Elfenmond - Bernhard Hennen - E-Book

Elfenmond E-Book

Bernhard Hennen

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Beschreibung

Am 1. November 2004 veröffentlichten Bernhard Hennen und James Sullivan mit »Die Elfen« einen Roman, der die geheimnisvollsten Wesen der Fantastik in einem völlig neuen Licht zeigte: Diese Elfen sind düsterer und gefährlicher, zugleich aber auch faszinierender als man sie je zuvor gesehen hat. Der 1. November 2004 ist gleichzeitig auch der Beginn einer unglaublichen Erfolgsgeschichte. Bernhard Hennen erschuf im Lauf der Jahre einen gewaltigen Elfenkosmos, der inzwischen vier Romanzyklen und zahlreiche Kurzgeschichten umfasst und der Generationen von Fantasy-Fans begeistert. »Die Elfen« ist aus dem Kanon der deutschsprachigen Fantastik-Literatur nicht mehr wegzudenken. Anlässlich des zwanzigjährigen »Elfen«-Jubiläums stellen Bernhard Hennen und James Sullivan eine umfangreiche Sammlung mit allen Stories zu den »Elfen« zusammen. Zwei brandneue Geschichten der beiden Autoren, machen »Elfenmond« zu einem Muss für jeden Fantasy-Fan.

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Seitenzahl: 644

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Das Buch

»Farodin« erzählt die Geschichte der ersten Begegnung Farodins mit der Elfe Aileen und vom tragischen Ende dieser Liebe, das Farodin zu dem mächtigen Elfenkrieger werden lässt, der er in DIE ELFEN ist.

»Nuramon der Wanderer« nimmt uns mit in eine frühere Inkarnation einer der beliebtesten Figuren der Fantasylandschaft, in der Nuramon unter anderem gegen die legendären Gelgeroks kämpft.

Schön, mächtig und edel – die Elfenkönigin Emerelle verkörpert wie kaum eine Zweite das Wesen der Elfen. In »Kinder der Nacht« muss sie mit ihrer Mutter, der mächtigen Drachenelfe Nandalee, vor den Himmelsschlangen fliehen und erlebt ihr allererstes Abenteuer.

In »Nuramon und die Gemeinschaft des Weldaron« muss Nuramon nicht nur seine Heimat gegen einen verheerenden Drachenangriff verteidigen, sondern auch eine schwere Entscheidung treffen, die seinem Schicksal eine neue Wendung geben wird.

Im Kampf um Gobhayn, die Stadt der Schmiede, erleidet Askalel in der gleichnamigen Geschichte einen grausamen Verlust. Rasend vor Kummer und Zorn, gibt sich Askalel, der Sohn einer Elfe und eines Drachen, seiner dunklen Seite hin. Kann ihm die Liebe, die ihn schon einmal gerettet hat, neue Hoffnung spenden?

Dies sind nur fünf von insgesamt acht wunderbaren Geschichten für alle Leser, die sich noch stärker von der Magie der ELFEN verzaubern lassen möchten.

Die Autoren

Bernhard Hennen, 1966 geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Vorderasiatische Altertumskunde. Als Journalist bereiste er den Orient und Mittelamerika, bevor er sich ganz dem Schreiben fantastischer Romane widmete. Gemeinsam mit James A. Sullivan schrieb er den Roman Die Elfen und legte damit den Grundstein für ein atemberaubendes Fantasy-Universum, das er mit den Reihen Die Drachenelfen und Die Schattenelfen erweiterte und das aus der deutschsprachigen Literatur nicht mehr wegzudenken ist. Bernhard Hennen lebt mit seiner Familie in Krefeld.

James A. Sullivan wurde 1974 in West Point geboren und wuchs in Deutschland auf. Noch während seines Studiums in Köln ließ er sich auf das Abenteuer ein, gemeinsam mit Bernhard Hennen Die Elfen zu schreiben. In Nuramon erzählte er das tragische Schicksal einer der beliebtesten Figuren der deutschen Fantasy weiter.

BERNHARDHENNEN

JAMES A. SULLIVAN

ELFENMOND

ALLE STORIES AUS DER WELT DER ELFEN

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 10/2024 

Redaktion: Uta Danke

Copyright © 2014, 2024 by Bernhard Hennen

Copyright © 2014, 2024 by James A. Sullivan

Copyright © 2024 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Das Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT GbR, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-31926-7V001

www.heyne.de

Inhalt

Farodin

NURAMON der Wanderer

Skanga – Der Blick in den Himmel

Die Schlangenkönigin

Der Weg zurück

Kinder der Nacht

Nuramon und die Gemeinschaft des Weldaron

Askalel

Ein Blick zurück

Farodin

von Bernhard Hennen

Gegenwart, im Wald, nahe dem Steinkreis von Welruun

Farodin hielt ihre schlanken, weißen Hände. So kalt waren sie ! Fast alles Blut war daraus gewichen. Aileen lächelte ihn tapfer an, aber er schaffte es nicht, ihr Lächeln zu erwidern. Stattdessen wandte er sich ab und legte all seinen Zorn und all seine Verzweiflung in einen Fluch: »Wo verdammt ist Emerelle ? Hat sie uns im Stich gelassen ?«

Niemand antwortete ihm. Abgesehen vom leisen Stöhnen der Verwundeten war es still auf dem Schlachtfeld. Es waren nur wenige Stimmen. Alle Trolle, die verletzt zurückgeblieben waren, hatten sie längst getötet, und kaum ein Elf hatte den Angriff überlebt. Stunden um Stunden hatten sie gefochten, obwohl sie von Anfang an wussten, dass es aussichtslos war. Sie waren viel zu wenige gewesen; zehn Trolle auf einen Elfen, vielleicht sogar mehr. Hünen, die einen Elfen um mehr als einen Schritt überragten und das Vierfache wogen. Tumbe Ungeheuer, die immer wieder anstürmten, ganz gleich wie viele von ihnen fielen. Der Steinkreis, den die kleine Elfenschar hatte halten sollen, war nicht zu verteidigen gewesen. Sie hatten in den angrenzenden Wald zurückweichen müssen, um den Trollen wenigstens den Weg zur Shalyn Falah zu verlegen, der Brücke, die ins Herzland führte. Dorthin, wo Burg Elfenlicht lag, der Königssitz Emerelles, der die Trolle die Krone Albenmarks entreißen wollten.

Im dichten Wald waren die Elfen im Vorteil gewesen. Ein wenig zumindest. Die Schlachtreihe der Trolle war aufgebrochen, und jeder hatte für sich allein gekämpft. War für sich allein gestorben. So viele Stunden lang. Nun wichen die gleißenden Lichtspeere, die den ganzen Tag über durch das dichte Blätterdach auf die Kämpfenden und die Toten hinabgestoßen waren, der Dämmerung. Der Anblick des Grauens wurde gnädig vom Zwielicht verschluckt, aber der Gestank blieb. Der Geruch nach Eingeweiden, Blut, zerstampftem Laub, verbrannten Leibern. Sie hatten mit allen Mitteln gekämpft: mit Pfeilen, Schwertern und Magie, die nicht gegen lebendes Fleisch hätte gerichtet werden dürfen. Ja, sogar mit nackten Fäusten und Zähnen. Nie hatte Farodin ein solch verzweifeltes Gemetzel erlebt – und doch war zuletzt das Unvermeidliche geschehen. Das, was allen Verteidigern von Anfang an klar gewesen war und dem sie sich doch mit verzweifeltem Trotz entgegengestemmt hatten. Die Zahl der Trolle hatte über den Heldenmut der Elfen triumphiert. Ihre Stellung war einfach überrannt worden.

»Du … blutest, Farodin.« Aileens Stimme war kaum mehr als ein Hauch.

»Das ist nichts«, wiegelte er ab. »Nur eine Schramme.«

»Wie bei mir.«

Er hatte ihren Humor immer geliebt, doch dieses Mal wollte ihm kein Lächeln gelingen. »Ja«, sagte er schlicht und vermied den Blick auf die klaffende Wunde in ihrem Unterleib. Das Leben rann ihr davon. Der Blutstrom war nur mehr ein schwaches Tröpfeln. Ihre Hand so kalt !

»Ich habe deine Hände immer gemocht, Farodin. Schon am ersten Tag.« Sie verschränkte ihre Finger mit den seinen. So nah … Fast eins. Sie hatten einander geschworen, unzertrennlich zu sein. Und nun ging sie fort.

»Deine Hände«, hauchte sie. »So zart und doch voller Kraft. Deine schlanken Finger, die all meine Geheimnisse kennen.« Aileens Hand verkrampfte sich in der seinen, und ihre grünen Augen weiteten sich, als wolle sie den Tod allein mit der Kraft ihres Blickes bannen. Sie war so blass ! Und immer noch wunderschön.

Farodin blinzelte gegen die Tränen an. Nur Emerelle, die Elfenkönigin, könnte Aileen jetzt noch retten. Er aber war machtlos. Ja, seine Hände waren kräftig, aber heilen konnten sie nicht. Sie hatten gelernt, Wunden zu schlagen und …

Er schluckte, und kurz flackerte das Bild eines Gebirgsmassives vor seinem inneren Auge auf – das Bild der einsamen Täler der Mondberge, in denen er groß geworden war. Weit fort von den Kriegen um den Thron Albenmarks. Er hatte sich heraushalten wollen. Seine Familie gehörte nicht zu den Günstlingen Emerelles, sondern hütete das Land, das ihnen anvertraut war. Sie beschützten alle Albenkinder, die dort lebten. Selbst die zahllosen Kobolde, deren Launen so unerträglich waren, dass Farodin als Kind fast einmal einen von ihnen erschlagen hätte, weil sie ihm Ziegenpisse in den Milchbrei gerührt hatten. Sie beschützten auch die Faune, die sich in den dunklen Wäldern verbargen und am liebsten allein gelassen wurden, und die Minotauren, deren rasende Tanzfeste in Vollmondnächten Farodin als Kind geängstigt hatten. Seine Sippe bewahrte den Frieden in den Mondbergen. Sie waren Hüter, und sie machten ihre Sache besser als Emerelle – denn ihr war es nicht gelungen, den Frieden zu halten.

Nie hatte Farodin einer ihrer Henker werden wollen.

Bis er Aileen begegnet war.

Sie hatte ihn das Bluthandwerk gelehrt. Das Bluthandwerk und die Liebe. Sie war seine Meisterin im Schwertkampf gewesen. Nie hatte er ihr Können erreicht. Selbst Trolle hatten Aileen gefürchtet, jene Kriegerin, die auf dem Schlachtfeld so unerbittlich war und zugleich in schlaflosen Nächten Gedichte schrieb, die ihn zu Tränen rührten.

»Emerelle wird kommen«, flüsterte sie. »Sie hat es versprochen. Ich werde durchhalten – um deinetwillen. Wir müssen …« Ein Krampf ließ sie verstummen, und ihre schwache Stimme wich einem hohen, pfeifenden Atemgeräusch. Doch ihre Augen hielten ihn weiterhin gefangen, erstickten seine Verzweiflung und sagten mehr als alle Worte.

Nie hatte er sich so hilflos gefühlt wie in diesem Augenblick. Er konnte nichts tun ! Konnte nur die tiefer werdenden Schatten des Waldes betrachten und warten. Wo blieb die Königin, verflucht ! Er wollte aufspringen, seine Verzweiflung hinausschreien und zum Waldrand laufen, um nach Emerelle Ausschau zu halten. Stattdessen saß er weiterhin einfach nur da und hielt Aileens Hand in der seinen. Bei ihr zu sein, ihren Kopf in seinem Schoß gebettet, das war alles, was er ihr jetzt noch geben konnte.

Gedankenverloren strich er durch ihr Haar; da erinnerte er sich an den Barinstein, den er wohlverwahrt in seiner Gürteltasche trug. Er holte ihn hervor. Der verwunschene Stein war kaum so groß wie das erste Glied seines Daumens. Warmes, honigfarbenes Licht strahlte von ihm aus und vertrieb die Schatten. Selbst Aileens Blässe wich in diesem Licht einer lebendigeren Farbe, und ihre Augen erlangten noch einmal ein wenig von der strahlenden Kraft, die sie früher einmal gehabt hatten.

Doch die Illusion wiedererstarkten Lebens währte nicht lange: Dunkles Blut sammelte sich auf ihren Lippen. Ein Tropfen rann aus ihrem Mundwinkel, ihr Kinn hinab. Fahrig tastete sie danach, betrachtete das Blut auf ihren Fingerspitzen, und die Hoffnung in ihrem Blick erstarb. Hätte er nur sein Leben für ihres geben können ! So konnte, so durfte es nicht enden !

Sie sah zu ihm auf und lächelte schwach. »Erinnerst du dich noch an unseren ersten Tag ?«, flüsterte sie.

Farodin nickte, stählte sich, verbannte mit aller Macht den Schmerz aus seiner Stimme. Wenn er nur für einen Herzschlag lang seine Fassung verlöre, würde er sie nicht mehr wiedererlangen, würde den Damm kein zweites Mal errichten können, der jetzt noch seinen wogenden Schmerz zurückhielt. »Natürlich erinnere ich mich. Wie sollte ich diesen Tag jemals vergessen ?«

Sie drückte seine Hand. So schwach ! »Erzähl mir von dem Tag. Ich möchte deine Stimme hören, wenn ich gehe.«

»Ich sage es dir ungern, aber ich glaube, in deinem Zustand wirst du nirgendwohin gehen.« Das hatte er von ihr gelernt, sich dem Schicksal mit trotzigem Humor zu stellen. Eigentlich entsprach es nicht seinem Wesen. Sie hatte so vieles in ihm geweckt. Nur mit ihr zusammen fühlte er sich als ein Ganzes.

Aileen lächelte schwach, die Augen fest auf ihn gerichtet. Als könne sie auch ihr Leben halten, solange sie nur seinen Blick gefangen hielt.

»Emerelle wird bald bei uns sein. Dann wird alles wieder gut. Die Macht des Albensteins vermag jede Wunde zu schließen.«

Er log. Niemand wusste, wo die Elfenkönigin kämpfte. Ja, man wusste nicht einmal, ob sie noch lebte.

»Bitte erzähl …« Aileens Stimme war nur mehr ein Hauch über ihren Lippen. Blutleere Lippen, die einst in so wunderbarem, lebendigem Rot geschimmert hatten. So rot, als habe sie gerade frische Waldbeeren gegessen. Sie lächelte, und er versank in dem tiefen Grün ihrer Augen. Seine Erinnerung trug ihn fort von diesem Ort des Todes. Deutlich sah er ihn wieder vor sich, jenen Abend vor drei Jahren, der ihm Aileen geschenkt hatte.

»Der Herbst neigte sich schon dem Winter zu«, begann er, und die Worte fühlten sich an wie Asche. Tot, unfähig, den Zauber jenes Abends einzufangen. Stockend fuhr er fort: »Die Zeit, in der die Salme die Ströme hinaufziehen, um zu laichen, war fast vorüber. Ich stand fast bis zu den Hüften im eisigen Wasser …«

»Du warst … Du …«

»Scht, meine Schöne – nicht !«

Sie lächelte.

Ja, er war nackt gewesen ! Nur ein Idiot stellte sich zum Fischen angezogen in einen kalten Gebirgsbach, statt seine Kleider an einer trockenen Stelle zu verwahren. Und er war steif gewesen in jenem vergangenen Leben, verklemmt sogar. Sie aber hatte ihm beides genommen und ihm einen Hauch ihrer Ungezwungenheit geschenkt. Weshalb also unterbrach er sie jetzt ? Warum war jene Scham zurückgekehrt ? Und dann verstand er. Wenn sie starb, würde jene Ungezwungenheit, die ein Teil seines Lebens geworden war, mit ihr sterben. Er schluckte, rang darum, einen kühlen Kopf zu bewahren. Das war sein Kampf ! Sie verlangte nach seinen Worten ! Er musste es gut machen. Das war alles, was er tun konnte. Und genau das würde er auch, bis sie …

»Bitte erzähl.« Er las die Worte mehr von ihren Lippen, als dass er sie hörte. »Sprich zu mir, sprich einfach weiter, ganz gleich, was …«

Aileen verstummte.

Und in diesem Augenblick verstand er, dass sie aufgehört hatte zu kämpfen. Verstand, dass sie gehen würde. Aber das würde er nicht zulassen ! Er würde nicht aufhören zu kämpfen. Niemals !

»Der Herbst neigte sich schon dem Winter zu«, begann er leise. »Und ich hatte den Auftrag, hundert Salme zu fangen …«

Drei Jahre zuvor in den Mondbergen

Farodin stand nackt im Fluss und spürte die Blicke wie glühende Nadeln in seinem Rücken. Es waren keine feindseligen Blicke. Seine Familie, die Sippe des Askalel, war in den Mondbergen hoch angesehen. Er hatte nichts zu fürchten, obwohl er auf dem besten Weg war, dem Namen der Seinen Schande zu machen. Morgen früh schon hatte er, einem alten Vertrag zur Folge, hundert Salme bei der Koboldsippe vom Nachttann abzuliefern. Im Gegenzug stellten die Kobolde seiner Familie zwei Diener, die ihnen ein Jahr lang die lästigen Alltäglichkeiten abnahmen. Es gab viele solcher Familienbündnisse. So kamen die Elfen der Mondberge zu ihrer Dienerschaft, jenen zahllosen helfenden Händen, die in den Palästen seiner Sippe Böden schrubbten, Küchendienste erledigten, Ställe und Kloaken reinigten und die Gärten wässerten, kurz – all das taten, was wenig Geist, aber einige Ausdauer verlangte. Und Farodins Sippe gewährte ihren Dienern und deren Familien Schutz und andere Dienste. Vor Jahrhunderten schon waren sie von den Alben zu den Hütern ihrer Kinder berufen worden – all jenen Geschöpfen, denen es an Verstand oder Kraft fehlte, sich allein oder unter ihresgleichen gegen die Unbilden des Lebens zu wappnen. Für die Kobolde etwa war das Fangen der Salme ein gefährliches Unterfangen, denn sie waren kaum fünf Hand hoch, und etliche von ihnen waren in der Vergangenheit von den großen Fischen in tiefes Wasser gezerrt worden und jämmerlich ertrunken. Morgen früh jedoch würden die Kobolde ihre Salme in Empfang nehmen und über Birkenholzfeuern räuchern. So blieben die Fische haltbar, und niemand aus der Sippe vom Nachttann würde den Winter über Hunger leiden. War die Sache mit den Salmen erst einmal erledigt, galt es einen Keiler zu jagen, der großen Flurschaden anrichtete. Und in fünf Tagen würde er einem großen Ratstreffen am Gamshaupt beiwohnen müssen, wo seine Sippe die Streitereien des kleinen Volkes schlichten würde.

Farodin hasste das endlose Gezänk der Kobolde um gestohlene Eier, verhexte Haustiere, Wiesenbrände und mutwillig herbeigeführte Steinschläge. Lieber streifte er durch die Wälder und lauschte den Geschichten, die die Natur zu erzählen hatte. Dem Wispern der Eichen, dem Keckern der Elstern, dem vielstimmigen Murmeln der Bergbäche. Wenn Farodin jagte, konnte er derart still verharren, dass die scheuen Waldvögel seinen Bogen für einen Ast hielten und die jungen Füchse um seine Stiefel tollten, als wäre er ein Baum. In seiner Sippe war es wohlbekannt, dass er die Streifzüge durch die Wälder philosophischen Streitgesprächen oder Abenden zum Klang der Harfe vorzog. Er war kein begabter Zauberweber, kein herausragender Fechter, kein Dichter, ja nicht einmal angenehme Gesellschaft, denn er war einsilbig, und wenn er sprach, dann war er oft so direkt, dass es schon fast beleidigend war. So vermisste man ihn nicht, wenn er manchmal wochenlang durch die Wälder streifte.

Farodin war nicht immer so gewesen. Als Kind hatte er die rauschenden Feste in den Palästen an den Südhängen der Mondberge geliebt. Die Musik, den Tanz, das ausgelassene Lachen. Das helle Klingen der Schwerter in den Fechtstunden und die Geschichten der Reisenden, die von den unheimlichen Albenpfaden berichteten, den tödlichen Wintern Carandamons oder dem legendären Fest der Lichter, wenn am fernen Waldmeer in der Dschungelstadt Vahan Calyd Emerelle, alle achtundzwanzig Jahre aufs Neue, zur Herrscherin Albenmarks gekürt wurde. Das Glück seiner Kindheit endete, als man hinter seinem Rücken über ihn zu tuscheln begann, er sich immer häufiger zurückzog und schließlich zum Eigenbrötler wurde. Erst Jahre später erfuhr er den Grund für das wachsende Misstrauen seiner Sippe: Sie befürchteten, Askalel, der Begründer seiner Familie, sei in ihm wiedergeboren worden. Einst war Askalel ein Held in den Drachenkriegen gewesen – und ein Vertrauter Emerelles, als deren Herrschaft noch jung war. Aber er hatte auch eine dunkle Seite gehabt. Nur die Ältesten wussten darum, was genau damals geschehen war, aber es hieß, er sei jähzornig gewesen und habe jene unsichere Grenze überschritten, die den Krieger vom Mörder trennt.

Farodin lächelte grimmig. In seiner Sippe wimmelte es von schwatzhaften Dummköpfen. Er jedenfalls hatte nie das Blut von Albenkindern vergossen ! Die Einzigen, die ihn zu fürchten hatten, waren Fische.

Der melancholische Ruf des Silberschweifs in den nahen Zedernwäldern schreckte ihn aus seinen Erinnerungen auf. Die Stunde der Dämmerung war nicht mehr fern. Ihm lief die Zeit davon, und diese Gafferin in seinem Rücken war immer noch dort. Sie störte ihn !

Eine Nymphe war es nicht, überlegte er. Und auch keine Dryade, Najade oder Oreade. Dafür war das spärlich bewachsene Tal mit dem schmalen Uferstreifen zu reizlos und karg. Kobolde hätten sich niemals so lange still verhalten, und Faune und Minotauren würden einen unbekleideten Elfen kaum eines Blickes würdigen. Ihr Interesse gälte allein den gefangenen Salmen am Ufer. Also musste der Beobachter ein Elf sein – eine Elfe, vermutete er –, auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, wer sich in diese einsame Gegend verirrt hatte. Lag da nicht auch der Geruch eines Pferdes in der Luft ? Der Wind stand ungünstig und … Ach, verdammt ! Er war hier, um Fische zu fangen. Was scherte es ihn, ob ihm jemand dabei zusah !

Ein Salm kämpfte sich gegen die Strömung den Fluss hinauf, ein riesiges Tier, mehr als einen Schritt lang. Der Fisch war sichtlich erschöpft, aber noch immer vorsichtig. Farodin verharrte und fixierte abwechselnd das sich nähernde Tier und seinen eigenen Schatten, der lang auf das Wasser fiel. Der Fisch würde den Schatten suchen – und den abgetrennten Fuß des Schwertreihers, den Farodin mit einer Seidenschnur um den Knöchel gebunden trug. Eine Drüse in diesem Vogelfuß sonderte einen Duftstoff ab, der Fische anlockte. Auch lange über den Tod des Reihers hinaus. Der Salm hatte Farodin nun fast erreicht, und obwohl die Strömung hier schwächer wurde, kostete es das Tier viel Kraft, sich weiter flussaufwärts zu bewegen. Zum Ort seiner Geburt. Die meisten Salme starben dort. Farodin hatte dieses Verhalten nie verstanden. Warum schwammen sie zurück zu den klaren Bergseen, um zu laichen und zu sterben ?

Aufmerksam betrachtete der Elf das Muster aus rostbraunen Flecken und die deutlich sichtbare Narbe auf dem Rücken des Salms. Dieser Fisch war ein Kämpfer.

Noch zwei Schritt.

Jetzt reichte der schwache Schwanzschlag kaum noch aus, ihn gegen die Strömung auf der Stelle zu halten.

Komm, dachte Farodin. Komm her !

Als der Salm mit ein paar plötzlich wieder kräftigen Schwanzschlägen die Schattenfläche auf dem Wasser durchquerte, stieß Farodin hinab. Pfeilschnell packte er den Fisch dicht vor der Schwanzflosse und riss ihn aus dem Wasser. Der Salm bäumte sich verzweifelt auf. Sein Leib schwang wild hin und her und schlug Farodin gegen die Brust, doch der Elf hielt ihn eisern gepackt. Mit weitem Schwung warf er ihn auf das Ufer. Dorthin, wo all die anderen Salme lagen. Erstickt, mit weit aufgerissenen Mäulern.

»Das war eindrucksvoll !«, erklang eine dunkle Frauenstimme. Ein Hauch von Spott lag darin, und Farodin drehte sich verärgert zu ihr um. Er hatte sich also nicht geirrt – es war eine Elfe. Breitbeinig stand sie im Schatten eines Felsens, die Arme vor der Brust verschränkt, das Lächeln selbstgefällig. Sie wusste, dass sie gut aussah. Ein Stück den Hang hinauf, am Waldrand, weidete ein Schimmel. Von seinem Sattel hing ein Schwert. Die fremde Elfe war eine Kriegerin – und sie wollte, dass er das wusste.

»Was gibt es hier zu sehen ?«, fragte er ärgerlich.

»Eine Menge.« Sie lächelte und ließ ihren Blick von seinem Gesicht abwärts wandern und dann dort verweilen, wo es am unschicklichsten war. »Du bist schnell, geschickt und ausdauernd«, fuhr sie etwas sachlicher fort. »Ich streife umher und suche Männer wie dich.«

Er musterte sie. Zunächst überrascht, dann mit wachsendem Zorn. Sie log ! Dieses Tal war viel zu abgelegen, um zufällig hierherzukommen. Sie hatte nicht irgendwelche Männer gesucht, sie hatte ihn gesucht. »Ich stehe nicht zur Verfügung«, entgegnete er barsch.

»Unsere Königin braucht jeden Schwertkämpfer. Die Trolle haben sich erhoben, um sich Albenmark untertan zu machen. Ein großer Krieg steht bevor. Selbst ihr in den Mondbergen müsst davon gehört haben.«

Das war genug ! Sie ignorierte seine Absage einfach ! Diese arrogante, eingebildete Hofelfe. So wie sie stellte er sich Emerelle vor. Auch von der Königin hieß es, dass sie allein ihre eigene Meinung gelten ließ. Ohne die Elfe eines weiteren Blickes zu würdigen, watete Farodin ans Ufer, nahm einen Stein und versetzte dem Salm einen heftigen Schlag. Heftiger, als nötig gewesen wäre. Farodin atmete langsam aus. Sonst ließ er sich nicht so leicht in Rage versetzen. Ob er der Reiterin einfach sagen sollte, dass sie ihrer Wege ziehen könne ? Nein, entschied er, das wäre zu unhöflich. Es genügte, dass er sich dazu hatte hinreißen lassen, seinen Ärger an einem Fisch auszulassen. Seine Sippe hatte die Gesetze der Gastfreundschaft stets hochgehalten. Und jeder Reisende in den Mondbergen durfte diese Gastfreundschaft beanspruchen – selbst so eingebildete Schnepfen wie diese Kriegerin ! Also blickte er erneut zu ihr auf. »Ich habe keinen Streit mit Trollen.« Dass man seiner Stimme keinerlei Ärger anhörte, machte ihn stolz.

»Das mag sein«, entgegnete sie kühl. »Aber die Trolle werden auch hierherkommen. Und wenn sie dich treffen, werden sie nicht wissen, dass sie nicht im Streit mit dir liegen. Weißt du, was sie mit toten Elfen tun ?«

Farodin wusste es sehr genau und schüttelte den Kopf über ihre billige Rhetorik. Damit mochte man vielleicht einen Kobold provozieren, aber nicht ihn ! Für was hielt sie ihn, dass sie es auf diesem Wege versuchte ? Für einen dümmlichen Hinterwäldler ? Ja, die Trolle waren Leichenfresser. Aber was bedeutete das schon ? Elfen wurden wiedergeboren. Wenn das Leben sie verließ, dann war ihr Körper ein Nichts. So unbedeutend wie die abgestreifte Haut einer Schlange. »Was schert es einen Toten, was mit der leiblichen Hülle geschieht, die er abgelegt hat ?«

»Es schert die Lebenden, die dabei zusehen müssen. Es …« Sie verstummte, und mit Erstaunen bemerkte er, wie sie mit sich rang, um ihre Gefühle wieder unter Kontrolle zu bringen. Was sie wohl erlebt hatte ? Er hatte sie nicht verletzen wollen. Mit einem Mal tat sie ihm leid. Sie wirkte nun verletzlich, fast wehrlos. Die Maske der kühlen Kriegerin war gefallen. Überraschend schnell … Oder sollte er das nur glauben, und sie versuchte, ihn nun auf subtilere Art für ihre Sache zu gewinnen ? Aufmerksam taxierte er sie. Das lange, schwarze Haar fiel ihr in Locken in das schmale Gesicht, verdeckte halb ihre grünen Augen, nicht aber ihren Mund. Die Lippen waren von einem dunklen Rot, wie er es noch nie zuvor bei einer Elfe gesehen hatte. Sie war zweifelsohne hübsch.

»Und ? Zufrieden ? Liest du nur in meinem Gesicht, oder bildest du dir schon ein, einen Blick auf meine Seele werfen zu können ?«

Er fühlte sich ertappt. »Was willst du von mir ?«

»Ich habe einiges über dich gehört, Farodin. Und ja … Ich gestehe, ich bin nicht zufällig hier. Ich bin geschickt worden, um dich zu den Schwertern der Königin zu holen.«

»Ich bin kein Krieger«, sagte er kühl. Er konnte sich schon denken, was sie gehört hatte. Das Gefasel vom wiedergeborenen Askalel. »Für das Kämpfen …« Er machte mit Bedacht eine kurze Pause, um seinen nächsten Worten mehr Gewicht zu verleihen. »… und für das Morden habe ich kein Talent.«

Sie lachte, als habe er einen guten Scherz gemacht. »Du bist schnell, geschickt und hast offenbar Gefallen daran, dich zu widersetzen. Ich bin überzeugt, dass ich aus dir einen ausgezeichneten Schwertkämpfer machen könnte. Es heißt auch, dass du das Erbe Askalels in dir trägst. Er war ein Held …«

»Askalel«, sagte Farodin müde. Selbst hier in der Wildnis verfolgte sein Ahnherr ihn noch. Der Drachentöter ! Unüberwindbar mit dem Schwert. Dutzende Duelle hatte er gefochten, so sagten jene, die ihn verehrten. Ist ein Duell, dessen Sieger von Anfang an feststeht, ein Mord ?, fragten die anderen. Etliche der Elfen, die unter Askalels Klinge starben, waren Männer und Frauen, die mutig genug gewesen waren, die Entscheidungen der Königin in aller Öffentlichkeit infrage zu stellen. Soweit Farodin wusste, konnte niemals bewiesen werden, dass es einen Zusammenhang zwischen der Missgunst Emerelles und dem Tod in einem Duell mit Askalel gab.

Schlimmer noch waren die Gerüchte um den Selbstmord Melianders, des gelehrten Bruders der Königin, der mehr als jeder andere über die Geheimnisse der Zerbrochenen Welt und der Drachenkriege gewusst hatte. Es hieß, er habe nicht durch seine eigene Hand, sondern durch Askalels Schwert den Tod gefunden.

Mit alldem hatte er, Farodin, nichts zu schaffen ! »Wenn du dich über mich erkundigt hast, dann musst du doch wissen, dass ich noch nie ein Duell ausgetragen habe. Ich bin nicht streitsüchtig und leider auch nicht selbstlos. Eigenbrötlerisch vielleicht …« Er blickte zu den toten Fischen. »Man könnte mich allenfalls den Schrecken der Salme nennen. Wie es aussieht, ist Heldentum nicht vererbbar. Ich bin nicht der, den du suchst. Und nun verzeih mir. Ich habe zu fischen.«

»Ich habe Emerelle versprochen, dich an ihren Hof zu bringen.«

Ihr beharrliches Auftreten ärgerte ihn zunehmend. »Man sollte nicht versprechen, was man nicht halten kann.«

»Und dass die Trolle Albenmark überrennen, interessiert dich nicht ?«

Er seufzte. Wie oft würde er ihr noch erklären müssen, dass er nicht mitkommen würde ? Wie unhöflich musste er werden, bis sie endlich begriff, dass sie ihn nicht gewinnen konnte ? »Meine Welt ist klein. Sie umfasst nur ein paar Täler hier in den Mondbergen. Hier kannst du fragen, wen du willst – du wirst jedes Mal hören, dass meine Sippe und ich uns einmischen. Es ist uns durchaus nicht egal, was hier geschieht. Wir tragen Verantwortung. Dazu gehört auch, dass ich bis Sonnenuntergang noch dreizehn Salme aus dem Fluss hole. Aber in alles, was jenseits der Welt geschieht, die ich überblicken kann, mische ich mich nicht ein. Und ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass sich hier irgendetwas ändern wird, wenn ein Troll auf dem Thron in Burg Elfenlicht sitzt.«

Sie trat aus dem Schatten des Felsens. Ihr auffallend blasses Gesicht betonte ihre dunklen Lippen. »Ich schlage vor, wir spielen um dich.«

Farodin lachte laut auf. »Wie bitte ?« Das war ja absurd ! So etwas konnte sich nur ein Höfling ausdenken.

»Eine Wette. Du suchst dir etwas aus, worin du wirklich gut bist. Wie etwa, Fremde unhöflich zu behandeln. Ich muss dich darin übertreffen. Wenn ich gewinne, begleitest du mich zur Burg Elfenlicht. Dort kannst du gern der Königin ins Gesicht sagen, dass du ihr nicht dienen willst.«

Er starrte sie ungläubig an. Sie meinte es tatsächlich ernst ! »Und wenn ich gewinne ?«

»Dann reite ich davon und erzähle, ich hätte dich leider nicht finden können. Offensichtlich wünschst du dir das ja.«

»Das genügt mir nicht !« Obschon er äußerlich vollkommen ruhig blieb, tobte er innerlich über ihr arrogantes Auftreten. Nur weil nun auch sie sich in den Kopf gesetzt hatte, er sei der wiedergeborene Askalel, würde er sich bestimmt nicht dazu machen lassen. Er allein war Herr seines Schicksals ! Und ihr Wetteinsatz – lächerlich ! Was sah sie in ihm, außer Askalel ? Einen Dummkopf, nur weil er die Einsamkeit der Wälder dem hohlen Spektakel bei Hofe vorzog ?

Diese Lippen, in deren Winkeln der Spott tanzte ! Gewiss hatte sie etliche Verehrer. Also gut, dachte er, mal sehen, wie weit dein Hochmut dich trägt. Und dann lächelte auch er. »Wenn ich gewinne, verlange ich einen leidenschaftlichen Kuss von dir.«

Ja, das hatte gesessen ! Er sah deutlich, dass sie Mühe hatte, ihren Gleichmut zu wahren.

»Und ? Wagst du immer noch eine Wette ?«

Sie fand schnell zu ihrem überheblichen Lächeln zurück. Ärgerlich schnell. »Worin soll ich dich überbieten, Farodin ?«

»Geh in den Fluss und fang einen Fisch auf dieselbe Art, wie ich es tue.«

Sie lachte. »Das hältst du für so außergewöhnlich, dass ich es dir nicht gleichtun könnte ? Ehe du eine Wette auf meine Ungeschicklichkeit abschließt, solltest du etwas gesehen haben … Heb einen Kiesel auf und wirf ihn nach mir.«

Farodin griff nach einem Kiesel, wog ihn in der Hand und sah sie fragend an.

»Ich weiß, dass du nicht übel Lust hättest, ihn mir an den Kopf zu werfen. Warte, noch einen Augenblick.« Sie schloss die Augen. »Nun wirf !«

Das ging zu weit. Das konnte er nicht tun. Sie …

»Wirf den Stein !«

Er holte aus und legte nicht besonders viel Kraft in den Wurf.

Ihre Hand schnellte vor. Dicht vor ihrem Kopf fing sie den Stein im Flug. Mit geschlossenen Augen ! Sie lachte triumphierend auf. »Willst du immer noch um einen Fisch wetten, Farodin ?«

»Du bist eine Zauberweberin …«

»Und du bist von unübertrefflichem Scharfsinn !«

»Diese Aufgabe mit Zauberei zu lösen ist Betrug. Magie macht alles möglich. Es ist …«

»Ich sehe, du weißt auch nicht sehr viel über Zauberei. Also gut. Ich fange einen Fisch mit bloßer Hand und ohne magische Tricks. Wenn es mir gelingt, kommst du mit mir.«

Farodin musterte sie erneut. Sie war so verdammt selbstsicher. Sie tat, als wisse sie alles über ihn – und er, er wusste nichts über sie. War sie berühmt ? Oder einfach nur eine Aufschneiderin ? »Wie heißt du ?«

»Aileen.«

Farodin schluckte. Er hatte tatsächlich schon von ihr gehört. Die berühmte Zauberweberin Aileen … Mit wachsender Irritation blickte er zu dem Schwert, das vom Sattel ihres Pferdes hing. Dass sie auch eine Kriegerin war, hatte er nicht gewusst. Ob sie am Ende log ?

»Keine Zauberei ?«, hakte er nach.

»Mein Wort !«

»Hast du schon einmal Salme gefangen ?«

»Nein.«

Diese Närrin. Ob sie glaubte, ihm beim Fischen zuzusehen reichte aus, um selbst eine Fischerin zu werden ? Er verbeugte sich auf übertriebene Art, um sein siegessicheres Lächeln zu verbergen. »Wohlan denn, schöne Fremde, zeig mir deine Kunstfertigkeit.«

»Solltest du darauf spekuliert haben, dass auch ich meine Gewänder ablege, um einen Fisch zu fangen, muss ich dich enttäuschen.«

»Wie kommst du darauf, dass ich dich nackt sehen möchte ?«

Sie ging an ihm vorüber und bedachte ihn mit einem spöttischen Blick. »Etwas daran, wie du mich angezogen anschaust, verrät es mir.«

Arrogante Ziege, dachte er, verbiss sich aber jeden Kommentar. Sollte sie sich doch das Leder ihrer Stiefel ruinieren ! Ein wenig unsicher sah er an sich herab, ob es noch anderes als seine Blicke gab, das sie zu ihrer selbstsicheren Behauptung gebracht haben mochte. Erleichtert sah er, dass dem nicht so war. Während er mit ihr gestritten hatte, hatte er ganz vergessen, dass er nackt war. Jetzt spürte er, wie ihm das Blut in die Wangen stieg, und dieser Umstand irritierte ihn. Ebenso sehr wie die Tatsache, dass ihm plötzlich der Gedanke kam, ob diese fremde Elfe seinen Körper hager oder auf andere Art unansehnlich gefunden haben könnte. Schließlich hatte sie ihm die meiste Zeit über geradewegs in die Augen gesehen. Die Jahre in den Wäldern hatten alles Fett von seinem Körper geschmolzen – er war gestählt, aber nicht übermäßig muskulös. Irritiert über seinen plötzlichen Anflug von Eitelkeit schüttelte er den Kopf und beschloss, dass es das Beste wäre, dafür zu sorgen, dass Aileen schnellstmöglich wieder verschwand. Ein zauberndes, arrogantes Hofelfchen war das Letzte, was er in seinem Leben gebrauchen konnte.

Aileen war derweil bis in die Mitte des Flusses gewatet. Sie bewegte sich geschickt auf den schlüpfrigen Kieseln. Dann verharrte sie wie versteinert. Sie hatte Geduld, dass musste er ihr lassen.

Nicht mehr viele Fische kamen den Fluss hinauf. Farodin hatte kein Glück; die Salme schienen ihn zu meiden, und es dauerte auch fast eine halbe Stunde, bis einer nahe genug an Aileen vorbeischwamm. Schnell wie ein Reiher auf der Jagd stieß sie hinab und hob den großen Salm aus dem Wasser. Der Fisch bäumte sich auf, wand sich, schlug mit dem Schwanz, und einer der Hiebe traf Aileen ins Gesicht. Sie taumelte zurück, glitt auf den Kieseln aus und stürzte rücklings ins Flussbett.

So schnell kommst du von deinem hohen Ross herunter, dachte er voller Genugtuung.

Sie nahm ihren Sturz überraschend leicht. Als sie sich wieder aufrappelte, lachte sie sogar. Der Salm war verschwunden, und ihre kostbaren Kleider hingen nass an ihr hinab. Ihre elegante Erscheinung hatte arg gelitten, das Haar hing ihr in tropfnassen Strähnen ins Gesicht, und dennoch war sie bester Laune. »Gewonnen !«, rief sie. »Ich habe einen gefangen. Ganz ohne Magie !«

Er erwartete sie mit versteinerter Miene am Ufer.

»Nimm es nicht so schwer.« Sie lächelte. »Ich verliere sehr selten.«

Durchnässt, aber triumphierend sah sie hinreißend aus. Plötzlich konnte er sich vorstellen, einen Abend am Lagerfeuer mit ihr zu verbringen. Natürlich nur, weil sie ihre Kleider trocknen musste. So konnte er sie schließlich nicht reiten lassen, triefnass und als Verliererin. Voller Vorfreude dachte er an das, was nun kommen würde. Würde sie Haltung bewahren ? Oder ihn beschimpfen ? Die Freude über ihren vermeintlichen Sieg hatte nun lange genug gedauert.

»Du hörst nicht sonderlich gut zu«, bemerkte er schmunzelnd. »Erinnerst du dich daran, was ich gesagt hatte ? Geh in den Fluss und fang einen Fisch auf dieselbe Art, wie ich es tue.« Er deutete auf all die toten Salme am Ufer. »Dir mangelt es an Ernsthaftigkeit. Einen Fisch in der Hand zu halten heißt nicht, ihn gefangen zu haben. Gefangen hast du ihn, wenn er tot am Ufer liegt.«

Sie strich sich das nasse Haar aus der Stirn. Dabei wirkte sie erstaunlich gelassen. »Du bist also ein schlechter Verlierer.«

»Ich habe nicht verloren«, entgegnete er mit herablassender Milde.

»Dann hast du die Regeln schlecht erklärt.«

»Ist es so schwer zu akzeptieren, dass du schlecht zugehört hast ?«

Dieses Funkeln in ihren Augen. Ja, sie war auch eine Kriegerin, und jetzt, das wusste er, würde sie am liebsten auf ihn losgehen. Sie war es offensichtlich nicht gewohnt zu verlieren. Er lächelte. »Wir können es ja noch einmal versuchen. Ganz einfache, klare Regeln diesmal. Wir beide gehen in den Fluss. Wir beide stehen ganz still. Und derjenige, zu dem zuerst ein Salm kommt, hat gewonnen.«

Sie maß ihn abschätzend mit Blicken. Ganz offensichtlich traute sie ihm nicht mehr. »Was hast du da um deinen Knöchel gebunden ?«

Kannte sie die Bedeutung einer Schwertreiherkralle ? Er war nicht gerade ein erfahrener Betrüger, aber die Aussicht, sie noch einmal als triefnasse Verliererin vor sich zu sehen, gefiel ihm. Wenn ihre Arroganz erst einmal gebrochen wäre, würde er ein sehr zuvorkommender und höflicher Gastgeber sein.

»Das ist nur ein Glücksbringer !«, log er und lächelte.

»Du bist abergläubisch ?« Sie runzelte ungläubig die Stirn. »Und das hilft ? Diese … Das ist eine Vogelkralle, nicht wahr ?«

»Ja, ja. Daran zu glauben hilft.« Farodin senkte den Blick und befürchtete, dass sie dem Spiel nun ein Ende setzen würde. Sicherlich merkte sie, dass etwas nicht stimmte.

Doch nichts dergleichen. Stattdessen nickte sie ernst. »Gibt es noch irgendwelche Doppeldeutigkeiten bei der neuen Wette ?«

Überrascht schüttelte er den Kopf. »Nein.« Konnte es wirklich sein, dass sie jemandem, den sie für den wiedergeborenen Askalel hielt, blindlings vertraute ? Oder plante auch sie, ihn zu hintergehen, und er war zu dumm, um zu durchschauen, auf welche Art sie es tun würde ?

Sie lächelte ihn siegessicher an. »Dann gehen wir.«

Farodin zuckte mit den Schultern, folgte ihr ins Wasser und betrachtete nicht ohne Gefallen ihre schlanken Beine, die sich nun durch den nassen Stoff ihrer Hose abzeichneten. Sein Blick wanderte höher, doch dann wandte er sich abrupt ab und sah auf den Fluss hinaus, der im letzten Abendlicht wie ein breites Band aus Gold schimmerte. Sie war so anders als die Frauen, die er bisher getroffen hatte. So selbstbewusst und zugleich so … leichtgläubig ? Nein, das war das falsche Wort. Sie vertraute ihm, ohne ihn zu kennen.

Plötzlich schämte er sich für den Betrug, den er plante. Sein Blick wanderte zu der Reiherkralle. Er würde gewinnen. Wenn sie die Wette ehrlich anging, konnte sie nicht siegen.

Ein Salm kam den Strom hinauf, den aufgewölbten, hellen Bauch voller Eier. Farodin versuchte, den Fisch nicht anzuschauen. Manchmal genügte ein Blick, um sie scheu zu machen. Sie spürten das irgendwie. Stattdessen beobachtete er Aileen aus den Augenwinkeln. Sie stand ruhig. Konzentriert. Starrte auf das Salmweibchen. Und dann sah er es: Der Fisch schwamm auf sie zu ! Hatte Aileen einen Bann gesprochen ? Anders war das nicht zu erklären. Aber dann änderte der Salm die Richtung, hielt nun auf Farodin zu, schwamm dicht an seinem linken Bein vorbei, machte eine enge Kehre und kam zurück.

»Das war eindeutig«, sagte Aileen. Mit hängenden Schultern ging sie zurück zum Ufer.

Farodin folgte ihr und war erstaunt, wie wenig sie es verstand, ihre Enttäuschung zu verbergen. Er hingegen war sehr gut darin, andere nicht merken zu lassen, was er fühlte. Was in ihm vorging, war nichts, das er teilen wollte.

Aileen blieb stehen, und als er sie fast erreicht hatte, wandte sie sich um. Sie wirkte steif. »Du kannst jetzt deinen Siegerpreis einfordern.«

»Ich …« Sich jetzt zu offenbaren war dumm, das wusste er nur allzu gut. Aber er konnte sie nicht betrügen, konnte nicht einen Preis einfordern, der ihm nicht zustand. »Ich … Also … Ich hatte einen Glücksbringer. Das war kein ehrlicher Sieg.«

Sie legte den Kopf schief und musterte ihn nachdenklich. Solche Betrügereien waren sonst nicht seine Art, aber sie hatte ihn provoziert, und diese kleine Rache hatte ihm gefallen. Was sie jetzt wohl dachte ?

»Ich gehe heute jedenfalls nicht noch einmal ins Wasser«, sagte sie und lächelte vieldeutig. »Wir lösen das jetzt anders.« Aileen nahm ein Medaillon von ihrem Hals, ein flaches Goldstück mit einem geprägten Drachenkopf auf der einen und einer Blüte auf der anderen Seite. »Was wählst du ?«

»Den Lotus.«

Sie sah ihn überrascht an. »Du kennst diese Blume ? In den Mondbergen kann man sie nirgends finden.«

Als Kind hatte er sich oft in die Bibliothek im Palast seiner Familie zurückgezogen und stundenlang in den reich illustrierten Bänden geblättert. Sein Kopf war vollgestopft mit allem erdenklichen Wissen über Blumen, exotische Tiere, Stammestätowierungen von Kobolden und Trollen. Tausend Dinge, für die er wohl nie eine Verwendung haben würde und die sich doch tief in seiner Erinnerung festgesetzt hatten. Sie aber hielt ihn offenbar für einen Tölpel.

Aileen nahm ihr Medaillon von der Kette, warf es hoch, fing es geschickt wieder auf und legte es, von der Rechten verdeckt auf ihren linken Handrücken. »Du bleibst beim Lotus ?«

Farodin nickte.

Aileen zog ihre Hand fort, und er blickte auf die goldene Blüte.

»Du hast heute wirklich Glück.«

Sie beugte sich zu ihm vor, aber er wich ihr aus. »Ich …«

»Gefalle ich dir nicht ?«

Niedergeschlagen schüttelte er den Kopf und wandte den Blick von ihr ab. »Ich … Ich habe dich doch betrogen«, flüsterte er. »Dieser Vogelfuß …«

Sie lachte leise. »Du bist kein sehr geübter Betrüger. Warum hast du dir den Kuss nicht geholt ?«

»Ich … Weil … Du solltest etwas wissen. Der Reiherfuß …« Er räusperte sich verlegen. »Du hättest vorhin gewonnen. Der Salm wollte zu dir kommen. Nur weil ich dich hintergangen habe, kam es dazu, dass du das Medaillon geworfen hast. Es wäre unanständig, wenn ich jetzt den Preis einfordern würde. Ich … So bin ich nicht.«

»Wie bist du nicht ? Unanständig ?« Aileen lachte laut auf. »Du bist wirklich ungewöhnlich. Wenn es dein Gewissen entlastet: Ich habe dich auch betrogen.«

Verblüfft musterte er sie. »Was ? Aber … Wie ?«

»Du solltest dich jetzt sehen. Du bist einfach entwaffnend. Hier !« Aileen drückte ihm ihr Medaillon in die Hand. »Wirf es in die Luft, fang es auf, und es wird einen Drachenkopf zeigen.«

»Es ist verwunschen ?«

»Genau. Es liegt immer die Seite oben, an die ich gerade denke.«

»Dann hast du ja absichtlich verloren !«

»Hat man verloren, wenn das geschieht, was man sich wünscht ?« Sie lächelte. »Es wäre also nicht sehr ehrenhaft, wenn du mir nicht erlauben würdest, meine Wettschulden einzulösen. Zumal du es warst, der diesen Einsatz bestimmt hat.«

Und dann beugte sie sich vor und küsste ihn. Er verstand nicht, warum sie so handelte, aber er leistete keinen Widerstand. Ihr Kuss raubte ihm den Atem. Als ihre Lippen sich trennten, fühlte er sich benommen. Es war nicht sein erster Kuss gewesen, aber es hatte sich noch nie so angefühlt. Schnell schob er den Gedanken fort. Man erzählte sich schließlich allerlei über den Hof der Elfenkönigin. Angeblich herrschten dort recht lockere Umgangsformen. Farodin räusperte sich. »Ich sollte ein Feuer machen. Du holst dir noch den Tod in deinen nassen Kleidern.«

»Du hast recht. Ich sollte sie ablegen.«

»So habe ich das nicht gemeint. Ich meine … Ich …« Er verstummte und musterte sie. Wieso stammelte er ständig, wenn er mit ihr sprach ? Und warum entschuldigte er sich andauernd bei ihr ?

»Findest du es anstößig, wenn ich mich ausziehe ? Du bist doch auch nackt.«

»Aber ich war fischen.«

Sie lachte. »Ich war auch fischen. Also muss dich das nicht beunruhigen.«

Ihr machte es also Spaß, ihn zu überrumpeln. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. »Also ich … ich geh dann mal Holz sammeln«, sagte er. Und genau das tat er auch.

Als er zurückkehrte, hatte sie ihr Pferd abgesattelt und trockene Kleider angelegt. Er war erleichtert und zugleich ein wenig enttäuscht.

»Ich werde Feuer machen, während du dich anziehst«, verkündete sie, und er nickte. Als er zu dem Felsen am Ufer ging, auf dem seine Sachen lagen, wurde ihm bewusst, dass er seit einer ganzen Weile stets genau das tat, was sie wollte. Das gefiel ihm nicht. Seit sie erschienen war, war sein Leben durcheinandergeraten. Weder hatte er genügend Fische gefangen noch die toten Salme ausgenommen. Er würde seiner Sippe Schande bereiten, wenn er das Abkommen mit den Kobolden nicht erfüllte. Er sollte jetzt zurückgehen und ihr erklären, dass er noch jede Menge zu tun hatte. Das würde, das musste sie verstehen. Aileen hatte bereits ein Feuer entzündet und wirkte, wie er verwundert feststellte, bedrückt. Ganz anders als eben. Auf einmal wusste er nicht mehr, wie er ihr sagen sollte, dass er jetzt gehen würde.

»Bringt dein Vogelfuß auch Glück oder lockt er einfach nur Fische an ?«

»Hm … mit Vogelfüßen ist das so eine Sache. Ich kenne Kobolde, die der festen Überzeugung sind, dass man einen sehr mächtigen Talisman gewinnt, wenn man einen schneeweißen Flusskiesel in eine vertrocknete Rabenkralle klemmt. Andere halten Füße von in einem vom Blitzschlag getroffenen Baum ausgebrüteten Lerchen für Glücksbringer. Vor allem, wenn man sie noch mit Silberdraht umwickelt.« Er verstummte, beobachtete, wie sie am Feuer saß, die schmalen Schultern hochgezogen, den Kopf gesenkt.

»Ich habe heute auf eine Art gelacht wie schon lange nicht mehr«, sagte sie leise.

Ihre melancholische Stimmung berührte ihn, und er verwarf die Worte, die er sich zurechtgelegt hatte. Sie so am Feuer sitzen zu lassen wäre kaltherzig. Auf der anderen Seite: Worüber sprach man mit einer Elfe, die am Hof der Königin verkehrte ? Er war in derlei Konversation nicht geübt.

»Ich dachte, bei Hof gäbe es jeden Tag ein Fest, und alles wäre ganz wunderbar«, versuchte er es.

Sie hob abrupt den Kopf, und in ihren Augen funkelte Zorn. Ob sie dachte, dass er sie verspotten wollte ? »Das glaubst du wirklich, nicht wahr ?« Ihr Blick veränderte sich. Der Zorn wich einer tiefen Traurigkeit.

»Habe ich etwas Falsches gesagt ?«

»Die Zeit der Feste ist vorüber, seit vielen Monden schon. Selbst hier in der Wildnis solltet ihr gehört haben, was die Trolle mit den Elfenfürsten von Vahlemer getan haben. Meine Eltern waren dort. Meine Mutter …« Sie drehte den dünnen, goldenen Ring an ihrem linken Mittelfinger. Drei Granate waren darin eingelassen, dunkel wie Blutstropfen. »Wir konnten sie nur noch an ihrem Ring wiedererkennen. Ich …« Ihre Stimme erstarb.

»Das tut mir leid«, murmelte er. Er wollte sie trösten, wagte aber nicht, sie zu berühren. Was, wenn sie es als Annäherungsversuch missverstand ?

Aber Aileen schien seine Gegenwart für den Augenblick ganz vergessen zu haben und starrte stumm in die Flammen. Wenn ihm die Worte doch nur leichter von den Lippen gingen und er irgendetwas sagen könnte, das sie zum Lachen bringen würde ! Er zermarterte sich das Hirn, doch ihm fielen nur hohle Floskeln ein. Schließlich band er den Schwertreiherfuß von seinem Knöchel und hielt ihn ihr wortlos hin.

Sie hob den Blick. »Ein Geschenk ?«

»Eine Erinnerung an den Tag, an dem dich ein Salm geohrfeigt und umgeworfen hat.«

Sie grinste, stand auf, nahm den Vogelfuß und betrachtete ihn von allen Seiten, ehe sie die Seidenschnur an ihren Gürtel knotete. Der verdorrte Fuß wirkte seltsam deplatziert an dem kostbaren, mit Gold beschlagenen Schwertgehänge und wollte auch nicht zu dem reich bestickten Gewand, den Stiefeln aus geprägtem Leder oder dem fein ziselierten goldenen Armreif an ihrer Rechten passen. Kurz betrachtete sie ihren neuen Talisman, dann streifte sie den Ring ab, den sie eben noch so kummervoll betrachtet hatte. »Für dich.«

Farodin schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht annehmen.«

»Sieh es einmal anders. Ich tausche eine gute Erinnerung gegen eine schlechte. Ich kann den Ring nicht mehr betrachten, ohne an den Leichnam meiner Mutter zu denken. Für dich aber ist er nicht mit Blut befleckt. Du kannst ihn ansehen, schmunzeln und an die Närrin denken, die sich von einem Fisch ohrfeigen ließ.«

»Ich …« Wieder einmal verstummte er. Sie aber nahm seine Hand, legte den Ring hinein, schloss seine Finger darum und hielt seine Faust fest umschlungen. Ihre Hände waren angenehm warm. »Ich bin froh, hierhergekommen zu sein. Froh, den Frieden hier in den Bergen gefühlt zu haben. Froh, dich getroffen zu haben, Farodin.«

»Ich bin froh, dass die Königin dich als Boten geschickt hat und nicht irgendeinen Kerl, der nichts vom Fischen versteht.«

Sie lächelte. »Ja, eine glückliche Fügung. Üblicherweise verrichte ich keine Botendienste. Es ist das erste Mal, dass ich … Sie bestand darauf, dass ich nach dir suchen soll. Ich glaube, sie wollte, dass ich nicht immerzu an das Massaker in Vahlemer denke. An die Schrecken und …« Sie schüttelte den Kopf. »Emerelle glaubt, dass du einmal ein sehr bedeutender Krieger sein wirst. Ein Elf, dessen Name die Trolle mit Furcht erfüllt.«

Farodin schüttelte den Kopf. »Falls die Königin wirklich der Ansicht ist, dass in mir mein Ahne Askalel wiedergeboren wurde, irrt sie sich.« Wusste auch Aileen um die weniger heldenhaften Geschichten, die man sich über Askalel erzählte ? Falls nicht, war es besser, wenn sie sie aus seinem Munde erfuhr. »Mein Ahne hatte eine dunkle Seite. Einige seiner Taten waren nicht … sehr ritterlich. Ich bin anders – und noch nicht einmal ein Ritter.«

»Zum Ritter wird man nicht geboren, Farodin. Ein Ritter wird man durch seine Taten.«

»Aber man sollte doch zumindest mit dem Schwert umgehen können«, wandte er verlegen ein.

Sie schüttelte den Kopf und legte ihre Hand auf seine Brust. Dorthin, wo sein Herz schlug. »Allein hier entscheidet sich, ob du ein Ritter bist. Alles andere kann man lernen.«

Ihre Berührung wühlte ihn auf, verwirrte ihn, und er wich einen Schritt vor ihr zurück. Er brauchte etwas mehr Abstand. Sein Rückzug schien sie zu verletzen. Sie setzte sich und blickte wortlos ins Feuer.

Zweifel überkamen Farodin. Wenn Emerelle sich sicher war, dass er ein bedeutender Krieger werden würde, war er dann vielleicht doch der wiedergeborene Askalel ? Hatte seine Sippe immer schon recht gehabt ? Gab es einen Beweis für die Wiedergeburt der Seele des Schlächters, den man ihm verheimlicht hatte ? Hatte seine Familie ihn hintergangen und manipuliert ? Ihm war bewusst, wie leicht es war, seinen Trotz anzustacheln. War es am Ende nicht wirklich seine eigene Entscheidung gewesen, sich in die Wälder zurückzuziehen, sondern war es seine Sippe gewesen, die ihn Zug um Zug dazu gebracht hatte, diesen Weg zu wählen ? Als ein mürrischer Einzelgänger in der Wildnis wäre ein Elf mit dem Charakter Askalels ungefährlich. Betrachtete er seine Vergangenheit aus diesem neuen Blickwinkel, fügte sich Stein um Stein zu einem neuen Mosaikbild seiner selbst zusammen. In seinem siebten Sommer hatte seine Mutter begonnen, ihn in die Geheimnisse des Zauberwebens einzuweihen. Deutlich, als sei es erst gestern gewesen, erinnerte er sich an den Rosenpavillon, in dem sie ihn unterrichtet hatte. Den mit weißem Kies bestreuten Weg dorthin. Farodin schluckte. Er war damals voller Eifer gewesen. Hatte an den Lippen seiner Mutter gehangen und so leidenschaftlich versucht, alles richtig zu machen. Dann aber ereignete sich der Unfall. Am zweiten oder dritten Nachmittag schon. Berlios, ein kleiner, weißer Welpe mit schwarzen Hängeohren und großen blauen Augen, war bei ihnen gewesen. Träge von der Sommerhitze hatte er auf dem Kies gelegen und gedöst. Farodin hatte damals versucht, ein Wort der Macht zu erlernen. Jenen Zauber, der es einem erlaubte, zu sehen, wie alles von Magie durchdrungen war und miteinander in Verbindung stand. Es war ihm schwergefallen, jene alten Worte auszusprechen. Sie waren nicht für Elfenzungen erschaffen und stammten angeblich aus der Zeit der Drachenherrscher. Immer und immer wieder hatte Farodin es versucht, hatte die Kraft all seiner Gedanken auf dieses eine vertrackte Wort gerichtet, bis Berlios plötzlich einen misstönenden Laut ausstieß. Nie würde Farodin den Anblick des kleinen Hundes auf dem Kies vergessen. Sein Innerstes hatte sich nach außen gewendet. Überall auf dem Kiesweg, den Rosen und auch auf den Gewändern seiner Mutter war helles Blut gewesen.

Natürlich hatte Farodin den Fehler bei sich gesucht. Er wusste, dass das Zauberweben gefährlich war. Viele Jahre hatte er es danach nicht mehr versucht. Und als er schließlich doch noch einige wenige Zauber erlernte, fehlte ihm jegliche Begeisterung. Nun aber fragte Farodin sich zum ersten Mal, ob es seine Mutter gewesen sein mochte, die Berlios auf so schreckliche Weise getötet hatte, damit das Interesse ihres Sohnes an der Magie versiegte. So vieles in seiner Vergangenheit bekam mit einem Mal einen neuen Sinn ! Nie hatte jemand aus der Sippe einen ernsthaften Versuch unternommen, ihm das Schwertkämpfen beizubringen. Stattdessen hatte er Bogenschießen gelernt. Er war ein guter Jäger und Fischer und ein passabler Reiter. Eine Tante hatte gar einen ganzen Winter lang versucht, ihm die Dichtkunst nahezubringen, und schließlich behauptet, er habe Talent. Dennoch hatte er nie etwas zu Papier gebracht, das ihm gut genug erschienen war, um es vor den Gästen der Familie laut vorzulesen. Alles Spiegelfechterei. Lug und Trug, erdacht mit dem Hintergedanken, ihn vor seinem dunklen Erbe zu bewahren. Ja, dachte er jetzt, seine Familie hatte alles unternommen, um zu verhindern, dass der wiedergeborene Askalel noch einmal ein bedeutender Krieger werden würde. Dass er selbst je ein bedeutender Krieger werden würde.

»Aileen, bist du eine gute Schwertkämpferin ?«, fragte er sie aufgewühlt.

»Ich habe mehrere Begegnungen mit Trollen überlebt.«

»Und du hattest einen guten Lehrer, nehme ich an.«

»Den besten. Den Schwertmeister der Königin.«

Farodin nickte geistesabwesend. Warum hatte seine Familie das alles getan ? Trotz seiner dunklen Seiten war Askalel auch ein Held gewesen. Warum wollten sie ihm, Farodin, versagen, Askalels Erbe anzutreten ? Er wäre doch nicht der Sklave seines Vorfahren. Er könnte es doch besser, könnte es anders machen. Es war doch nicht allein die wiedergeborene Seele seines Ahnen, die sein Schicksal bestimmte. Es lag doch auch in seiner Hand ! Er würde sich nicht länger in den Wäldern verstecken. Er würde endlich beginnen, seinen eigenen Weg zu gehen. Farodins Weg !

Er malte sich aus, wie er in einigen Jahren als berühmter Held zu seiner Sippe zurückkehrte, den Ältesten ins Gesicht lachte und ihnen sagte: Nichts ist vorherbestimmt. Jeder ist selbst seines Glückes Schmied.

Entschlossen blickte er zu Aileen. Das Licht des Lagerfeuers ließ geheimnisvolle Schatten über ihr Antlitz tanzen. Sie war schön. Wahrlich schön. »Ich werde mit dir kommen, aber ich muss noch eine letzte Schuld begleichen. Das musst du verstehen. Die Salme ziehen auch bei Nacht den Fluss hinauf und deshalb …«

Der Anflug eines Lächelns umspielte ihre Lippen. »Das muss die dunkle Seite Askalels in dir sein. Kaum sitze ich in meinen letzten trockenen Kleidern am Feuer, schlägst du mir vor, noch einmal mit dir ins eiskalte Wasser zu steigen.«

Verwundert sah er sie an. Er hatte sie doch um gar nichts gebeten ! Niemals hätte er erwartet, dass sie noch einmal in den Fluss stieg. In ihren Augen blitzte der Schalk. »Wäre es möglich, dass du nun doch nicht abgeneigt wärest, wenn ich meine Kleider ablegen würde ? Zum Beispiel, um so zu fischen, wie du es tust ?«

»Bei den Alben, nein ! Ich muss mich entschuldigen. Ich …« Jetzt stammelte er schon wieder ! Wie konnte sie seine Worte so missverstehen ?

Sie lachte, ein herzliches, offenes Lachen. »Du musst dich für gar nichts entschuldigen. Ich komme mit dir.«

Sie nahm ihn bei der Hand, und gemeinsam gingen sie zum Wasser hinab.

Gegenwart, im Wald nahe dem Steinkreis von Welruun

»… diesen Augenblick werde ich nie vergessen«, flüsterte Farodin und strich Aileen zärtlich durch das dunkle Haar. »Nie werde ich vergessen, wie du im Mondschein in den Stromschnellen standest. Eine Nymphe. So zart wie ein Traum aus Gischt und Mondlicht, der unter der zartesten Berührung … vergehen muss …«

»Sie hört dich nicht mehr, Farodin. Sie ist tot.«

Die Worte trafen ihn wie ein Dolch aus Eis, und er umklammerte Aileens Hand nur umso fester. »Es war in jener Nacht, dass du mich lehrtest, wie Blicke Zauber weben, die stärker sind als jeder Bannspruch.«

»Sie ist von uns gegangen, Farodin.« Eine Hand legte sich sanft auf seine Schulter. Er schrak zusammen und fuhr herum. Wer wagte es, sie zu stören ? Wer …

Hinter ihm stand Emerelle, die Königin der Elfen, das Gesicht fahl vor Gram. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen, das Kettenhemd und der weite Rock waren zerrissen. Blutspritzer funkelten zwischen den Opalen auf ihren Armreifen.

»Wir haben gesiegt, Farodin«, sagte sie, »und einen hohen Preis dafür gezahlt.«

Aileens Hand noch immer umschlungen haltend, folgte er dem Blick der Königin. Im goldenen Licht des Barinsteins konnte er nur ein kleines Stück des Waldes ringsherum erkennen. Der Boden war zerstampft. Überall lagen Tote. So viele ! Aileen war nun eine von ihnen geworden. Sie hatte nur fünf Schritt von ihm entfernt gestanden, als die mächtige Steinaxt des Trolls sie traf.

Die Erinnerung an diesen Augenblick schnürte ihm die Kehle zu. Die Steinaxt hatte ihr Kettenhemd durchtrennt wie dünne Seide, und die Wucht des Treffers hatte sie nach hinten geschleudert. Niemals würde er dieses Ungeheuer von einem Troll vergessen, das sie niedergestreckt und dann seine Axt über den Kopf gehoben und einen Triumphschrei ausgestoßen hatte. Ein Hüne, selbst unter den Trollen. Mehr als dreieinhalb Schritt hoch; die Brust mit wulstigen Schmucknarben bedeckt, die einen stilisierten Wolfskopf zeigten. Blind vor Wut hatte Farodin versucht, sich zu dem Troll durchzukämpfen, aber dann war auch er getroffen worden und bewusstlos zu Boden gegangen. Wahrscheinlich lebte er nur deshalb noch.

Warum ? Warum lebte er, und warum war sie gestorben ?

Seine Gedanken überschlugen sich. Am Morgen hatte sie den Reiherfuß nicht gefunden. All die Jahre hatte Aileen den Talisman immer an ihrem Gürtel getragen, und ausgerechnet heute war er unauffindbar gewesen !

Sie hatte es leicht genommen. Wie sie stets alles leichter genommen hatte als er. Zu leicht. Wie die Hand, die nun in der seinigen lag und sich schwerelos anfühlte in ihrer Leblosigkeit.

Leblos.

Er zwang sich dazu, sie anzusehen. Ihre weiß schimmernden Lippen. Hätte ein vertrockneter Vogelfuß sie retten können ? Wenn sie zwei oder drei Schritt zurückgewichen wäre, hätte der mörderische Hieb sie verfehlt. Wenn …

»Ich konnte ihre Wunde nicht …«, stieß er erstickt hervor. »Wenn ich doch nur …«

Der Griff der Elfenkönigin um seine Schulter wurde fester. »Sieh in ihr Gesicht. Sieh in ihre Augen. Sie blicken selbst im Tod noch zu dir auf. Sie ist mit einem Lächeln auf den Lippen gestorben, und das trotz ihrer schweren Verletzung. Du konntest ihr nicht mehr helfen – und ich bin sicher, sie wusste es. Quäl dich nicht mit Fragen, auf die es keine Antwort gibt, Farodin. Du hast alles richtig gemacht.«

Farodin nickte langsam und strich Aileen die widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht, gegen die sie ein Leben lang angekämpft hatte. Eine Strähne dunklen Lockenhaars, die immer wieder vor ihr linkes Auge gefallen war und die sie doch nie abgeschnitten hatte. Er hatte alles getan, was möglich war. Emerelle hatte recht; er wusste es auch, aber das war ihm kein Trost.

Farodin dachte daran, wie er aus seiner Ohnmacht erwacht und sofort zu ihr gekrochen war. Wie er sein Schicksal verfluchte, dass nicht ihn der tödliche Hieb getroffen hatte. Wie er ihr geschworen hatte, ihr für immer treu zu sein. Dass es niemals eine andere für ihn geben würde. Dass er auf ihre Wiedergeburt warten würde.

»Hast du den Troll gesehen, der sie getötet hat ?«, fragte Emerelle.

Farodin nickte. Mit tonloser Stimme beschrieb er die Narben auf der Brust des Hünen.

»Dolgrim«, sagte die Königin. »Der Herzog. Ihr Heerführer. Ein Fluch unseres Volkes. Ich habe vorausgesehen, dass er entkommen würde.«

»Sein Fluch will ich sein !«, zischte Farodin voll kalter Wut. »Ich werde ihn finden und töten. Und wenn er wiedergeboren wird, werde ich ihn erneut richten. Nie soll seine Seele Frieden finden !«

Emerelle schüttelte den Kopf und wirkte nun noch erschöpfter. »Ich habe ihn in vielen Zukünften gesehen. Glaub mir, Farodin, er wird zur Geißel unseres Volkes werden. Aber ich weiß, wo er in dieser Nacht sein wird. Er ist allein. Die Fährtensucherin, die seiner Spur folgte, hat er getötet. Er wird entkommen.«

»Wo ist er ?«, knurrte er leise.

Emerelle schüttelte erneut den Kopf. »Du wirst ihn nicht im Zweikampf besiegen können. Er ist geschickt.«

Farodin ließ sich nicht beirren. »Er hat mein Leben zu Asche werden lassen. Lass mich durch sein Blut wiederauferstehen.«

Die Königin bedachte ihn mit einem langen Blick, den er nicht zu deuten vermochte. Sie wirkte nicht überrascht, und in ihren sonst so sanften Augen blitzte eine unerbittliche Härte. »Nimm mein Schwert«, sagte sie schließlich. »Und sei vorsichtig. Albenmark braucht dich, Farodin.«

Er nickte. »Wo finde ich ihn ?«

»Dolgrim ist sehr durstig. Er hat einen weiten Bogen geschlagen, um seiner Verfolgerin zu entkommen. Sie fand ihn dennoch und bezahlte dafür mit ihrem Leben. Durch dieses Opfer kannst du ihn noch erreichen.«

Farodin lauschte ihren Worten mit kaltem Herzen, und als sie endete, nickte er grimmig. »Gut, ich werde ihn finden.«

Fünf Stunden später, im Satyrwald, zwanzig Meilen nördlich der Shalyn Falah

Kaltes, klares Wasser strömte über Farodins Leib. An eine unterspülte Eichenwurzel geklammert, drückte er sich gegen die schlammige Uferböschung und atmete ruhig und gleichmäßig durch ein Schilfrohr. Immer tiefer drang die Kälte des Wassers in seinen Leib, ließ ihn gefühllos werden und löschte schließlich selbst die Glut seiner Rachegedanken. Wie lange wartete er schon ? Eine halbe Stunde ? Eine Stunde ? Was, wenn die Stelle, an der er wartete, nicht die richtige war ? Vollkommen reglos lag er da und blickte durch das klare Wasser zur überhängenden Böschung hinauf. Die Krone einer mächtigen Eiche schluckte das spärliche Licht des Nachthimmels, und er konnte kaum etwas erkennen. Mit tauber Hand tastete er nach ihrem Schwert. Er hatte die kurze Klinge der Königin im Schlamm der Böschung verborgen, damit kein verirrter Lichtstrahl auf den Silberstahl treffen und Dolgrim womöglich warnen konnte.

Immer wieder wanderten seine Gedanken zu Emerelle. Wenn sie gewusst hatte, dass Dolgrim in dieser Nacht hier im Satyrwald nahe dem verfallenen roten Turm aus der Quelle trinken würde – hätte sie dann nicht auch wissen müssen, dass Aileen in Todesgefahr geschwebt hatte ? Hätte sie Aileen nicht warnen können ? Hatte Emerelle vorhergesehen, dass er hier liegen würde ? Hatte Aileen am Ende sterben müssen, damit er hierherkam ? Denn wenn sie noch lebte, wäre er ganz gewiss nicht hier.

Farodin dachte an jene unheimliche Silberschale im Thronsaal von Burg Elfenlicht. Es hieß, sie zeige immer nur kurze Ausschnitte der Zukunft, und stets seien es Bilder des Schreckens. Schrecken wie … Nein, das konnte nicht sein ! Bestimmt hatte Emerelle nicht um den Verlauf dieses Tages gewusst. Niemals hätte sie den Sieg über die Trolle so blutig erkauft. Er hatte ihr Gesicht gesehen, den Schrecken darin. Sie war über jeden Zweifel erhaben.

Ein Schatten beugte sich über das Wasser und riss ihn aus seinen Gedanken. Eine riesige Gestalt, das Gesicht nur eine Fläche aus Dunkelheit. Unmöglich, es genauer zu erkennen. Ja, es war ein Troll, daran konnte kein Zweifel bestehen. Aber war es auch wirklich Dolgrim ?