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Emotionen beeinflussen erheblich das Denken und Verhalten. Gerade in Veränderungsprozessen spielen sie eine große Rolle. Gefühle werden dort meist nur als lästiges Begleitphänomen betrachtet, dabei liefern sie wichtige Hinweise auf die Bedürfnisse der beteiligten Personen und können erheblich zu einer erwünschten Entwicklung beitragen. Auch für den Coach bzw. Berater gilt: Je klarer er sich seiner Gefühlsreaktionen ist, desto souveräner kann er professionell handeln. Dieses Buch erschließt das Thema Emotionen sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht für den Beratungskontext. Bereits in den Theoriekapiteln wird auf die Praxis geschaut, etwa in Form von Hinweisen, was zum Akzeptieren und Verändern von Emotionen nötig ist und welche Rolle der Selbsterfahrung des Beraters zukommt. Torsten Nicolaisen zielt darauf ab, eine Kooperation von kognitiven und emotionalen Anteilen aufzubauen. Er empfiehlt dazu eine Haltung, die einerseits Emotionen und das Problemerleben würdigend akzeptiert, gleichzeitig aber den Kontakt zu den persönlichen Ressourcen im Blick behält und stärkt. Dass er dabei immer sowohl für den Klienten als auch für den Berater sorgt, macht den besonderen Charakter dieses Buches aus.
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Seitenzahl: 283
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Die Reihe »Beratung, Coaching, Supervision«
Die Bücher der petrolfarbenen Reihe Beratung, Coaching, Supervision haben etwas gemeinsam: Sie beschreiben das weite Feld des »Counselling«. Sie fokussieren zwar unterschiedliche Kontexte – lebensweltliche wie arbeitsweltliche –, deren Trennung uns aber z. B. bei dem Begriff »Work-Life-Balance« schon irritieren muss. Es gibt gemeinsame Haltungen, Prinzipien und Grundlagen, Theorien und Modelle, ähnliche Interventionen und Methoden – und eben unterschiedliche Kontexte, Aufträge und Ziele. Der Sinn dieser Reihe besteht darin, innovative bis irritierende Schriften zu veröffentlichen: neue oder vertiefende Modelle von – teils internationalen – erfahrenen Autoren, aber auch von Erstautoren.
In den Kontexten von Beratung, Coaching und auch Supervision hat sich der systemische Ansatz inzwischen durchgesetzt. Drei Viertel der Weiterbildungen haben eine systemische Orientierung. Zum Dogma darf der Ansatz nicht werden. Die Reihe verfolgt deshalb eine systemisch-integrative Profilierung von Beratung, Coaching und Supervision: Humanistische Grundhaltungen (z. B. eine klare Werte-, Gefühls- und Beziehungsorientierung), analytisch-tiefenpsychologisches Verstehen (das z. B. der Bedeutung unserer Kindheit sowie der Bewusstheit von Übertragungen und Gegenübertragungen im Hier und Jetzt Rechnung trägt) wie auch die »dritte Welle« des verhaltenstherapeutischen Konzeptes (mit Stichworten wie Achtsamkeit, Akzeptanz, Metakognition und Schemata) sollen in den systemischen Ansatz integriert werden.
Wenn Counselling in der Gesellschaft etabliert werden soll, bedarf es dreierlei: der Emanzipierung von Therapie(-Schulen), der Beschreibung von konkreten Kompetenzen der Profession und der Erarbeitung von Qualitätsstandards. Psychosoziale Beratung muss in das Gesundheitsund Bildungssystem integriert werden. Vom Arbeitgeber finanziertes Coaching muss ebenso wie Team- und Fallsupervisionen zum Arbeitnehmerrecht werden (wie Urlaub und Krankengeld). Das ist die Vision – und die politische Seite dieser Reihe.
Wie Counselling die Zufriedenheit vergrößern kann, das steht in diesen Büchern; das heißt, die Bücher werden praxistauglich und praxisrelevant sein. Im Sinne der systemischen Grundhaltung des Nicht-Wissens bzw. des Nicht-Besserwissens sind sie nur zum Teil »Beratungsratgeber«. Sie sind hilfreich für die Selbstreflexion, und sie helfen Beratern, Coachs und Supervisoren dabei, hilfreich zu sein. Und nicht zuletzt laden sie alle Counsellor zum Dialog und zum Experimentieren ein.
Dr. Dirk Rohr
Herausgeber der Reihe »Beratung, Coaching, Supervision«
Torsten Nicolaisen
45 Praxis-Tipps für den Umgangmit bewegten Gemütern
2019
Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:
Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)
Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)
Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)
Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)
Dr. Barbara Heitger (Wien)
Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)
Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)
Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)
Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)
Dr. Roswita Königswieser (Wien)
Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)
Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)
Tom Levold (Köln)
Dr. Kurt Ludewig (Münster)
Dr. Burkhard Peter (München)
Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)
Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)
Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)
Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)
Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)
Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)
Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)
Jakob R. Schneider (München)
Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)
Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)
Dr. Therese Steiner (Embrach)
Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)
Karsten Trebesch (Berlin)
Bernhard Trenkle (Rottweil)
Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)
Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)
Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)
Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)
Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)
Themenreihe Beratung, Coaching, Supervision
hrsg. von Dirk Rohr
Umschlaggestaltung: Uwe Göbel
Umschlagmotiv: pixabay
Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach
Printed in Germany
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Erste Auflage, 2019
ISBN 978-3-8497-0273-1 (Printausgabe)
ISBN 978-3-8497-8172-9 (ePub)
© 2019 Carl-Auer-Systeme Verlag
und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg
Alle Rechte vorbehalten
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Carl-Auer Verlag GmbH
Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg
Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22
Einführung
Emotionen – aktuell, spannend und immer besser erforscht
Emotionen als Motivation, Anlass und Thema der Beratung
Zum Aufbau dieses Buches
Dank
Teil I: Theoretische Überlegungen
1Zur Arbeit mit Emotionen
1.1Emotionen verstehen
1.1.1Die emotionale Wende: Kurzer Blick in die Geschichte der Emotionen
1.1.2Emotionen, Gefühle, Affekte
1.1.3Komponenten einer Emotion
1.1.4Emotionen als Hinweise auf Bedürfnisse
1.1.5Limbisches System
1.1.6Die Rolle des Unbewussten
1.1.7Affektlogik: Zum Verhältnis von Emotion und Kognition
1.1.8Emotionen konstruieren Wirklichkeiten
1.1.9Unwillkürliches Erleben
1.2Emotionen akzeptieren
1.2.1Professionelle Beziehung als emotionales Geschehen
1.2.2Eine Sprache für die Emotionen finden
1.2.3Der Coach bzw. der Berater als Resonanzsubjekt
1.3Emotionen verändern
1.3.1Der Berater als hilfreiche Variable
1.3.2Emotionen als Lernanlässe
1.3.3Arbeiten auf der »limbischen Ebene«
2Zum Spannungsfeld Coaching – Person – Emotion – Organisation
2.1Zum Coachingbegriff
2.2Einbeziehen der emotionalen Ebene als Erfolgsfaktor im Coaching
2.2.1Bearbeitungstiefen im Coaching
2.2.2Abgrenzung von Coaching und Psychotherapie
2.2.3Übergang zwischen Coaching und Therapie gestalten
2.3Coaching als »Reparaturwerkstatt«?
2.3.1Coaching von Einzelpersonen – Wirkung in der Organisation
2.4Zum Begriff Organisationsberatung
2.4.1Kurzer Blick in die Historie der Organisationsberatung
2.4.2Organisation
2.4.3Emotion – Organisation
2.4.4Beratung von Organisationen
3Selbstexploration des Coachs/Beraters
3.1Professionalisierung von Coaching und Beratungstätigkeit
3.2Kompetenzen des Coachs/Beraters
3.3Zum Begriff des »Selbst«
3.3.1Die handlungspsychologische Perspektive: Das Selbst in der PSI-Theorie nach Julius Kuhl
Teil II: Praxis
4Erkenne dich selbst: Praxis der Selbstexploration
4.1Selbstbeziehung des Coachs/Beraters
4.2Aufbau einer kraftvollen und sicheren Position
4.3Innere Vielfalt erkunden
4.4Bei sich bleiben: Verstrickungen lösen
4.4.1Projektion
4.4.2Übertragung
4.4.3Die Rolle des Retters
4.4.4Helfersyndrom
4.4.5Ansprüche an die eigene Person
4.4.6Auflösen von Verstrickungen
5Coaching: Arbeit mit Emotionen
5.1Grundelemente in der Arbeit mit Emotionen
5.1.1Empathisch zuhören
5.1.2Achtsam wahrnehmen
5.1.3Würdigend akzeptieren
5.1.4Eine Gestalt geben
5.1.5Balance halten
5.1.6Ressourcen aktivieren
5.1.7Unterschiede bilden
5.1.8Künftige Schritte berücksichtigen
5.2»Limbisch Sprechen«
5.2.1Imagination
5.2.2Embodiment
5.2.3Rituale
5.2.4Metaphern
5.2.5Geschichten
5.2.6Naturbilder und Naturerleben
5.3Generatives Coaching
5.3.1Beispiel: Fünf Schritte des generativen Coachings
5.4Die archetypische Ebene
5.4.1Vier Archetypen – Ein Feld komplementärer Kräfte
5.5Qualitäten, Verzerrungen und nicht integrierte Archetypen
6Emotionen in der Organisationsberatung
6.1Emotionaler Drahtseilakt: Resonanz und Beobachtung zweiter Ordnung
6.2Affektlogiken in der Organisation
6.2.1Tiefenschichten im Eisberg
6.2.2Atmosphären: Zugang zu den Tiefenschichten der Organisation
6.3Teams und Gruppen
6.3.1Thematisieren von Gefühlen
6.3.2Feedback »reloaded«
6.3.3Geschichten – Narrative Methoden
6.4Transgenerationale Perspektive
6.4.1Das emotionale Gewebe der Organisation
6.4.2Die mikrosozial-persönliche Ebene
6.4.3Die makrosozial-organisationskulturelle Ebene
6.4.4Kontextüberlagerungen
6.5Changemanagement als emotionaler Prozess
6.5.1Emotionale Phasen im Veränderungsprozess
6.5.2Vertrauensbildung
6.5.3Restriktionen
7Die emotionale Dimension von Führung
7.1Ausloten von Spannungsfeldern
7.2Führungsstil und persönliche Muster
7.3Egothematik
7.4Stimmige Führung aus dem Selbst
7.5Emotionaler Stil
7.6Zentrales Beziehungskonfliktthema
7.7Die Heldenreise – Archetypische Selbstführung
Verzeichnis der Praxistipps
Literatur
Über den Autor
Das Thema »Emotionen« bewegt die Gemüter. Zunehmend taucht es in Zeitschriften und als Buchtitel auf. Bisweilen wird sogar von einer »emotionalen Wende« gesprochen – was zum Ausdruck bringen soll, dass Gefühle mittlerweile hoffähig geworden sind. Ein großer Teil der Ratgeberliteratur beschäftigt sich mit ihnen. Doch auch in der Wissenschaft nimmt die Auseinandersetzung mit Emotionen zu. Spätestens seit den 1990er-Jahren findet eine eingehende Forschung in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen statt.
Als Ergebnis dieser Untersuchungen scheint der Mensch in einem sehr viel stärkeren Maß von basalen Emotionen und persönlichen Gefühlen gesteuert zu sein als bisher angenommen. Auf verschiedenen Gebieten, z. B. der Motivationspsychologie und der Neurowissenschaften, wird deutlich, dass menschliches Denken und Handeln von emotionalen Anteilen bestimmt ist (Kuhl 2010; Roth 2011). Hinzu kommt, dass ein Großteil dieser Dynamik unbewusst abläuft und körperliche Prozesse massiven Einfluss darauf haben. Die Gattung Mensch kann deshalb mit Fug und Recht als Homo sapiens emotionalis bezeichnet werden.
Emotionen und Gefühle sind komplexe dynamische Gefüge, die sich ähnlich den Naturkräften bewegen. Manchmal scheinen sie zart auf, manchmal entladen sie sich explosionsartig. Sie überkommen eine Person oder ergreifen von ihr Besitz. Sie breiten sich in einer Gruppe aus und scheinen »ansteckend« zu sein. Offenbar können kleinste Auslöser ganze Reaktionsketten in Gang setzen. In der Regel entziehen sie sich der willentlichen Kontrolle und ereignen sich unwillkürlich. Dies kann sehr konkret fassbar sein, wie z. B. wenn man auf eine andere Person wütend ist, oder eher unkonkret und nebulös. Mitteilungen wie »Irgendwie geht es mir schon seit Tagen nicht gut« weisen auf emotionale Anteile hin, die unser Erleben eher diffus beeinflussen. Sie sind noch nicht klar und scheinen konturlos, doch prägen sie das innere Klima. In diesem Fall spricht man von einer »Stimmung«.
Auf solcher Weise steuern Emotionen sowohl das subjektive Erleben als auch das Interagieren und Kommunizieren. Jedes Zustandekommen eines sogenannten Problems ist daher mit emotionalen Anteilen verknüpft. Realität, sowohl in subjektiver als auch in sozialer Hinsicht, wird durch Fühl-Denk-Verhaltensprogramme (Ciompi 1997, 2013) konstruiert.
Wenn eine Person sich entschließt oder Mitglieder einer Organisation zu der Entscheidung kommen, Coaching oder Beratung in Anspruch zu nehmen, spielen neben oder hinter dem vorgebrachten Anlass Gefühle und Emotionen eine erhebliche Rolle. Dies gilt sowohl für eine persönliche Arbeitsunzufriedenheit als auch für organisationale Veränderungsprozesse wie z. B. Umstrukturierungen oder das Initiieren eines Kulturwandels. Der Coach bzw. Berater tut gut daran, die emotionalen Anteile zu beachten und in die Arbeit einzubeziehen. Erst allmählich verbreitet sich die Einsicht, dass Ratschläge wie »Da müssen sie ihre Emotion zur Seite tun« oder »Das dürfen sie nicht persönlich nehmen« keinesfalls hilfreich sind. Vielmehr wirken sie ähnlich wie die paradoxe Aufforderung »Sei spontan!« und führen zu Ratlosigkeit oder Frustration. Ratschläge solcher Art weisen eher darauf hin, dass der Coach unsicher oder sogar unfähig ist, mit emotionalen Anteilen zu arbeiten.
Persönliche Lebenssituationen in Beruf und privatem Alltag bieten Anlässe für Coaching. Sie ergeben sich bei Rollenfragen, beruflichen Neuorientierungen oder konfliktuellen Erfahrungen. Auf der Ebene des inneren Erlebens tauchen dann auf: Stressempfinden oder Ängste, starke Unzufriedenheit oder anhaltende Verstimmungen, Unsicherheit und Ohnmacht, Sehnsüchte und der Wunsch nach Veränderung. Jede Situation wird subjektiv gedeutet und bewertet, was immerzu mit Gefühlen verknüpft ist. In der Geschäftigkeit des Alltags werden die genannten emotionalen Zustände jedoch kaum oder nur teilweise wahrgenommen, geschweige denn bewusst verarbeitet. Vielmehr geht damit oftmals ein diffuses Erleiden einher. Dabei sind es genau diese Erlebensanteile, die in das Coaching führen! Es wäre deshalb hilfreich, sich ihrer anzunehmen. Werden sie als Wirkfaktoren angemessen in die Beratung integriert, dient es der nachhaltigen und erwünschten Veränderung (Schreyögg 2015). Auch für den organisationalen Kontext rückt diese Erkenntnis allmählich in den Fokus der Aufmerksamkeit (Fröse, Kaudela-Baum u. Dievernich 2015).
Vielleicht hängt es unter anderem mit der jüngeren »Algorithmengläubigkeit« einer digitalisierten Gesellschaft zusammen, dass Menschen einen konstruktiven Umgang mit den eigenen Emotionen weniger im Blick haben. Bei Gefühlen und Emotionen zeigt sich, wie wenig sich das Leben durch ein trivialisierendes »0/1« beherrschen lässt. Denn emotionale Prozesse verlaufen weder linear noch digital, sondern assoziativ und verbunden mit dem gesamten Organismus. Sie lassen sich nicht instruktiv steuern oder per Knopfdruck beseitigen.
In Emotionen zeigt sich die Kreatürlichkeit des Menschen. Sie stellen ein Erbe der Evolution dar und vollziehen sich in Aktivitäten des sogenannten limbischen Systems, welches im Zentrum des menschlichen Gehirns liegt. Doch stellen Gefühle nicht nur eine natürliche Gegebenheit dar. Denn sie werden in Prozessen »bezogener Individuation« (Stierlin 1989) gelernt und weisen auf die Eingebundenheit des Einzelnen in soziale Kontexte hin.
Das vorliegende Buch will das Thema Emotionen sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht für den Beratungskontext beleuchten. Daher umfasst es zwei große Teile. Nach der Einführung legen die Kapitel 1 bis 3 in Teil I: Theoretische Überlegungen das ideelle und begriffliche Fundament, die Kapitel 4 bis 7 bilden anschließend den umfangreichen Teil II: Praxis.
Kapitel 1 stellt grundlegende Gedanken zur Arbeit mit Emotionen vor. Es liefert Hinweise, um Emotionen zu verstehen, zu akzeptieren und zu verändern. Zunächst wird in Kapitel 1.1 »Gefühle verstehen« ein kurzer Blick auf ihre Geschichte geworfen (Kap. 1.1.1). Hier wird deutlich, wie unterschiedlich Emotionen in den Geistesund Naturwissenschaften gesehen und bewertet worden sind. In Kapitel 1.1.2 werden begriffliche Differenzierungen vorgenommen. Mittlerweile sind Emotionen Thema unterschiedlicher Felder wissenschaftlicher Forschung und werden hinsichtlich diverser Aspekte untersucht. Einige von ihnen finden hier Beachtung. Die Forschungen zu Emotionen sind mittlerweile enorm umfangreich und ausdifferenziert. Sie alle darzustellen ist aber nicht die Absicht dieses Textes.
Grundsätzlich ist eine Emotion kein fest umrissenes »Ding«, sondern vielmehr ein dynamisches Gefüge, welches sich aus verschiedenen Komponenten zusammensetzt (Kap. 1.1.3). Damit lässt sich beispielsweise zwischen dem subjektiv erlebten Gefühl und der körperlich verankerten Emotion unterscheiden.
Für den Kontext von Coaching und Organisationsberatung sind solche Aspekte wie die Relation zwischen Emotionen und Bedürfnissen (Kap. 1.1.4), die Rolle des Unbewussten (Kap. 1.1.6) oder die Wechselwirkungen zwischen Gehirn und Körper von Belang (Kap. 1.1.5). Diese Themen werden in eigenen Abschnitten kurz dargestellt und mit Hinweisen zu den jeweiligen wissenschaftlichen Forschungsfeldern versehen. In einigen Abschnitten, sowohl im Theorie- als auch im Praxisteil, beziehe ich mich auf das Konzept der Affektlogik nach Luc Ciompi (1997, 2013), das in einem eigenen Unterkapitel dargestellt ist (Kap. 1.1.7). Von Ciompi stammt der Begriff des »Fühl-Denk-Verhaltensprogramms«, welcher bereits darauf hinweist, dass menschliches Denken und Verhalten weitgehend von emotionalen Anteilen gesteuert werden. In seinem Konzept sind auch kollektive Affektlogiken erläutert, die gerade in der Arbeit mit Teams, Gruppen und mit einer gesamten Organisation eine wichtige Rolle spielen können. Bereits Ciompi weist auf die wirklichkeitskonstruierende und unwillkürliche Kraft von Emotionen hin. Wie sie sich auf der individuell-subjektiven Ebene und im sozialen Miteinander auswirkt, wird in den Kapiteln 1.1.8 und 1.1.9 dargestellt.
Mit dem Blick auf die bis dahin zusammengetragenen Aspekte lässt sich dann die Gretchenfrage stellen, ob und inwieweit sich Emotionen verändern lassen (Kap. 1.3). Auf jeden Fall ist es nötig, sie zu akzeptieren, anstatt gegen sie anzugehen (Kap. 1.2). Ebenso braucht es eine Arbeit auf der »limbischen Ebene« (Kap. 1.3.3).
Kapitel 2 schaut auf die Kontexte Coaching und Organisationsberatung. Beide Begriffe werden anhand ihrer Historie in Kürze erläutert (Kap. 2.1 u. 2.4). Im Laufe der letzten zehn Jahre wurde deutlich, dass das Einbeziehen der emotionalen Ebene als Erfolgsfaktor gesehen werden kann (Kap. 2.2). Siegfried Greif (2008) hat dazu entsprechende Ergebnisse zusammengetragen. Die Professionalisierungsphase, die das Coaching derzeit durchläuft, gibt Anlass, über Bearbeitungstiefen hinsichtlich der Emotionsarbeit nachzudenken (Kap. 2.2.1). Dabei trifft die Frage nach der Abgrenzung zur Psychotherapie einen wichtigen Punkt. Auf der theoretischen Ebene ist sie eindeutig zu beantworten (Kap. 2.2.2). In der Praxis zeigt sich die Grenze eher fließend (Kap. 2.2.3). Dies erfordert vom Coach umso mehr Klarheit. In pragmatischer Hinsicht wäre ihm zu empfehlen, auf der Haltungsebene wie in seinem Kommunikationsverhalten Wege zu entwickeln, die eigene Grenze zu erkennen und einen Übergang zur Psychotherapie angemessen gestalten zu können. Weiterhin sind in Kapitel 2 verschiedene Aspekte der Relation zwischen Emotion, Person und Organisation dargestellt (Kap. 2.3 und 2.4).
Kapitel 3 enthält Überlegungen zu einem Punkt, der in Ausbildungsgängen zum Coach oder Organisationsberater eher wenig Beachtung findet: die Selbsterfahrung des Beraters. Gerade in der Arbeit mit Emotionen kommt ihr eine wichtige Rolle zu. Je stärker der Berater sich mit sich selbst und den eigenen emotionalen Mustern auseinandergesetzt hat, desto klarer agiert er im Kontakt mit dem Kunden (Kap. 3.1 und 3.2). Eingehende Selbstexploration erfordert eine professionelle Begleitung. In Eigenregie ist sie nur sehr eingeschränkt möglich. In Kapitel 3.3 wird das Verhältnis von »Ich« und »Selbst« aus handlungspsychologischer Perspektive beleuchtet (Kuhl 2001). Beide wirken als psychische Funktionsprofile zusammen. Die Aktivierung des Selbstmodus wirkt integrierend für die Arbeit mit Emotionen. Darauf wird im nachfolgenden Text wiederholt Bezug genommen.
Kapitel 4 eröffnet den Teil II: Praxis. Es enthält praktische Hinweise zur Selbstexploration des Beraters bzw. Coachs (Kap. 4.1 bis 4.3). Je mehr der Coach bzw. Berater im wahrsten Sinne des Wortes »bei sich selbst« bleiben kann, umso weniger wird er sich verstricken (Kap. 4.4). Umso leichter wird es ihm fallen, in Situationen, in denen es für den Beratungsprozess förderlich ist, von seinen egogetriebenen Ansprüchen loszulassen. Und umso besser kann er mit dem Einzelkunden bzw. der Organisation in Resonanz gehen. Die Selbstklärung des Coachs ist ein wesentliches Basiselement für die Coachingtätigkeit allgemein und mehr noch für die Emotionsarbeit.
Die Arbeit mit Emotionen im Coaching ist der Schwerpunkt von Kapitel 5. In Kapitel 5.1 werden einzelne Handlungselemente aufgezeigt, die besonders in der Emotionsarbeit förderlich sind. Dazu gehören unter anderem das würdigende Akzeptieren der Emotion oder das Halten einer Balance zwischen Erkunden des Problemerlebens und dem Herstellen eines kräftigenden Kontakts zu den eigenen Ressourcen. Diese Vorgehensweisen stärken auch die Arbeitsbeziehung zwischen Coach und Coachee.
Das Kapitel 5.2 widmet sich dem »Limbisch Sprechen«. Darunter sind Interventionen versammelt, mit denen sich auf das emotionale Erleben einwirken lässt: Imaginationen, Embodiment, Rituale, Metaphern, Geschichten sowie das Einbeziehen der Natur. Neben kurzen Erläuterungen werden konkrete methodische Anleitungen dargestellt. Auf diese Vorgehensweisen beziehe ich mich auch in den beiden letzten Kapiteln zur Organisationsberatung sowie zum Coaching von Führungskräften immer wieder.
Ein Coachingansatz, der sich insbesondere für die Arbeit mit heftigen Gefühlen eignet, ist das »generative Coaching« nach Stephen Gilligan (2014). Dieser wird in Kapitel 5.3 erläutert. Darin werden auch Parallelen zum »Limbisch Sprechen« deutlich. Bereits Gilligan weist auf die positive Kraft archetypischer Bilder hin (Kap. 5.4). Diese bieten gute Unterstützung in der Arbeit mit Gefühlen.
Kapitel 5.5 zeigt schließlich auf, dass Emotionen mit Qualitäten verbunden sein können. So ist z. B. »Mut« nicht nur ein kognitives Konstrukt, sondern auch eine emotionale Qualität. Sie in Besitz zu nehmen fördert die eigene emotionale Entwicklung. Zu diesem Zweck lässt sich mit ihren Verzerrungen arbeiten. Eine verzerrte Form von Mut könnte z. B. Leichtsinnigkeit sein. Zur Auseinandersetzung mit solchen Anteilen sind Vorgehensweisen nötig, die das Feld des »Developmental Coaching« betreten. In diesem Zusammenhang dient Coaching der Persönlichkeitsentwicklung.
In Kapitel 6 schauen wir auf Emotionen im Kontext von Organisationsberatung. Die emotionale Dimension in der Beziehungsgestaltung wird auch hier betont. Dabei zeigen sich eindeutige Parallelen zum Coaching. Allerdings erfordert es vom Berater in diesem Kontext, mit einer weitaus höheren Komplexität umgehen zu können (Kap. 6.1): Wie vermag er mit der Organisation in Resonanz zu treten? Wie lassen sich die Dynamiken im sozialen Feld erfassen – ohne sich darin zu verlieren? Wie ist es ihm möglich, mit den emotionalen Ladungen in einer Teamberatung zu arbeiten? Mit dem »Eisbergmodell« werden die verschiedenen affektlogischen Tiefenschichten in einer Organisation dargestellt (Kap. 6.2). Der Zugang zu ihnen ist über das Wahrnehmen von Atmosphären möglich. Eine Atmosphäre hat mit sinnlich-körperlicher Erfahrung in Raum und Zeit zu tun. Solche Erfahrungen finden sich in Metaphern ausgedrückt.
Während Gefühle im Einzelcoaching durchaus zum Thema gemacht werden, stehen sie in der Beratung von Teams und Gruppen weniger im Vordergrund – was nicht bedeutet, dass sie dort keinen Einfluss hätten (Kap. 6.3). Die Interaktionen in der Arbeitseinheit einer Organisation sind durch die Aufgabenerfüllung gerahmt. Daher entzünden sich Emotionen häufig an aktuellen Themen, die z. B. für ein Team momentan relevant sind. Die aufkommenden Gefühle und die dadurch entstehenden emotionalen Dynamiken können das gemeinsame Erfüllen der Aufgabe jedoch sehr stark beeinträchtigen oder sogar sabotieren. Daher finden sich im Unterkapitel zu Teams und Gruppen Vorgehensweisen, wie sich Gefühle angemessen thematisieren lassen. Der Einsatz von Geschichten und Feedback leistet dazu gute Dienste.
Emotionen tauchen im organisationalen Geschehen zwar in konkreten Interaktionen auf, können aber unter Umständen eine langjährige Historie haben. Um zu verstehen, wie so etwas zustande kommt, wird die transgenerationale Perspektive eingenommen (Kap. 6.4). Personen handeln aufgrund ihrer biografisch geprägten Fühl-Denk-Verhaltensmuster. Manches dieser Muster kann sich hinderlich im Kontakt mit anderen Personen in der Organisation auswirken. Mitunter führt es zu Konflikten. Eine Führungskraft, die jahrelang einen eher aggressiv-herablassenden Verhaltensstil gegenüber ihren Mitarbeitenden pflegt, wird sich damit quasi »in das soziale Feld der Organisation einbrennen«. Wenn dadurch eine Atmosphäre des Sich-Wegduckens entsteht, kann sie sich selbst dann aufrechterhalten, wenn die Führungskraft schon längst ihren Posten geräumt hat. Ihrem Nachfolger wird man in diesem Fall eher mit Skepsis begegnen.
Organisationaler Wandel löst Emotionen aus. Nicht selten treten Enttäuschung, Wut und Trauer bei den Systemteilnehmenden auf. Es wäre förderlich, den Gefühlen der Agierenden eine Art Gefäß bereitzustellen. Im Kontext von Changemanagement finden sich Modelle zum Verstehen und methodische Ansätze zum Umgang mit emotionalen Ladungen (Kap. 6.5). Der Vertrauensbildung kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Dazu werden entsprechende Vorgehensweisen aufgezeigt. Dennoch wird in diesem Unterkapitel auch kritisch auf die Grenzen von Changemanagement geschaut.
Das abschließende Kapitel 7 beschäftigt sich mit der emotionalen Dimension von Führung und ihren Spannungsfeldern (Kap. 7.1). Dabei nimmt es thematische Stränge auf, die bereits in den vorhergehenden Kapiteln beleuchtet worden sind. Das Coaching für Führungskräfte bewegt sich häufig über ein bloßes Performance-Coaching hinaus in den persönlichen Bereich (Kap. 7.2). Hier öffnet sich die Sinndimension. Die Arbeit am emotionalen Stil bekommt einen erhöhten Stellenwert. Denn die Führungsperson wirkt beileibe nicht nur über das Ausfüllen ihrer Rolle in die Organisation hinein, sondern ebenso über ihre persönlichen emotionalen Muster. Nicht selten sind sie egogetrieben, was sich durchaus hinderlich auf eine produktive Zusammenarbeit auswirken kann. Das Coaching könnte den Raum bieten, in welchem die Führungskraft sich mit eigenen negativ geladenen Mustern auseinandersetzt (Kap. 7.3). Es lassen sich Wege finden, das eigene kleine »Ich« loszulassen und den Kontakt zum eigenen »Selbst« herzustellen (Kap. 7.4). Auch in diesem Zusammenhang liefert die handlungspsychologische Perspektive, wie sie Julius Kuhl in seiner PSI-Theorie ausgearbeitet hat, wieder Begründungszusammenhänge (Kuhl 2001).
Kapitel 7.5 geht auf den emotionalen Stil der Führungskraft ein. Er zeigt die Dimensionen auf, wie Richard Davidson sie kategorisiert hat, sowie Möglichkeiten zur schrittweisen Veränderung (Davidson u. Begley 2012).
In diesem Zusammenhang wird das persönlich ausgeprägte Konfliktmuster betrachtet (Kap. 7.6). Wenn die Führungskraft darüber Bewusstsein erlangt und nur minimale Unterschiede einbaut, wird ihr dies ein höheres Maß an Gelassenheit und Souveränität im Alltag bescheren. Hier gilt das Motto »Erkenne dich selbst«.
Die »Heldenreise« als Erzählstruktur und grundlegende Betrachtungsweise bildet den Abschluss des Buches (Kap. 7.7). In ihr versammelt sich eine Vielzahl an Ansätzen und Interventionen, die bereits in vorhergehenden Abschnitten beschrieben worden sind. Zwar richtet sich dieses Instrument an Führungskräfte, doch lässt es sich auch in anderen Coaching- und Beratungskontexten einsetzen. Für die Arbeit mit Emotionen kann es als Leitbild genommen werden: Indem wir die eigenen Gefühle akzeptieren und uns mit ihnen auseinandersetzen, entwickeln wir unsere Persönlichkeit. So unternimmt jeder Mensch seine ganz eigene Heldenreise.
Wir stehen auf den Schultern von Riesen. Das durfte ich auch beim Verfassen dieses Buches immer wieder erfahren. So konnte ich mich auf manches Konzept, manches Modell und bewährte Methoden beziehen, die bereits in der Welt sind. Gerade bei der Schilderung praktischer Vorgehensweisen finden sich »alte Bekannte«, die vielleicht durch den Emotionsfokus eine neue Nuance erhalten.
Direkt benachbart befindet sich eine Anzahl an Menschen, die mich durch Gespräche mit ihnen zum Weiterdenken, genaueren Hinschauen und präziseren Formulieren angeregt haben. Ihnen allen möchte ich meinen herzlichen Dank aussprechen.
Christian Kuhlmann danke ich für sein kritisches Probelesen und zutiefst anregende Dialoge. Volkmar Husfeld danke ich für seinen pragmatischen und dadurch nicht weniger systemischen Blick auf das Feld von Personalentwicklung. Ich danke Peter Zängl für unsere langjährigen, launigen Marktgespräche über Organisationen, Leadership, Südafrika und die Welt überhaupt. Tausend Dank an Volker Biesel für gemeinsames Elaborieren und fortwährendes Praktizieren: So möge es weitergehen! Herzlichen Dank an Johannes Schley für unsere beständige Kooperation und für seinen sozialpsychologischen Blick. Ein lieber Dank geht an Ilka Kass für das Anlegen des Literaturverzeichnisses. Ich danke dem Team vom Carl-Auer Verlag für die wunderbare Begleitung und Unterstützung, allen voran Ralf Holtzmann: Es ist mir eine helle Freude gewesen!
Mit Blick in die Ferne gilt meine tiefe Dankbarkeit Paul Czempin, dank dessen Begleitung ich die Basis meines Tuns gelernt und gelegt habe. Ebenso danke ich Waldemar »Grischa« Pallasch, von dem ich entscheidende Impulse zum Coaching sowie zur Arbeit in Seminaren nicht nur in der Erwachsenenpädagogik erhalten habe. Mein herzlicher Dank geht an Alf Gürtler für seine Unterstützung und Inspiration in vielerlei Hinsicht.
Last, but not least danke ich all den Menschen, Gruppen, Teams und Organisationen, die mir für eine gemeinsame Arbeit ihr Vertrauen geschenkt haben: eine beständige und beglückende Aktionsforschung.
Über einen langen Zeitraum fanden Emotionen in modernen Lebens- und Arbeitswelten wenig Beachtung: Im Alltag wurden sie als »Gefühlsduselei« abgetan, im wissenschaftlichen Bereich eher vernachlässigt. Bisweilen geschieht dies auch noch heutzutage. Bei der Arbeit mit Emotionen kann es hilfreich sein, besser zu verstehen, was sie kennzeichnet und welche Dynamiken mit ihnen verbunden sind.
Wo kommen Emotionen her, und wie ist der Mensch im Laufe der Jahrhunderte mit ihnen umgegangen? Zum Verständnis der Frage, wie der sogenannte moderne Mensch mit eigenen und fremden Gefühlen umgeht, lohnt sich ein Blick in die Geschichte.
Der Blick auf Emotionen ist zunächst über viele Jahrhunderte von der abendländischen Philosophie geprägt gewesen. Platon (428–347 v. Chr.) bezeichnet die Vernunft als oberste Instanz. Affektive Regungen betrachtet er hingegen als minderwertig oder sogar schädlich – sie stünden der Seele dabei im Weg, die reinen Ideen zu schauen, und schränkten das logische Denken ein. Doch schon Aristoteles (384–322 v. Chr.) zeichnet ein weitaus positiveres Bild der Emotionen. Aus seiner Sicht sind sie fester Bestandteil menschlichen Lebens und keineswegs per se schlecht. Zwar stehen sie in ihrer Wertigkeit unterhalb der Vernunft, doch können sie durchaus eine angemessene Reaktion sein, wenn die Situation dies erfordert. Es komme nur darauf an, einen maßvollen Umgang mit ihnen zu finden.
Wenn auch die Rezeption der aristotelischen Gedankenwelt maßgeblich die christlich-mittelalterliche Philosophie geprägt hat, so erfahren Emotionen im Mittelalter dennoch eine Abwertung. In ihnen wird eher etwas Schlechtes, ja sogar Böses gesehen. Denn im Wertesystem dieser historischen Epoche stehen sie als Zeichen von Unzucht und Begierde sowie für die Versuchung, die vom »richtigen«, dem christlichen, Weg abführt. Bildhaft ist dies in den sieben Hauptsünden zum Ausdruck gebracht: Hochmut, Neid, Geiz, Gier, Lust, Jähzorn, Faulheit. Zudem sind sie eng mit körperlichen Regungen verknüpft – und diese sind ohnehin dem Teufel erlegen. Die Körperfeindlichkeit hat in der christlichen Geschichte eine traurige Tradition (Dinzelbacher 2003).
Folgt man den Geschichtswissenschaften, die sich seit einigen Jahren auch dem Thema Emotionen widmen, dann entstanden im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit Codierungen zu einzelnen Affekten. Demgemäß wurden Menschen je nach Gesellschaftsstand und Geschlecht unterschiedliche Emotionen beigemessen. Beispielsweise wurden Angst, Trauer oder Scham eher dem weiblichen Geschlecht zugeschrieben. Angehörige niederer Stände seien eher von Affekten beherrscht. Hieran zeigt sich, wie bereits mit dem Beginn der Entwicklung frühmoderner Gesellschaftsformen Gefühle sozial konstruiert wurden.
René Descartes (1596–1650) gilt als einer jener europäischen Philosophen, die das westliche Menschen- und Weltbild bis in die Gegenwart geprägt haben, und als Begründer des neuzeitlichen Rationalismus. Darüber hinaus wird sein Name häufig mit der Idee des Leib-Seele-Dualismus in Zusammenhang gebracht. Descartes sieht einen substanziellen Unterschied zwischen der Materie (Res extensa) und dem Geist (Res cogitans) – oder anders ausgedrückt: zwischen Körper und Denken. Vor diesem Hintergrund wird der menschliche Organismus mit einem Apparat verglichen. Lebendiges funktioniere gleich dem Mechanismus eines Räderwerks. Daraus entstand ein mechanistisches Weltbild.
Trotz seines mechanistischen Verständnisses – oder vielleicht auch gerade aufgrund dieser Sichtweise – beschäftigte sich René Descartes zugleich sehr differenziert mit dem Entstehen sowie den Wirkungen von Emotionen. Darin zeigte er sich durchaus als mitfühlender Beobachter. Zwar dachte der Philosoph die Verbindung von Geist und Materie als mechanistisch-pneumatischen Vorgang, doch formuliert er bereits Annahmen über Emotionen als komplexe Wirkungsgefüge. Im Jahr 1649 wird seine Schrift »Die Leidenschaften der Seele« veröffentlicht (Descartes 2018). Einige seine Gedanken, die er darin formuliert, scheinen wie Vorwegnahmen historisch späterer Modelle emotionaler Dynamiken:
•Gefühle kommen erst durch das Wahrnehmen der körperlichen Regung auf. Diese Idee stellt in ähnlicher Weise die Grundlage für die James-Lange-Theorie aus dem 19. Jahrhundert dar (Wassmann 2002).
•Descartes’ Klassifizierung von Leidenschaften ist erstaunlicherweise mit der Annahme von Basisemotionen vergleichbar, wie sie in den 1970er-Jahren aus biologisch-evolutionärer Perspektive beschrieben werden (Wassmann 2002).
•Descartes gibt bereits Hinweise zum Umgang mit Emotionen, die eine verblüffende Nähe zu imaginativen Vorgehensweisen in aktuellen hypnotherapeutischen Konzepten (Schmidt 2005) kennzeichnet.
Kurzum: Bereits im 17. Jahrhundert blickten Philosophen wie Descartes sehr differenziert auf das Thema Emotionen.
Im 19. Jahrhundert formuliert der britische Naturforscher Charles Darwin (1809–1882) seine Gedanken über das Entstehen und die Funktion von Emotionen. Er versteht sie als biologisch verankertes Verhaltensrepertoire, mit welchem ein Organismus in der Lage ist, schnell auf Reize aus seiner Umwelt zu reagieren. Darwin untersucht den Aspekt des körperlich-mimischen Ausdrucks und betrachtet ihn in Hinblick auf seinen evolutionären Nutzen. Er legt damit die Grundlage für spätere biologisch-evolutionäre Perspektiven auf Emotionen und Gefühle.
Neben Darwin muss sein Zeitgenosse, der US-amerikanische Psychologe und Philosoph William James (1842–1910), genannt werden, der sich ebenfalls intensiv mit Emotionen auseinandergesetzt hat. In seiner Schrift »Was ist eine Emotion?« (James 1884) beschreibt er die körperliche Komponente als grundlegend für emotionale Prozesse. Dies kann man sich folgendermaßen vorstellen: Wenn wir eine äußere Situation wahrnehmen, z. B. einen zähnefletschenden Hund, der vor uns steht, so wird unser Körper darauf reagieren, indem das Herz schneller schlägt und Hitze aufsteigt. Erst die Wahrnehmung dieser körperlichen Reaktionen lässt die Emotion »Angst« entstehen. James stellt die Frage: »Weinen wir, weil wir traurig sind, oder sind wir traurig, weil wir weinen?« Seine Antwort findet sich im zweiten Teil der Frage: Wir sind traurig, weil wir weinen. Diese Behauptung mag überraschen, sie machte jedoch bereits im 19. Jahrhundert deutlich, dass der Körper eine entscheidende Rolle beim Entstehen von Emotionen spielt. Viele Jahrzehnte später zeigt sich mit dem Aufkommen der Neurowissenschaften die Aktualität dieses Gedankens – obwohl er nach wie vor kontrovers diskutiert wird.
Eine differenzierte Betrachtungsweise von Emotionen, wie sie bereits Descartes, Darwin und James entwickelt hatten, wurde im Kontext des Behaviorismus nahezu komplett ausgeblendet. In diesem Menschenbild galten subjektiv erlebte Gefühle als irrelevant. Das Reiz-Reaktions-Schema diente den Behavioristen als ausschließliches Begründungsmodell menschlichen Verhaltens. Unter stark mechanistischen Vorzeichen wurde der Mensch als triviale Maschine angesehen. Das Erlernen eines Verhaltens sei lediglich eine Schrittfolge von Konditionierungen.
Erst mit dem Aufkommen kognitivistischer Theorien und Modelle seit den 1960er-Jahren erfuhren Gefühle eine deutliche Aufwertung. In diesen Ansätzen wird ihnen sogar eine urteilsbildende Kraft zugesprochen: Emotionale Prozesse bewerten eine aktuelle Situation. Dadurch entstehen Überzeugungen, Vermutungen, Gedanken und Einschätzungen. Hierin zeigt sich die kognitive Seite der Gefühle (Hartmann 2005).
Mit dem Voranschreiten neurowissenschaftlicher Forschung wurden maßgebliche Erkenntnisse zum Stellenwert, zur körperlichen Grundlage und zu den Wirkungen von Emotionen gewonnen. Die technischen Neuerungen im Bereich der bildgebenden Verfahren, wie z. B. funktionelle Magnetresonanztomografie, Positronenemissionstomografie (PET) und die erheblich optimierte Elektroenzephalografie (EEG), ermöglichten nunmehr Einblicke in die Mikroebene des Gehirns sowie seiner Verbindungen innerhalb des Organismus. Der in Wien geborene US-amerikanische Psychiater, Neurowissenschaftler und Medizin-Nobelpreisträger des Jahres 2000 Eric Kandel brachte die Psychoanalyse, welche über lange Zeit geisteswissenschaftlich ausgerichtet gewesen ist, wieder in Verbindung mit der Neurophysiologie (Kandel 2008; Roth u. Ryba 2016, S. 16 ff.).
Je mehr Details zutage gefördert werden, desto stärker zeigt sich die Komplexität neuronal-körperlicher und emotionaler Prozesse. Wahrscheinlich stehen wir erst am Anfang des wissenschaftlichen Verstehens dieser Zusammenhänge.
»Ich fühle, also bin ich« lautet ein Buchtitel des portugiesischen Neurowissenschaftlers António Damásio (Damásio 2000). Er bezieht sich damit auf das descartessche »cogito ergo sum« (»Ich denke, also bin ich«), welches über Jahrhunderte das Selbstverständnis des Menschen geprägt hatte. Damásio will mit seinem Titel darauf hinweisen, dass der moderne Homo sapiens bei aller Fähigkeit zum rationalen Denken in weiten Teilen von Emotionen und Gefühlen beeinflusst ist.
Neurowissenschaftler wie Antonio Damásio brachten anhand der modernen bildgebenden Verfahren eindeutige Hinweise für den physiologischen Ursprung von Emotionen. Dies ist noch vor wenigen Jahrzehnten alles andere als selbstverständlich gewesen. Der US-amerikanische Hirnforscher Richard Davidson, der die neurobiologische Emotionsforschung maßgeblich mitentwickelt hat, schildert mit Blick auf seinen eigenen Lebenslauf als Forscher, inwieweit Gefühle als hirnphysiologische Vorgänge in der Wissenschaft lange Zeit geradezu ignoriert worden sind (Davidson u. Begley 2012, S. 51):
»Das Desinteresse der akademischen Welt an der Rolle und Funktion des Gehirns im Emotionsgeschehen erschien mir ebenso rätselhaft, als würde ich in die nephrologische Abteilung eines Krankenhauses gehen und dort erfahren, dass man sich nicht für Nieren interessiert.«
Im Zuge des genannten wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns wurde die enorme Wichtigkeit der Emotionen zunehmend erkannt. Dennoch erschien es noch in den 1980er-Jahren als obsolet, Emotionen als wesentlichen Bestandteil des menschlichen rationalen Denkens zu betrachten. Vielmehr galten sie als störend und als gedanklichkognitive Prozesse beeinträchtigend. Sogenannte höhere Hirnfunktionen wurden allein dem Kortex, der evolutionär noch jungen Großhirnrinde, zugerechnet. Affekte galten als primitiver, minderwertiger Gegenpart zur Kognition. Sie wurden allein im sogenannten limbischen System verortet, einer komplex vernetzten Funktionseinheit zur Verarbeitung von Emotionen und zur Steuerung des Triebverhaltens, die aus evolutionär alten, nicht kortikalen Anteilen des Endhirns unterhalb der Großhirnrinde (d. h. subkortikalen Strukturen) gebildet wird (Kap. 1.1.5). Mit einiger Süffisanz beschreibt Richard Davidson diese Zuordnungen als »kortikalen Snobismus« (ebd., S. 42). Mittlerweile gilt es als vielfach belegt, dass rationales Denken ohne Emotion gar nicht möglich ist und sogar von emotionalen Prozessen gesteuert wird (Damásio 2003; LeDoux 2001).
Auch in den Sozialwissenschaften finden Affekte, Emotionen und Gefühle lange Zeit nur wenig Beachtung. Bisweilen werden sie sogar als blinder Fleck bezeichnet (Reckwitz 2015). Pointiert zeigt Jan Philipp Reemtsma auf, »dass in manchen sozialwissenschaftlichen Texten geradezu lautstark von Emotionen nicht die Rede ist« (Reemtsma 2015, S. 17 f.).
Soziologische Perspektiven sehen die gesellschaftliche Entwicklung durch eine zunehmende Emotionskontrolle gekennzeichnet. Demzufolge würde der rationale Verstand die Affekte im öffentlichen Raum sowie in Institutionen neutralisieren. Das Rationale würde die Emotion beherrschen. Diese Position aus der klassischen Soziologie wird zuweilen kritisch gesehen (Reckwitz 2015, S. 35):
»Die Diagnose einer affektneutralen Sozialität in der Moderne beruht […] auf einer fundamentalen Fehleinschätzung: Die Affekte mögen in manchen institutionellen Komplexen der Moderne zwar anders modelliert worden sein, doch sind sie keineswegs verschwunden. […] Jede soziale Ordnung im Sinne eines Arrangements von Praktiken ist auf spezifische Weise immer auch eine affektive Ordnung.«