Elmar Osswald - Werde der du bist - Elmar Osswald - E-Book

Elmar Osswald - Werde der du bist E-Book

Elmar Osswald

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Beschreibung

"Da ist offenbar etwas schiefgegangen, aber ich kenne Ihre Qualitäten. Der Weg in den Generalstab steht Ihnen nach wie vor offen. Ich habe nur eine Bedingung: Sie müssen wollen!", sagte er. "Herr Divisionär, ich möchte nicht mehr. Ich glaube, das wäre für mich der falsche Weg", sagte der Hauptmann. Der "Hauptmann" ist kein geringerer als Elmar Osswald selbst und er tut gut daran, denn mit diesem Satz tauscht er eine Karriere beim Schweizer Militär mit seiner Lebensaufgabe: einer Revolution in der Schule. In seinem autobiografischen Werk " Elmar Osswald – Werde, der du bist" schildert der Schweizer Pädagoge und Visionär sein Leben sowie sein bedeutendes Werk und schafft so eine ganzheitliche Darstellung lebenslangen Wachstums hin zu sich selbst – eine der schwierigsten Aufgaben.

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Seitenzahl: 415

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Inhaltsverzeichnis

Impressum 5

VORWORT 6

Die ersten Schritte, 1937 *** 8

Geburt, 1936 11

Rosmarie, meine erste Freundin, 1940 12

SCHULDGEFÜHLE 13

10. Mai 1940 14

Lederstrumpf, 1942 17

Realschule Wil, 1952 19

Lehrerseminar Rorschach, 1952-1956 20

Silvia, 1955 22

Lehrverhaltenstraining LVT am Lehrerseminar Liestal, 1973–1980 24

Wahl zum ULEF-Vorsteher des Kantons Basel-Stadt, 1981 26

Ramses, 1981 28

DIDACTA 1984, Kongress „Der Mensch zwischen Kommunikation und Mikroelektronik“, Mustermesse Basel 30

Innovative Tätigkeiten am ULEF, 1985-1995 32

Ein Lehrerlebnis, 1984 35

Als mein Vater starb, 1959 38

Brief an meinen verstorbenen Vater, Januar 1983 39

Brief des Vorstehers des Erziehungsdepartements Basel–Stadt, Regierungsrat Prof. Dr. H. R. Striebel, 9. November 1984 42

Unsere baselstädtischen Schulen: Generalinventur und eine Palette von Verbesserungsvorschlägen (Bericht und Kommentar im Basler Schulblatt Nr. 10, Oktober 1985, 46. Jahrgang) 45

Schlussfolgerungen 55

Ruth C. Cohn und Hartmut von Hentig. Was ist die gute Lehre?, 1984 57

An das FORUM der Basler Zeitung, 23.03.90 61

Auslöser von Innovationen für die Schule - Porträts von Chefbeamten: Elmar Osswald 70

Never forget where you came from, 1991 74

LERNERLEBNIS 1: IM MILITÄRDIENST, 1959 77

LERNERLEBNIS 2: IM MILITÄRDIENST, 1969 - Die Brücke 81

Eine militärische Karriere 90

Anstelle eines üblichen Lebenslaufes einige Stationen in meinem Leben, die für mich zentral bedeutsam waren 91

Die Austreibung aus dem ‚Paradies‘, 1981 100

ULEF: Führen, statt verwalten, Führungsverständnis einer staatlichen Dienstleistungsstelle, 1. Dezember 1986 102

Brief von Dr. Urs Meier, ehemaliger Kollege am Lehrerseminar Liestal, 27. November 1986 156

Brief von Dr. Heinz Wyss, Seminardirektor, Biel, 1994 158

Schulreform zu welchem Zwecke? – 1995 162

Chairmanship – ein Schlüsselbegriff der TZI (Themenzentrierte Interaktion) 165

Infoservice ULEF, Nr. 1 (Dez. 1987) 169

Infoservice ULEF, Nr. 60 (Mai 2001) 171

Schulreform, Evaluationsergebnisse, 1. Bericht Bätz/Oser/Klaghofer, Dezember 1995. 174

Gutachten zur Tätigkeit des ULEF, 1996–1999 (Auszüge) – Charles Landert (Landert, Farago, Davatz & Partner, Zürich) Zürich, 18. Juli 2000 CL 176

TZI – der Kompass für mein Leben 180

Brief von Ruth C. Cohn 1993 187

APT – eine neue Form der Weiterbildung, Dr. Ueli Pfaendler, Gymnasium Bäumlihof, Basel 190

Schulreform in Basel: Zunächst wurden wir belächelt, 1993 193

Brief an die Frau von Christian Ramseyer, Waisenhausvater, Basel, 1992 196

Meine Mutter - Lebenslauf/Nachruf von Ida Osswald–Scheiwiller, geb. 14. Mai 1907, gest. 6. Mai 1991 197

Abschied vom einsamen Lehrer und früher Auslese (In Basel hat die innere und äußere Schulreform begonnen/„PsychoFortbildung“ für Kollegien) Frankfurter Rundschau, 1992 201

Unser LEITBILD und die Anzahl der handlungsleitenden Ideen 209

Funktion ‚ULEF-Vorsteher‘ wird mit anderen Funktionen des Kantons Basel-Stadt verglichen und gewürdigt - Mitbericht des Personalamtes zu Antrag Nr. 5289, 1993, September 210

Brief an meinen ältesten Sohn Oliver, 14. August 1998 214

Qualität in der Schule: In der Balance liegt die Chance, 2001 219

Brief an Dr. Karl B., Landesschulinspektor, Wien, 2000 225

ABSCHIED (BELLE ÎLE en MER) Sommer, 2001 227

Brief von Boubou, meiner Frau, zu meinem 65. Geburtstag (1. November 2001) 228

Wie Sie das Wohlbefinden anderer durch Ihr Führungsverhalten unterstützen können, 2004 230

Führungsseminar „Ringier-Print“ (2005) 234

Brief von Helmut Lambauer, GIBS Graz (Graz International Bilingual School) zu meinem 70. Geburtstag 2007 238

NIE WIEDER! 2012 243

Nachruf von Felix Osswald, geb. 08. November 1946, gest. 08. Februar 2003 246

Brief an Hans–Werner S., IFL Hamburg (1) 252

Schulreform vor 60 Jahren 256

Nicht das Alter, sondern die Lernfähigkeit der Protagonisten entscheidet über den Erfolg von Schulentwicklung, 2007 258

Ein Schulentwicklungsprojekt … 270

Mein lieber Köbi, 2016 273

GOUMOIS, 29. bis 30. JULI 2016 275

Führung und Leitung von Teams, 2004 277

Brief an Prof. Willi B., 2006 280

Deutschland, im Herbst 2008 283

Umgang mit widerständigen Kolleginnen und Kollegen, 2009 289

Lieber Paul M., 13.03.2009, 297

Lieber Frédéric (Schulleitung Ecole d’Humanité, Hasliberg), 299

Pubertät 303

Ernst R. (gest.28.09.2020), Die Grundwerte, 2011 305

Lebenslauf/Nachruf für Norbert Osswald, geb. 26.01.1943, gest. 28.08.2012. 307

Brief von Hartmut von H., 311

Brief von Daniel Osswald, 312

Dem dauernden Weiterlernen verpflichtet … Elmar Osswald verlässt das ULEF 2001 315

Für Elmar Osswald anlässlich seiner Abschiedsfeier vom 28. November 2001 - Hier, wo man steht 323

Handout Abschieds-Apéro, 28.11.01, ULEF 326

Boubous 70. Geburtstag, Basel, 13. Juli 2015 332

Dienen–Leben–Durchhalten, 2014 335

Lebenslauf/Nachruf für Niklaus Osswald, geb.21.03.1944, gest. 18.10.2005 338

Was lässt ein Leben gelingen? Eine der wichtigsten Fragen 342

TZI (Themenzentrierte Interaktion, kurz zusammengefasst) 345

CHARLIE CHAPLIN (1889-1977) 347

Reise in die Ukraine, Sommer 2005 349

„Das ist nun mein Weg. Wo ist der eure?“ – Den eigenen Weg suchen und gehen 358

Brief an Frau Dr. M., Stadtspital Triemli, Zürich 360

GRENZEN 361

Neuester Ukas zur Notengebung aus dem Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt, 2020 363

Mein lieber Boubou 365

Störende Kinder – gestörte Schule! 368

John Hattie 370

Wie ich lebe und lerne 372

Brief von Dr. Harro Raster, Direktor ‚Dominicus-von-Linprun-Gymnasium‘ Viechtach, Niederbayern, 19.12.1994 374

Tod von Wolfgang 376

Mein Vermächtnis 378

Epilog 383

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2022 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99130-200-1

ISBN e-book: 978-3-99130-201-8

Lektorat: Mag. Carmen Reitinger

Umschlagfoto: Dariaren, Arttrongphap8 | Dreamstime.com, Elmar Osswald

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: Elmar Osswald, Bild 9: Unbekannt, Bild 265: Oliver Greuter

www.novumverlag.com

VORWORT

WOFÜR STEHE ICH EIGENTLICH?Ja, die Frage ist wichtig. Darüber habe ich schon vor 30 Jahren nachgedacht, als das Buch „In der Balance liegt die Chance“ in meinem Kopf entstand. Das war nach einer jahrelangen Auseinandersetzung mit meinen Gefühlen, mit meiner Angst, mit meiner Scham, mit meinen Schuldgefühlen und mit meinem Diabetes, der im Jahre 1979 bei einer Routinekontrolle entdeckt wurde und den ich erst im Jahre 2000 akzeptieren konnte.

Das alles ist, wie man so schön sagt, durchgestanden, durchgelitten, durchgearbeitet. Meine erste Schrift, die ich verfasst habe (ULEF: Führen, statt verwalten*) entstand im Jahre 1986. Sie ging weit über das hinaus, was sich ein normaler Beamter erlauben konnte. Ich habe sie bis heute nie publiziert. Allerdings blieb sie mir handlungsleitend für meine Tätigkeit als Vorsteher des ULEF.

Das Akzeptieren von Niederlagen, ja von Scheitern (Scheitern meines katholischen Glaubens, Scheitern einer möglichen militärischen Karriere, Scheitern einer möglichen politischen Karriere, Scheitern meiner ersten Ehe, Scheitern meiner Reformversuche als Didaktiklehrer am Lehrerseminar Liestal, Scheitern der Orientierungsschule Basel, OS) empfinde ich deshalb nicht als Schande, sondern als Notwendigkeiten in meinem Leben. Es hat mir eine glückliche Ehe mit Boubou (Ruth Obrist) beschert, mich freier gemacht, lebensfroher, lebenstüchtiger auch, und dies trotz all der aktuell lebensbedrohenden Ereignisse auf dieser Welt.

Ich stehe ein für mein Leben, das nicht nur auf den Verstand achtet, sondern gleichberechtigt den Gefühlen Raum gibt, für ein Leben also, das versucht, eine Balance zwischen Verstand und Gefühlen herzustellen, wenn eine ENTSCHEIDUNG ansteht, und mache dabei die Erfahrung, dass die flinkeren Gefühle oft richtiger liegen als der bedächtigere Verstand.

Meiner Meinung nach erkennt man lebenstüchtige Menschen an drei Eigenschaften: RESILIENZ – SORGFALT – EMPATHIE.

Diese sind ihnen nicht in die Wiege gelegt worden. Sie müssen in mühsamer Lebensarbeit erworben werden. Wer das wagt, erlebt etwas Wunderbares, den Frieden der Seele.

Grenzübertritt verboten

* ULEF: Führen, statt verwalten. In diesem Buch erstmals veröffentlicht. (ULEF: Institut für Unterrichtsfragen und Lehrer*innenfortbildung des Kantons Basel-Stadt)

Die ersten Schritte, 1937 ***

Die ersten Schritte, 1937

Das ist das erste Bild, das wahrscheinlich mein ganzes Leben nachhaltig bestimmte – der große Einfluss der Frauen auf meine Lebensweise. Auf der Rückseite ist zu lesen: „Im September 1937. Elmarli 10 Monate alt. Der lieben Mutter zum Andenken. Weihnachten 1937. Ida und Edi“. Die gepflasterte Straße von Gossau nach Flawil ist leer. Wahrscheinlich ist Sonntag. Man ging damals in Sonntagstracht und Hut spazieren. Rechts werde ichvon der Großmutter gehalten, links von meiner Mutter. Ganz offensichtlich fühle ich mich wohl und marschiere frohgemut auf den fotografierenden Vater zu.

Meine Großmutter war mir sehr nahe. Mir war wohl in ihrer Umgebung. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie mich je mit harten Worten getadelt hätte. Wenn ich zu Besuch war, machte sie kein großes Theater um mich. Sie ging ihrer Arbeit nach, besorgte den Haushalt für sich und ihre Tochter Pia, meine Gotte, an der Wilerstraße in Gossau und strickte unentwegt irgendwelche Pullover, Handschuhe usw., die irgendjemand gut gebrauchen konnte. Großmutter und Gotte Pia schliefen im Schlafzimmer neben dem Wohnzimmer. Auf der anderen Seite gab es eine weitere Kammer, in der ich einquartiert wurde. Großmutter ging jeden Morgen zum Gottesdienst in die Kirche. Im Winter befeuerte sie von der Küche aus mit einem ‚Büscheli‘ den Kachelofen in der Stube. Das musste für den ganzen Tag reichen. Sie ging wohl einmal im Monat mit dem kleinen Leiterwagen in den Niederwiler Wald, um Holz zu sammeln. Wenn ich dabei war, gab es eine Tafel Schokolade und Brot zum Mittagessen. Der Wald war groß und dunkel und machte mir Angst. Allein die Anwesenheit meiner Großmutter sorgte dafür, dass ich nicht weglief. Voll beladen kehrten wir am späteren Nachmittag nach Hause zurück. Meine Großmutter wurde 90 Jahre alt. Sie starb am 22. Dezember 1962.

Als kleines Kind war ich oft krank, hatte wohl alle Kinderkrankheiten (Masern, Keuchhusten, Mumps, Röteln usw.), aber auch chronische Bronchitis und vor allem Diphtherie, die 1942 noch gefährlich ansteckend war und mir einen Aufenthalt im Absonderungshaus des Kantonsspitals in St. Gallen bescherte. Nach der Ausheilung meiner Diphterie durfte ich während etwa sechs Wochen bei der Großmutter bleiben, um meine Geschwister nicht zu gefährden. Das war die schönste Zeit meiner frühen Kindheit. Ich war glücklich, weil ich von ihr, aber auch von meiner Gotte Pia nicht erzogen wurde, sondern einfach mit ihnen leben durfte.

Heimat ist, wenn man abends als kleiner Bub im Bett liegt, den warmen Steinsack auf dem Bauch, die Augen offen, die Füße im Schüttstein in der Küche frisch gewaschen. Die Geräusche der Stube dringen in die holzgetäfelte Kammer. Vom Kasten her riecht er den Kampfer. Von weit weg ist ein Automotor auszumachen. Das Geräusch wird lauter, das Fahrzeug kommt näher. Das Licht der Scheinwerfer huscht einen Moment über die Zimmerdecke. Das Geräusch entfernt sich rasch. Dann ist Ruhe.

Vom Zimmer her sind zwei Frauenstimmen zu hören: eine alte, gebrechliche und eine junge, gleichmäßige. Ab und zu hört er das Rascheln einer Zeitung. ‚Jetzt blättert sie im „Fürstenländer“‘, denkt der kleine Bub. Die Uhr an der Wand zu seinem Schlafzimmer tickt. Er hört den einlullenden Takt deutlich. Nach einer Viertelstunde wieder das Geräusch eines Autos. Das Licht der Scheinwerfer huscht über die Decke. Dann wieder Ruhe und das unsäglich schöne Gefühl, geborgen und aufgehoben zu sein, im Bett mit schwerem Holzrahmen und ebensolcher Decke, den warmen Steinsack auf dem Bauch und im Nebenzimmer die Schutzengel.

Ja, so war das damals an der Wilerstraße in Gossau. Das war meine Heimat. Nach meiner Diphterie war ich nie mehr ernsthaft krank. Erst 40 Jahre später stellte ein Arzt fest, dass ich zuckerkrank geworden war. Und 2005 diagnostizierte man bei mir einen Prostatakrebs mit einem PSA über 40 (organübergreifend). Dieser wurde radioonkologisch behandelt. Nach zehnjähriger regelmäßiger Kontrolle der PSA-Werte wurde der Fall als geheilt abgeschlossen.

Geburt, 1936

Ich wollte nicht zur Welt kommen. Der Bauch der Mutter bot Schutz und Geborgenheit. Alles, was dann passierte, war eine radikale Zumutung, verbunden mit großer Angst. Zangengeburt. Noch nach mehr als 30 Jahren waren die Dellen hinter meinen Ohren, die von den Greifern der gynäkologischen Zange herrührten, gut sichtbar. Jahrelang rannte der kleine Elmar vor jedem weißen Kittel weg – beim Arzt, beim Zahnarzt, beim Coiffeur. Schon bei der Geburt prägte sich dem kleinen Erdenbürger ein Satz ein:Die werden mir schaden!Der erste Arzt, dem ich wirklich vertraute, war Prof. Willi Berger, ein Diabetesspezialist aus Basel. Da war ich schon mehr als 60 Jahre alt.

Rosmarie, meine erste Freundin, 1940

Wir konnten es nicht fassen! Rosmarie, die älteste Tochter des Fabrikbesitzers, und ich saßen in der Wiese hinter dem Maschendrahtzaun. Das Gras stand so hoch, dass es weit über uns hinaus wogte. Wir kamen auf die Idee, uns zu zeigen, wie wir unter dem Bauchnabel aussahen und kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie hatte ein ‚Spältchen‘, und ich hatte einen ‚Bündtel‘. Das fanden wir so unglaublich, dass wir uns den Unterschied immer wieder vor Augen führen mussten. Da rief mich plötzlich meine Mutter jenseits des Zauns. Wir erschraken. Ich kletterte über den Zaun und ging zu ihr. Vorwurfsvoll sagte sie: „Was macht ihr denn da?“ Ich sagte: „Gar nichts. Wir sind einfach im hohen Gras gesessen.“ Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mit demGeheimnis der SexualitätKontakt hatte, und ich wusste noch nicht, welch große Rolle diese unglaublich starke und unheimliche Kraft in meinem Leben spielen würde. Und sie begann mit einer Lüge.

SCHULDGEFÜHLE

Meine Sexualität

Schon einige Zeit vor der Pubertät merkte ich, dass bei mir etwas anders war als normalerweise bei Knaben in diesem Alter. Mein Glied versteifte sich bei allen möglichen Anlässen. Selbstbefriedigung brachte Entlastung, sie war allerdings nicht von langer Dauer. Der damals in der Ostschweiz praktizierte Katholizismus betrachtete das 6. Gebot des Dekalogs als speziell wichtig und bescherte mir auf dem Fuße tiefgehende Schuldgefühle. Mit jemandem darüber sprechen ließ ich aus Scham sein. Ich betrachtete meine Sexualität als abartig und hatte keine Ahnung, welch kreative Kraft sie ist und in meinem Fall hätte sein können. Mein Beichtvater wusste auch keinen hilfreichen Weg, riet mir, ich müsse halt beten, was ich wiederum nicht fertigbrachte.

Später dann hatte ich mit verschiedensten Frauen Außenbeziehungen. Das endete erst, als ich Boubou, meine große Liebe, kennenlernte und nach zehnjähriger Probe heiratete. Mit ihr verflüchtigten sich auch meine Schuldgefühle. Es muss 1985 gewesen sein, als ich eines Morgens die Vögel jubilieren hörte. Es war 5:00 Uhr. Ich hörte ihnen zu und merkte, dass sich bei mir etwas verändert hatte. Mir war ganz leicht zu Mute, eine schwere Last war weg. Meine Schuldgefühle waren wie weggewischt und sie blieben es auch. Diesen Feuerofen hatte ich nach vielen Jahren der Mühsal durchschritten, und die Kreativität nahm Platz in meinem Leben.

10. Mai 1940

Der kleine Bub stand mit seinem Dreirad am Straßenrand an der Straßengabel am Dorfausgang. Auf der anderen Seite der Straße waren die Häuser der Sticker wie Perlen an einer Schnur aufgereiht. Sie führte nach Norden und verlor sich beim Kinderheim in den Obstbäumen. Die Straße war menschenleer. Soldaten standen aufgeregt an der Straßenverzweigung, dahinter Frauen und Kinder der umliegenden Häuser. Die Soldaten hatten die Gewehre umgehängt. Die zusammengerollten Zeltbahnen bildeten mit den Gewehrriemen ein Andreaskreuz auf der Brust der Männer. Lederne Gürtel mit je vier Patronentaschen umspannten die Bäuche, links baumelten die Seitengewehre. Die Soldaten trugen Waffenröcke und Röhrenhosen aus schwerem Tuch. Die Nagelschuhe klirrten auf dem Asphalt. Die Stahlhelme blinkten in der Sonne.

Ein Offizier mit einem Stern auf dem grünen Kragenspiegel erteilte Befehle. Er trug einen Waffenrock aus feinem Stoff, Lederhandschuhe und Reitstiefel. An dünnen Tragriemen, die sich über seiner Brust kreuzten, waren Pistole und Kartentasche befestigt. Die Soldaten schauten zum Dorf hin. In einiger Entfernung war der Bauernhof von Forster zu sehen. „D’Schwobe chömed!“ („Die Deutschen kommen!“), sagte der Offizier. „Hier an der Straßengabel errichten wir eine Barrikade! Schnell, schnell!“ Die Soldaten rannten zum Bauernhof und rissen die schweren, eisenbereiften Heuwagen aus dem Tenn. Forster stand mit hängenden Armen vor dem Stall und schaute hinter seinen Heuwagen her, die die Soldaten im Eiltempo zur Gabelung schoben. Der kleine Bub schaute in Richtung Dorf. Links stand das Haus des Wagners, dahinter das des Schmieds. In einiger Entfernung war die rote Benzinzapfsäule der Autogarage „Casutt“ zu sehen. Ein großes, schwarzes Personenauto, die Scheinwerfer unter dem Grill der Kühlerhaube versteckt, stand daneben. Dahinter leuchtete das gelbe Haus des Bäckers Hauser, davor das Wohnhaus der Drahtwarenfabrik. Am Fenster der oberen Wohnung erkannte der kleine Bub seine Mutter. Sie schaute in Richtung Kinderheim, dorthin, wo die die Deutschen kommen würden. Dort, hinter dem Horizont, lag die Gefahr.

Mit vereinten Kräften kippten die Soldaten die schweren Heuwagen auf die Seite. Die Räder drehten sich in der Luft und kamen langsam zum Stehen. Die Soldaten zogen Eisenketten durch die Speichen der Räder und um die Achsen der Wagen. Die ganze Straße war jetzt verbarrikadiert.

Der Offizier befahl die Stellungsorte für die Soldaten. Sie nahmen die Gewehre vom Rücken und verschwanden hinter den Stickerhäusern. Eine Gruppe trug ein schweres Gerät, das auf einem Bock montiert war, zum Bauernhaus. „Das ist ein Maschinengewehr“, sagte ein Soldat zum kleinen Buben. Der kleine Bub sah, wie die Mündung des Maschinengewehrs aus dem Estrichfenster des spindeldürren Holzhauses direkt auf die Barrikade schaute. Der Offizier sagte zu den herumstehenden Frauen und Kindern, sie müssten jetzt in die Häuser gehen, die Deutschen würden jeden Augenblick kommen. Der kleine Bub rannte nach Hause. Er sah blinkende Stahlhleme über dem Hügel. Die Mündung des Maschinengewehrs sah drohend auf ihn nieder. Die Straßengabel war jetzt menschenleer. Es war 12:00 Uhr mittags.

Am 10. Mai 1940 überfiel die deutsche Wehrmacht Holland, Belgien, Luxemburg und Frankreich und eroberte diese Länder in kurzer Zeit. Als die Franzosen fünf Wochen später um Waffenstillstand baten, sahen die französischen Gefangenen zum ersten Mal die riesige Kriegsmaschine der Deutschen: das standardisierte und auf Krieg ausgerichtete Material, schwere Transportfahrzeuge, offene Geländewagen, Panzer bis an den Horizont, lange Radfahrerkolonnen, Lastwagen, Schlauchboote, Sturmboote mit großen Außenbordmotoren, Flieger, die gefürchteten Stukas, alles zweckmäßig und auf ein Ziel ausgerichtet: den Krieg zu gewinnen.(1) Sie verglichen diese geballte Zerstörungskraft mit ihren requirierten Fahrzeugen und mit ihren Pferden, die zu Tausenden umgekommen waren oder abgeschirrt auf den Weiden herumirrten. Sie erlebten einen wirklichen Schock. Ihre Generäle gingen massenweise in deutsche Kriegsgefangenschaft. Gegen 70 wurden allein im ‚Vogesen-Kessel‘ gefangen genommen. Sie wurden in der Festung Königstein an der Elbe interniert und 1945 von der 76. Amerikanischen Infanteriedivision befreit. (2)

(1) Der Juni 1940 ist als „Le mois maudit“, als „Der verfluchte Monat“ in die französische Geschichte eingegangen.

(2) Bruge, Roger, Les combattants du 18 juin, tome 5, La fin des généreaux, Paris, 1989.

Lederstrumpf, 1942

„In wesentlichen Eigentümlichkeiten aber widerstanden die Indianer dem europäischen Einfluss: ihre Moral, Vertragstreue, Wahrheitsliebe und Kindererziehung (welch letzte nur das gute Beispiel und das Lob, aber keinen Tadel und keine Strafe kannte) – dies alles gaben die Naturkinder nur sehr langsam dem verderblichen Einfluss der Weißen preis. Von ihrer Morallehre bewahrten sie die Grundzüge bis zu ihrem Untergang.“ (1)

(1) J. F. Cooper, LEDERSTRUMPF, für die schweizerische Schuljugend herausgegeben durch die Firma FRIEDRICH STEINFELS, SEIFENFABRIK, ZÜRICH (ca. 1940). Das Buch ist ein großformatiger Bildband mit Bildchen, die man sammeln und einkleben konnte. 1942 war ich sechs Jahre alt. Bei einem befreundeten Nachbarsbuben habe ich es fast täglich immer wieder fasziniert angeschaut, dann aus den Augen verloren und ca. 50 Jahre später für ca. CHF 300.- antiquarisch erstanden. Meine Erkenntnis: Von den Indianern können wir lernen, wie wir leben sollten.

Indianer Lederstrumpf

Realschule Wil, 1952

Es war im Sommer 1950. Franz G., der Sohn des Pfarrers, und ich, der Sohn des Arbeiters, waren die einzigen Lateinschüler an der Realschule Wil im Ostschweizer Fürstenland. Die Stunden erteilte ein katholischer Geistlicher, der als angestellter Lehrer auch noch Deutsch und Geschichte unterrichtete. Wir Schüler nannten ihn „John Habemus“. Er war eine ungepflegte Erscheinung, oft nicht oder schlecht rasiert, die Zähne gelb vom Nikotin der Rösslistumpen, denen er im Übermaß zusprach. Die speckige Soutane, die ab und zu mit Speiseresten bekleckert war, spannte sich über seinem Bauch. Vor der Stunde und weit in die Stunde hinein schritt er regelmäßig vor dem Schulzimmer im dunklen, fensterlosen Gang auf und ab. 30 Schritte hin bis zur Querwand, eine kurze Pause, eine knarrende Drehbewegung, 30 Schritte zurück auf dem ächzenden Holzboden. Wir zwei saßen im Schulzimmer, untätig, unruhig hinhorchend, oft mit schlechtem Gewissen, weil wir häufig nicht gelernt hatten. Die Sonne fiel durch die Fenster des großen, kalten Schulzimmers und erfüllte es mit staubiger Wärme.

Zehn Minuten vor Schluss der Stunde verstummten die Schritte plötzlich. Wir wussten, jetzt drückt er den Rösslistumpen im Aschenbecher neben der Türe aus. Wir hörten das Aufreißen der Türe, dann das gewaltsame Zuschlagen. John Habemus stand vor uns mit hochgezogenen Schultern, den Stiernacken vorgeschoben, mit einem eigenartig gequälten, schuldvoll hämischen Lächeln auf den Lippen. Die Augen flackerten über die dunkle Brille hinweg.

Wir saßen da. In mir stieg ein konfuses Gemisch von Gefühlen der Scham, des Trotzes, der Schuld, der Abneigung, der Angst, des Ekels, der Verachtung und der Wut hoch. Er sagte: „G., wo sind wir stehen geblieben?“

Die Pausenglocke erlöste uns aus unserer Qual.

Lehrerseminar Rorschach, 1952-1956

Wenn ich an Rorschach denke, tauchen ungerufen Erinnerungen auf. An schönen Tagen gab es da einen unwahrscheinlichen Ausblick vom Lesezimmer des Lehrerseminars über den Bodensee hinweg bis hin zum im zarten Dunst liegenden deutschen Ufer, geheimnisvoll und fern. Dann waren da der kalte, dicht liegende Nebel im Winter und die nach faulen Eiern riechende Luftverpestung der Feldmühle, ein Geruch, der an manchen Tagen bis ins Refektorium drang.

Damals, 1952-1956, erlebte ich eine Lehrerbildungsstätte, die der Entfaltung und Entwicklung ihrer Insassen wenig Spielraum gewährte. Die Lehrer taten ihr Bestes und bemühten sich redlich, uns ‚Mittelschulinhalte‘ zu vermitteln. Einer aber war anders. Er wurde von den meisten Seminaristen gefürchtet, von manchen aber auch bewundert. An ihm schieden sich die Geister. Er hatte gläubige Anhänger und entschiedene Gegner. Er hatte vor allem eine Idee, die er kompromisslos vertrat. Sie stand in einem gewissen Gegensatz zum täglich erlebten Unterricht. Er hieß Karl St. und war Methodiklehrer des Abschlussklassen-Unterrichts. Mit seinem „Unterricht auf werktätiger Grundlage“ entwickelte er eine Möglichkeit, mit den sogenanntenschwierigenSchülern,den „dummen“ Abschluss-Klässlern (6.-8. Klasse der Primarschule) umzugehen, und zwar so, dass sie durch konkrete Erfahrungen ihre Kräfte bilden und damit zu erfolgreichen und befriedigenden Schulerlebnissen kommen konnten. Manche Kapitel seines Buches „Unterricht auf werktätiger Grundlage“*wirken heute noch aktuell.

St. wurde in manchen Dingen mein Vorbild. Er erkannte, dass es in einer demokratischen Gesellschaft nicht nur eine Art des Lernens geben konnte. Allerdings, seine apodiktische Art – damals vielleicht nötig, weil sich die Gegenseite mit nobler Selbstverständlichkeit ebenfalls so verhielt – wäre heute nicht mehr vertretbar.

St. war ein Meister der Zielklarheit und ein Baby in Sachen Empathie.

* K. St., Unterricht auf werktätiger Grundlage, Verlag Otto Walter, Olten, 1951.

Silvia, 1955

Es gibt dieses schöne Foto aus dem Jahre 1955. Es zeigt Silvia mit mir zusammen auf der Seminarschulreise in Verona. Silvia trägt einen ihrer wunderschönen Röcke, die sie ganz selbstverständlich trug als Tochter von Eltern, die ein Uhren- und Schmuckgeschäft in R. führten – gehobener Mittelstand eben. Ich stehe daneben, genauso schlank, aber viel ärmer als sie. Ich trage einen Zweireiher, passend zu einem weißen Shirt und unpassenden Sandalen. Unsere Gesichter sind entspannt. Wir waren damals „DAS LIEBESPAAR“ am Lehrerseminar Rorschach. Einmal bestellte mich der Direktor, Dr. C., in sein Büro. Das waren immer besondere Momente im Leben der Seminaristen und Seminaristinnen. „Osswald“, sagte er, „man sieht Sie täglich mit Silvia in den Pausen im Kreuzgang stehen.“ Und dann mit etwas leiserer Stimme und sich mir entgegen über den Schreibtisch beugend: „Könnten Sie Ihre gemeinsamen Treffen nicht etwas zurückhaltender abhalten? Es gibt Neider“, und zwinkerte mit dem linken Auge hinter dem aufgesetzten Zwicker.

Silvia war stolze Besitzerin eines Paddelbootes, geeignet für zwei Personen und eingelagert in einem Geräteschuppen in Staad, ein kleiner, Rorschach vorgelagerter Ort. Dieses Paddelboot erfüllte unser Bedürfnis, zusammen zu sein in fast idealer Weise. Beobachter*innen auf dem Großen Bodensee gab es keine. Die großen Schilfbestände an der Mündung des Alten Rheins in den Bodensee konnten bequem erreicht werden, und ungebetene Gäste blieben fern. Silvia hörte an ihrem kleinen Kofferradio AFN (America Forces Network), den Soldatensender der amerikanischen Streitkräfte in Deutschland. Ich besorgte das Paddeln und ab und zu half sie mir dabei. Unsere Beziehung dauerte etwa zweieinhalbt Jahre. Ich glaube, ich hatte sie gerne. Es war meine erste Liebesbeziehung.

Im Jahre 1956 musste ich am 23. Juli in die Gren. RS. 214, Kp. I in Losone TI einrücken. Wir hatten keine Zeit mehr füreinander und lebten uns auseinander. Irgendwann im Oktober teilte sie mir mit, dass sie sich von mir trennen wolle. Eine Aussprache während eines Urlaubs bestätigte ihren Wunsch. Ich wusste nichts Gescheiteres zu tun, als mich sinnlos zu betrinken. Das war das einzige Mal in meinem Leben, dass ich das getan habe.

Lehrverhaltenstraining LVT am Lehrerseminar Liestal, 1973–1980

LVT war meine Erfindung am Lehrerseminar in Liestal. Nach ersten Entwicklungsschritten stellte sich der von Videoaufnahmen begleitete Unterricht in Kleingruppen als geeignetste Form heraus. Es ging darum, mit den Schülern und Schülerinnen über einen Unterrichtsgegenstand, z. B. eine Orange, ein Gespräch zu führen. Die Art und Weise, wie die Annährung an den Gegenstand gelang oder misslang, war dann im Seminarunterricht das Thema. Dabei war das Videomaterial das wichtigste Hilfsmittel. Bald wurde klar, dass es einer anderen Unterrichtsorganisation bedurft hätte, um LVT fruchtbringend einzusetzen.Anstelle des üblichen Stundenunterrichts wären Blockseminare geeigneter gewesen. Die Bilder zeugen von dieser Art des Unterrichts.

Lehrverhaltenstraining, Gersbach Schwarzwald, Lehrerseminar Liestal, 1978.

Gersbach Schwarzwald

Hier hatte ich endlich die dem LVT angemessene Unterrichtsorganisation gefunden: Die Lerngruppe und ich dislozierten für eine Woche in ein Privathaus in Gersbach im Schwarzwald. Dies geschah mit dem Segen des Direktors des Lehrer*innen-Seminars Liestal, Dr. Robert S.

Der Unterricht dauerte von 10:00 bis 12:00 Uhr, dann von 16:00 bis 17:30 Uhr und schließlich von 19:00 bis 21:30 Uhr. Es wurde gelernt, gekocht, geputzt, gespielt, gelesen und gewandert. Eine ganze Woche lang, von Montag bis Freitag. Die Arbeit war für alle hochbefriedigend, die Motivation hoch. Problematisch waren der Materialtransport über die Grenze und dass das Vorhaben Neider hatte und Missgunst erzeugte. Das Pilotprojekt scheiterte am Stundenplan des Lehrerseminars Liestal.

Für mich wurde es Zeit, mich nach einem neuen Arbeitsfeld umzusehen.

Wahl zum ULEF-Vorsteher des Kantons Basel-Stadt, 1981

WAHL des Vorstehers des Instituts ULEF/2. - Bericht vom 30. März 1981.

Auszug:

„Herrn Osswalds Analyse und Konzeption hingegen (Beilage) hat, wie man zu sagen pflegt, ‚Hand und Fuß‘: Sie ist klar (während für Herrn M. seine mehrfache Verwendung des Wortes ‚diffus‘ bezeichnend ist), sie entspricht der Realität und übersteigt diese mit realisierbaren Ideen. Die situationsbedingte Zurückhaltung wurde von einzelnen Kommissionsmitgliedern zum Teil als Mangel an Ausstrahlung verallgemeinert, durch seine Vorgesetzten und Mitarbeiter aber korrigiert: Herr Osswald ist ein ausgezeichneter Praktiker und Praxisleiter am Seminar Liestal. Er hat die Konzeption der Praxiseinführung und des Verhaltenstrainings am Lehrerseminar Liestal in mehreren Anläufen geschaffen und weiterentwickelt. Alle Mitarbeiter kennen seine Ausstrahlung, seine Tatkraft und seine umgreifende Befähigung, im Bereich der Grundausbildung und Fortbildung höchst anregend zu wirken. Obschon Promotor und Führer von Gruppen, ist er teamfähig. Herr Osswald ist zum Leiter der Sekundar-Reallehrerausbildung beider Basel ernannt worden. Mehrere Kommissionsmitglieder haben mit Herrn Osswald in diesem Bereich zusammengearbeitet und bestätigen, dass er qualifizierte Arbeit geleistet hat. Er hat sich überdies lange Jahre als Kursleiter in der Lehrerfortbildung beider Basel beteiligt.

Nach ausführlicher, in aller Offenheit und erschöpfend geführter Diskussion über die in der zweiten Runde zu beurteilenden Kandidaten ermittelte die Kommission in geheimer Abstimmung folgendes Ergebnis:

Stimmende: 18, leer: 2, für Osswald: 15, für M.: 1.

Wahlantrag: Die Kommission des ULEF beantragt Ihnen, Herrn Elmar Osswald, mit der Leitung des ULEF zu betrauen.

Im Auftrag der Kommission: Dr. H. P. M., Präsident.“

Ramses, 1981

Es muss Ende der 60er-Jahre gewesen sein, als wir Ramses in unsere Familie holten. Er stand neben seinem Besitzer, wohl etwa zwei Jahre alt, aufgerichtet und neugierig. Ein stolzes Tier. Später merkten wir, dass er schussängstlich war, er sich also verkroch, wenn es knallte. Er war mein treuer Freund und Begleiter. Jahrelang lief er mit mir frei und ungebunden durch die Wälder. Ihm konnte es nicht schnell genug gehen.

Ramses

Etwa gegen Ende der 70er-Jahre stellte ich fest, dass sich sein Verhalten änderte. Er zog sich zurück und verlor seine Neugierde. Bei einem Menschen würde man sagen, dass er depressiv wurde. Sein Verhalten glich meiner Ehe mit Eva, wo uns beiden immer deutlicher wurde, dass wir uns trennen sollten, wir aber hundert Ausreden bereithielten, um den Schritt zu wagen. Wir lebten im Zeitgeist der 50er-Jahre, wie er im Osten der Schweiz gang und gäbe war, scheinheilig – heuchlerisch – kleinmütig. Ramses suchte sich seinen Platz unter dem Küchentisch, einem Ort, den er früher nie eingenommen hatte. Dort rieb er sich am Tischbein die Schnauze wund, war apathisch und ohne die für ihn ehemals typische Lebensfreude. Mir fehlte der Mut, die Familie, zu der er als wichtiges Familienmitglied gehörte, zu verlassen, obwohl ich wusste, dass das Zusammenbleiben nicht mehr die Lösung sein konnte. Eva und ich besuchten seit längerer Zeit eine Gruppentherapiegruppe, in der sich Ehepaare einfanden, die sich nicht mehr miteinander zurechtfanden. Als ich dort einmal nach längerer Ausbreitung unserer Schwierigkeiten plötzlich und spontan aussagte, „Ja bin ich denn einer Lebenslüge aufgesessen?“, in Blitzeseile die Antwort des Therapeuten erhielt: „Ja!“, war das unverhofft und unerwartet, weil der wortkarge Mann sonst kaum mal etwas sagte.

Ich ahnte, dass ich etwas tun musste, zunächst aber wollte ich Ramses, meinen treuen Begleiter, aus seiner Not befreien. Am anderen Morgen um 5:00 Uhr war noch Ruhe im Dorf. Ich ging mit Ramses auf die nahegelegene Schützenmatte, zog meine Militärpistole und zwei Patronen aus dem Hosensack und schoss ihm in den Kopf. Er war sofort tot. Mich schüttelte ein Weinkrampf. Ich zog den Leichnam zum Auto, versorgte ihn im Kofferraum und brachte ihn morgens um 8:00 Uhr in die Tierkadaverabgabestelle der Gemeinde. Dann reinigte ich die Pistole, versorgte sie im Offizierskoffer und schloss diesen ab. Dort ist sie immer noch. Ich habe nie mehr Gebrauch von ihr gemacht.

DIDACTA 1984, Kongress „Der Mensch zwischen Kommunikation und Mikroelektronik“, Mustermesse Basel

Didecta 1984 - ‚Der Mensch zwischen Kommunikation und Mikroelektronik‘

Didecta 1984 - ‚Der Mensch zwischen Kommunikation und Mikroelektronik‘

Innovative Tätigkeiten am ULEF, 1985-1995

DIDACTA-Kongressein der Mustermesse Basel, in Zusammenarbeit mit der Volkshochschule Basel (1. Kongress) und der LFBL (Lehrerfortbildung Baselland, ab 2. Kongress)

1984

‚Der Mensch zwischen Kommunikation und Mikroelektronik‘

1988

‚Der Mensch in der Zeitenwende‘

1990

‚Frauen und Männer im Aufbruch ins 3. Jahrtausend‘

Diese Kongresse waren sehr gut besucht. Hier wurden die Wegmarken fürVOLENEA(Vorbereitung der Lehrkräfte für die neue Aufgabe im Zusammenhang mit der Einführung der Orientierungsschule Basel) erarbeitet.

Didaktische Neuerungen

APT(Arbeitsplatzbezogenes Pädagogisches Trainingsprogramm)

APTbeinhaltete10 Modulevon jeweils einer Woche Dauer, je 5 Module Arbeitszeit und Freizeit für Teilkollegien, inkl. Schulleitung zur Erlernung eines angstarmen Kommunikationsmusters in der eigenen Schule. Leitgedanke:WennLERNENzentral sein soll in Schulen, muss sich dieSCHULKULTURändern.

Medienkonzeption ProjektunterrichtKommunikation und MenschenkenntnisWahrnehmungGesprächsführungStressbewältigungTZI–MethodeKrisen in GruppenOrganisationsentwicklung IOrganisationsentwicklung IIFreithema

Dieses Programm wurde etwa von 450 Lehrern und Lehrerinnen des Kantons BS absolviert.

ALFB(Arbeitsplatzbezogene Lehrer*innenfortbildung)

ALFBwar die Fokussierung der Fortbildung auf die einzelne Schule. Dieses Programm mutete damals revolutionär an, weil das ULEF den Schulen das nicht zu knapp bemessene Geld zur Verfügung stellte und diese ihre schulinterne Fortbildung selbst organisieren konnten. Die Erfahrung zeigte, dass die Benützung der gesprochenen Kredite weitestgehend von der jeweiligen Schulleitung abhing.

ELF(Erweiterte Lernformen)

ELF wurde von einer Kommission der NWEDK (Nordwestschweizerische Erziehungsdirektorenkonferenz) erfunden, der ich maßgebend angehörte. Es ging um

Werkstattunterricht,Projektunterricht,Fallstudien,Schülerselbstbeurteilung,Entdeckendes Lernen,Innere Differenzierung,usw.

Die Schulen, die sich an diesem Projekt beteiligten, kamen aus den Kantonen BE(Bern), BS (Basel-Stadt), BL (Basel-Land), AG (Aargau), und SO (Solothurn). Sie bildeten ein Netzwerk zum Austausch neuer Lernmethoden im Unterricht. Zu diesem Zwecke fanden Tagungen unter der zentralen Leitung vonErnst Ramseyerstatt. Die Schulen der Kantone standen unter der Leitung einer beauftragten und freigestellten Lehrperson, in BS war dasAdrian Müller.

VOLENEA(Vorbereitung der Lehrkräfte auf die neue Aufgabe im Zusammenhang mit der Einführung der Orientierungsschule Basel). Es galt drei Schlüsselprobleme zu lösen:

Das Zusammenwachsen von Sekundar-, Real– und Gymnasiallehrerinnen und -lehrern zu arbeitsfähigen Gruppen und Schulhauskollegien der Orientierungsschule.Die fachdidaktische Vorbereitung.Die fachliche Nachqualifizierung der Sekundarlehrkräfte, delegiert an das PI Basel.

Ein Lehrerlebnis, 1984

Es war 1984, als mein Sohn Oliver und ich nach Turckheim fuhren. Turckheim ist ein kleiner Ort im Münstertal, das aus den Vogesen herausbricht und in der Oberrheinischen Tiefebene des Elsass endet. Dort unterrichtete Monique M. eine 3. Primarklasse nach der Methode von Célestin Freinet. Wir wollten eine Videoaufnahme vom Unterricht dieser über die Grenzen hinweg bekannten Pädagogin machen.

Die Kinder arbeiteten anihrenTexten. Das war der erste Unterschied zum sonst üblichen Klassenunterricht. Sie arbeiteten individuell anihrerSache. Es war nicht mäuschenstill, es war ein Kommen und Gehen, ein Miteinandersprechen, ein Zusammenarbeiten am Setzkasten, der Druckerei der Schule. Die Texte sollten ja veröffentlicht und zu diesem Zwecke gedruckt werden.

Wenn die Kinder nicht wussten, wie ein Wort, ein Satz, eine Wendung zu schreiben war, gingen sie zur Lehrerin hin. Sie baten sie gezielt, manche sehr differenziert, um Rat. Es warenihreTexte, und sie wussten, was sie verbessern wollten. Das war der zweite Unterschied zum sonst üblichen Klassenunterricht.

Alle brachten einen Zettel mit, worauf die Lehrerin schreiben konnte, was sie begehrten. Den schriftlichen Rat kriegten manche sofort. Bei anderen sagte sie mit geradem Blick in die Kinderaugen: „Ich bin sicher, dass du das selber herausfinden kannst!“ Dieses auffallend direkte Kontaktnehmen mit den Kindern – Monique M. hatte die Fähigkeit,inmitten vieler Ansprüche ganz für ein Kind da zu sein – unter gleichzeitig schriftlicher Hilfestellung bzw. mündlicher Hilfeverweigerung, wirkte durchwegs anspornend und lernintensivierend. Die Lehrerin, ‚très française‘, d. h. sorgfältig gekleidet, auch wenn die rosa Seidenbluse etwas altmodisch wirkte, ging mit voller Konzentration und sehr sorgfältig im Umgang mit der Sprache auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder ein. Die jeweilige Situation erfasste sie dabei blitzschnell und intuitiv. Das machte sie zur unbestrittenen Autorität in diesem veralteten und finster wirkenden Schulzimmer, ohne dass sie nur einmal hätte Zwang ausüben müssen. Die Kinder wollten ihren Text ganz machen, möglichst gut und fehlerfrei und ohne Wenn und Aber. Das war der dritte Unterschied zum sonst üblichen Klassenunterricht.

Mir wurde warm ums Herz und das Okular der Kamera wurde feucht vor Aufregung. Hier demonstrierte eine Angehörige unserer Zunft, was es heißt, hohe Leistung zu bringen in unserem Beruf: exakte Sprache, das Ringen um Wörter, Wortwahl und Satzstellungenunddas gleichzeitig als Haltung zu vermitteln. Genauer:Jungen, ja sehr jungen Menschen, die sich offensichtlich ernst genommen fühlten, nicht von oben herab gnädig und unecht, sondern symmetrisch-partnerschaftlich den Schatz der Muttersprache nahebringen und gleichzeitig die Leidenschaft des zurückhaltenden und wahrnehmungsorientierten Vermittelnwollens spüren lassen. Das war mein Lehrerlebnis, das nicht nur bei den Kindern, sondern auch bei uns zwei Erwachsenen ein Resultat erzielte: RespektundZuneigung.

Das, was ich damals mitnahm für mein Leben, war, dassLehren mit Leidenschaftzwar an den Kräften zehrt, aber zugleich Kräfte schafft und Zuneigung sichert. Gut lehren aber ist mehr, als unsere Wissenschaften zu vermitteln vermögen. Gut lehren ist aber auch mehr als Kunst.Gut lehren fordert die ganze Person und ein Umfeld, das dies erlaubt.Das aber ist nicht die Alltagserfahrung vieler Lehrerinnen und Lehrer. Was ihre alltägliche Erfahrung ist, hat keiner so gut wie Hartmut von Hentig beschrieben: „Das Gefühl, von der Behörde, den Kollegen, den Eltern kritisch beobachtet zu werden, die Wahrnehmung der eigenen Subalternität, das Bewusstsein von Mäßigkeit und Langeweile des Unterrichts, das ewige Beurteilen von fragwürdigen und jedenfalls nicht bleibenden Leistungen nach fragwürdigen Maßstäben, die Fernsehkonkurrenz, der Konservencharakter der eigenen Bildung, seine allzu große Ferne oder seine allzu große Nähe zu den Kindern – das sind die harten Themen. […] Man kann noch so sehr fordern, dass das Selbstbewusstsein der Lehrer gehoben werde, solange seine Tätigkeit von Widerspruch, Erfolglosigkeit und Demütigung begleitet ist, kann ihm niemand und nichts dazu verhelfen: keine Weiterbildung, keine Gehaltserhöhung, kein Umfrageergebnis, keine Statusänderung.” (1)

(1) Hartmut von Hentig, Aufwachsen in Vernunft, Klett-Cotta, Stuttgart, 1981.

Als mein Vater starb, 1959

Am 2.4.1959 absolvierte ich meine dritte Rekrutenschule in Losone. Der Tag war trüb, nass und kalt. Früh am Morgen richtete sich mein Zug im Schießstand der Kaserne zum 300-m-Schießen ein. Da stand plötzlich Fourier Heckendorn vor mir und meldete sich in Achtungsstellung an: „Herr Leutnant, Fourier Heckendorn.“ Ich erwiderte den Gruß und fragte, was der unerwartete Besuch bedeute. Er sagte: „Herr Leutnant, ich muss Ihnen mitteilen, dass Ihr Vater gestorben ist.“ Ich schaute ihn fragend an und dachte, dass das stimmen könnte. Mein zukünftiger Schwiegervater kämpfte seit längerer Zeit mit seiner Gesundheit. Er sagte: „Sie müssen mit mir kommen. Auf dem Kompaniebüro können Sie zu Hause anrufen.“ Ich sagte: „Was heißt zu Hause?“ Er sagte: „In Wil.“ In mir brach eine Welt zusammen. Die Gedanken jagten sich in meinem Kopf: meine nur notdürftig aufrecht gehaltene Beziehung zu meinem Vater? Seine Briefe und meine Briefe? Dass wir uns nicht finden konnten? Die große Familie? Die kleinen Geschwister? Was geschieht jetzt mit der Mutter? Was muss ich jetzt tun?

Der Kompaniekommandant, Oblt. Doebeli, hatte bereits einen unbefristeten Urlaubspass unterschrieben. Ein Jeep mit Fahrer stand bereit, um mich zum Bahnhof Locarno zu fahren. Die Zugverbindungen hatte eine Büroordonnanz herausgeschrieben. In Blitzeseile zog ich mich um und fuhr weg.

Zu Hause war der Vater in einem Zimmer aufgebahrt. Es schien, als schlafe er. Meine Mutter wirkte gefasst. Sie sagte kaum ein Wort. Viele Blumen wurden ins Zimmer des Toten getragen. Zwei große Kränze mit rotweißen Schleifen wurden abgegeben, einer kam vom Schulkommando Grenadier Rekrutenschule Losone, der andere von den Offizieren der Gren RS 214, 1. Kompanie, meinen Kameraden.

Mein Vater starb an einem Herzinfarkt im Zug. Er wurde 52 Jahre alt.

Brief an meinen verstorbenen Vater, Januar 1983

Lieber Vater,

Seit 24 Jahren bist Du jetzt tot. Im Frühjahr 1959 bist Du gestorben, im Eisenbahnwagen. In Wil musstet ihr euch beeilen. Im Schnellschritt habt ihr gerade noch den Zug nach Gossau erreicht. Ihr habt euch hingesetzt, Du hast Dir eine Zigarette angezündet … in Uzwil haben sie Dich hinausgetragen. Edith, die bei und mit Dir war, hat alles Weitere veranlasst. Die schnell herbeigerufene Amtsperson konnte nur noch Deinen Tod bestätigen. Herzinfarkt mit 52 Jahren.

Mein Vater

Ich konnte mich nie bei Dir für jenes anmaßende Verhalten entschuldigen, das ich mir Dir gegenüber mit Trotz, verletztem Idealismus und lächerlicher Selbstgerechtigkeit erlaubt hatte. Beim Bahnhof Wil lauerte ich Dir und Deiner Freundin Alma R. auf, um Dir zu sagen, dass ich und auch Edith zu Hause ausziehen würden, solltest Du „diese Person“ – mit dem Zeigfinger der rechten Hand habe ich auf sie gezeigt – noch einmal heimbringen. Euer Lachen gefror in den Gesichtern, zu unerwartet war meine Begrüßung. Ich drehte mich um und marschierte nach Hause. Später bist Du dann betrunken nach Hause gekommen, so, wie ich Dich eigentlich nie gekannt habe. Lallend standest Du an meiner verschlossenen Zimmertür, hinter die ich mich voller Angst und Trotz zurückgezogen hatte. Mit kraftlosen Armbewegungen hast Du gekratzt und geklopft. Du hast mich gerufen, und ich habe keine Antwort gegeben. Wir haben nie mehr darüber gesprochen. Vier Jahre später warst Du tot. Und ich verpasste so die Gelegenheit, mich bei Dir zu entschuldigen.

Lieber Vater, verzeih mir bitte. Nie habe ich Dich an Deinem Grab besucht, keine Blume, nichts. Auch das tut mir leid. Ich fühle mich schuldig, Dich daran gehindert zu haben, so zu leben und zu lieben, wie es wohl gut gewesen wäre für Dich. Und diese Schuldgefühle hindern mich jetzt daran, selbst so zu leben und zu lieben, wie es gut wäre und ist für mich. Ich sehe das Lebensalter 52 näher rücken, produziere Unregelmäßigkeiten bei Blutdruck, Blutzuckerspiegel und weißen Blutkörperchen und bilde mir ein, das sei der Preis für mein damaliges Verhalten.

Andererseits denke ich, dass ich jetzt vollende, was Dir damals verwehrt war. Ich liebe Ruth und erlaube mir erstmals in meinem Leben, diesem Gefühl Ausdruck zu geben. Ruth ist die einzige mir bekannte Frau, vor der ich keine Angst habe. Ich bin bei ihr, lebe mit ihr und bleibe bei ihr. Ich möchte mit ihr alt werden und fürchte mich vor Krankheiten. Ich bitte Dich, mir zu verzeihen und ahne, dass Du mir jetzt zuschaust. Gib mir bitte ein Zeichen, dass alles gut ist. Du hast meine Ideale zerstört. Das nehme ich Dir übel. Du warst ein gütiger Realist. Das merkte ich erst mit der Zeit. Ich habe Dich gern. Verzeih mir.

Dein Elmar

(Der Brief datiert vom 27. Januar 1981. Ich glaube, es war Frau J., eine Psychologin, die mir sehr geholfen hat und mir riet, von meinem Vater Abschied zu nehmen. Ich solle ihm schreiben. Diesen Rat habe ich befolgt. Damit begann der lange Weg zu mir selbst. Es gab zwar kein ‚Zeichen‘ meines Vaters. Aber nach fünf Jahren Durcharbeiten warichmeine Schuldgefühle los. Eines Morgens erwachte ich und fragte mich, was denn los sei. Der Tag war bewölkt, ich aber fühlte mich unglaublich leicht, hell und voller Energie. Erstmals erlebte ich, was LEBEN heißt.)

Brief des Vorstehers des Erziehungsdepartements Basel–Stadt, Regierungsrat Prof. Dr. H. R. Striebel, 9. November 1984

Herrn

Elmar Osswald

Vorsteher des Instituts für Unterrichtsfragen und Lehrerfortbildung ULEF

Rebgasse 1

4058 Basel

Basel, den 9. November 1984

Anzug P. Meier und Konsorten betreffend Überprüfung der Lehrpläne und Lehrinhalte unserer Schulen

Sehr geehrter Herr Osswald,

Wir haben im nächsten Jahr den genannten Anzug zu beantworten. Die Ergebnisse einer Vernehmlassung unter den Rektoren und unter den Lehrerkonferenzen liegen vor. Sie reichen, wie üblich, von Ablehnung bis zu Begeisterung.

Andererseits verspüren wir wenig Neigung, die gewünschte Fachkommission, der eine Superkompetenz zur Begutachtung sämtlicher Lehrpläne zugemutet wird, einzusetzen. Entweder wird die Kommission nach den Vorstellungen des Anzugstellers zusammengesetzt oder sie wird klein behalten. Bleibt sie klein, so kann sie nicht anders als zufällig zusammengesetzt werden, und viele Kreise fühlen sich mit Recht ausgeschlossen. Wird sie so zusammengesetzt, dass alle Richtungen und Schultypen vertreten sind, so ist sie schwerfällig und langwierig.

Wir zweifeln ferner an der Voraussetzung des Antragstellers, dass sich Fragen der Systeme einerseits und der Inhalte andererseits völlig getrennt voneinander diskutieren lassen. Die vom Anzugsteller aufgezählten Problemkreise hängen zum Teil auch mit System–Fragen zusammen. Die gegenwärtig von der Großratskommission Schulreform durchgeführten Expertenbefragungen zeigen deutlich, dass auch System–Fragen immer wieder mit Fragen der Lerninhalte und Lernziele gekoppelt sind. Unter diesen Umständen würden wir es verwirrend und missverständlich halten, im Sinne des Anzugstellers ein neues Gremium mit übergreifendem Auftrag einzusetzen, das parallel zur Großratskommission und auch parallel zu den regulären Instanzen des Schulwesens (Lehrerkonferenzen, Fachkommissionen, Rektorenkonferenzen, Inspektionen, Erziehungsrat) sich mit wichtigen Fragen beschäftigen würde.

Wir haben indessen Verständnis für das Anliegen des Anzugstellers, eine Art geistige Generalinventur der Schule aus einer gewissen Distanz vornehmen zu lassen. Dabei denken wir nicht in erster Linie an einen Rektoren- oder Lehrerkonvent. Wir könnten uns eine Tagung vorstellen, an welcher vornehmlich die Abnehmer der Schule und die Schulbetroffenen teilnehmen. Hier könnten sich Vertreter der Wirtschaft, der Arbeitnehmer, der Kultur, der Universität, der Eltern treffen und sich mit Schulleuten aussprechen. Es wäre auch denkbar, einer solchen Tagung ein Dokument zugrunde zu legen, das den bestehenden Lehrplänen zusammengestellt werden könnte. Länger als zwei bis drei Tage könnte ein solches Treffen wohl nicht dauern, ein günstiger Zeitpunkt läge unseres Erachtens im Mai/Juni 1985.

Wir wären Ihnen sehr verbunden, wenn wir die Sache demnächst im Detail besprechen könnten.

Mit bestem Dank und freundlichen Grüßen,

ERZIEHUNGSDEPARTEMENT

Der Vorsteher:

H. R. Striebel

Unsere baselstädtischen Schulen: Generalinventur und eine Palette von Verbesserungsvorschlägen (Bericht und Kommentar im Basler Schulblatt Nr. 10, Oktober 1985, 46. Jahrgang)

Nun gibt es sie, sozusagen unverhofft: eine baselstädtische ‚Generalinventur der Schulen‘. Und sie sollte und müsste endlich Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung werden, die dann auch zu fundierten und begründeten Handlungen führen könnte. Auf was für Wege diese uns dann führen würden, das wären natürlich Entscheidungen, die abzuklären sind. Wir jedenfalls weigern uns anzunehmen, dass einmal mehr ein sogenanntes ‚Papier‘ zu niemandes Nutzen in irgendeiner Schublade verschwindet. Schön und gut wäre es fürs Erste, wenn zuhanden des Schulblattes und damit einer interessierten Öffentlichkeit Reaktionen einträfen – Stellungnahmen, die wir gerne abdrucken würden. Dürfen wir also, ohne der Schulmeisterei bezichtigt zu werden, diesen zentralen Artikel zur Pflichtlektüre erheben?

Vom 29. bis 31. Mai 1985 fand im „Hotel Bären“ in Sigriswil BE im Auftrag des Vorstehers des Erziehungsdepartements BS, Regierungsrat H. R. Striebel, eine Tagung statt. Anlass war der im Großen Rat eingebrachte ‚Anzug P. Meier und Konsorten betreffend Überprüfung der Lehrpläne und Lehrinhalte unserer Schulen‘ vom 19. Oktober 1983.

Im Vorfeld der Tagung wurde bei den Teilnehmern eine Datenerhebung durchgeführt. 45 Beispiele wurden ausgewertet, wobei versucht wurde, die Aussagen auf je einen wesentlichen Punkt zu reduzieren (z. B. Stoff usw.) und einem der vielen Problemfelder (Schulzimmerprobleme, Schulprobleme, Probleme des Schulsystems, das System selbst) zuzuordnen.

Im Zentrum des Interesses standen die Primarschulen und die Gymnasien. Erst weit abgeschlagen folgten Sekundar-, Real- und Berufsschulen und Kindergärten. Es scheint, dass die Teilnehmer doch jene Schulen im Auge hatten, die Chancen verteilen (Primar) bzw. am meisten berufliche Chancen eröffnen (Gymnasium).Die Teilnehmer sahen den Hauptkritikpunkt nicht in ungenügenden Lehrplänen und Inhalten, sondern im ungenügenden Methodenrepertoire bzw. in den mangelhaften methodischen Fähigkeiten der Lehrkräfte (vorwiegend der gymnasialen Stufe).Die Systemproblematik (Orientierungsstufe versus dreigliedrige Sekundarstufe I) spielte in der Eingangsbefragung keine Rolle.

In vier Arbeitsgruppen (Primarschule, Realschule, Gymnasium, Seminar) wurden folgende drei Fragen diskutiert:

Wie lautet der Auftrag?Wo liegen die größten Diskrepanzen zwischen Auftrag und Istzustand?Welche Änderungen schlagen Sie vor?

Die nachfolgend abgedruckten Ergebnisse müssten eigentlich für jeden Basler Lehrer Pflichtlektüre sein. Wir möchten nicht vergessen zu erwähnen, dass die Auswertung und Zusammenstellung der Ergebnisse von Elmar Osswald besorgt wurde.

(Redaktion „Basler Schulblatt“, Ruth Schneider, Paul Schorno)

Gruppe ‚Primarschule‘

Die Gruppe stellt eine zunehmende Belastung der Primarschule fest. Sie nennt Eckpfeiler, die diese Belastung bewirken:

Zubringerfunktion der PrimarschuleErwartungen der AbnehmerschulenStofffülleLehrmittelangebotSie plädiert in erster Linie für eine (Neu-)Strukturierung der bestehenden Lehrpläne und nimmt damit ein Postulat von P. Meiers Anzug auf. Der Abbau der Stofffülle soll durch Schwerpunktsetzung erreicht werden. Soziales Lernen soll mehr Gewicht erhalten. Eine ausgeprägte Verbindung zwischen Stofflernen und sozialem Lernen soll realisiert werden.Als zweite Anregung fordert die Gruppe, dass die Lehrerpersönlichkeit gestärkt werden solle. Sie sieht eine Professionalisierungsmaßnahme darin, dass ein vermehrter und verstärkter Austausch mit den Kollegen ermöglicht wird. Lehrerfortbildung soll ein verpflichtender Bestandteil der beruflichen Aufgabe werden, sowohl im Sachbereich als auch im Bereich der Persönlichkeitsschulung.Als dritte Anregung sieht die Gruppe die Stärkung der Autonomie und Handlungsfähigkeit der Lehrerkollegien. Schulhausbezogene Lösungen, die sich voneinander unterscheiden, sollen möglich werden.Als vierte Anregung plädiert die Gruppe für neue organisatorische Schulformen (Tagesschule, Blockunterricht, Aufgabenbetreuung) in den Quartierschulhäusern. Sie sollen neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrerkollegien schaffen.

Kommentar

Die Gruppe fordert, dass die Lehrerpersönlichkeit gestärkt werden solle. Ein verstärkter Austausch mit den Kollegien sei zu ermöglichen. Erfahrungen, die wir mit dem dreitägigen Suchtprophylaxe–Seminar für Schulhauskollegien machen, zeigen, dass das Miteinander von Lehrerkollegien an einem Thema und unter kundiger Leitung zur enormen Entlastung der einzelnen Lehrkraft führt. So wird denn in den Feedbacks gefordert, dass solche Zusammenarbeit im Lehrerkollegium immer wieder möglich sein sollte, weil Mitlehrer erstmals ganz anders erfahren würden als Menschen, und nicht als Rollenträger, was – wie könnte es anders sein – wesentlich zur guten Atmosphäre beitrüge.

Die Gruppe fordert Lehrerfortbildung als verpflichtenden und integrierten Bestandteil der Lehrertätigkeit. In der Tat ist die Fortbildung bis anhin von eher marginaler Zufälligkeit. Das Problem kann so gelöst werden, dass die in der Lehrergrundausbildung feststellbare Verschulung zwar vermieden, das À-jour-Bleiben der Lehrkräfte aber trotzdem ermöglicht wird. Der Auftraggeber Staat wird auch hier mit dem Faktor Zeit konfrontiert. Es sind zeitliche Möglichkeiten (Zeitgefäße) für arbeitsplatzbezogene Fortbildung (Quartierschulhaus, Lehrerkollegium) und Rekurrenz zu schaffen, die die Voraussetzung für die geforderte Stärkung der Persönlichkeit des Lehrers und die Erhöhung der Autonomie der Quartierschulhauskollegien bilden. Ein Appell ohne Zeitgefäße verfehlt nicht nur seine Wirkung, er ist kontraproduktiv, weil er Forderungen stellt, die nicht erfüllbar sind und deshalb Schuldgefühle und Resignation hervorrufen können.

Von der an erster Stelle genannten Durchforstung der Lehrpläne und Lehrinhalte kann gesagt werden, dass eine tatsächliche Entlastung nötig ist. Nur: Dieses uralte Postulat (seit es die Schule gibt, wird es immer wieder formuliert) führte bis anhin nicht zu den gewünschten Ergebnissen. Die Inhalte wurden umgekehrt sogar vermehrt. Wichtiger scheint mir deshalb die Einsicht, dass es Aufgabe jeder Stufe (auch der Primarstufe) sein muss, die bestmögliche Förderung der Kinder zu erreichen und nicht die Vorbereitung auf die nächste Stufe des Systems. Es ist diese Vorbereitungsfunktion (verbunden mit dem Erwartungsdruck der Abnehmer), die zu jenem Leistungsstress führt, der dem(Primar)-Lehrer seine vermeintliche berufliche Identität zu sichern hilft: Wer quantitativ am meisten Schüler in die nächsthöhere Stufe bringt, ist der gute (erfolgreiche) Lehrer. Eine Wegnahme der Vorbereitungsfunktion könnte zu Entlastungen im Inhaltsbereich der Schule führen.

Gruppe ‚Realschule‘

Die Gruppe verlangt mit großer Mehrheit die Einführung der Orientierungsstufe. Sie stellt fest, dass das Basler Schulsystem nicht systemkonform gehandhabt, umgangen und unterlaufen wird. Der Selektionsentscheid muss zu früh von Lehrkräften, die eigentlich nicht entscheiden möchten, und aufgrund von ungenügenden Kriterien gefällt werden. Das Produkt der Bemühungen des Systems, der Schulabgänger, enttäuscht die Abnehmer. Diese erwarten die Beherrschung gewisser Grundlagen (Kulturtechniken) und einen gewissen Habitus (teamfähig, problemlösefähig). Beide Erwartungen werden zu wenig erfüllt. Das System ist weder legitim, weil es nicht mehr echt getragen wird von der Bevölkerung, noch funktionstüchtig (Expansion im Gymnasialbereich, Rückgang im Sekundarbereich). Es ruft allerorts Unbehagen hervor und besteht eigentlich nur noch, weil es nicht gelungen ist, sich auf ein anderes zu einigen. Die Hauptfragestellung der gegenwärtigen Schulen lautet: „Passt dieser Schüler in unsere Schule?“ Diese Fragestellung ermöglicht es den Lehrkräften, sich von der eigenen Verantwortung zu distanzieren. Sie können so bleiben, wie sie sind. Sie können sich vom Dazulernen dispensieren, da der Fehler ja in der falschen Zuweisung der Schüler und in verschiedenen weiteren Umweltmängeln (wie Konzentrationsmangel, gestörte Familienverhältnisse usw.) liegt, die man zwar beklagen, aber nicht ändern kann.Demgegenüber lautet die Hauptfragestellung der Orientierungsstufe: „Wie kann ich dir (Schüler) helfen, deinen zukünftigen Weg zu suchen und zu finden?“ Diese Fragestellung impliziert die Lernbereitschaft des Lehrers. Er muss die Verantwortung für sein Tun übernehmen, neue methodische Verfahren wie Gesprächsführung, Projektunterricht, innere Differenzierung usw. kennen und praktizieren lernen, vom althergebrachten Stundenunterricht Abschied nehmen, neue Organisationsformen wie Block- und Epochenunterricht ausprobieren.