Patenkuh Polly - Bernhard Hagemann - E-Book

Patenkuh Polly E-Book

Bernhard Hagemann

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Beschreibung

Cow or Never!

Polly soll weg? Scheidungskind Johann, 10, ist entsetzt. Denn Polly ist seine Patenkuh, und er muss sie natürlich unbedingt vor der ultimativen Verwurstung retten! Hilfe bekommt Johann überraschend von seinem sonst wenig anwesenden Vater, der Indien liebt und Kühe für heilig hält. Kurzerhand kauft Vater Armin dem Bauern die Kuh ab, um sie im Anhänger mit seinem alten Benz auf einen Gnadenhof nach Norddeutschland zu bringen. Neben Johann sitzt im Auto noch Samantha, Armins Stieftochter in spe, die allerdings »PDHS« hat – Pessimismusdefizit und Hypergutelaune-Störung. Klar, dass das Abenteuer, das dieses verrückte Gespann auf seiner Reise quer durch Deutschland erlebt, auf keine Kuhhaut geht ...

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Seitenzahl: 180

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Bernhard Hagemann

Patenkuh Polly

Mit Illustrationen von Markus Spang

Kinder- und Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House

1. Auflage 2015© 2015 cbt Verlagin der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenAlle Rechte vorbehaltenIllustrationen von Markus SpangUmschlaggestaltung und Umschlagtypografie: Markus SpangKapitelschrift und Pagina: Naima, © Markus SpangTP ∙ Herstellung: kwSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-14799-0www.cbt-buecher.de

Für Sylvia und Lucia

1

Eigentlich ist alles wie immer. Das Frühjahr schmeißt sein Blau in den Himmel und gießt sein Grün auf die Wiesen darunter. Die Berge im Hintergrund recken ihre Gipfel wie ein umgedrehtes Sägeblatt in die höchsten Höhen. Die Vögel fangen mit ihren Schnäbeln lauthals die gute Laune des Tages ein. Der Kies unter den Schuhsohlen lässt das gleiche trockene Scharren hören wie tags zuvor.

Über allem leuchtet das Gefühl Frühling!

Alles ist genauso wie gestern, und doch ist alles anders. Johann spürt diesen Frühling nicht mehr. Seine Gefühle sind verdeckt von einem bleiernen Tuch, das ihn bedrückt. Und das alles, weil der Bauer zwei Sätze gesagt hat. Oder nur einen? Johann weiß das schon nicht mehr genau. Ein Bauer kann sehr einsilbig sein. Verkündet das Schlimmste auf der Welt wie die Lottozahlen, wippt den Kopf dazu, als wollte er noch mehr Worte rausschütteln, die dann doch nicht kommen, weil die Worte irgendwo im Stall an den Mistgabeln hängengeblieben sind. Ein Grinsen des Bedauerns hat der Bauer noch gehabt, dann war Schluss mit lustig. Und so soll es wohl auch bleiben. Und sein.

Für immer.

Kann die Welt denn verkehrter sein? Geht es ungerechter? Erst bekommt Johann diese Prachtkuh zur Patenschaft und dann das. Bolzenschuss und Schluss, Steak, Wurst, Lederjacke. Nicht auszudenken, was noch alles.

Wurst isst Johann schon lange nicht mehr.

Was passiert ist?

Geschlachtet soll sie werden!

Das ist passiert.

Todesurteil verkündet.

Die letzten Schocktränen versiegen dann aber doch. Allmählich meldet sich bei Johann das klare Denken wieder zurück. Zwar immer noch verklebt mit Tränen, aber für einen ersten vernünftigen Gedanken seit Minuten reicht es.

Darf der Bauer das überhaupt?, fragt sich Johann. Hat er als Kuhpate nicht so was wie einen Vertrag und ein Mitspracherecht? Schon will sich wieder der Tränenschleier in seine Augen drängen und den Kopf vernebeln. Aber Halt!

Da ist noch ein klarer Gedanke. Zart, aber kraftvoll wie eine Knospe, windet er sich aus der Traurigkeit. Und in dem Gedanken steckt Lebensgeist pur.

So geht das nicht. – So lässt sich dieser zweite klare Gedanke zusammenfassen. Und er geht noch kürzer!

So nicht!

Der dritte klare Gedanke folgt dem zweiten wie ein großer Bruder. Und der hat’s in sich:

Er wird um Polly kämpfen! Ja, das wird Johann!

Kämpfen!

Ene muh und mene

Ende mit der Träne!

Johann dreht sich um. Da steht sie am Zaun, wunderschön, mal eben der Schöpfung entsprungen. Erstaunlich, was aus Gras alles herauszuholen ist. Das blühende Leben selbst, lang die Hörner, prall die Euter, das Fell wie eine Landkarte. Neuseeland auf der linken Seite des gewölbten Bauches ist Johann gleich beim ersten Besuch aufgefallen, und England und Australien auf der anderen Seite. Nur falsch angeordnet. Australien neben England.

Johann steht auf, wischt sich mit dem Handrücken das Feuchte aus dem Gesicht und geht hinüber.

Pollys große Augen verströmen pures Leben. Sie reckt ihren Kopf über den Zaun, als wollte sie Johann auffordern. Der legt erst die Hand auf die breite Stirn zwischen den Hörnern, dann streicht er ihren Hals hinunter. Sofort merkt Johann Pollys besänftigende Wirkung. Er spürt, wie sein Herzschlag ruhiger wird. Seine Gedanken rasen nicht mehr. Die letzte Träne versiegt in ihrem dichten Fell. Polly atmet mit kleinen Luftstößen, die warm auf Johanns Brust treffen. Ihr Kiefer rutscht mahlend und knirschend von einer Seite auf die andere. Still und ruhig ist Polly. Johann kann sich nicht vorstellen, dass so eine friedliche Kuh wild werden kann. Dass sie Ärger macht.

Aber der Bauer sagt, sobald Johann weg ist, dreht Polly fast schon durch. Dann ist sie in der Herde nicht mehr zu halten. Rempelt die anderen Kühe, bohrt ihnen das Horn in die Seite. Das wird von Mal zu Mal schlimmer. Sie ist eine richtige Problemkuh geworden, meint der Bauer.

Johann kann das gar nicht glauben, und eigentlich will er jetzt auch nicht weg von Polly. Aber er muss! Er muss schnell nach Hause, um ihre Rettung in die Wege zu leiten.

Seine klaren Gedanken von vorhin waren die wichtigsten in seinem Leben. Und jetzt muss er handeln.

Als er auf sein Fahrrad steigt, zittern ihm noch die Arme. Er fährt langsamer als sonst den Berg hinunter, auf dem der große Hof über der Landschaft thront. Bremst sogar. Normalerweise ist die schmale Teerstraße Johanns Geschwindigkeitsrekordstrecke. Da pfeift der Wind durch die Luftlöcher in seinem Helm wie bei einem Teekessel. Bei freier Fahrt reicht der Schwung beinahe bis zum nächsten Dorf und dann ist er auch schon bald zu Hause. Obwohl weit und breit kein Auto auf dieser schmalen Nebenstraße zu sehen ist, bremst Johann jetzt die Fahrt ab.

Erst als sich seine Arme vom Zittern beruhigt haben und die Tränenspuren im Kühl des Fahrtwinds getrocknet sind, lässt er die Räder rollen. Aber er muss früher als sonst erneut in die Pedale treten, um die ansteigende Straße wieder hinaufzukommen. Er tritt jetzt ziemlich heftig. Johann ist nach Bewegung zumute, um seinen Zorn zu bändigen. Er könnte immer noch jeden Moment laut losschreien.

Zu Hause hat er dann Gelegenheit dazu. Er biegt in die Siedlung ein. Weiße, hellgelbe, hellblaue, hellgrüne Häuser zerstückeln das Grün zu schmalen Gärten vor und hinter den Häusern. Das Fahrrad schmeißt Johann knapp neben die Rosen seiner Mutter.

Er rennt den schmalen Weg ums Haus herum. Es ist Sonntag. Seine Mutter faulenzt und fährt vor Schreck von ihrer Gartenliege hoch.

Eine einzige ungeordnete Wortklangwolke erreicht sie, aus der spitz und hoch wie ein Gebirgsgipfel das Wort Polly herausragt. Dann herrscht kurz erstauntes Schweigen. Nach ein paar Sekunden fragt sie:

»Was ist mit Polly?«

Johann schnauft sein Rot aus den Wangen, füllt damit erneut seine Worte.

»Der Bauer will Polly schlachten!«, schreit er. »Stell dir mal vor! Die Polly. Aber das darf er nicht, das darf er nicht!!«

»Johann, was redest du da! Das glaube ich nicht.«

»Es stimmt aber!«

Johanns Schreien ist jetzt gedämpft. Seine Mutter drückt ihn an sich. Er spürt ihren Atem, er spürt ihre Hand auf seinem Hinterkopf, er spürt das Schaukeln, das Wiegen und er hört das Knarzen der Gartenliege, die nun zwei Menschen trägt.

»Aber warum will er das machen?«, fragt seine Mutter.

Da ist es wieder, das Schluchzen. Kommt wie auf Knopfdruck, kaum legen sich die Arme seiner Mutter um ihn. Aber okay, raus damit. Kämpfen kann warten, erst mal getröstet werden. Johann hebt wieder seinen Kopf und sieht in das Gesicht seiner Mutter. Güte schaut ihn da an, Anteilnahme, aber auch Fragen.

»Die Polly wird immer wilder, wenn ich von ihr weggehe«, schnieft Johann. Seine Stimme ist fest und wackelt nicht. »Sie ärgert die anderen Kühe, schubst und boxt, sagt der Bauer. Problemkuh.«

»Dass Polly unruhig wird, wenn du gehst, das hast du schon erzählt«, sagt seine Mutter. »Ist wohl schlimmer geworden. Sie mag dich. Vielleicht bist du für sie eine Art Kalbersatz, so verrückt es klingt. Aber sie hat ja vor einiger Zeit ein totes Kalb zur Welt gebracht. Vielleicht hat das damit zu tun.«

»Ja.« Johann schaut jetzt in den Garten. Hinter der Terrasse beginnt ein kleines Stück Wiese, das zu allen Seiten mit einer noch niedrigen Hecke begrenzt ist. Hinter den Heckenbüschen sind die Nachbargärten. Die Siedlung ist noch nicht alt. Die Pflanzen hier sind noch klein. Das Gras macht es den niedrigen Heckensträuchern vor, wie das mit dem Wachsen geht. Kaum gemäht, spielen die Grashalme nach ein paar Tagen schon wieder Minidschungel und warten auf den neuen Schnitt.

»Wir könnten Polly in unseren Garten holen«, sagt Johann. »Da brauchen wir den Rasen nicht mehr zu mähen und sie stört die anderen Kühe nicht.«

»Ach, Johann«, seufzt die Mutter. »Wie stellst du dir denn das vor? Sie gehört dir doch nicht. Es ist doch nur deine Patenkuh.«

»Wir kaufen sie«, ruft Johann mit plötzlicher Begeisterung, die Augen groß wie polierte, feucht glitzernde Murmeln. »Was kostet eine Kuh? Ich habe einhundertvierundsiebzig Euro gespart.«

»Johann.« Seine Mutter tätschelt ihm den Hinterkopf. »Eine Kuh hier im Garten. Und dein Geld wird nicht reichen. Eine Kuh kostet bestimmt mehr.«

»Sie ist eine Problemkuh, dann ist sie vielleicht billiger.«

Die Patenschaft für Polly hat Johann von seinen Großeltern zum Geburtstag bekommen. Johann ist Pollys Pate. Das heißt, er darf sie besuchen und bekommt zweimal im Jahr ein großes Paket zugeschickt mit Milchprodukten von Polly. Käse ist dabei, Joghurt, Quark und Kefir, alles Sachen, die aus der Milch von Polly gemacht worden sind. Johann hat Polly schon sehr oft besucht. Er hat mit ihr das Melken gelernt, er hat ihr den Kopf gestreichelt. Sie an den Hörnern gepackt. Eigentlich sind sie unzertrennlich geworden. Polly ist die prachtvollste Kuh der Welt.

»Papa!«, ruft Johann da. »Der kann mir das Geld doch leihen. Ich verkaufe dann die Milch von Polly und zahle es ihm zurück.«

»Johann!«, seufzt seine Mutter nur und schüttelt den Kopf.

»Wie ist seine Nummer?«

»Von wem?«, fragt seine Mutter.

»Von Papa.«

»Willst du den jetzt wirklich anrufen?«, fragt seine Mutter zögernd. »Wer weiß, wo der sich herumtreibt.«

»Vielleicht ist er ja in der Nähe. Könnte doch sein.«

Johanns Vater ist viel unterwegs. Früher einmal haben sie es als Familie versucht, aber daran kann sich Johann kaum erinnern. Seine Eltern haben sich wohl nur gestritten und irgendwann ist sein Vater ausgezogen. Zuerst ist er in der Gegend geblieben, doch dann hat er zu reisen begonnen und ist in Indien hängen geblieben. Von dort schreibt er Artikel für Zeitungen.

Manchmal ist Johanns Vater aber auch in Deutschland.

Einen Versuch ist es wert. Johann geht ins Haus und greift zum Hörer.

»Wie ist die Nummer?«

»Seine Handynummer ist eingespeichert.«

Stimmt. Johann klickt die eingespeicherten Nummern durch, und er findet sie unter Armin, so heißt sein Vater. Armin Angermüller.

Soll er wirklich? Johann merkt, wie bei ihm schlagartig die Nervosität anklopft, jetzt, wo er nur noch einen Knopf zu drücken braucht. Was soll er sagen? »Hallo, Papa, hier ist Johann. Ich bräuchte Geld für eine Kuh.«

Wie würde sein Vater antworten? Johann weiß es nicht. Er kennt seinen Vater gar nicht so gut.

»Wann habe ich Papa das letzte Mal gesehen?«, ruft er aus dem Wohnzimmer auf die Terrasse. Als ob das jetzt eine Rolle spielte, wie lange er seinen Vater nicht gesehen hat. Die Frage ist reine Hinhaltetaktik, das weiß Johann selbst am besten. Außerdem kann er sich genau erinnern, dass es über ein Jahr her ist, dass er seinen Vater gesehen hat. Das war noch in der alten Wohnung. Normalerweise sieht Johann seinen Vater schon hin und wieder. Zumindest hat er ihn vor der langen Pause von einem Jahr immer wieder gesehen, das aber unregelmäßig. Sein Vater ist nicht der Zuverlässigste. Ausflüge, Eis essen, mit Rucksack zum Übernachten gehen. All diesen Trennungskinderkram. Aber das ist immer weniger geworden, weil die Streiterei zwischen den Eltern zugenommen hat.

Dann ist sein Vater irgendwann nach Indien gereist, und aus der Reise ist ein längerer Aufenthalt geworden. Zwei-, dreimal war er in der Zwischenzeit wieder in Deutschland, aber für einen Besuch hat es jeweils nicht gereicht. Telefoniert haben sie schon ein paar Mal. Aber ein Vater nur für die Ohren ist nicht genug.

»Deinen Vater?«, antwortet seine Mutter von der Terrasse. »Hmm, vor einem Jahr glaube ich.«

Ein Jahr ist eine lange Zeit. Da kann viel passieren. Vor einem Jahr kannte Johann Polly noch gar nicht. Vor einem Jahr war er in der dritten Klasse. Quasi noch ein Baby. Vor einem Jahr wohnten sie noch nicht hier. Vor einem Jahr hatte er Schuhgröße 28. Vor einem Jahr hatte er noch keinen Stimmbruch. Hat er heute auch nicht. Aber vor einem Jahr begann er mit Haargel zu experimentieren. Vor einem Jahr konnte er noch nicht melken. Vor einem Jahr war er zehn Jahre vom Führerschein entfernt. Die Gedanken haben sich selbstständig gemacht, als Johann mit einem Mal erschrickt.

Denn sein Daumen hat die Sache alleine in die Hand genommen, als würde der Daumen den Vater noch mehr vermissen als der Rest an Johann.

Schon hört er das Freizeichen. Johanns Herz rast.

2

Er war gegen eine Enttäuschung gewappnet.

Johann kennt seinen Vater ja auch aus den Sorgenfalten seiner Mutter, die seine Erwartungen immer gebremst hat.

Umso größer die Überraschung. Nicht nur, dass die Stimme von seinem Trennungsvater wie ein warmer Wortwasserfall durchs Ohr in sein Inneres dringt, sondern mit den Worten das Glück mitten in sein Herz. Ein warmes Gefühl macht sich in Johann breit, während er lauscht.

»Deine Patenkuh schlachten? Das geht ja gar nicht.«

Johann staunt, dass sein Vater von der Patenkuh überhaupt weiß. Aber klar, seine Großeltern, die Eltern seines Vaters, haben ihm die Patenschaft ja geschenkt.

Und dann zeigt es sich, was für ein Segen es ist, dass sein Vater viel in Indien lebt.

»In Indien sind Kühe heilig, weißt du das?«

Nein, das weiß Johann nicht. Aber als er das jetzt hört, ist es, als hätte er das schon immer im Geheimen gewusst. Wundern tut ihn das nicht. Eine Kuh ist ein besonderes Wesen. Sanftmut fließt aus den großen, runden Augen wie unsichtbarer warmer Regen.

Und dann geht alles ganz schnell. Noch mehr Glück! Sein Vater ist tatsächlich gerade in Deutschland, um einen Swami auf seiner Reise durch Europa zu begleiten.

»Einen was?«, fragt Johann.

»Einen Swami«, antwortet sein Vater. »Das ist ein heiliger indischer Mann. Der Swami Abrami Sadrama ist berühmt für sein heilsames Handauflegen und Über-den-Kopf-Streichen. Er bringt den Menschen Glück.«

»Wenn er ihnen über den Kopf streicht?«, fragt Johann ungläubig nach.

»Ja«, sagt sein Vater. »Er macht das in großen Hallen. Dort sitzt er auf einem großen, weißen Stuhl. Die Menschen strömen herbei, und er streicht jedem Einzelnen über den Kopf.«

»Wirklich?«

»Ja. Es hilft den Menschen.«

»Wie hilft er den Menschen denn dabei?«

»Mit seiner Energie«, sagt sein Vater.

»Steht er unter Strom?«, fragt Johann.

Sein Vater lacht. »So ähnlich. Ja. Strom der Weisheit.«

Johann versteht nicht, wie das gehen soll, aber egal. Er will das jetzt nicht verstehen. Es geht ja um Polly und nicht um einen heiligen Inder. Aber er mag diesen Inder, denn wegen ihm ist sein Vater in Deutschland. Und außerdem ist sein Vater so, wie es sich Johann nicht zu erträumen gewagt hätte. Entschlossen und gut gestimmt, was die Zukunft bringt. Optimistisch heißt das, das weiß Johann. Er spricht noch eine Zeit lang mit seinem Vater, und bekommt das Gefühl, dass er jetzt vom Schicksal geschickt worden ist. Oder vom lieben Gott persönlich oder von Indien selber, weil es hier um eine Kuh geht und ihre Rettung.

»Heute Nachmittag ist er da«, sagt Johann, als er aufgelegt hat und wieder auf die Terrasse kommt.

»Wer?« Seine Mutter lässt die Zeitung sinken.

»Papa!«

»Dein Vater kommt?« Schon sitzt seine Mutter aufrecht und schaut über die Sonnenbrille Richtung Johann. »Hierher? Heute? Das ist nicht dein Ernst. Dein Vater?«

Johann nickt.

»Warum das?«

»Polly retten.«

»Polly retten? Ach, Johann!«

Dieses » Ach, Johann« seiner Mutter steht für viel. Es steht für »Du kennst doch deinen windigen Vater«. So hat sie ihn genannt, als sie sich einmal furchtbar über ihn geärgert hat. Eine gute Meinung hat sie nicht von Armin Angermüller. Viel angefangen, nichts fertig gemacht. Viele Versprechungen, kaum was gehalten. Windeier gelegt. Sich wichtig getan und Worten keine Taten folgen lassen. So sehen wohl alle Mütter die Trennungsväter, die auf und davon sind.

Das »Ach, Johann« steht also auch dafür, dass sich Johann keine allzu große Hoffnungen machen sollte. Damit er nicht enttäuscht wird.

»Mama«, wirft Johann ein, »in Indien sind Kühe heilig!«

»Ja, das weiß ich«, entgegnet sie gereizt, so, als hätte sie gerade einen Rinderschmorbraten auf den Tisch gestellt und müsste sich Johanns Vorwurf gefallen lassen.

ENDE DER LESEPROBE