Die Pensionsspiele von Oberammergau - Bernhard Hagemann - E-Book

Die Pensionsspiele von Oberammergau E-Book

Bernhard Hagemann

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Beschreibung

Willkommen im Gästehauswahnsinn! Mit viel Vorfreude übernehmen Simon und Carola eine Pension in Oberammergau. Doch schon bald stecken die ahnungslosen Quereinsteiger mitten im Schlamassel. Denn der Arbeitsalltag ist turbulenter als gedacht: skurrile Gäste aus aller Welt, Wäscheberge, aufmüpfige Angestellte und die Tücken der Wurstaufschnittschneidemaschine. Kurzum, was schiefgehen kann, geht auch schief. Und dann stellt sich noch die Frage, ob die beiden Zuagroasten jemals die Seele des Bayern an sich ergründen können und im ländlichen Idyll heimisch werden. Der Weg dorthin ist jedenfalls holprig und urkomisch.

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Seitenzahl: 189

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Hagemann: Die Pensionsspiele von Oberammergau

© 2020 Bernhard Hagemann

© dieser Ausgabe 2020 Morisken Verlag München

Alle Rechte vorbehalten.

Besonderer Dank des Autors gilt Renate, Jim und SonjaReifferscheid sowie Christa von Bernuth.

Lektorat: Thomas Peters

Korrektorat: Theresia Riesenhuber

Satz: Peter Sommersgutter

Umschlag: Wolfgang Schütte, www.wolfe.de

Fotos: Bernhard Hagemann, bis auf Rückseite:

Gina Sanders / Adobe Stock

ISBN: 978-3-944596-23-5 (Print)

ISBN: 978-3-944596-24-2 (E-Book)

www.morisken-verlag.de

Für Sylvia

1. Am Anfang war der Ort

2. Grünkraft

3. Die Wurstaufschnittschneidemaschine

4. Ganz in Weiß

5. Der Schamane

6. Das Aluminiumkanu

7. Der Krimkonflikt

8. Alyona I

9. Der Individualchinese

10. Dänen, die die Sehnen dehnen

11. Das Klavier

12. Das Pufferzimmer oder: Wie Brauchtum entsteht

13. Die Toilettenschwerpunktwoche

14. Die Feinrippunterwäsche

15. Scarlett und Ondrej

16. Alyona II

17. Der Dampfreiniger

18. Das Bleibezimmer

19. Der rauchende Gast

20. Pension impossible?

1. Am Anfang war der Ort

Das Alter kommt und mit ihm eine gewisse Lebenserschöpfung. Andere in diesem Zustand gönnen sich eine Weltreise oder ein Sabbatical, oder sie verbinden beides miteinander.

Wir wählten die Frühstückspension.

Eine Erbschaft hatte bei Carola eine Leidenschaft geweckt, die ungeahnten Glanz in ihre Augen zaubern konnte. Zu ihren täglichen Angewohnheiten gehörten neuerdings Ausflüge auf Immobilien-Webseiten, um Schlössern, Burgen, Pavillonarealen und anderen unbescheidenen Hotelimmobilien ein Leben einzuhauchen, in dessen Mittelpunkt sie selbst stand. Immer wenn ich das Gespräch auf ihr in Bezug auf die neuen Verhältnisse doch etwas überzogenes Hobby lenkte, leugnete sie. Aber ich wusste, wovon ich redete. Auch mich betrachtete Carola stets als eine Art Immobilie, die sie täglich mit neuem Leben füllt, von dem ich vorher gar keine Ahnung hatte.

Was meine eigene Situation anging, wurde ein derart krasser Wechsel unserer Lebensumstände erst vorstellbar, als meine Tage in der Auftragsfotografie zunächst gezählt und dann vorüber waren. Mein letzter Kunde, Onlineredakteur einer großen Tageszeitung, wollte sich am Telefon noch einmal vergewissern, ob wir uns denn richtig verstanden hatten. Nämlich, dass wir uns darüber einig seien, dass die Veröffentlichung meiner Fotos eine schöne Eigenwerbung darstelle und ich insofern kein Honorar beanspruche. Da mein Vermieter jedoch garantiert kein ähnliches Geschäftsmodell akzeptieren würde, musste ich zu meinem Bedauern ablehnen und begann, über Alternativen nachzudenken.

Die Idee eines Gästehauses in der Alpenregion kam mir gelegen, da ich mich an ein bemerkenswertes Kneipengespräch vor zwei Jahren erinnerte. Zu fortgeschrittener Stunde saß ich mit einem Devotionalienhändler aus Oberammergau an einer Bar, als er mich fragte, ob ich das Gefühl kenne, dass einem wegen der permanenten Handhabe von Kreditkarten das schweißnasse T-Shirt am Körper klebe. Darüber hinaus mache sich vom ständigen Rein und Raus der Kreditkarten in den Zahlungsterminal auch eine Sehnenscheidenentzündung im Handgelenk bemerkbar. Als Händler mit geschnitzten Kruzifixen und anderen katholischen Heiligenmotiven schilderte er mir seine Erlebnisse zu Zeiten der Passionsspiele, wenn der Ort im Ausnahmezustand, sprich: mit gläubigen Amerikanern überfüllt war. Menschenmassen vor jedem Geschäft und ständig müsse man die Kunden in den Warteschlangen beruhigen: »Please wait a second! Wait, you can pay quickly!«

Ich musste gestehen, dass mir dieses Gefühl als Fotograf noch nie begegnet war, ich es aber gerne kennenlernen wollte.

Das war der Stand der Dinge. Martialisch ausgedrückt: Ich war sturmreif geschossen und für Neues im Leben ›a gmahde Wiesn‹, wie man sich in dem Landstrich ausdrückt, in den es uns hin verschlagen sollte.

Mit einem Gästehaus verknüpften wir romantische Vorstellungen, für die Verfilmungen von Rosamunde-Pilcher-Romanen vielleicht die trefflichsten weichgezeichneten Bilder gefunden hatten. Roy Black in Ein Schloß am Wörthersee, der für jede gestrauchelte Seele warme Worte bereithielt, war ein weiteres Role Model. So stellte ich mir das Leben eines Hoteliers vor und so wollte ich sein. Menschen, die es aus verschiedenen Gründen zu uns verschlagen hatte, mit väterlichem Blick und wertvollen Ratschlägen zur Seite stehen. Ich wollte Roy Black sein – am liebsten mit einer Sehnenscheidenentzündung im Handgelenk.

Ich wollte einen Kreditkartenarm!

Außerdem war ich als Jüngster von vier Geschwistern an Dienstleistungen gewohnt; ich war geradezu prädestiniert.

»Schau doch mal, Simon!«, hatte Carola an einem schönen Frühlingstag ausgerufen und auf der Immobilien-Webseite mein Interesse auf ein recht wuchtiges, jedoch endlich einmal bezahlbares Landhaus in Oberammergau gelenkt. Auf dem Foto zeichnete eine Reihe von Geranienkästen unter den Fenstern bunte Farbtupfer auf die ansonsten weiße Fassade. Auch ein paar Plaketten an den Wänden, die von zahlreichen Gastronomie- oder Tourismusverbandsmitgliedschaften kündeten, sorgten für Buntes. Zwar war das Haus einigermaßen ansehnlich, doch fehlte beim ersten Anblick etwas Besonderes, das Begeisterung auslöste, und so konnte es genauso gut als schmucklos bezeichnet werden. Trotzdem war in dem Augenblick, als ich es auf Carolas Bildschirm sah, noch nie ein Mensch so entschlossen wie ich, sein Leben zu ändern.

Aus heutiger Perspektive ist es besonders Carola vollkommen schleierhaft, wie diese blendende Magie derart Besitz von uns hatte ergreifen können. Es muss wohl mit der Schönheit des Ortes zu tun gehabt haben und der wunderbaren Landschaft, mit den Bergen, die hinter Oberammergau wie riesige Saurierrücken aufsteigen und die den Eindruck vermittelten, Unheil vom Ort und seinen Menschen abzuhalten. Ein ähnlicher Schutzwall wie das Gelübde, mit dem die Oberammergauer im Pestjahr 1633 versprachen, alle zehn Jahre ein Passionsspiel aufzuführen, sofern der Ort nach den ersten achtzig Toten von der Pest befreit würde. Was tatsächlich auch geschah. Und nicht nur wurde der Ort augenblicklich von der Pest verschont, mittlerweile spülten die Passionsspiele alle zehn Jahre viel Geld in die Kassen der Einheimischen.

Zu den Attraktionen des Ortes gehörten auch die Lüftlmalereien an den Fassaden der geduckten Berghäuser, schöne Landschaftsbilder mit Ernte einbringenden Bauern oder biblische Motive wie Jesus auf dem Kreuzweg. Auch die Bewohner ließen auf den ersten Blick alles Abweisende vermissen, das man den Menschen aus Bergtälern gerne andichtet. Darüber hinaus beherbergte die ansässige Schnitzerschule eine Spezies von jungen Menschen, die man eher in meiner Jugend ansiedeln würde. Im Schlurfschritt durch den Ort schreitende, rastagelockte, junge Individualisten in Schlabberkleidung. Durchaus, der Ort hatte was Sympathisches!

Und er war ein Touristenmagnet. Schon auf der Fahrt zu unserem ersten Besuch spürten wir die hehre Aura eines Neuanfanges, die wie ein diffuser Kokon Geheimnisvolles barg.

»Schau, ein Reh«, rief ich und deutete im Vorbeifahren auf ein Tier am Waldrand.

»Das ist doch kein Reh«, wandte Carola lachend ein. »Das ist eine Kuh!«

Ich beharrte auf dem Reh, Carola auf der Kuh.

»Schau, ein Traktor!«, rief Carola im Gegenzug und meinte einen eher zieh- als fahrbaren Untersatz, den man nur mit viel Fantasie für eine landwirtschaftliche Zugmaschine halten konnte.

»Das ist kein Traktor!«, entgegnete ich väterlich amüsiert. »Das ist ein Hänger!«

Carola beharrte auf dem Traktor, ich auf dem Anhänger.

Im Nachhinein betrachtet hätten wir diese Deutungsuneinigkeit als erstes Warnsignal für unsere Zukunft mit einem Gästehaus sehen können.

Taten wir aber nicht.

Denn mit dem gemeinsamen Ausruf: »Eine Scheune!« trafen wir übereinstimmend ins Schwarze. Eine Scheune war eine Scheune. An Interpretationsspielraum in Betrachtung einer Scheune war wenig geboten.

Dass wir uns immer noch für eine Scheune begeistern konnten, war ein Indiz unserer kindlichen Erregung und für die Besonderheit des Augenblicks.

Diese nun doch wieder für eine große Liebe sprechende Einigkeit zwischen Carola und mir hielt, bis wir in Oberammergau waren, beziehungsweise ein paar Tage nach Übernahme des Gästehauses.

2. Grünkraft

Kurz vor dem Kauf des Gästehauses hatten wir erfreulicherweise auch eine schöne Wohnung in einem Nachbarort gefunden, die wir sofort mieteten. Die Zeit bis zur Übernahme reichte gerade so für den Umzug. Danach ging es nahtlos über in die neue Welt der Frühstückspension.

Die Intensität, mit der das Neue unser gesamtes Dasein umkrempelte, bog das Raum-Zeit-Kontinuum, sodass ich bald schon das Gefühl hatte, bereits als Hotelier geboren worden zu sein. Allerdings als ahnungsloser.

Unser Geschäftsmodell sah vor, dass ich Carola als ihr Pächter einen monatlichen Betrag zu überweisen hatte, der neben den Betriebs- auch die Kreditkosten des Hauses abdeckte. Bei Unterschrift dieses eher gängigen Geschäftsmodells fühlte ich mich trotzdem wie ein gewiefter Steuerjongleur, der nun Teil des dienstleistenden Establishments geworden war. Mit Gewalt beanspruchte ich etwas von der Bauernschläue, die hier oben aus jeder Bergritze quillt.

Ich wollte einer von hier sein – a gstandnes Mannsbild, furchtlos zupackend – und kaufte mir in der Apotheke als Erstes eine Salbe gegen Sehnenscheidenentzündungen.

Bevor es für Carola und mich ernst wurde und wir auf uns alleine angewiesen sein würden, liefen wir eine Woche lang bei den Vorbetreibern mit, um uns in die Handlungsabläufe der Frühstückspension einweisen zu lassen. Und in unsere hochgespannte Erwartung mischte sich zunehmend Unsicherheit. Wie schneidet man im Hotelgewerbe das Brot, wie die Tomate, wie den Apfel? Wie werden Schinken, Wurst und Käse dargeboten? Nichts erschien uns selbstverständlich und wir glaubten an eine von der Innung überwachte Norm, die keine Abweichungen duldete.

Nicht ganz ohne Schuld an dieser Situation waren zweifellos auch die Vorbetreiber. Die Riedels, ein nettes älteres Paar, erweckten den Anschein, als öffneten sie uns mit ihrer Einführung die geheime Kammer eines unendlichen Erfahrungsschatzes. Vielleicht hatte unsere Verunsicherung auch mit Hildegard von Bingen zu tun, die ungefragt Pate für dieses Haus stand und für die Farbkomposition verantwortlich war, die man im Hause hatte walten lassen. Kurz: Mir war bis dato nicht bewusst gewesen, wie viele verschiedene Grüntöne es gab. Dieses Haus bot wirklich sämtliche Schattierungen. So gut wie aus allen Dingen stieg ›Bingens Grünkraft‹ auf.

Im Vergleich zu Carola, die mit so viel Grün nicht zurechtkam, hatte mich meine Kindheit gut darauf vorbereitet. Schon mein Vater hatte die Angewohnheit, alles in Grün zu tauchen, was einen neuen Anstrich benötigte. Auch das meiste in der elektrischen Eisenbahnwelt, über die mein Vater wie ein akribischer Schöpfer wachte, war grün. Grün sei die Farbe der Natur, pflegte er zu verkünden, das könne niemals falsch sein. Hier lag er vielleicht mit Hildegard von Bingen auf einer Linie, was im spirituellfeindlichen Nachkriegsdeutschland sonst eher rar gewesen sein dürfte. Die Farbe Grün war mir also vertraut.

Was bei Carola zu großer Irritation führte, weckte bei mir in gewisser Weise sentimentale Erinnerungen. Ein warmes Gefühl überkam mich beim Anblick grüner Tischdecken und grüner Servietten, grüner Stuhlkissen, grüner Vorhänge, grüner Tassen und Teller, grüner Kugelschreiber, grüner Eierlöffel.

Eigentlich hatten wir uns bei der Einführungswoche täglich abwechseln wollen, aber nach ihrem ersten Vormittag streikte Carola. Auf meinen Vorschlag, sich doch ihre alte Sonnenbrille mit den roten Gläsern aufzusetzen, die das Grün in Braun verwandelte, wollte sie nicht eingehen.

»Ich geh nicht mehr in diesen grünen Irrsinn«, beschied mir Carola ebenso knapp wie unwiderruflich und ließ mir für die restlichen Tage den Vortritt. »Das Erste, was ich machen werde, ist, das ganze Grün rausschmeißen.«

Am Morgen des vierten Tages stand die Einweisung ins Buchungsportal an, eine komplexe Angelegenheit, die Konzentration erforderte, und der ich mich nun alleine zu stellen hatte. Ich traf das Ehepaar Riedel beim späten Frühstück an. Das zelebrierten sie täglich, nachdem die Hotelgäste den Frühstücksraum verlassen hatten. Ich könne ja schon mal nach oben ins Zimmer 7 gehen, erklärten sie mir, und mir dort von Alyona zeigen lassen, wie die Zimmer geputzt werden. Einigermaßen verblüfft über diesen Vorschlag, wollte ich den Riedels jetzt aber keine unnötige Diskussion über meine Vorstellung einer würdigen Übergabe aufdrängen, auch war ich nicht scharf darauf, ihnen beim Frühstück zuzusehen. Also ging ich nach oben. Denn in die Geheimnisse der Zimmerreinigung eingeweiht zu werden, war wohl keine schlechte Idee.

Alyona, eine großgewachsene Weißrussin um die vierzig, war gekleidet, als sei sie auf dem Weg in eine Kleinstadtdisco der Achtzigerjahre. Ihre leuchtend blonden, halblangen Haare hatte sie mit einem geflochtenen Stirnband gebändigt, ihr Oberkörper steckte in einem engen, mit Goldapplikationen verzierten Top, und als Beinkleid trug sie eine hautenge Jeans, die in einer auffälligen Regelmäßigkeit gestonewasht war. Auf den ebenfalls goldfarbenen, hochhackigen Pumps maß Alyona geschätzte einmeterneunzig.

»Hallo Alyona!«, grüßte ich nach Betreten von Zimmer 7. »Geht es Ihnen gut? Ich bin Simon. Meine Frau und ich, wir werden das Gästehaus in Zukunft betreiben.«

Das Personal beim Vornamen nennen, gepaart mit einem distanzierten Sie, so stellten Carola und ich uns den Umgang mit Alyona und Scarlett, der anderen Hilfskraft, vor.

»Oh, gut Morgän! Ja, habä schon von Ihnän gähört.«

Mein Auftauchen überraschte Alyona nicht. Sie war gerade im Bad, wo eine Art Treibhausatmosphäre vorherrschte, und wischte mit einem Tuch die Duschwände trocken. Sie hielt inne und lächelte mich an.

»Lassen Sie sich nicht stören!«, sagte ich. »Ich wollte nur mal gucken, was hier so beim Putzen zu machen ist. Wo versteckt sich denn der Schmutz?«

Sie legte ihre Stirn in Falten und lachte kurz, dann schrubbte sie weiter.

»Sie mächtän Schmutz sähän? Und wissän, wie gäht mit Putzän?«, fragte sie.

Ich nickte zustimmend und fühlte mich etwas unwohl. Ich blickte mich kurz im Zimmer um. Meine Augen glitten über grüne Handtücher, grüne Bettwäsche, grüne Nachttischlampenschirmchen, einen grünen Sessel.

»Kommän Sie.« Alyona winkte mich ins Badezimmer. »Das ist Schmutz, Sie sähän?«

Sie öffnete den kleinen Badezimmermülleimer, der randvoll mit verbrauchten Hygieneartikeln aller Art war. Dann deutete sie auf Haarreste im Duschabfluss. Haare lagen auf dem Duschboden verteilt und klebten an der Innenwand der Duschkabine. Mir war sofort klar, dass ich lieber keinen Schmutz sehen wollte. Es war aber zu spät.

»Sie nähmän Haar mit Gummihandschuh«, begann Alyona ihren Schnellkurs. »Mit Gummihandschuh ist niechhht äklig. Dann nähmän Sie Mittäl hier Badezimmer WC und über Bodän wischän, dann wiedär Glanz. Klo äbänso. Erst WC-Mittäl rein, dann nähmän Sie Klobürste. Wänn niechhht gut riecht, dann nähmän Sie Spräy für Luft. Nähmän Sie auch Sagrotan, Mistär Propä auch gut. Manchmal WC-Tablättä über Nacht. Wenn nur deutscher Mann als Gast, dann niechhht viel Sagrotan drum härum. Deutscher Mann pinkäln in Sitzän. Belarus ist da niechhht so gut, weil in Belarus gibt es niechhht Mann, die pinkält im Sitzän. Belarus Diktatur. In Diktatur Männär pinkäln in Stähän. Märkel ist Demokratie und macht Männär Sitzenpinkäln …«

Dieser Aspekt des Sitzpinkelns war mir neu, und ich spürte den Impuls, Alyona zu zeigen, dass ein deutscher Mann gut und gerne mit einem kernigen Weißrussen mithalten konnte. Andererseits hielt ich es für keine passende Idee, als neuer Chef vor den Augen des Personals ausgerechnet in dieser Disziplin die weißrussischen Männer in ihre Schranken zu weisen.

»Belarusmann ist ein bisschän wie Tier in Brunft«, fuhr Alyona fort. »Rävier markierän. Nimmst du viel Sagrotan, alles einsprühän, dann wischän.« Sie wog den Kopf hin und her. »Ja, leider. Bei Belarusmann du aufpassän. Als Frau sowieso. Kannst du niechhht, wenn es dunkäl ist, alleine auf Straßä. Wirst du gleich, wie sagt man, päng …«, sie schlug mit der rechten Handfläche auf die Stirnseite der zur Faust geballten linken Hand, »… zärknallt?!«

»Zerknallt? Sie meinen … vergewaltigt?!«

»Värgewaltigt, gänau. Dankä. Iechhh kann in Belarus, wo iechhh herkommä, kleine Stadt, niechhht so in Dunkäln laufän.« Sie zupfte an ihrem T-Shirt, zeigte auf ihre Schuhe. »Ist wie Ärlaubnis für Belarusmann für Zärknallen. Weiß auch nieeccht, abär in Belarus die Männär sind andärs. Sie pinkäln nur Stähän. Sie mussän haltän in Hand, was sie sind. Sind niechhht so feine Männär wie in Deutschland. Sie intäressierän sich niechhht für Kloputzän. Kein Belarusmann putzt Klo.« Sie lachte. »Das ist Unterschied zwischän Diktatur und Märkel. Und iechhh kann hier so laufän auf Straßä, ohne zärknallt wärdän. Glaubän Sie, ist niechhht gut in Belarus, hast du värgässän in Supermarkt und musst im Dunkäln noch ätwas kaufän. Ist hohär Preis für Stück Buttär.«

Ich erinnerte mich an einen Fernsehbericht über Weißrussland. An eine schöne Flusslandschaft mit vielen Seen und Sümpfen. Nette und gastfreundliche Menschen wurden gezeigt. Nichts in dem Bericht von dem, was mir Alyona soeben geschildert hatte. Es lag die Vermutung nahe, dass sie etwas dick aufgetragen hatte und es mit der Wahrheit nicht ganz so genau hielt. Dennoch würde ich Carola vorsichtshalber davon abhalten, abends ihre jugendliche Glitzerjacke anzuziehen, sollten wir demnächst einmal nach Minsk reisen.

Trotz Alyonas bedenkenswerten Ausführungen hatte ich mich schon seit einer gefühlten Stunde auf den Augenblick konzentriert, in dem sie Luft holen musste. Als es so weit war, schlug mein Ausruf wie eine Axt zwischen zwei Sätze.

»Aha, aha!«, machte ich eine Spur zu laut, doch wirkungsvoll.

»Aber bin weit wäg, was Sie wissän wollän. Sie wollän wissän, wie putzän. Für Bodän in Zimmär müssen Sie aufpassän und nehmen Mittäl für Laminat, nicht zu viel Wassär, sonst Laminat kaputt. Und immär auch in die Äckän. Niechhht värgässän!«

Sehr plötzlich gefiel mir das Gespräch nicht mehr. Alyona war eine sympathische Person, keine Frage, aber das änderte nichts daran, dass ich mir vorkam, als sollte ich als Neuling in einer Putzkolonne anfangen. Auch wenn ich gerne Hotelier war, so stand für mich von diesem Moment an fest, dass ich nie und nimmer putzen wollte. Und schon gar keine Klos. Da hielt ich es durchaus mit den weißrussischen Männern.

Mit einem Schritt rückwärts signalisierte ich verhalten meinen Abschied.

Dabei fiel mein Blick auf ein Überbleibsel auf dem Boden. Ich bückte mich, hob es auf und warf es in den noch nicht geleerten Papierkorb.

»Niechhht !«, rief Alyona. »Was machän Sie? Das war kein Schmutz, das ist grün.«

Sie eilte an den Papierkorb und fischte das kleine Etwas wieder hervor. Es war ein in grünes Zellophan eingewickeltes Wattestäbchen.

»Ist gut, wänn ich nähmä. Ist nicht mähr für Gast. War in Müll.«

Unter meiner Zustimmung steckte sie es in ihre Hosentasche, als Herr Riedel ins Zimmer kam. Das Grün seines Hemdes war eine Spur dunkler als der Schirm der Nachttischlampe, allerdings heller als das Zellophan des Wattestäbchens.

»Alles klar hier?«, fragte er. »Gehen wir ins Büro?«

Als ich später nach Hause kam, erwartete mich unser Versicherungsvertreter, der daran Gefallen fand, dass sich unser Leben um einen zu versichernden Bereich erweitert hatte. Damit ich mich nicht lumpen ließ, entwickelte er mit geradezu diabolischer Fantasie das Szenario eines übergewichtigen, klagefreudigen Amerikaners, der mit kompliziertem Splitterbruch am Fuß der frisch gewischten und deshalb möglicherweise rutschigen Treppe zu Fall gekommen war. Wie sollte ich da anders, als bei der Deckungssumme 20 Millionen einzuwilligen? Er reichte mir seinen Kugelschreiber. Ich unterschrieb. Die Tinte war grün.

Anschließend fiel ich neben der bereits friedlich schlummernden Carola ins Bett.

3. Die Wurstaufschnittschneidemaschine

Nur wenige Tage später wurde die Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gastgewerbe (BGN) auf uns aufmerksam. Ein blütenweißes Kuvert öffnete uns die Pforte zu einer nicht ganz freiwilligen Mitgliedschaft, die, wie sollte es anders sein, keineswegs gratis war. Neben allerlei Informationsmaterial beinhaltete es eine herzliche Begrüßung und die Aufforderung, an einem Lehrgang teilzunehmen, um die für das Führen einer Frühstückpension erforderliche Qualifikation zu erlangen.

Falls ich nicht binnen eines halben Jahres den Fernkurs belegte und einen beantworteten Fragenkatalog einschickte, würde ich einbestellt, um – selbstverständlich kostenpflichtig – auf meine Eignung geprüft zu werden. Die blütenweiß verpackte Deutlichkeit verfehlte ihre Wirkung nicht.

Ich hatte Respekt vor der BGN und wollte nicht zu einem Kurs geladen werden. Da Carola zum Einkaufen war, um dem allgegenwärtigen Grün zu entkommen, nutzte ich ihre Abwesenheit, um mich durch die wenig erquickliche Onlinepräsentation der Berufsgenossenschaft zu klicken. Ratschläge für glückliche Mitarbeiter und zufriedene Unternehmer interessierten mich genauso wenig wie eine verrutschte Rohrmanschette, die zu einem Mühlenbrand geführt hatte. Nach einer quälenden Ewigkeit in den Tiefen des biederen Onlineauftrittes landete ich auf dem für mich vorgesehenen Fragenkatalog für Gastrogewerbe und Hoteliers.

Die hier aufgeführten Fallbeispiele erinnerten mich an meine Verhandlung als Kriegsdienstverweigerer, als ich einer mehr oder weniger senilen Truppe von Juroren erläutern musste, wie ich als Krankenpfleger mit einem patientenmordenden sowjetischen Ungeheuer zu verfahren gedachte. Als Antwort hatte ich damals eine Schilderung zum Besten gegeben, in der ich mir aus Bettschüsseln eine Rüstung gebastelt hatte, aus deren Deckung heraus ich mit allerlei Krankenhausutensilien nach dem sowjetischen Angreifer warf: mit Geschirr, mit überdosierten Beruhigungsspritzen oder mit Stühlen. Und mit Mullbinden hätte ich den Feind dann zu fesseln versucht. Der Jury war Genüge getan. Da war einer gestanden, der sich keiner unterlassenen Hilfeleistung schuldig machen wollte.

Ohne Gefahren ging es auch bei den Fallbeispielen des BGN nicht. Mir fiel die Gewichtung auf: Etwa vierzig Prozent der Präzedenzfälle handelten von der Handhabe einer Wurstaufschnittschneidemaschine, die meine vegetarischen Wege bisher nie gekreuzt hatte. Ich hätte nicht gedacht, dass das Hotelgewerbe so eng mit einer Wurstaufschnittschneidemaschine verknüpft war. Keine Folge von Ein Schloss am Wörthersee hatte sich diesem augenscheinlich wichtigen Utensil gewidmet. Wieder ein Beispiel dafür, wie wenig die Fiktion mit der Realität zu tun hatte. In meiner Fantasie reiste eine schöne Frau mit ihrem lungenkranken Kind an, dem ich die Wunder der Bergwelt zeigte und zu neuem Lebenswillen verhalf. Richtig Wurst aufzuschneiden, spielte in meinem Szenario keine Rolle.

Aber ich hatte verstanden. Über meiner Eignung zum Gästehausbetreiber schwebte wie ein Damoklesschwert das scharfe Blatt einer rotierenden Wurstaufschnittschneidemaschine. Ich begann mit meinem Fernkurs.

Sie beobachten, wie Ihre Angestellte in der Küche die Tomaten mit der Wurstaufschnittschneidemaschine schneidet.

Richtig

Falsch

Die bereits bei der ersten Frage schlagartig einsetzende Nervosität bereitete mir Kopfzerbrechen. Schon sah ich meine Eignung in Gefahr. Was sollte das Beispiel? Hier wurde lediglich eine Szene beobachtet. Wie konnte allein die Beobachtung richtig oder falsch sein?

Wie in einem vorabendlichen Fernsehquiz erlaubte ich mir eine Bedenkzeit und übersprang den ersten Fall, um später wieder auf ihn zurückzukommen.

Sie möchten in der Küche den Wurstaufschnitt vorbereiten. Das Messer an Ihrer Wurstaufschnittschneidemaschine ist abgenutzt und Sie wollen es wechseln. Sie ziehen den Netzstecker und benutzen Schutzhandschuhe beim Entfernen des Messers.

Richtig

Falsch

Schon einfacher. Zwar fehlte mir die Erfahrung in der Handhabe einer Wurstaufschnittschneidemaschine, doch appellierte das Fallbeispiel offensichtlich an die Vernunft und jonglierte geschickt mit dem Phänomen der rhetorischen, quasi sich selbst beantwortenden Frage.

War doch sonnenklar: Wenn Schutzhandschuhe vorhanden sind, dann müssen sie auch zum Einsatz kommen. Siegessicher ließ ich mich von meiner Textinterpretation leiten und kreuzte Richtig an.

Augenblicklich wuchsen mir Flügel im Beantworten von Fragen zum Gebrauch einer Wurstaufschnittschneidemaschine.

Beim Saubermachen in der Küche wird unter größter Vorsicht ein nasses Reinigungstuch an das kreisende Messer gehalten, um die Wurstaufschnittschneidemaschine zu reinigen.

Richtig

Falsch

Ich erkannte hier sofort die Absicht, den Probanden hinters Licht zu führen. Eben noch ging es nicht ohne Wurstaufschnittschneidemaschinenschutzhandschuhe und nun sollte ein feuchtes Tuch ausreichen, das zur Reinigung gewagt an ein kreisendes Messer gehalten wird?

Warum musste ich plötzlich an die Französische Revolution denken? Vielleicht wegen der Nähe des Begriffs Fallbeispiel zu den Fallbeilspielen um 1794.

Während ich mich fragte, wie man das damals mit dem Reinigen dieser Halsschneidevorrichtungen hielt, ob man der Bequemlichkeit halber dazu neigte, ohne Fallbeilschutzhandschuhe lediglich einen feuchten Lappen an das herabfallende Messer zu halten, vielleicht ein tränengetränktes Hinterbliebenentaschentuch, kreuzte ich Falsch an. Ist doch klar!

Mit Verve stürzte ich mich in die nächste Aufgabe.

Oft haben Sie schiefe Reststücke wie zum Beispiel Fleischkäse zu schneiden. Wenn das Reststück zu klein ist, um es im Restehalter sicher zu führen, verwerten Sie es auf andere Weise.

Richtig

Falsch

Gewiss doch verwerte ich den Fleischkäse anders. Ich schicke ihn an die VGFK (Verwertungsgesellschaft Fleischkäse)! Richtig.

Eine Wurstaufschnittschneidemaschine ist sehr teuer. Da Sie eine Maschine selten gebrauchen, behelfen Sie sich einstweilen mit einer Haushaltsmaschine.

Richtig

Falsch

Liebe BGN, Witzle gemacht? Billig ist im Zweifelsfall immer falsch, das weiß doch jedes Kind. Also: Falsch.