Emilia im Baum - Bernhard Hagemann - E-Book

Emilia im Baum E-Book

Bernhard Hagemann

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Beschreibung

Linus "Stoerte" Becker nervt so ziemlich alles an seinem Leben auf dem Land. Doch eines Tages trifft er Emilia, die in ihrem prächtigen Baumhaus auf der großen, alten Buche sitzt. Sie protestiert dagegen, dass der Baum gefällt werden soll. Sogar an die Bundeskanzlerin hat sie schon geschrieben! Emilia überzeugt Stoerte im Handumdrehen, mit ihr die Umwelt zu schützen. Zu zweit protestiert es sich sowieso viel besser. Doch dann taucht Sebastian mit seiner Bande auf und macht den beiden das Leben schwer ...

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Seitenzahl: 138

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2014Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH.© 2014 Ravensburger Verlag GmbHAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch den Ravensburger Verlag GmbHPostfach 2460, D-88194 RavensburgText Copyright © Bernhard HagemannUmschlagbild und Vignetten: Dagmar HenzeISBN 978-3-473-47515-5www.ravensburger.de

Er hört das Nebelhorn eines Containerfrachters und den Lärm der Schmilinskystraße. Er hört Hupen, Rufe, Fahrradklingeln, während sich vor seinen Augen der leere Gang im Haus der Großeltern erstreckt, achthundert Kilometer von der Schmilinskystraße entfernt. Es gibt hier keine Möbel mehr, keine Bilder, keine Teppiche.

Stoerte hat den Kopfhörer auf, weil er nicht die Ameisen hören will und nicht die Schnecken und nicht die Schlangen. Er will lieber die Geräusche von Hamburgs Hafen und Straßen, die er auf seinem MP3-Player hat. Die Geräusche hat er zu Hause aufgenommen, in Hamburg. Bevor er wegziehen musste.

Seine Mutter sagt, dass es Quatsch ist, dass man Ameisen nicht hören kann, und auch Käfer nicht, Schnecken auch nicht und auch keine Schlangen. Und er soll doch den blöden Kopfhörer abnehmen.

Seine Mutter hat mal wieder keine Ahnung und Stoerte sagt, dass er die Ameisen leise bellen hört. Und dass ihn das stört.

Wenn er das Geräusch nachmacht, wie sich bellende Ameisen anhören, dann macht er leise: „Illz-Illz-Illz!“

Sein Mutter sagt, dass ‚Illz‘ kein Bellgeräusch ist, und beweist damit einmal mehr, dass sie keine Ahnung hat.

Stoerte ist ein Allesmerker. Das sagt er seiner Mutter auch immer.

„Ich merke alles!“

Je mehr Lärm jetzt allerdings aus dem Kopfhörer kommt, umso weniger merkt er von alldem, was er sonst merkt.

Sein Name Stoerte ist altwikingisch. Den Namen hat ihm sein Vater gegeben, denn der ist Seefahrer. Das stimmt nicht ganz. Sein Vater ist eigentlich praktischer Arzt und will im Haus der Großeltern eine Landpraxis aufmachen. Und den Namen Stoerte hat Stoerte sich selber gegeben. Seit er in Bayern wohnen soll, hat er sein Leben ein bisschen umgeschrieben.

Seine Eltern haben ihm den Namen Linus gegeben, aber Stoerte ist norddeutscher, findet Stoerte. Eckig und kantig, wie das Land im Norden, wie Hamburg. Nicht so wie Bayern mit den lieblich geschwungenen Hügeln, auf denen im saftigen Grün Ameisen brüllen und Kälber die bayerische Hymne muhen. Zusammen mit seinem Nachnamen ist Stoerte mehr als wikingisch, das ist dann richtig piratisch. Stoerte heißt nämlich Becker mit Nachnamen. Und Stoerte schreibt man mit ‚OE‘, das sieht noch nordischer aus. Man spricht es aber wie ein ‚Ö‘ – ‚Störte‘.

Störte Becker! Fast wie Deutschlands berühmtester Pirat.

‚Stoerte‘ könnte aber auch ein Fremdwort für Heimweh sein. Denn Stoerte stört in Bayern so ziemlich alles. Die Lederhosen, das Bier, die Kühe, die weißen Wolken, die grauen Wolken, die Berge, die Weißwürste, die Gelbwürste, die Bratwürste, der Name Spezi für Colamix, die …

Zuerst haben sie sich gegen den Umzug gewehrt, er und seine Seele. Gemeinsam haben sie Neurodermitis bekommen, dann allergisches Asthma auf jede Polle südlich der Donau, dann kreisrunden Durch- und Haarausfall. Aber niemand hat die Anzeichen bemerkt, eigentlich auch Stoerte nicht. Seitdem haben sich Stoerte und seine Seele wieder beruhigt.

Aber Heimweh hat er immer noch. Schnell hat er gemerkt, dass es ihm hilft, wenn er wie ein Bekloppter mit Kopfhörer und Hamburggeräuschen im Ohr durch die Gänge des riesigen Hauses rennt. Harter Boden unter den Füßen und Hupen in den Ohren: Das ist Großstadt. Fehlt nur noch eine Ampel, die den Verkehr regelt, wenn jemand auf den Flur kommt, aus der Toilette oder dem Bad oder einem der Zimmer. Eine Ampel hier im Haus – die wird er sich zu Weihnachten wünschen.

Stoerte rennt den Gang entlang. Sein dunkles, für einen Jungen recht langes Haar weht ihm um den Kopf, so wie einem Piraten auf der Nordsee. Der Kopfhörer mit den Geräuschen ist groß und rutscht unter den schnellen Schritten von den Ohren.

Die Armbanduhr an seinem linken Arm benutzt er als Stoppuhr. Aber er braucht die Uhr nicht, um zu wissen, dass er immer schneller wird. Er braucht die Uhr auch nicht, um zu wissen, dass er viel mehr Zeit benötigt als für die alte 4-Zimmer-Wohnung in Hamburg.

Stoerte rennt durchs Haus und klatscht alle vier Wände jedes der vierzehn Zimmer im Erdgeschoss und im ersten Stock ab. Dann erst darf er wieder an die Eingangstür zurückkehren. Die Regeln stammen von ihm selber.

Er stoppt seine Zeit. Zwei Minuten und zwanzig Sekunden. Wofür das gut ist, weiß er selber nicht.

„Linus!“, mahnt ihn seine Mutter. Sie steht auf dem großen Kiesplatz vor dem Haus, hat das Handy am Ohr und versucht zum x-ten Mal, die Umzugsfirma anzurufen. Die Ankunft des Möbelwagens ist überfällig, er müsste schon seit einer halben Stunde hier sein.

„Linus!“

Stoerte hört seine Mutter nicht. Er sieht ihre Lippen. Da ist sein Name nur:

„I – u!“ Wer heißt schon ‚I – u‘?

Ohne Kopfhörer hört er dann, was sie sagt: „Hast du auch saubere Hände? Nicht dass du die Wände verschmierst …!“

„In Bayern heiße ich Stoerte“, sagt er und schon ist der Kopfhörer wieder auf dem Kopf. Nicht zu fassen, wofür man Kopfhörer alles abnehmen muss.

„I – i – äs – ing – ab.“

Stoerte tut seiner Mutter den Gefallen und ‚nimmt dieses Ding ab‘.

„Hast du dein Zimmer aufgeräumt?“

„Mein Zimmer ist leer.“

„Dein Koffer! Hast du den Koffer weggeräumt?“

„Mama!“, seufzt Stoerte. „Die paar Sachen im Koffer. Wo soll ich die hinräumen? Ich habe …“

Eine abwehrende Handbewegung seiner Mutter und Schluss ist mit der Unterhaltung. „Hallo? Bin ich da bei Buchner Umzug? Ja, hier Susanne Becker. Sagen Sie …“

Stoertes Mutter entfernt sich in Richtung Blumenbeet.

Stoerte überlegt, ob er seinen Lauf durchs Haus noch einmal wiederholen soll. Früher wäre das in diesem Haus undenkbar gewesen. Früher unterhielten seine Großeltern hier eine Landpension. Auf den Fluren lagen die Teppiche, auf ihnen standen Stühle und Tische, an den Wänden hingen Bilder. Die Zimmer waren möbliert, wie man es von einem Hotelzimmer kennt. Große Betten, kleine Tische, ein Schrank. Außerdem waren meistens Gäste anwesend.

Aber die Pension ist nun Vergangenheit. Stoertes Großeltern sind inzwischen gestorben, das Haus ist renoviert und wird nun von Stoerte und seiner Familie bewohnt. Ganz so stimmt das noch nicht, denn Stoerte und seine Mutter sind erst seit ein paar Tagen da. Aber was die Zukunft angeht, so werden sie hier wohnen. Hier in diesem riesigen 14-Zimmer-Haus seiner Großeltern in Angerding, einem Dorf in Oberbayern nahe den Bergen und nahe dem See, den man vom Dachfenster des Hauses aus sehen kann. Ein Ort, wo dringend ein Landarzt gebraucht wird und wo seine Mutter eine Töpferei aufmachen will. Denn seine Mutter ist Töpferin, und seit Stoerte denken kann, klebt an ihren Händen Ton, mal feucht, mal getrocknet.

Die Töpferei seiner Mutter befindet sich schon seit zwei Wochen hinter dem Haus in einer großen Doppelgarage. Das ist der neue Platz, an dem in Zukunft Vasen, Schüsseln und vieles mehr entstehen sollen. Der schwere Brennofen und das große Materiallager der Töpferei sind mit einem früheren, gesonderten Transport gekommen, zusammen mit vielen Sachen aus der Garage, dem Speicher und dem Keller.

Um hier bald wirklich wohnen zu können, erwarten Stoerte und seine Mutter aber nun den Umzugswagen mit den Möbeln.

Eigentlich sollte die bayerische Zukunft der Familie Becker schon vor einer halben Stunde begonnen haben. Aber vom Möbelwagen ist weit und breit noch nichts zu sehen. Und Stoertes Vater kommt erst in drei Wochen von Hamburg, weil er dort noch im Krankenhaus arbeiten muss.

„In einer Stunde sind sie da!“, ruft seine Mutter und seufzt. „Sie stehen im Stau.“

Die Füße seiner Mutter stecken in alten Turnschuhen, darüber trägt sie eine alte Jeans und darüber eine weiße Bluse. Die braunen Haare sind zu einem Pferdeschwanz gebunden. So sieht sie oft aus, wenn sie an der Töpferscheibe sitzt, und so sieht sie auch jetzt zum Umzug aus.

Sie schiebt das Handy in die Hosentasche und macht ein paar Schritte aufs Haus zu, wo Stoerte noch immer an die Tür gelehnt steht.

„In einer Stunde erst?“, sagt er.

Stoerte hat keine Lust, noch mal durchs Haus zu rennen. Er geht die Treppe nach oben. Den Flur entlang und dann das dritte Zimmer auf der linken Seite. Das ist seines. Stoertes Koffer ist schon hier. Sein großes, langes Tau, das er von einem ehemaligen Kapitän im Hamburger Hafen geschenkt bekommen hat, liegt wie eine Riesenschlange zusammengerollt in der anderen Ecke des Zimmers.

In Gedanken hat Stoerte das Zimmer schon eingerichtet. Er weiß, dass er seine Barkasse, die manche Menschen Bett nennen, gegenüber vom Fenster aufstellen wird. Der Kommandostand, den manche Menschen Schreibtisch nennen, kommt direkt vors Fenster. Und die Schleusenwand, die manche Menschen Schrank nennen, soll an die Wand daneben. An die Wände kommt die Tapete mit den Schiffen, auf die Tapete die Bilder mit den Schiffen.

Jetzt ist das Zimmer noch leer. Weiß und leer. Es riecht nach frischer Farbe, obwohl die Renovierung schon drei Wochen zurückliegt. Das ganze Haus riecht nach Farbe, deswegen sind die Fenster aufgerissen.

Der Sommer durchströmt das weiß gestrichene Haus mit einem sanften Wind. Stoerte geht ans Fenster. Da draußen überall ist Bayern, grün und hügelig, voller Ameisen, die man nicht sieht, die Stoerte aber hört mit ihrem ‚Illz-Illz‘. Im Hintergrund stehen die Berge wie eine bröckelige Wand. Wenn der Meeresspiegel steigt und Deutschland überschwemmt wird, würde sich das Wasser an den Bergen stauen. Vielleicht hat Stoerte ja Glück und erlebt das.

Aber was soll er jetzt machen, bis die Möbel kommen? Hier in Bayern ist der letzte Schultag. Stoerte hat schon seit drei Wochen Sommerferien. Das war das einzig Gute an seinem Umzug: Seine Sommerferien dauern in diesem Jahr neun Wochen. In sechs Wochen erst wird er hier in die fünfte Klasse kommen. Bis dahin hat er das Schreiben und Lesen wieder verlernt.

Stoerte sieht aus dem Fenster. Den großen Baum dort auf der Wiese, nicht weit von ihrem Haus, kennt er noch von früher. Der steht da immer schon. Aber an das Baumhaus kann er sich nicht erinnern. Wie eine kleine Festung ist es zwischen die starken Äste der mächtigen Krone gebaut. Oder wie ein Boot, das sich bei Hochwasser dort oben verkeilt hat. Viel ist von hier aus allerdings nicht zu sehen. Die Blätter sind zu dicht. Aber Stoerte glaubt, sogar eine Terrasse erkennen zu können. Das will er sich mal genauer ansehen.

Seine Mutter steht jetzt in der Küche am Ende des unteren Flurs. Die Küche ist der einzige Raum, der schon eingerichtet ist. Sie ist nagelneu. In den roten Hängeschränken spiegelt sich das einfallende Sonnenlicht und das Chrom von Spüle und Herd funkelt wie kleine Blitze. Die Küche sieht aus wie in einem Werbespot für Putzmittel.

„Ich fahr mit dem Rad ein bisschen in der Gegend rum!“, ruft Stoerte und springt die Treppe hinunter.

Er hört wieder nur Hamburg über seinen Kopfhörer, ahnt aber, dass seine Mutter etwas fragt. Stoerte ist nicht nur ein Merker, sondern auch ein Ahner.

„Zum Baum da drüben“, antwortet er über die Schulter.

Er schwingt sich auf sein neues Rad, das ihm sein Vater zum Umzug geschenkt hat, und fährt durch das große Tor mitten rein ins Bayern.

Wo in Hamburg die Schmilinskystraße ist oder der Hafen mit seinen Schiffen oder die Reeperbahn oder der Fernsehturm, ist hier Feldweg. Lebewesen, die sich darauf fortbewegen, sind Bauern, Jogger, Kühe oder Kröten. Letztere sind oft auch platt, weil sie von den Bauern mit den Traktoren platt gefahren und dann von den Joggern noch platter gemacht worden sind, am allerplattesten dann noch von den Kühen.

In Hamburg ist das Land flach, in Bayern sind es die Kröten.

Zwanzig Meter sind es noch, dann taucht Stoerte in den riesigen Schatten des Baumes, in dem es augenblicklich kühler wird. Stoerte dreht sich um. Von hier kann er deutlich das Fenster seines Zimmers erkennen, Luftlinie vielleicht dreißig Meter.

Stoerte legt sein Fahrrad ins hohe Gras, als er etwas auf den Kopf bekommt. Es ist ein kleiner Ast. Er sieht nach oben. Im Fenster vom Baumhaus über ihm erscheint ein Mädchengesicht. Das Mädchen bewegt die Lippen.

„An – ei – i – a – s – ad – ein.“

Stoerte nimmt den Kopfhörer ab.

„Kannst gleich wieder aufs Rad steigen“, sagt das Mädchen noch einmal. „Ich habe Hunger und Durst. Wie wär’s, wenn du mir was zu essen bringst und was zu trinken?“

„Was machst du da oben?“, fragt Stoerte.

„Ich kämpfe gegen meine Höhenangst und den Schwindel. Wahrscheinlich aber auch gegen das Verhungern, wenn ich nicht vorher verdurste“, sagt das Mädchen. „Wenn ich nicht bald was zu essen bekomme, mach ich’s nicht mehr lange. Dann bin ich hier oben nur noch Skelett.“

Den Kopf in den Nacken gelegt, sieht Stoerte, dass das Mädchen blond ist und ungefähr so alt wie er. Mehr kann er nicht erkennen.

„Hast du gehört?“, fragt das Mädchen. „Ich habe Hunger und ich habe Durst.“

„Das hab ich gehört“, sagt Stoerte.

„Änderst du das?“

„Wieso änderst du das nicht?“, fragt Stoerte.

„Ich kann nicht!“ Ihr Gesicht verschwindet aus dem Fenster. Stoerte hört auf den Bodenbrettern der Terrasse ein Trappeln, dann sieht er das Mädchen wieder, wie es sich über die Brüstung der Terrasse lehnt. Ihr blondes Haar fällt ihr ins Gesicht wie der Schlussvorhang von einem Theaterspiel. Mit einer schnellen Handbewegung streicht sie es zur Seite.

„Wieso kannst du nicht?“, fragt Stoerte. „Wie bist du überhaupt da raufgekommen?“

„Mit der Strickleiter. Die habe ich aber nach oben gezogen, damit niemand auf die Idee kommt, mich hier runterzuholen.“

„Musst du nicht in der Schule sein?“, fragt Stoerte.

„Musst du nicht in der Schule sein?“, kommt die Antwort.

Stoerte schüttelt den Kopf. „Ich hab Ferien.“

„Oh, ein Touristenkind“, sagt das Mädchen schnippisch.

Stoerte schüttelt immer noch den Kopf.

„Ich bin hierhergezogen. Aus Hamburg, und da haben wir schon Ferien.“

„Bist du in das große Haus gezogen?“, fragt das Mädchen mit erwachendem Interesse.

„Ja!“, antwortet Stoerte und nickt jetzt. „Aber wieso kannst du nicht vom Baum runter?“

„Wegen meinem Protest. Und der dauert eine Zeit lang.“

„Was denn für ein Protest?“

„Protest eben.“

„Gegen die Schule?“, fragt Stoerte.

„Wieso? Sind doch Ferien“, sagt das Mädchen. Dann wiegt es den Kopf von einer Seite zur anderen. „Jedenfalls fast Ferien. Heute ist der letzte Schultag, da kann man schon mal fehlen, wenn man die Welt retten will. Finde ich.“

Stoerte macht im hohen Gras ein paar Schritte rückwärts, damit er den Kopf nicht so weit in den Nacken werfen muss.

Gleichzeitig wundert er sich über das Mädchen. Vielleicht stimmt ja, was Gustav, sein Freund aus Hamburg, über die Bayern gesagt hat: „Die spinnen da unten!“ Gustav hat mal irgendwo im Chiemgau Ferien auf einem Bauernhof verbracht. Er hatte einen Heuballen in den Rücken bekommen, was sehr wehgetan hatte und seither seine Erinnerungen beeinflusst. Vielleicht sind die Menschen hier wirklich anders und ein bisschen sonderbar.

„Wogegen protestierst du denn?“, fragt Stoerte.

„Ich war lange genug ein braves Mädchen. Ab heute herrscht Emiliawandel!“, sagt sie. „Ich bin Umweltaktivistin.“

Stoerte nickt, obwohl er kein Wort verstanden hat. Was soll das bedeuten? Umweltartiwirtsten? Und Emiliawandel?

Als hätte sie seine Unwissenheit erkannt, sagt sie noch: „Ich protestiere gegen das Fällen des Baumes!“

„Welcher Baum?“

„Welcher Baum!“ Das Mädchen schlägt sich mit der Hand gegen die Stirn. „Was bist du denn für einer? Was steht denn groß und wunderschön vor dir?“

„Der soll gefällt werden?“ Stoerte reckt das Kinn und schaut sich den Baum von oben bis unten an. „Der sieht doch gesund aus!“

„Schlaues Kerlchen.“ Das Mädchen stützt jetzt seinen Kopf auf die Unterarme. „Ich heiße übrigens Emilia. Ich wohne dahinten in dem gelben Haus.“

Stoertes Blicke folgen ihrer flüchtigen Handbewegung, aber ein gelbes Haus kann er nicht sehen. Doch er versteht jetzt, was sie mit dem Wort ‚Emiliawandel‘ meint.

„Und wer bist du?“

„Stoerte.“

„Wer?“

„Stoerte.“

„Das ist ein Name?“

„Wikingisch. Kommt von meinem Vater, der ist Seemann.“

Emilia sagt „Okay“, aber sie sagt es nicht normal wie ein Engländer oder Amerikaner, sie sagt es, wie es unter den Größeren modern geworden ist. Sie sagt: „Okäääääääääääääy.“

„Mein Vorname hat aber nur mit meinem Nachnamen einen Sinn“, gibt Stoerte zu bedenken.

„Und der wäre?“

„Becker.“

„Okäääääääääääääy.“ Aber sie scheint nicht zu kapieren.

„Hallo, Stoerte“, sagt Emilia dann. „Also, ich wohne jetzt hier oben. In dem Baumhaus, das mein Vater mir gebaut hat.“

„Gib zu, dass du nicht weißt, wer Störtebeker war.“

„Einer, der den Bäcker nicht in Ruhe backen gelassen hat?“

„Deutschlands einziger richtiger Pirat.“

„Der Bäckern das Mehl weggenommen hat?“

Eigentlich dienen Gespräche dafür, Klarheit ins Leben zu bringen. Das kann man aber jetzt nicht gerade behaupten. Stoerte will das schnell ändern und wechselt das Thema.

„Du wohnst da oben?“, fragt er. „Ich dachte, in dem gelben Haus?“