Elefanten im Garten - Meral Kureyshi - E-Book

Elefanten im Garten E-Book

Meral Kureyshi

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Beschreibung

»Ein Buch, das klüger und einfühlsamer macht.« Susanne Jäggi, Buchhandlung Librium Fünfzehn Jahre nachdem sie mit ihrer Familie aus dem Kosovo in die Schweiz migriert ist, stirbt der Vater der jungen Erzählerin völlig unerwartet. Sie verliert den Boden unter den Füßen und fühlt sich isolierter als je zuvor. Auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt besucht sie die Orte ihres bisherigen Lebens und versucht so, ihrer Identität auf die Spur zu kommen. Elefanten im Garten ist ein wunderbarer Roman über ein von Migration geprägtes Leben, über Herkunft und Entfremdung, Verlust und Beharren, aber auch über Neubeginn und Rettung.

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Das Buch

Als ihr Vater unerwartet stirbt, gerät die 24-jährige Erzählerin ins Schlingern. Fünfzehn Jahre zuvor war die Familie aus Prizren im ehemaligen Jugoslawien in die Schweiz gekommen. Nach dem frühen Tod des Vaters beginnt die junge Frau, mit ihrer Identität zu hadern. Ein Jahr lang lebt sie im Ungefähren, besucht wahllos Vorlesungen an der Universität, fährt Zug, sucht unvermittelt Orte ihres bisherigen Lebens auf, reist nach Prizren. Erinnerungen an ihre idyllische Kindheit in der osmanisch geprägten Stadt drängen machtvoll in ihre Schweizer Gegenwart.

Aber die Welt ihrer Kindheit findet sie nicht wieder in Prizren, und auch sie selbst hat sich verändert. Sie sucht einen Platz in ihrem neuen Land, der neuen Sprache. Die Unselbständigkeit ihrer einsamen Mutter erträgt sie nur schlecht, und mit jedem neuen deutschen Wort wächst die Entfernung zu ihr. Während die Mutter sich zunehmend isoliert, versucht die Erzählerin dem Stillstand zu entkommen.

Die Autorin

Meral Kureyshi, geboren 1983 in Prizren im ehemaligen Jugoslawien, lebt seit 1992 in Bern. Nach Abschluss des Studiums am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel gründete sie das Lyrikatelier in Bern.

Meral Kureyshi

Elefanten imGarten

Roman

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1403-7

Lizenzausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Februar 2017

© 2015 by Limmat Verlag, Zürich

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München, nach einer Vorlage des Limmat Verlags

Umschlagfotografie: © Meral Kureyshi

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Dein Sarg liegt in der Erde. Du wolltest in Prizren begraben werden. Seit einem Monat hülle ich jeden Freitagmorgen meine Haare in ein weißes Kopftuch und spreche «Yasin», das Totengebet, für dich.

Aus dem Fenster des achten Stockwerks sehe ich, wie Anne das Haus verlässt. Ich weiß, dass zwischen ihren Lippen eine Marlboro klebt. In ihrer Tasche, die älter als ich sein muss, steckt mindestens eine rot-weiße Zigarettenschachtel. Kaum ist sie draußen angekommen, zündet sie sich mit dem in der Hand vorgewärmten Feuerzeug eine Zigarette an. Sie zieht daran und kneift dabei leicht ihre Augen zu, als würde sie geblendet. Ihre Brust schwillt an. Wenn sie ausbläst, verschwindet sie für einen kurzen Moment in der Rauchwolke. Sie mag es nicht, alleine zu rauchen, das hat sie nie gemocht, und nun steht sie da wie ein Ofen, den im Sommer niemand braucht.

Baba wollte ihr das Rauchen abgewöhnen. Anne blies ihm Rauch ins Gesicht und sagte, zu einem guten Wein gehöre eine Zigarette, und als sie keinen Alkohol mehr trank, sagte sie, zu einem guten Kaffee gehöre eine Zigarette.

Die Tasche ist aus schwarzem Schweinsleder, Schweinsleder ist billig. Sie ist groß und hat einen langen Riemen, damit man sie im Winter über die gepolsterte Schulter hängen kann. Als ich darin nach einer Pinzette suche, entdecke ich ein kleines Innenfach. Der Reißverschluss sieht wie eine Wunde aus, eine Wunde, die genäht, deren Fäden jedoch nie gezogen wurden. Zahn um Zahn öffne ich die Tasche und finde einen hölzernen Kamm, der dir gehört hat.

Anne nimmt den aufklappbaren Stock aus der Tasche. Ich sehe, wie der Stock von weit links nach rechts geschleudert wird. Heute kamen zwei neue Stöcke mit der Post, der Alte ist vorne abgenutzt.

Die neue Wohnung würde dir gefallen. Die Böden sind nicht mit Teppichen bespannt, und vom Balkon des achten Stockes kann man weit über die Dächer und in andere Wohnungen sehen. Bümpliz hast du schon immer gemocht. Hierher kamst du zum Einkaufen, viele deiner Freunde wohnten da, und in der Moschee, im Keller eines Hochhauses, begabst du dich mit einer großen Gruppe von albanischen Männern zum Bayramgebet.

Fünf Jahre lang haben wir eine Wohnung gesucht. Am Stadtrand von Bern haben wir nach deinem Tod eine Wohnung in einem Hochhaus, in dem siebenundzwanzig ausländische und drei Schweizer Familien leben, gefunden.

«Sie können aber gut Deutsch», sagte die Vermieterin sehr laut und deutlich zu mir.

«Wir leben seit meinem zehnten Lebensjahr in der Schweiz», antwortete ich. Seit dem Einzug haben wir uns vorgenommen, die Wände mit Bildern zu schmücken. Sie sind noch immer weiß.

Anne geht alleine in die Blindenschule, zum Einkaufen in den Alima, den türkischen Laden, und auch mit dem Zug nach Biel ihre Freundin Emine besuchen. Einmal im Monat kommt Franz, um mit ihr neue Wegstrecken einzuüben, die sie uns dann stolz vorführt, indem sie vorgeht und wir hinterher. «Die Entenfamilie», schreit Maria aus dem fünften Stock. Sie weiß, wer sich mit wem im Block gestritten hat, wer die Waschmaschine nach der Wäsche nicht gereinigt und wer aus dem Trockner den Kleiderstaub nicht entfernt hat.

Mein Bruder ist zweiundzwanzig Jahre alt geworden, zwei Jahre jünger als ich. Er möchte Grafiker werden, schläft den halben Tag, und in seinem Zimmer ist es immer dunkel und schmutzig. Meine Schwester, für die ich mehr Mutter bin als ihre Mutter, meine Mutter, unsere Mutter, ist zehn Jahre jünger als ich. Sie wird von Anne behütet, als wäre sie ein fragiles Schmuckstück. So hat sie uns nie behandelt. Meinen Bruder schlug sie lange Zeit, wenn er als Kind in sein Bett gemacht hatte, mit Brennnesseln auf den Po.

Ich suche nach weiteren Gegenständen in der Wunde und stoße auf ein gefaltetes Papier. Es ist der Brief, den du uns im Sommer 1991 aus Istanbul geschickt hast. Fünfzehn Jahre sind seither vergangen. Darin steht, dass du in die Schweiz einreisen willst, du bittest uns, dir zu folgen, dir zu vertrauen. Du schreibst in Großbuchstaben.

Der Brief ist zu vier Rechtecken gefaltet, das Papier an den gefalteten Stellen ein wenig bräunlich, die Schrift säuberlich. «Eine Ärzteschrift», höre ich dich sagen. Arzt wurdest du nicht, du reinigtest die Praxisräume der Ärzte, und wenn wir zu Besuch waren, zogst du dir den weißen Kittel, der hinter der Tür hing, über, wir setzten uns auf die Liege, die du zuvor mit weißem Papier auslegtest, atmeten tief ein und aus, damit du uns untersuchen konntest.

Als der Brief kam, saß Anne auf dem Sofa in unserer kleinen Wohnung im Kurila-Quartier in Prizren und weinte. Mein Bruder schlief unter dem Tisch auf seinem Kissen. Ich stand neben der offenen Haustür. Der Wind trug gelbe Blätter ins Zimmer. Es war ein warmer Wind, der mich unter den Armen kitzelte. Als Anne aufstand und an mir vorbei über die Schwelle trat, drehte sich mein Kopf zu ihr und wieder zurück. Ein braunes Auge schaute unter dem Tisch hervor. Ich hörte Annes Stimme wie von weit her:

«Baba kommt nicht nach Hause.»

Als ich mit der Zunge über meine Lippen fuhr, schmeckte ich Salz.

«Menschen sind salzig», sagte Dede, mein Großvater, einmal zu mir.

«Wo ist Baba?»

«Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, ich weiß es nicht!»

Anne nahm ihren Kopf zwischen die Hände. Damals las uns Anne den Brief vor und schrieb Baba einen Brief zurück. Heute fließen ihre Worte durch unsere Finger, und ihre Augen sehen durch unsere Worte.

Anne geht, als könnte sie sehen. Als sie ruckartig stehen bleibt, beuge ich mich aus dem Fenster:

«Ist etwas passiert? Soll ich herunterkommen?»

Sie lacht, dreht sich um und verschwindet in der Eingangshalle. Besorgt eile ich zum Lift.

«Du hast vergessen, mich zu schminken.»

Anne «klappiert» ihren Stock, so nennt sie diesen Vorgang. In der Wohnung braucht sie ihn nicht. Sie geht ins Badezimmer, klappt den Klodeckel runter, setzt sich darauf und schließt ihre Augen. Mit meinen Fingern verteile ich den Puder auf ihrem Gesicht, versuche die geröteten Stellen auf ihren Wangen zu überdecken. Ihre Haut fühlt sich ein wenig rau an.

«Mach die Augen auf.»

«Wie sehe ich aus? Ich habe mich seit zehn Jahren nicht mehr gesehen.»

«Du siehst aus wie Fatma Girik.»

Sie zieht das weiße Kopftuch über ihre schwarzen Locken.

Ich schämte mich dafür. Niemand in unserer Familie trug ein Kopftuch, weshalb musste sie gerade jetzt, hier in der Schweiz ein Kopftuch tragen, dachte und sagte ich ihr. Ich solle zuerst überlegen, dann sprechen, sagte Anne. Das ist der Grund, weshalb ich zu schreiben begonnen habe. Ich konnte schreiben, was ich dachte, niemand sagte mir, ich solle zuerst überlegen.

Ich schämte mich schon dafür, dass wir uns keine neue Kleidung kaufen konnten, uns die Haare gegenseitig schnitten und dafür, dass wir die Einzigen waren, die kein Auto und kein Telefon besaßen, dann musste Anne auch noch ein Kopftuch tragen. Anders waren wir schon vorher, danach waren wir die Anderen.

In der Küche nimmt Anne eine Flasche Cola aus dem Kühlschrank. Sie sagt, sie würde zunehmen, ohne etwas zu essen, nur vom Hinsehen würden sich die Kilos auf ihren Hüften verdoppeln.

Ich denke an die Fotos, die sie in ihrer Handtasche mit sich führt. Ich muss mich nicht vor ihr verstecken, um ihre Tasche zu durchsuchen, ich kann es vor ihren Augen tun, die mich nicht sehen, während sie an ihrer Cola nippt und lacht. Ich schäme mich.

Die Fotos zeigen Anne und dich beim Tanzen, eng umschlungen, auf dem Tisch stehen viele Weinflaschen, und die Mascara unter Annes Augen ist verschmiert. Die Lippen rot. Die Fingernägel rot. Auf einem Foto küsst ihr euch. Auf einem anderen sitzt sie auf deinem Schoß und lacht, ihr Kopf fällt nach hinten, und mit einem Arm umschlingt sie deinen Hals. Annes Wangen blasen sich auf. Mit leicht geöffnetem Mund lässt sie einen Rülpser entweichen.

«Das ist eklig, mach das nie wieder.»

Ich gehe in mein Zimmer und schlage hinter mir die Tür zu. Ich höre sie lachen.

Die Wohnungstür fällt ins Schloss. Ich stehe gleich auf, gehe ans Fenster zurück. Der Winter führt den jährlichen Krieg mit dem Herbst, die Schlacht wird bald gewonnen sein. Ich warte, bis sie aus der Eingangshalle kommt, ihre Zigarette anzündet, ihren Blindenstock in der Tasche sucht. Links, rechts, links, rechts. Vor der letzten Kurve, dreht sie sich um und lächelt breit. Sie weiß, dass ich ihr winke.

An manchen Tagen scheint der erste September so weit weg zu sein, dass ich mich kaum erinnern kann, nicht an dein Gesicht, nicht an deinen Geruch, nicht an deine Hände.

Auch deine Stimme verschwindet mehr und mehr aus meinem Ohr.

Ich habe Angst, dass du eines Tages ganz verschwunden sein wirst.

Aus meiner Erinnerung, aus meinem Mund, aus meinem Gesicht. Aga sagt, ich sehe dir ähnlich.

An anderen Tagen ist es, als wärst du kaum ein paar Tage tot.

Du liegst leblos auf dem Bett.

Kein Lachen in deinem Gesicht.

Keine Bewegung in deinen Händen.

Kein Blick unter den gefallenen Lidern.

Dein Kiefer ist mit meinem rosaroten Halstuch hochgebunden.

Anne stand an Babas Seite.

Meine Schwester saß auf dem Stuhl neben ihm, hielt ihren Kopf gesenkt. Die Haare verdeckten ihr Gesicht. Ab und an tropfte eine Träne von ihrer Nasenspitze auf ihren Handrücken.

Mein Bruder versuchte, stark zu sein, versuchte, mir nicht in die Augen zu sehen, versuchte, kein Wort zu sagen, versuchte, regelmäßig zu atmen. Mein Bruder versuchte, ein Mann zu sein.

Ich sah, wie sein Kinn zitterte, meines zitterte auch. Babas Hand lag in der meinen. Ich weiß nicht, wie lange.

Irgendwann war es dunkel, das Zimmer im Inselspital hell beleuchtet. Seine Hand war kalt und bleich geworden. Ich bückte mich und küsste sie drei Mal, während ich sie abwechslungsweise vom Mund zur Stirn und wieder zurückführte.

«Ich vergebe dir, was auf Erden war, bitte vergib mir auch.»

Manchmal ließ Baba in der Bäckerei in Neuenegg den Einkauf anschreiben. Einmal war ich dabei. Ich stand an der Kasse hinter ihm, als er leise und ein wenig vorgebeugt die Kassiererin fragte, die er nur flüchtig kannte, die mich immer anlächelte, die aus dem Mund nach Katzenfutter roch, die einen serbischen Mann hatte, der die Bäckerei führte, der sehr nett zu uns war, ob er den Einkauf anschreiben lassen könnte. Er bedankte sich mit einem Lächeln, fasste sich ans Herz und beugte seinen Kopf vor. Ich hatte das Brot, die Butter, die Nutella, ein bisschen Gemüse und die Milch eingepackt. Nach dem Zigarettenpäckchen hatte Baba gleich gegriffen. Kaum standen wir draußen, zündete er sich eine an. Er blies Kreise in den Himmel, ich lachte. In genau diesem Moment, ich war zwölf Jahre alt, als er mit glänzenden Augen neben mir stand, schwor ich, ich würde einmal so viel Geld haben, dass Baba und Anne nie mehr ihren Einkauf anschreiben lassen müssten.

Ich schwor, so laut es ging, zwischen den Rauchringen hoch in den Himmel.

Anne und ich kommen aus dem Warenhaus Globus, wo wir uns schönes Geschirr angeschaut, an Parfums gerochen, Cashmerepullover gestreichelt haben. Es ist kalt geworden.

Anne fragt, ob ich einen warmen Pullover habe, ich sage ja, sie fragt, was er gekostet hat. Anne fragt bei allem, was es gekostet hat. Sie sagt, dass das Geld vom Teufel kommt. Mit Geld kann man den Menschen vom Leben ablenken, irreführen, täuschen, glücklich machen, töten.

Wir fuhren in die Stadt, spazierten durch die Läden. Zuerst in den Loeb, dann in den Vögele, später in den c & a und zum Schluss noch in die epa. Jeder konnte sich etwas aussuchen. Ich griff immer zuerst nach dem Preisschild. Doch ich wollte nicht immer in den gleichen Kleidern, den gleichen Schuhen herumlaufen, also habe ich violette Leggins und ein großes T-Shirt mit Blumenmuster ausgewählt. Ich wollte die Sachen gleich anbehalten, nie mehr ausziehen. Mein Bruder kaufte sich Süßes und eine Perücke, die er sich gleich aufsetzte. Anne kaufte eine blonde Puppe für meine Schwester und Baba einen Ring für Anne, der ihren Finger nach ein paar Tagen grün färbte und seine goldene Farbe verlor. Sie legte ihn nie ab. Der Plastikstein fiel mehrmals heraus, er klebte ihn immer wieder rein. Jeden Monat fuhren wir, wenn Baba seinen Lohn auf dem Konto hatte, in die Stadt. Wir wussten alle, wir konnten nicht viel ausgeben, doch dieser Tag war der schönste. Wir gingen bei McDonald’s essen, manchmal auch in eine Pizzeria, Baba mochte Pizza. Ich beobachtete ihn, wie er sie in ganz kleine Stücke schnitt und diese kleinen Stücke nochmals mit der Gabel faltete, bevor er sie in den Mund steckte. Ich versuchte ihn nachzuahmen, aber ich war zu gierig und aß die großen Stücke von Hand.

Wenn wir Geld hatten, lachten Baba und Anne oft. Wenn wir kein Geld hatten, rauchten sie viel, und wir saßen zu Hause herum. Sie stritten sich, wir weinten im Zimmer. Mein Bruder und ich sagten, wenn jetzt gerade das Licht angeht, werden wir ganz reich sein. Oder: Wenn es jetzt gerade zu regnen anfängt. Oder: Wenn Baba im Lotto gewinnt.

Anne klammert sich fest an meinen Arm, wenn ich dabei bin, braucht sie den Blindenstock nicht. An der Stelle, wo ihre Hand liegt, wird mein Arm warm. Den Ring mit dem grünen Stein, den du ihr geschenkt hast, trägt sie an ihrem Ringfinger. Er färbt nicht mehr ab, sagt sie, als ich ihn mehrmals um ihren Finger drehe. Anne hat immer warme Hände. Sie sagt, die, die warme Hände haben, erhalten viel Liebe. Du hast sie sehr geliebt. Wenn ich sage, dass ich immer kalte Hände habe, nimmt sie meine Hand in ihre, wärmt sie und sagt:

«Das stimmt nicht, sag nicht so was Dummes.»

Sie fragt mich, ob sie runzlige Hände habe. Nein, sage ich, du hast überhaupt keine Falten, auch nicht im Gesicht. Sie lächelt und weiß, dass ich lüge.

Ich wusste nicht, dass es die letzten fünf Minuten mit Baba sein würden. Er saß auf dem Sofa und hörte Musik. Wir redeten über die Wohnung, die er mit Anne besichtigen wollte. Am nächsten Morgen klagte er über Schmerzen in der Schulter, also wollte Anne den Termin verschieben. Baba wollte die Wohnung unbedingt besichtigen. Sie stiegen in den roten Mercedes und fuhren in Richtung Bümpliz. Nach fünf Minuten hörte Babas Herz auf zu schlagen. Dann hat Anne laut geschrien.

Am Waschtag wurden wir alle in die Garderobe der Turnhalle des Schulhauses Brunnmatt an der Effingerstraße geführt. Die Frauen teilten sich mit den Mädchen, die Männer mit den Jungen einen Duschraum.

Als sich die Frauen und Mädchen auszogen, floh ich in den Flur. Anne folgte mir und setzte sich neben mich auf den kalten Fußboden. Dort saßen wir, bis alle andern geduscht und die Umkleidekabine verlassen hatten.

Dann standen wir auf und betraten die leere Garderobe. Anne drehte sich mit dem Rücken zu mir und suchte etwas in ihrer Tasche, bis ich mich ausgezogen und ein Badetuch um meinen nackten Körper gewickelt hatte. Ich beeilte mich mit dem Duschen. Als ich fertig war, ging Anne, in ein Badetuch gehüllt, an mir vorbei in den Duschraum. Ich zog mich an, kämmte meine Haare und packte meine Sachen in die Tasche. Anne kam nach kurzer Zeit aus der Dusche, und ich ging auf die Toilette. Ich kam zurück, Anne war bereits angezogen. Frisch geduscht stiegen wir in den Bunker zurück. Das war unsere erste Unterkunft in der Schweiz. Die grüne Leuchtschrift des Universitätsspitals Insel blendete mich, während wir über den dunklen Schulhof liefen.

Ich fahre fast jeden Tag mit dem Bus von Bümpliz in die Stadt, am Luftschutzbunker vorbei, in dem wir für zwei Wochen gelebt hatten. Ich denke an dich. Alles ist noch gleich. Ich drücke meine Stirn an die Busscheibe und versuche vergeblich, beim Vorbeifahren etwas zu erkennen. Ich steige aus dem Bus, gehe hinunter zum Eingang des Bunkers. Das erste Mal seit fünfzehn Jahren.

Die Gittertore sind geschlossen. Ich halte mich mit beiden Händen am Gittertor, rieche die feuchten Wände, halte mein Gesicht zwischen zwei kalte Eisenstangen. Es ist dunkel.

Nur in den Wohnungen gegenüber brannte Licht. Ich sah zu, wie fremde Menschen zusammen fernsahen. Einige standen am offenen Fenster und rauchten, andere tranken Tee und telefonierten. Ich schaute stundenlang zu, gab ihnen Namen. Der rauchende Mann war Mondgesicht, ich hatte noch nie ein so rundes Gesicht gesehen. Die Frau vor dem Fernseher war Elisabeth, weil sie der Queen so ähnlich sah, die in den Zeitschriften abgebildet war, die ich im Kiosk durchblätterte. Ihr Mann hieß Transfer. Ich hörte dieses Wort so oft, es musste der Name eines Königs sein. Als Mondgesicht mir eines Abends aus dem offenen Fenster etwas zurief in seiner fremden Sprache, bekam ich Angst und lief in den Raum zurück, in dem alle vierundzwanzig fremden Menschen schon schliefen.

Ich fürchtete mich vor Mondgesicht. Er würde uns bei den Wächtern verraten, sie könnten unsere Familie ins Gefängnis stecken, und dort müssten wir viele Jahre verbringen. Ich könnte nie mehr zur Schule gehen. Meinen Bruder würden sie einer Familie geben, die keine Kinder hatte, weil er so süß war.

Viele Ehepaare könnten keine Kinder bekommen, hatte mir Anne erzählt. Sie hatte sogar selbst einmal mit dem Gedanken gespielt, ihr noch nicht geborenes Kind, das sie Orhan nennen wollte, weil ihr der Schauspieler und Sänger so gefiel, Aga, dem Bruder meines Vaters, und seiner Frau zu geben. Sie konnten keine Kinder bekommen, und meine Eltern hatten bereits mich und meinen Bruder.

Der Gedanke, ihr Kind wegzugeben, fiel ihr jeden Tag schwerer. Als sie im siebten Monat schwanger war, blutete sie stark. Die kleinen Beine des Kindes hingen aus ihrem Unterleib, als sie auf der Toilette saß. Sie weinte laut, hielt mit den Händen die Beine des Kindes und musste sofort ins Krankenhaus eingeliefert werden. Anne verlor viel Blut und fast ihr Leben. Das Kind kam tot zur Welt und wurde in einem kleinen Sarg beerdigt. Anne sagte mir später:

«Ich hätte mein Kind nicht weggeben können. Niemals.»

Während ich den Kopf zwischen die kalten Gitterstäbe drücke, kommt ein Mann in Militäruniform aus dem Bunker auf mich zu.

Ob ich nicht einen Blick hineinwerfen könnte, frage ich, ich möchte sehen, wie es ist, unter der Erde zu leben.

«Da gibt es nichts zu sehen. Es ist nur ein Luftschutzbunker.»

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