition und Kultur war, verließen viele junge Leute die Region, um Arbeit und ein breiteres Unterhaltungsprogramm in den größeren Städten zu finden. An Weihnachten jedoch erinnerten sich die Emigranten wieder an ihre Wurzeln und kehrten nach Hause zurück, an diesen magischen Ort, um ihre Kindheitserinnerungen aufleben zu lassen.

In langen Gesprächen hatte Berghaus von seinem Nachbarn, Richard Kunzmann, erfahren, dass Mineralien wie Silber, Zinn und Kupfer im Erzgebirge gefunden und gefördert worden waren, die Bergarbeiter von beiden Seiten der Grenze seit dem 14. Jahrhundert anzogen. Die Arbeitsbedingungen waren hart gewesen. Die Arbeit in langen Schichten für niedrigen Lohn bedeutete, dass die Bergarbeiter frühmorgens ins Bergwerk einfuhren, wenn es draußen noch dunkel war, und es erst spätabends wieder verließen, nachdem die Sonne schon längst am Horizont untergegangen war. Um ihnen wenigstens etwas Licht und Helligkeit auf dem Heimweg zu geben, fertigten die Menschen damals in Handarbeit hölzerne Bögen, mit Kerzen besetzt, an und stellten sie in ihre Fenster.

Der Bogen ist sowohl ein Symbol für den Eingang ins Bergwerk als auch Quell der Geborgenheit und des Lichts in der dunklen Zeit des Jahres und zeigt typische Szenen des Bergarbeiterlebens in Holz geschnitzt. Diese Tradition wurde am Leben erhalten, die Kerzen mit Glühbirnen ersetzt, und alle Bewohner des Erzgebirges stellten vom ersten Advent bis Anfang Februar stolz ihre Schwibbögen in jedes Fenster, die die Dörfer in ein sanftes und beruhigendes orangefarbenes Licht tauchten.

Zu Beginn war Berghaus diesem Brauch gegenüber äußerst skeptisch gewesen, nicht nur, weil er als Neuling Schwibbögen für ungefähr zwanzig Fenster kaufen musste – eine sehr teure Tradition, wie sich herausstellte –, sondern auch, weil er keinen Nutzen sehen konnte. Seit er hier wohnte, war kein einziger Bergmann vor seinem Fenster vorbeigezogen.

Doch jeden Tag, wenn sein Haus wie ein Signalfeuer im dunklen Winter erstrahlte, beruhigte ihn das warme, wohlige Licht und löste etwas von seiner Beklommenheit, die er immer noch bei einsetzender Dunkelheit verspürte. Seit der verhängnisvollen Nacht wurde er dieses Gefühl einer sich anbahnenden unsichtbaren Bedrohung nicht mehr los, und mittlerweile freute er sich jeden Abend darauf, stolz seine Schwibbögen einzuschalten – definitiv ein Grund, dieses Dorf in naher Zukunft nicht mehr zu verlassen.

Jetzt lag das Haus dunkel und still vor ihm. Vom Flur schlich er auf Zehenspitzen die breite Treppe hinunter. An der Tür zog er seinen marineblauen Parka, Winterstiefel, Mütze und Handschuhe an und hinterließ eine Notiz für Anica auf dem Küchentisch, falls er noch nicht zurück war, wenn sie aufstand. Sein Magen fühlte sich nach dem Traum noch immer wie umgerührt an, deshalb verließ er das Haus ohne Frühstück.

In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte es durchgehend geschneit, doch nun tanzten nur noch ein paar vereinzelte Flocken friedlich im Schein der Straßenlampe. Als Berghaus die Tür öffnete, wirbelten mindestens zehn Zentimeter flockiger Schnee herein. Langsam hatte er es satt, sich mehrere Male am Tag von dem weißen Pulver freischaufeln zu müssen, zumal ihm alle Schneeberge, die er irgendwo auf seinem Grundstück gebaut hatte, längst über den Kopf gewachsen waren.

Die eisige Luft roch nach Winter und Fichten, und obwohl er in einen dicken Winterparka eingepackt war, fühlte er die beißende Erzgebirgskälte auf seiner Haut. Sein Atem waberte in winzigen Tröpfchen durch die klare Luft.

Der Crottendorfer Marktplatz, wo der Mord geschehen sein sollte, befand sich gleich am Ende »seiner« kleinen verlassenen Gasse. Berghaus war sich nicht sicher, was ihn erwartete, sobald er um die Ecke des Elektroladens bog, und ballte seine Hände in den Handschuhen zu Fäusten.

Was auch immer kam, er war gewappnet.

3

Riesige Scheinwerfer erleuchteten den kleinen Marktplatz, auf dem gut ein Dutzend Menschen hektisch umherliefen. Ob sie sich nur warm halten wollten oder ob es mit ihrem Job zu tun hatte, ließ sich nur schwer erahnen. In der Mitte des Platzes thronte das Herzstück des Dorfes – die dreistöckige, sich drehende Weihnachtspyramide, ein weiteres Relikt aus der Geschichte des Erzgebirges. Am Sonntag vor Weihnachten würde sich der Kirchenchor dort versammeln und Weihnachtslieder singen, während der Schein der Pyramide die Besucher in ein sanftes Licht tauchte. Jetzt war das Licht aus, und die Pyramide stand still, trotzdem war es genau der Ort, an dem sich alle versammelt hatten.

Berghaus erkannte die Polizisten aus Annaberg, der am nächsten gelegenen Dienststelle. Einige andere Gesichter aus dem Dorf kamen ihm auch bekannt vor, aber er konnte sie nicht zuordnen. Sie sahen alle gleich aus mit ihren handgestrickten, tief ins Gesicht gezogenen Mützen.

Eine Person, die er jedoch sofort erkannte, war der pensionierte Wachtmeister Robert Mayer – ein beleibter Mann mit rundem Gesicht und Doppelkinn.

Berghaus bahnte sich einen Weg durch die Menge. Er duckte sich unter dem leicht flatternden rot-weißen Absperrband hindurch und blickte langsam an der Weihnachtspyramide empor.

Was er sah, ließ ihm den Atem stocken, doch gleichzeitig durchflutete ihn ein seltsam angenehmes, in Vergessenheit geratenes Gefühl von Autorität und Kontrolle. Die Ermittlungen lagen nun in seiner Hand.

Berghaus wandte sich fragend an Mayer. »Wer ist er?«

»Emil Wilhelm«, antwortete Mayer knapp, ohne dabei aufzuschauen.

Ein junger Polizist näherte sich Berghaus vorsichtig. »Uns wurde gesagt, wir sollen auf Sie warten. Bis jetzt haben wir nur den Platz abgesperrt und die Spurensicherung und die Gerichtsmedizin angerufen.«

Berghaus wandte sich um zu der kleinen Menschentraube, und die Geschäftigkeit verstummte. In solchen Situationen war seine Größe definitiv von Vorteil.

»Mein Name ist Hauptkommissar Alexander Berghaus, und ich bin der leitende Ermittler in diesem Mordfall. Wer hat die Leiche gefunden?«

Ein junger Kerl in dünnen weißen Hosen und einer grauen, abgewetzten Winterjacke trat vor. Berghaus musterte ihn. »Und du bist …?«

»Daniel.«

Berghaus schaute ihn fragend an.

»Reiser.«

»Was machst du um die Uhrzeit hier draußen?«

»Bäckerlehrling.«

»Wo wohnst du, Daniel?«

»Apotheke.«

Berghaus konnte diese einsilbigen Antworten nicht ausstehen – eine Unsitte der jungen Generation. »Und du arbeitest in der Bäckerei im Oberdorf?«

»Gibt’s noch eine?«

Berghaus beugte sich zu ihm hinunter. »Hör zu, ich weiß, du hattest dir sicher einen anderen Start in den Tag vorgestellt, und es tut mir leid, dass du das hier sehen musstest, aber entweder beantwortest du meine Fragen ein bisschen ausführlicher, oder ich nehme dich mit aufs Revier. Du hast die Wahl.«

Der Junge kaute auf seiner Unterlippe. »Ich gehe immer um zwei Uhr fünfundvierzig aus dem Haus und laufe über den Marktplatz hoch zur Bäckerei. Aber heute war es irgendwie … anders. Als ob mich jemand beobachtet. Und als ich nach oben schaute, habe ich … das da gesehen.« Er gestikulierte wild in Richtung Pyramide.

»Okay. Als du ihn gesehen hast, was hast du gemacht?«

Der Junge trat unbehaglich auf der Stelle und schob mit seinem Fuß etwas Schnee beiseite. Berghaus legte seine große Hand beruhigend auf Daniels dünne Schulter. »Ich an deiner Stelle hätte mich zu Tode erschrocken.«

Der Junge nickte. »Es war so unheimlich still. Ich bin nach Hause gerannt und habe meinen Vater geweckt. Er hat die Polizei gerufen.«

»Denk bitte genau nach, Daniel – als du auf den Marktplatz gekommen bist, hast du irgendjemanden gesehen oder gehört?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, da war nichts. Es war totenstill.«

»Gab es Fußspuren oder Reifenspuren im Schnee?«, drängte Berghaus.

Aber wieder schüttelte der Junge den Kopf. »Es hat die ganze Nacht geschneit. Da waren keine Spuren.«

»Okay. Geh bitte zu dem Polizisten dort drüben und sag ihm, wie wir dich erreichen können. Dann kannst du gehen.«

Der Junge nickte und trottete davon.

Zwei schwarze Wagen und ein Minivan hielten hinter der Absperrung. Berghaus ging hinüber, um das Team der Spurensicherung aus Annaberg und die Rechtsmedizinerin Laura Licht zu begrüßen.

Sie war eine Frau mittleren Alters und hatte ihr kurzes blondes Haar unter einer leuchtend roten Strickmütze versteckt. Damit war sie zwischen all den dunkel gekleideten Polizisten einfach auszumachen. Berghaus hatte bereits einige Male in der Vergangenheit mit ihr zusammengearbeitet, und sie umarmten sich freundschaftlich.

Die obligatorischen weißen Plastikoveralls wurden herumgereicht. Berghaus drückte Mayer einen in die Hand. »Du kanntest ihn. Ich hätte gern deine Meinung dazu.«

Zusammen standen sie nun vor der dreistöckigen Pyramide und ließen den Blick von oben nach unten schweifen. Das oberste Stockwerk beheimatete aus Holz gefertigte Waldtiere wie Eichhörnchen, Rehe und Hirsche. Aus der mittleren Etage schauten Bergleute, die Hämmer, Schlägel und Erze trugen, fragend auf sie herab. Und im untersten Stockwerk standen etwa einen Meter große holzgeschnitzte Figuren, die verschiedene Berufsgruppen aus einer vergangenen Zeit darstellten. Die Farbe an den Figuren war verblichen und blättrig.

Zwischen ihnen kauerte eine gekrümmte menschliche Gestalt, die Knie gebeugt, das Gesäß auf die Fersen gestützt. Schnee hatte ihn wie eine Decke umhüllt und ihm eine Zipfelmütze aufgesetzt. Er trug keine Winterkleidung, nur ein Paar Turnschuhe, eine schwarze Jogginghose und ein dünnes graues Oberteil. Der Mann saß zusammengesackt zwischen einem Jäger mit seinem Hund und einem Nachtwächter. Der Kopf lehnte an den Knien des Nachtwächters, der finster auf ihn herabblickte.

Berghaus konnte auch die Umrisse eines Holzfällers, eines Pilzsammlers und eines Hirten ausmachen. Es schien fast so, als ob sie alle neugierig die bemitleidenswerte, deplatzierte menschliche Figur musterten, deren Augen weit aufgerissen und voller Entsetzen waren. Die Kälte hatte dem eingefallenen Gesicht bereits einen hellbläulichen Teint verliehen. Dünnes, glanzloses graues Haar umrahmte es. Die Hände lagen gefaltet im Schoß, als ob er den Nachtwächter um Gnade bitten wollte. Dieser hielt jedoch unnachgiebig seine Hellebarde und seine Lampe fest.

Berghaus, Mayer und die Rechtsmedizinerin schauten auf das gefrorene Bündel, das auf Augenhöhe kniete, während die Spurensicherung geduldig im Hintergrund auf ihren Einsatz wartete.

»Was ist das?« Berghaus deutete auf ein schimmerndes Metallstück mit einem pistolenartigen Griff, das aus der Brust des Opfers ragte. Ein dunkelroter, fast schwarzer, kreisförmiger Fleck aus gefrorenem Blut hatte das graue Shirt befleckt.

»Sieht nach einem halben Degen aus«, antwortete Mayer, der die Stirn in Falten gelegt hatte.

»Ein halber Degen?«, fragte Berghaus ungläubig. »Was meinst du damit?«

»Der Degen ist eine Waffe beim Fechten … dem Sport. Normalerweise ist er gut einen Meter lang. Das hier sieht nach einem abgebrochenen Degen aus. Das Opfer weist keine Austrittswunde am Rücken auf«, erklärte Mayer.

»Sehr gut, das sieht nach einem einfachen Fall aus. Du musst nur jemanden finden, der eine Verbindung zum Fechtsport hat«, sagte Laura, die abwechselnd zu Berghaus und Mayer schaute.

»Na ja«, begann Mayer langsam, »so einfach ist es nun auch wieder nicht. Es gibt einen Fechtclub kurz hinter der Grenze. Die Leute aus Böhmen sind begeisterte und recht erfolgreiche Fechter. Einige aus unserem Dorf haben in ihrer Jugend auch gefochten, bis unser Club geschlossen wurde. Und dann ist da natürlich noch Deckert.«

»Stimmt«, antwortete Berghaus nachdenklich. »Was macht er genau?«

»Vincent Deckert fertigt Teile, die für einen Degen benötigt werden«, antwortete Mayer.

Berghaus hielt seinen Blick fest auf ihn gerichtet, damit er fortfuhr.

»Ich habe selbst nie gefochten, deshalb kenne ich die Details nicht, aber Vincent produziert Teile für die bewegliche Spitze, die in einer Hülse eingefasst ist.«

»Gehört ihm das Industriegebäude an der Hauptstraße nach Scheibenberg?«, fragte Berghaus.

Mayer nickte. »Er beschäftigt um die dreißig Leute und verkauft an Hersteller von Fechtausrüstungen weltweit.«

»Okay, danke«, sagte Berghaus und wandte sich an Laura. »Was kannst du mir über Todeszeit und -ursache erzählen?«

»Auf den ersten Blick würde ich sagen, dass der Degen in seine Brust gerammt wurde, vielleicht mitten ins Herz. Das kann ich aber erst später bestätigen. Es sieht so aus, als wäre er nicht wieder herausgezogen worden – ein Stoß muss wohl gereicht haben, um ihn zu töten. Das war ein langsamer und grausamer Tod. Er hat sich nicht weiter gewehrt. Es gibt keine Kratzspuren auf seiner Haut oder an den Fingernägeln, und er hat keine anderen offensichtlichen Verletzungen. Er hat auch nicht selbst versucht, den Degen wieder herauszuziehen. An seinen Händen ist kein Blut. So wie sie im Schoß gefaltet liegen, hat er sein Schicksal akzeptiert. Die Todeszeit kann ich aufgrund der Auffindesituation und seines körperlichen Zustands nur grob schätzen. So etwa zwischen einundzwanzig und zwei Uhr nachts. Genauer eingrenzen kann ich es, wenn er auf meinem Obduktionstisch liegt und wieder aufgetaut ist. Wäre es möglich«, begann Laura und wandte sich an Berghaus, »den Degen in der Leiche zu lassen? So, wie er gerade ist? Ich würde mir die Einstichstelle gern genauer ansehen, bevor er herausgezogen wird.«

»Natürlich«, antwortete Berghaus.

Ein roter Mini kam schlitternd hinter den anderen Polizeiwagen zum Stehen, während laute Musik aus den Boxen dröhnte. Berghaus schaute gen Himmel und fragte sich, welch grausames Verbrechen er in letzter Zeit begangen hatte, um mit Anne Keller bestraft zu werden. Siebert wollte höchstwahrscheinlich die Überbleibsel seiner ermittlungstechnischen Fähigkeiten und seiner Geduld nach der einjährigen Abwesenheit vom Morddezernat testen.

In der Vergangenheit hatte er mit Keller zusammen mehrere Fälle erfolgreich gelöst, hauptsächlich weil er von Siebert dazu gezwungen worden war, doch ihre hochnäsige Art und ihre Sturheit hatten ihn mehrmals die Wände hochgehen lassen.

»Sie braucht eine Luftveränderung« waren die Worte des Kriminaldirektors gewesen, was wohl eher »Die gesamte Belegschaft hier hat die Nase voll von ihr, jetzt bist du dran« bedeuten sollte.

Siebert und Keller auf der anderen Seite verstanden sich glänzend – vor allem weil beide einen Großteil ihrer Jugend damit verbracht hatten, in den Straßen Dresdens abzuhängen, und so in Kontakt mit Drogen, Alkohol und dem Gesetz gekommen waren. Letztendlich war es Siebert gewesen, der Keller unter seine Fittiche genommen, sie zur Polizeiakademie geschickt und ihr einen Job im Kriminalamt gegeben hatte. Jedoch nicht einmal der allmächtige Gerold Siebert konnte seinen Schützling ständig unter Kontrolle halten. Immer dann, wenn er mit seinem Latein am Ende war, schickte er sie in Uniform auf die Straße, um den Verkehr zu regeln.

Kommissarin Keller blieb jemand, mit dem man nur schwer zusammenarbeiten konnte und der kein Blatt vor den Mund nahm. Trotzdem war sie eine der brillantesten Ermittler und Beobachter in der gesamten Abteilung, was vermutlich der einzige Grund war, der ihr Bleiben rechtfertigte. Wegen ihres unsympathischen Auftretens wurde sie von vielen ignoriert, was sie aber oft in die Lage versetzte, ungestört wesentliche Details wahrzunehmen, die sonst unbemerkt geblieben wären.

Berghaus spürte, dass seine Geduld heute bereits zum zweiten Mal auf die Probe gestellt werden würde, noch bevor die Sonne ihre ersten sanften Strahlen über den Kamm des Erzgebirges werfen konnte.

Keller stieg aus ihrem Auto und stürmte an Berghaus vorbei.

Sie war Anfang dreißig und stilvoll gekleidet in eine schwarze Thermohose, beigefarbene Schaf-Fellstiefel und einen roten Parka, dessen Kapuze mit dickem künstlichem Fell eingefasst war. Ihr langes schwarzes Haar trug sie unter einer grau, pink und weiß gestreiften Mütze mit Fellbommel. Siebert hatte sie anscheinend über die Witterungsbedingungen informiert.

Mit den Händen in den Taschen bahnte sie sich grußlos ihren Weg durch die Polizisten und das Team der Spurensicherung. Sie hielt kurz vor der Pyramide inne und schaute auf die Leiche – ohne jegliches Zeichen von Unbehagen.

Berghaus war ihr stillschweigend gefolgt und stand direkt hinter ihr, als sie sich umdrehte, um in die Richtung zurückzustürmen, aus der sie gekommen war. Beinahe wäre sie mit ihm zusammengeprallt. Sie starrte ihn an, und zum ersten Mal sah Berghaus in ihrem Gesicht die blanke Sprachlosigkeit – einen Moment, den er nie vergessen würde.

Sie war mehr als einen Kopf kleiner und von schlanker, sportlicher Statur. Ihr Gesicht hatte sich nicht viel verändert seit ihrem letzten Treffen, und er musste insgeheim zugeben, dass sie immer noch makellos, wenngleich ein bisschen blass, aussah. Oberhalb des Mundes, der für viele Jahre nur wenig zu lachen gehabt hatte, zeichneten sich ihre Wangenknochen deutlich ab.

Nachdem sie Berghaus erstaunt zweimal von oben bis unten gemustert hatte, blickten ihre grünen, fast katzenartigen Augen in seine. Er wusste genau, was sie dachte; es waren die gleichen Gedanken, die alle hatten, die ihm seit einer Weile nicht mehr begegnet waren.

»Guten Morgen, Kommissarin Keller, und willkommen in Crottendorf!«

»Es ist wohl kaum ein guter Morgen, wenn man um drei Uhr nachts aus dem Bett gejagt und mitten in die Pampa geschickt wird. Ich bin überrascht, dass das Navi dieses gottverlassene Kaff überhaupt gefunden hat.«

Sein geheimer Wunsch, dass sie vielleicht ihre grundsätzlich negative Einstellung zu allem überwunden und sich mental verändert hatte – so, wie er sich physisch verändert hatte –, zerplatzte wie eine Seifenblase. Berghaus seufzte und wollte sich gerade umdrehen, als er ihre Hand auf seinem Rücken spürte.

»Du«, sagte sie langsam. »Sie … Ich meine …« Sie schüttelte den Kopf. »Was haben wir hier?«

Sie wandten sich zur Pyramide um, und Berghaus erklärte, was er bisher erfahren hatte – eine gleichzeitige Zusammenfassung für seine gedankliche Checkliste. »Ein Bäckerlehrling hat die Leiche auf dem Weg zur Arbeit gefunden und Alarm geschlagen. Sonst hat er am Tatort niemanden gesehen, und der Schneefall hatte bei seinem Eintreffen bereits alle Spuren verwischt. Der pensionierte Wachtmeister Robert Mayer kennt das Opfer unter dem Namen Emil Wilhelm – ein Dorfbewohner.«

Während Berghaus erzählte, dass Siebert ihn beauftragt habe, die Ermittlungen zu leiten, weil er im Ort wohne, zog Keller die Augenbrauen nach oben.

»Lass uns das Opfer anschauen.« Als Berghaus in Richtung der gefrorenen Leiche deutete, zerriss ein knarrendes Geräusch den frühen Morgen, und die Pyramide erwachte zum Leben. Von einer Etage zur nächsten flackerten die Lichter auf, dann setzte sich die Pyramide langsam in Bewegung, wie von Geisterhand geschoben.

»Soll ich mitlaufen oder warten und jedes Mal, wenn er vorbeikommt, genau hinsehen?«, fragte Keller trocken.

Berghaus drehte sich um und schrie: »Wer war das? Haltet sofort dieses verdammte Ding an! Wir verlieren die letzten Spuren, falls es je welche gegeben hat!«

Mayer rannte zur Stromversorgung, die hinter einem Busch versteckt war, und drückte den roten Not-Aus-Knopf. Sofort erloschen alle Lichter, und ihr Opfer beendete seine letzte Karussellrunde auf der gegenüberliegenden Seite.

»Entschuldigung«, schrie Mayer zurück, »sie geht immer um fünf Uhr morgens an.«

»Sehr professionell hier«, schnaubte Keller.

Berghaus überlegte kurz, ob er den Auftrag an Siebert zurückgeben und Dorfpolizist bleiben sollte, bis es Zeit für die Pensionierung war. Aber in seinem jugendlichen Alter von neununddreißig Jahren und mit seinem teuren Lebensstil war das leider keine Option.

Sie stapften vorsichtig durch den Schnee, und er zeigte Keller die Stelle, an der ein abgebrochener Degen Emil Wilhelms Brust durchbohrt hatte.

Ihre Augen flogen über die Leiche, die Mordwaffe, die Pyramide, die Umgebung. Sie selbst blieb stumm. Nach einer weiteren Minute sah sie Berghaus an. »Und jetzt?«

»Was hältst du hiervon?«, fragte er und deutete zum Tatort.

»Sieht so aus, als hätte ihm jemand einen Degen ins Herz gerammt und ihn auf dieses Karussell gesetzt für eine letzte Runde Spaß. Er sieht nicht gerade aus, als hätte er viel Spaß in seinem Leben gehabt.«

Berghaus spürte den unbändigen Drang, Keller zu packen, sie in ihren bestimmt noch warmen Mini zu stecken, ihr einen kurzen Vortrag über die Würde der Toten zu halten und sie nach Dresden zurückzuschicken. Stattdessen presste er seine Lippen so fest zusammen, dass seine Zähne in das Fleisch schnitten.

Keller musste die bevorstehende Verwarnung gespürt haben und lenkte ein. »Ich denke, jemand hat ihn mit einem Auto oder einem Schlitten hergebracht, weil er offensichtlich nicht hier ermordet wurde. Und diese Person oder vielleicht auch zwei haben ihn auf die Weihnachtspyramide gehievt. Das erforderte garantiert Kraft. Wir suchen also nach einem eher starken Täter. Außerdem wurde das Opfer hier drapiert. Jeder sollte ihn sehen. Der Mörder wollte das Verbrechen nicht vertuschen, was bedeutet, dass es ihm nicht leidtut und auch sicherlich kein Unfall war. Und es sieht so aus, als hätte das Opfer nicht vorgehabt, nach draußen zu gehen. Er trägt keine Winterkleidung.«

»Gut«, nickte Berghaus, während sein Blutdruck langsam sank. »Ich möchte, dass du die Arbeit der Spurensicherung überwachst. Danach fragst du die Leute in den umliegenden Häusern, ob sie irgendetwas gesehen oder gehört haben. Dann kommst du ins Polizeirevier nach Annaberg. Ich organisiere uns ein Büro. Erstell bitte ein tiefgründiges Profil von Emil Wilhelm. Ich werde in der Zwischenzeit sehen, was Robert Mayer über das Opfer weiß, und dessen Haus mit ihm durchsuchen. Wir treffen uns auf dem Revier.«

Sie sah ihn nicht an, sie sah überhaupt kaum jemanden an.

Berghaus wartete kurz auf eine Reaktion, doch als keine kam, drehte er sich um und begann, nach Mayer zu suchen.

»Was wissen wir über Emil Wilhelm?«, fragte Berghaus den ehemaligen Dorfpolizisten.

»Nicht viel. Er ist vor ungefähr zwei Jahren hergezogen. Lebte am Waldrand in der Hütte mit dem kleinen See davor.«

»Allein?«

»Er hat in meiner Gegenwart nie eine Frau oder Kinder erwähnt. Er blieb für sich, sprach kaum mit jemandem. Kam nur ins Dorf, um die Lebensmittel zu kaufen, die er nicht jagen oder im Wald sammeln konnte.«

»Wie hat er seinen Lebensunterhalt verdient?«

»Kann ich dir nicht sagen. Hab nur ein paarmal mit ihm gesprochen. Er hat erzählt, er hätte einige Zeit in Afrika verbracht. Hier hat er sicher nicht gearbeitet. Als Wachtmeister war ich verantwortlich für die Sicherheit und das Wohlbefinden der Einwohner. Hab alles in Ordnung gehalten. Wilhelm störte niemanden und stiftete keine Unruhe, deshalb habe ich ihn seiner Wege gehen lassen. Wenn er allein sein wollte, dann sollte es so sein.«

»Hatte jemand einen Groll gegen ihn?«

»Wie schon gesagt, er hat niemanden belästigt. Zumindest ist mir nichts bekannt.«

Nachdenklich strich Berghaus über die Narbe an seiner Schläfe. Sie war die einzig sichtbare Erinnerung an den Vorfall auf dem Spielplatz.

Mayer drehte sich zu ihm. »Was willst du als Nächstes tun?«

»Ich werde mir Wilhelms Hütte ansehen. Mal schauen, ob ich mehr über ihn herausfinden kann. Warum ist er hergekommen, mit wem war er in Kontakt?«

»Dann holst du wohl besser deine Skier raus«, antwortete Mayer.

Das Gelände und das Wetter machten die Ermittlungen nicht gerade einfacher, dachte Berghaus düster.

»Ich kann den Winterdienst anrufen, damit sie die Straße für uns räumen«, bot Mayer an.

»Bitte tu das. Ich muss vorher noch ein paar Telefonate führen. Treffen wir uns wieder hier, sagen wir, in einer halben Stunde?«

»In Ordnung.« Und damit verließ Mayer schlurfend den Marktplatz.

4

Ein lautes Grollen wie entfernter Donner kündigte die Ankunft des Winterdiensts in Form eines riesigen orangefarbenen Schneepflugs an, der Salz und Kies wie ein wütender Drache in alle Richtungen spuckte. Mayer und Berghaus quetschten sich auf den Beifahrersitz neben einen mürrisch dreinblickenden Fahrer.

»Räumen Sie normalerweise die Straße zur Hütte im Wald?«, brüllte Berghaus über den Lärm.

»Nur jeden zweiten Tag. Die Straße bis zur Abzweigung räume ich zweimal täglich. Dann biege ich Richtung Scheibenberg ab. Bis zur Hütte führt nur ein Schotterweg.«

»Könnten Sie den Schotterweg bitte bis auf Weiteres frei halten? Die Hütte muss für uns leicht zugänglich sein.«

Der Fahrer nickte widerwillig. Sie rumpelten einen kleinen Hügel hinauf und ließen die letzten Häuser von Crottendorf hinter sich. Zu ihrer Linken tauchte ein schneebedecktes Feld auf, auf dem sich ein einsamer Skilangläufer langsam, aber stetig nach oben schob.

Plötzlich erinnerte sich Berghaus, dass er Anica versprochen hatte, diese Woche zusammen im Wald langlaufen zu gehen. Er fragte sich, wohin ihn dieser Fall noch führen und ob er genug Zeit finden würde, sein Versprechen zu halten.

Zu ihrer Rechten befanden sich quadratisch geschnittene Gärten mit kleinen Gartenhäusern und Hollywoodschaukeln. Alles war von einer unberührten Schneedecke überzogen. Eine einsame Piratenflagge auf einem Baumhaus wehte leicht im Wind. Berghaus spürte einen heftigen Stich in seiner Brust, als er die schwarze Flagge sah. Sein Puls stieg schlagartig, und er wand sich in seinem Sitz. Langsam atmen. Wie es in den Therapiestunden gelehrt worden war, die er nach dem Vorfall im Park bekommen hatte. Es war die gleiche Flagge, die in jener Nacht an dem Piratenschiff gehangen hatte.

Sie ließen die Gärten hinter sich. Der Schnee auf der nun von kahlen Pappeln und Birken gesäumten Straße lag kniehoch, und der Pflug begann, sich seinen Weg zur Hütte zu bahnen.

»Wie ist Wilhelm zur Hütte gelangt?«, schrie Berghaus Richtung Mayer.

»Er hatte kein Auto. Benutzte einen Schlitten im Winter und sonst einen Handwagen, wenn er etwas zu transportieren hatte. Oder er ist mit Schneeschuhen ins Dorf getrottet.«

Sie hielten vor einer windschiefen Holzhütte, die nicht viel größer war als die Gartenhäuschen, an denen sie gerade vorbeigefahren waren. Einige hohe Fichten und Kiefern umgaben das Gelände. Teile des braunen Anstrichs hatten sich in großen Flocken gelöst, aber die weiße Farbe in den Fensterlaibungen schien relativ frisch. Feuerholz lag auf beiden Seiten hoch aufgestapelt, ein Hackstock stand in der Nähe. Hinter dem Haus waren Wäscheleinen zwischen Pfosten gespannt.

Berghaus trat näher. Zwei tote Hasen baumelten von der Leine. Gehäutet und ausgenommen. Mit der Schuhspitze schob er etwas Schnee beiseite und fand dunkelrote Flecken.

Der Teich zu seiner Rechten war fast so groß wie ein Fußballfeld und zugefroren. Ein kleines Boot lag umgedreht neben einem löchrigen Anlegesteg.

»Das Boot hat er zum Fischen benutzt.« Mayer trat neben ihn.

»Warst du oft hier?«, fragte Berghaus.

»Nein. Nur ein paarmal, um nach ihm zu sehen, ob es ihm gut geht und er keine Schwierigkeiten macht.«

»Du hattest die Absicht, den Frieden im Dorf zu wahren, richtig?«

Berghaus lächelte, aber Mayer zuckte nur mit den Schulten. »Wer nicht?«

»Warst du schon mal in der Hütte?«

»Nein. Hab ihn immer draußen getroffen.«

Sie bahnten sich ihren Weg durch den Neuschnee zum Eingang der Hütte. Eine Schaufel lehnte neben der Tür.

»Er ist definitiv letzte Nacht umgebracht worden. Die toten Hasen scheinen von gestern zu sein, und der Schnee ist auch geräumt worden«, sagte Berghaus, eher um das Gesehene für sich selbst zusammenzufassen als für Mayer.

Es war nach neun Uhr, und ein milchig trüber Winterhimmel hing über ihnen, der sie in ein fahles Licht tauchte. Dort, wo genug Sonne auf den Boden fiel, glitzerte der Schnee, was das sonst kahle Feld lebendig erscheinen ließ.

Berghaus drückte den braunen Griff der Eingangstür fest nach unten. Die Tür schwang knarrend auf. Innen war es wärmer als erwartet, und der Geruch eines heruntergebrannten Feuers hing noch in der Luft. Ohne es zuvor besprochen zu haben, schlugen die beiden Männer unterschiedliche Richtungen ein.

Zu Berghaus’ Rechter lag ein winziges, aber sauberes Badezimmer mit Toilette und Waschbecken, doch ohne Dusche oder Wanne, vermutlich hatte der See die beiden Letzteren im Sommer ersetzt. Weiter drinnen gab es nur noch zwei kleine Räume. Alte, vergilbte Tapete löste sich überall von den Wänden. Der erste Raum war die Küche, die mit einem kleinen Herd, an dem einige Töpfe und Pfannen hingen, einer Spüle mit schmutzigem Geschirr, einem Kühlschrank und einem Gefrierschrank ausgestattet war. Berghaus öffnete ihn und fand eingefrorene Fleischstücke, alle fein säuberlich beschriftet mit Inhalt und Jagddatum. Die Lücke zwischen Reh und Wildschwein war sicher für die beiden Hasen, die noch draußen an der frischen Luft hingen, reserviert gewesen.

Es gab keine Anzeichen eines Kampfes oder irgendwelche anderen offensichtlichen Spuren eines Einbruchs. Und nirgends war Blut.

Im anderen Zimmer war Mayer so vertieft darin, in dem kleinen Bücherregal zu stöbern, dass er nicht hörte, wie Berghaus eintrat. Als dieser sich räusperte, zuckte Mayer erschrocken zusammen.

»Was hast du Interessantes gefunden?«, fragte Berghaus, als er die Verwirrung in Mayers Gesicht sah.

»Was? Nein – ich jage selbst und … na ja, er hat ein paar großartige Bücher hier.« Mayer deutete in Richtung des Bücherregals. »Ich habe mich gefragt, ob ich vielleicht ein oder zwei davon ausleihen könnte.« Er errötete leicht und hielt Berghaus ein Buch unter die Nase.

»Wirf einen Blick in seine Gefriertruhe.« Berghaus nickte ermutigend in Richtung Küche, und Mayer huschte schnell an ihm vorbei.

Das Wohnzimmer bestand aus einem Bett mit gesteppter Überdecke, einer Topfpflanze, einem Kleiderschrank, in dem der Geruch von getragener Kleidung mit abgestandener Luft konkurrierte, dem Bücherregal und einem alten, aber äußerst bequem aussehenden Sessel. Ein offenes Buch lag auf einem umgedrehten Bierkasten daneben. Wilhelm hatte sich keinen Fernseher, kein Radio, kein Telefon oder irgendwelche anderen elektronischen Geräte geleistet.

Was hatte ihn dazu getrieben, ein so einfaches und abgeschiedenes Leben zu führen? Oder hatte er es sich schlicht so ausgesucht?

Berghaus rief Keller an und erzählte ihr von seinen Beobachtungen in der Hütte. Das schmutzige Geschirr in der Spüle, das offene Buch neben dem Sessel, das noch frisch gemachte Bett – alles sah danach aus, als ob Wilhelms Mörder während seines normalen Abendablaufes plötzlich aufgetaucht war. Es gab keine offensichtlichen Zeichen eines gewaltsamen Eindringens. Vielleicht hatte Wilhelm die Tür geöffnet und war dann aber nie nach drinnen zurückgekehrt, um seine Winterjacke oder seine Stiefel zu holen, die immer noch neben dem Ofen zum Trocknen standen.

Keller hörte ruhig zu, bis er fertig war, und fragte lediglich, ob Mayer noch bei ihm sei und warum er jemanden, den er kaum kannte, zu einem möglichen Tatort mitnahm.

Berghaus entgegnete, ob das der einzige Kommentar sei, den sie machen wolle, und als die Leitung still blieb, teilte er ihr gereizt mit, dass er seine Art, Informationen zu sammeln, weder jetzt noch zu einem anderen Zeitpunkt mit ihr diskutieren werde. Sie solle schnellstmöglich die Spurensicherung zur Hütte schicken.

Berghaus konnte keine sichtbaren Blutspuren auf dem Boden oder am Mobiliar ausmachen, doch er hatte ohnehin den starken Verdacht, dass Wilhelm eher in der näheren Umgebung ermordet worden war als in der Hütte. Sein Blick fiel auf ein kleines Foto, das auf dem Boden lag. Es musste aus einem Buch gefallen sein, als Mayer nach neuen Jagdtechniken gesucht hatte.

Das Bild zeigte einen Mann, der die Hand eines kleinen Kindes hielt. Berghaus konnte nicht erkennen, ob das Kind ein Junge oder ein Mädchen war, weil das Paar von hinten fotografiert worden war und die Schwarz-Weiß-Auflösung ihr Übriges tat. Doch er erkannte, was sich im Hintergrund neben einem riesigen Berg Schnee befand. Während der Mann zur Dorfpyramide emporschaute, deutete er auf die hölzernen Waldtiere, die auf der obersten Etage der Pyramide Platz genommen hatten.

Berghaus steckte das Bild in seinen Parka. Er ging Mayer holen, anschließend machten sie sich im Schneepflug auf den Rückweg zum Marktplatz. Die Spurensicherung war noch immer dort, schien jedoch mit ihrer Arbeit fast fertig zu sein.

Berghaus unterhielt sich kurz mit dem Teamleiter und erfuhr dabei zwei Dinge. Zum einen, dass keine bahnbrechenden Entdeckungen, weder an der Pyramide noch in der näheren Umgebung, gemacht worden waren. Der Bericht würde also eher kurz ausfallen. Und zum anderen, dass Keller die Spurensicherung noch nicht über ihre nächste Aufgabe informiert hatte, die Hütte nach Fingerabdrücken zu durchsuchen. Zähneknirschend machte sich Berghaus eine geistige Notiz, mit ihr noch mal über ihre Einstellung zur Arbeit zu sprechen.

Er erklärte den Weg zur Hütte und stimmte zu, sich nachmittags mit dem Team in Annaberg zu treffen, wenn er auch die Rechtsmedizinerin sehen würde. Dann wandte er sich an Mayer. »Du hast heute Morgen erzählt, dass einige Dorfbewohner in ihrer Jugend gefochten haben?«

»Ja.« Mayer nickte.

»Kannst du mir bitte Namen nennen?«

Der ehemalige Dorfpolizist nahm einen Notizzettel heraus und schrieb ein halbes Dutzend Namen auf.

Ein flüchtiges Lächeln huschte über Berghaus’ Gesicht.

5

Berghaus eilte das kurze Stück vom Marktplatz nach Hause und traf seinen Nachbarn Richard in seiner Garageneinfahrt an, der ihm den Schnee beiseiteräumte.

»Morgen, Alex!«, rief er, als sich Berghaus näherte.

Richard war in seinen späten Sechzigern und hatte vor zwei Jahren seine Autowerkstatt in Annaberg seinem Sohn übertragen. Wann immer Berghaus Hilfe bei Reparaturen oder anderen kleinen Bauarbeiten brauchte, fragte er Richard. Seine Frau Renate hatte als Steuerberaterin gearbeitet, und jetzt gaben sie ihre Rente für ihren Garten und Reisen rund um die Welt aus.

»Morgen, Richie. Du weißt, dass du das nicht machen musst!« Sie schüttelten sich die Hände.

Richard war nur unwesentlich kleiner als Berghaus, und seine kräftige Statur stammte aus einer Zeit, als Autos noch mit sehr wenig mechanischer Unterstützung repariert werden mussten. Er war fitter als viele aktive Polizisten, die Berghaus kannte, und nur die tiefen Falten in seinem Gesicht und die grauen Haare, die unter seiner gestrickten grünen Mütze hervorschauten, gaben sein Alter preis.

»Keine Sorge, Kumpel! Renate ist in der Küche beschäftigt, da stehe ich ihr nur im Weg.«

Berghaus nahm sich eine Schaufel, und zusammen räumten sie die Einfahrt frei.

»Es gibt Gerüchte … jemand ist ermordet worden«, sagte Richard wissend.

»Schön zu hören, dass der Buschfunk noch funktioniert. Was kannst du mir sonst noch sagen?«, antwortete Berghaus mit einem Grinsen.

»Es heißt, es ist der alte Typ aus der Hütte. Von irgendetwas aufgespießt auf der Pyramide. Und es heißt, du leitest die Ermittlungen, also hatte ich gehofft, dass du mir noch ein paar Infos geben kannst, die ich mit meinen Schnitzerfreunden heute Nachmittag teilen kann.« Richard stützte sich auf seine Schaufel und grinste wie ein Honigkuchenpferd.

Berghaus lachte. »Na gut«, antwortete er mit verschwörerischer Stimme und winkte seinen Nachbarn zu sich. »Ja, das Opfer ist der Mann aus der Hütte, und ja, er wurde heute Morgen tot auf der Pyramide gefunden. Und weil ich die Ermittlungen leite, wirst du auch von mir nichts weiter darüber erfahren.«

Richard machte ein trauriges Gesicht und seufzte. »Also war das ganze Schaufeln umsonst.«

Berghaus zwinkerte ihm zu. »Weißt du was, ich würde mich freuen, wenn du und Renate heute Abend zum Essen vorbeikommt. Es wäre mir eine Freude, für meine Lieblingsnachbarn zu kochen.«

»Einverstanden!«

»Kanntest du den Typ aus der Hütte?«

Richard kratzte sich am Kopf. »Hmm, ich habe ihn ein paarmal im Wald gesehen, wenn ich jagen war. Hab aber nie mit ihm gesprochen. Ich kenne nicht mal seinen Namen.«

Wie ein Geist, dachte Berghaus. Jeder hat ihn gesehen, aber keiner kennt ihn.

Anica hatte eine Nachricht auf dem Küchentisch hinterlassen. Nach der Schule würde sie mit ihren Freunden am Schießberg Ski fahren gehen.

Der Schießberg war eher ein großer Hügel als ein richtiger Berg und kesselte, zusammen mit dem Scheibenberg auf der anderen Talseite, Crottendorf ein. Man konnte mit den Skiern vom Gipfel bis vor Berghaus’ Eingangstür fahren, was Anica und ihre Freunde liebend gern taten.

Und danach fielen sie hungrig in seine Küche ein, um sich bei Kuchen und heißer Schokolade aufzuwärmen.

6

Die Tür zu Berghaus’ Büro auf dem Annaberger Polizeirevier stand offen. Keller hockte gedankenversunken vor ihrem Laptop. Sie hatte ihre Schaf-Fellstiefel ausgezogen und zum Trocknen unter die alte, rostige Heizung geschoben. Eine graue Fleecejacke mit Kapuze, ein einfaches weißes T-Shirt und schwarze, eng anliegende Jeans komplettierten ihr Outfit.

Der Raum war ausgesprochen klein und leer, mit Ausnahme zweier uralter brauner Schreibtische – die Berghaus an seine Schulzeit erinnerten –, eines Telefons, das sie sich teilen mussten, durchgesessener Stühle, einer Lampe und eines Wandkalenders vom vergangenen Jahr. Er seufzte, stellte seine Ledertasche auf den leeren Tisch und schob ein belegtes Brötchen in Richtung Keller.

Sie blickte auf.

»Was hast du über Emil Wilhelm herausgefunden? Und wann hattest du vor, die Spurensicherung zur Hütte zu schicken?«, fragte er leicht gereizt.

»Die Leute hier essen das?« Keller deutete angewidert auf das Brötchen mit geräuchertem Lachs.

Berghaus lehnte sich über den Tisch. »Nein, sie schieben es sich die Nase hoch«, feuerte er zurück. »Emil Wilhelm – was wissen wir über ihn?«

»Okay, okay, kein Grund, gleich einzuschnappen.« Sie hob beschwichtigend ihre Hände und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Ich kann dir nicht viel über ihn sagen. Gar nichts, um genau zu sein. Dieser Mann ist wie ein Geist. Er existiert nicht in unserer Hauptdatenbank.«

»Dann würde ich vorschlagen, dass du auch noch die anderen Datenbanken überprüfst, die noch nicht deine ungeteilte Aufmerksamkeit genossen haben. Sonst musst du neben Weihnachten auch noch Silvester hier verbringen.«

Ein schrilles Läuten ließ beide zusammenzucken. Entgeistert schauten sie sich um. Das antike Telefon war zum Leben erwacht, und die Rezeption teilte Berghaus mit, dass ihn ein Mann aus Crottendorf sprechen wollte.

Ohne sich umzublicken, ließ er Keller allein im Zimmer zurück und stieg das kalte und sterile Treppenhaus hinab.

Ein nervös mit seinen knochigen Händen zitternder Mann beobachtete Berghaus aufmerksam durch seine Halbmondbrille, die gefährlich auf der Nasenspitze balancierte. Vor ihm stand Albert Gutmann – der alte Apotheker aus Crottendorf. Mit heftigem Stottern erzählte er Berghaus, dass sein Haus an der Ecke von Hauptstraße und Marktplatz stehe und er die Pyramide durch sein Schlafzimmerfenster sehen könne.

Berghaus führte ihn in ein leeres Besprechungszimmer und bat die Rezeptionistin, Keller zu holen.

Als sie kam, hielt er sie im Gang zurück und gab ihr deutlich zu verstehen, dass er im folgenden Gespräch der Einzige sein würde, der Fragen stellte. Sie nickte ohne Widerwort.

Nachdem sich alle mit einer Tasse Kaffee gesetzt hatten, sah Berghaus den Apotheker ermutigend an. »Warum wollten Sie uns sehen, Herr Gutmann?«, fragte er auf seine freundlichste Art.

»I-i-ich konnte l-l-letzte Nacht n-n-nicht g-g-gut schlafen. A-a-arthritis. D-d-deshalb bin i-i-ich um etwa ha-halb eins a-a-aufgestanden, um ein b-b-bisschen herumzulaufen, u-u-und da h-h-habe ich a-a-aus dem F-f-fenster geschaut u-u-und gesehen, w-w-wie ein Auto s-s-sehr schnell a-a-an der P-p-pyramide vorbeigerast i-i-ist.«

»Danke, dass Sie hergekommen sind. Was können Sie uns über das Auto sagen? Farbe? Die Marke vielleicht?« Berghaus holte tief Luft. Er würde fortan das Stottern überhören und sich auf die reine Botschaft konzentrieren.

»Meine Frau hat mit Ihnen geredet«, antwortete er und deutete auf Keller, die still nickte. »Sie hat mir gesagt, dass sich Zeugen melden sollten«, fuhr er unbeirrt fort und blickte erwartungsvoll zu Berghaus. Sein Stottern schien noch stärker zu werden.

Das wird wohl etwas länger dauern als erwartet, dachte Berghaus und entschied sich, das Thema zu wechseln, um den alten Mann langsam an die Befragung heranzuführen. »Kannten Sie Emil Wilhelm, den Mann, der in der Hütte wohnte?«

»Ich habe ihn ein paarmal im Dorf gesehen, und einmal hat er Verbandsmaterial gekauft. Sagte, er habe sich beim Holzhacken verletzt. Er fragte nach sehr speziellen Marken. Schien so, als wüsste er damit umzugehen.«

Berghaus nickte anerkennend, hörte aber nur halb zu, weil ihm eine andere Frage auf den Nägeln brannte. »Sie haben gesagt, dass ein Auto sehr schnell wegfuhr. Können Sie sich an die Farbe erinnern, oder haben Sie eine Idee, welche Marke es gewesen sein könnte?« Ein zweiter Versuch.

»Ah, ich bin vielleicht alt, aber mein Hirn funktioniert noch sehr gut. Ich kann Ihnen sogar das Kennzeichen nennen. Ich kann mich an alle Mixturen erinnern, die ich je in meiner Apotheke hergestellt habe. Früher war es manchmal sehr schwer, alle Zutaten zu bekommen. Man musste improvisieren. Zum Beispiel einmal –«

»Herr Gutmann«, unterbrach Berghaus, bevor der alte Mann weiter abschweifen konnte. »Das ist alles wirklich sehr interessant, aber vor dem Hintergrund, dass Sie sicher in Ihrer Apotheke gebraucht werden, würden wir diese Besprechung gern so kurz wie möglich halten. Was können Sie uns über das Auto von letzter Nacht sagen?«

Keller rollte die Augen, und er sah sie scharf an.

»Ah, ja«, begann der Apotheker erneut, der nun nervös seinen Hut knetete. »Es war ein dunkler Škoda mit einem tschechischen Kennzeichen, nämlich 1-K-K-5-2-1-2-6.«

Keller, die pflichtbewusst mitschrieb, blickte auf. »Sind Sie sicher, es war ›K-K‹? Oder nur ein ›K‹?«, fragte sie trocken.

Berghaus atmete tief ein und schloss seine Augen.

Der Apotheker aber lächelte sie sanft an und stotterte: »Nur ein ›K‹.«

»In Ordnung.«

Sie dankten ihm für seine Hilfe und kehrten wortlos in ihre Besenkammer zurück, wo Keller schnell herausfand, dass dieses Auto auf einen Pavel Horváth, wohnhaft in Karlsbad, Böhmen, zugelassen war. Pavel Horváth war für sie kein Unbekannter. Im Gegenteil, sie kannte ihn gut. Jeder wusste, dass Horváth zu denjenigen gehörte, die billiges Crystal Meth in schmutzigen Drogenküchen in Böhmen herstellten und damit die ganze Gegend belieferten. Horváth verkaufte die kleinen Tütchen nicht selbst. Das machten andere für ihn. Horváth war einer der größeren Fische. Und er war schlau. Man konnte ihm nichts nachweisen. Was hatte jemand wie Pavel Horváth mit dieser Geschichte zu tun? Es konnte kein Zufall sein, dass der Wagen eines Kriminellen seines Kalibers am Tatort gesehen worden war.

Sie mussten unbedingt mehr darüber herausfinden. Doch Keller war klar, wie schwierig das werden würde. Zuerst mussten sie ihn überhaupt finden. Pavel Horváth würde bestimmt nicht an der schäbigen Adresse auf sie warten, unter der er zwar gemeldet, aber kaum anzutreffen war. Man munkelte von einem Chalet irgendwo drüben im böhmischen Teil des Erzgebirges, das er unter falschem Namen bewohnte. Und selbst wenn sie ihn fanden, Pavel Horváth würde auf keinen Fall reden. Es würde nichts bringen, ihn zu befragen. Egal, ob er etwas mit der Sache zu tun hatte oder vielleicht doch nur ein Zeuge war.

Keller wusste das. Sie hatte schon einmal versucht, etwas aus ihm herauszubekommen. Vergeblich. Das war letztes Jahr bei ihren Ermittlungen in dem Kaltenhaide-Fall gewesen. Auch damals war es nicht nur um Drogen gegangen, sondern auch um Mord. Und Horváth war verdächtig gewesen. Keller hatte alles aufgefahren, um ihn zu knacken. Hatte ihn stundenlang verhört. Nichts. Horváth ließ sich nicht knacken. Sie war sich sicher, auch diesmal würde er nicht reden.

Aber sie wusste, wer ihr helfen konnte. Sascha.

»Sascha?«, rief Berghaus erbost. »Du willst ernsthaft meine Nichte in die Sache mit reinziehen? Auf keinen Fall! Auf gar keinen Fall!«

»Aber sie kann uns wirklich helfen.«

»Unsinn!«

»Doch!«

»Ich weiß wirklich nicht, was du an diesem schrecklichen Mädchen findest.«

»Das weißt du genau. Sie hat mir damals in Kaltenhaide geholfen. Ohne sie hätten wir den Fall nie aufgeklärt, weder die beiden Todesfälle in Kaltenhaide letztes Jahr noch diese gruselige Mordserie, die das Dorf in der Nachkriegszeit erschüttert hatte.«

»Jaja.« Berghaus wollte nicht mehr über seine Nichte reden.

Doch Keller war noch nicht fertig. »Sie hat mir nicht nur geholfen, sie hat mir das Leben gerettet. Oben am Hassberg, in der Höhle. Diese beiden Irren hätten mich umgebracht, wenn sie nicht rechtzeitig da gewesen wäre.«

»Meinetwegen. Sie hat dir das Leben gerettet, und sie hat dir bei den Kaltenhaide-Morden geholfen. Aber was hat das mit unserem Fall zu tun? Glaubst du etwa, dass Saschas geniale Spürnase dir den entscheidenden Tipp geben kann, wer unser Mörder ist?«

»Sascha kennt Pavel Horváth. Sie kennt ihn gut. Eine Zeit lang dachte ich sogar, zwischen den beiden läuft was.«