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Wachstum bei jedem Einzelnen fördern Die Emotionsfokussierte Therapie ist vor allem als richtungsweisende, empirisch validierte Paarintervention bekannt. Doch schon immer wird sie, besonders in der Behandlung von Depressionen, Ängsten oder Traumafolgen, auch im Einzelsetting angewandt. Wie sich im Lauf der Entwicklung herauskristallisiert hat, sind für die positiven und nachhaltigen Ergebnisse dieses Ansatzes vor allem zwei Faktoren relevant: - Erstens die gestochen scharfe Landkarte in Form der „Bindungstheorie“ genannten entwicklungspsychologischen Theorie der Persönlichkeit und - zweitens der Fokus auf die systematische Rekonstruktion des in der Sitzung auftretenden emotionalen Erlebens. Therapeut:innen erhalten eine praxisnahe Einführung in die EFIT. „Dieses Buch ist voller Geschichten, Bilder und Informationen, mit deren Hilfe Sie in jeder Sitzung transformative Momente schaffen können. […] Mit der genauen Landkarte in der Hand fühlen wir uns selbstsicher und kompetent und das überträgt sich auf unsere Arbeit, macht unsere Interventionen zielgenauer, führt bei unseren Klient:innen zu besseren Ergebnissen und bei uns viel seltener zu Burnout.“ Susan M. Johnson & T. Leanne Campbell
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Seitenzahl: 438
Susan M. Johnson & T. Leanne CampbellEmotionsfokussierte Einzeltherapie (EFIT)
Wachstum bei jedem Einzelnen fördern
Die Emotionsfokussierte Therapie ist vor allem als richtungsweisende, empirisch validierte Paarintervention bekannt. Doch schon immer wird sie, besonders in der Behandlung von Depressionen, Ängsten oder Traumafolgen, auch im Einzelsetting angewandt. Wie sich im Lauf der Entwicklung herauskristallisiert hat, sind für die positiven und nachhaltigen Ergebnisse dieses Ansatzes vor allem zwei Faktoren relevant:
Erstens die gestochen scharfe Landkarte in Form der „Bindungstheorie“ genannten entwicklungspsychologischen Theorie der Persönlichkeit und zweitens der Fokus auf die systematische Rekonstruktion des in der Sitzung auftretenden emotionalen Erlebens.Therapeut:innen erhalten eine praxisnahe Einführung in die EFIT.
Susan M. Johnson ist Begründerin der Emotionsfokussierten Therapie (EFT). Die international anerkannte Expertin für Paartherapie sowie für Bindung bei Erwachsenen ist emeritierte Professorin für Psychologie an der Ottawa University und Leiterin des Ottawa Couple and Family Institute.
T. Leanne Campbell ist Co-Direktorin des Vancouver Island Centre for EFT und der Campbell & Fairweather Psychology Group sowie Honorary Research Associate der Vancouver Island University.
Copyright © der deutschen Ausgabe: Junfermann Verlag, Paderborn 2023
Originalausgabe: © 2022 Susan M. Johnson and T. Leanne Campbell
Originaltitel: A Primer for Emotionally Focused Individual Therapy (EFIT). Cultivating Fitness and Growth in Every Client.
Authorised translation from the English language edition published 2022 by Routledge, 605 Third Avenue, New York, NY 10158 and by Routledge, 2 Park Square, Milton Park, Abingdon, Oxon, OX14 4RN
Routledge is an imprint of the Taylor & Francis Group, an informa business.
All rights reserved.
Übersetzung: Claudia Campisi
Fachlektorat: Christine und Hendrik Weiß
Coverbild: © 2018 mosaiko / Photocase Addicts GmbH, all rights reserved.
Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn
Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn
Alle Rechte vorbehalten.
Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2023
ISBN der Printausgabe: 978-3-7495-0439-8
ISBN dieses E-Books: 978-3-7495-0440-4 (EPUB), 978-3-7495-0441-1 (PDF).
Für meine Klient:innen, die mir fortwährend Inspiration und Unterweisung sind, und für meine Kolleg:innen, die mich so liebevoll auf der Reise begleiten, das Geheimnis zu lüften, wie man den im Netz der menschlichen Verletzlichkeit und Verzweiflung Gefangenen zu Heilung und Wachstum verhilft.
– Susan M. Johnson
Für meine Klient:innen und Kolleg:innen, die mich immerzu dazu anspornen, zu lernen und mich weiterzuentwickeln, und für meine Familie, die mir den dafür nötigen sicheren Ort zur Verfügung stellt.
– T. Leanne Campbell
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Wir schreiben dieses Buch nicht bloß, um Ihnen eine Blaupause für ein Therapiemodell zu geben, das sich auf den besten wissenschaftlichen Erkenntnissen zu der Frage gründet: Was genau ist der Mensch und wer bin ich? Wir wollen weitaus mehr, nämlich: Sie bewegen und inspirieren! Wir wollen Sie anstecken, sich von der Power emotional aufgeladener Therapiesitzungen mitziehen zu lassen und sie zu nutzen, um die Welt der Klient:innen in anderen Farben erstrahlen zu lassen und sie sozusagen „neu zu rahmen“, und das auf so natürliche Weise, dass das Gehirn der Klient:innen darauf ansprechen kann. Wir wollen Ihnen zeigen, wie Sie sich die Macht der Gefühlsbewegung zunutze machen, um Ihre Klient:innen in aussichtsreiche neue Richtungen zu bewegen. Wir schreiben dieses Buch für die Welt der Einzeltherapie als eine Herausforderung, einen neuen und ausgiebigen Blick in den Spiegel der Bindungstheorie zu werfen und zu sehen, wie sie Wunden und Sehnsüchte klärt und uns in der Psychotherapie Richtung und Ziel weist.
Etwas formeller ausgedrückt: Der Zweck dieses Buchs besteht in der Weitergabe unseres Know-hows aus über 35 Jahren der professionellen Anwendung der Emotionsfokussierten Therapie (EFT) bei Einzelnen, Paaren und Familien, und zwar speziell im Hinblick auf die Gestaltung von Veränderungen bei Einzelnen. Den Veränderungsprozess im Inneren des Menschen und in seinen Beziehungen konnten wir in unseren zahlreichen Studien präzisieren, die zusammen mit den vielen positiven Ergebnissen unsere praktische Erfahrung bereichern. Profitiert hat das Modell außerdem von der Ausbildung Tausender weltweit im Bereich der psychischen Gesundheit tätiger Fachleute und deren professionellem Netzwerk, dem International Centre for Excellence in Emotionally Focused Therapy (ICEEFT, http://www.iceeft.com), in dem verschiedene Kulturen, Ethnien und Weltanschauungen ihre mannigfaltige Weisheit bündeln.
Dieses Buch handelt von Emotionsfokussierter Einzeltherapie, denn obwohl die EFT vor allem als richtungsweisende, empirisch validierte Paarintervention bekannt ist und auf diesem Gebiet Großes geleistet hat, wird sie immer schon, besonders aber bei Depressionen, Ängsten oder Traumafolgen, auch im Einzelsetting angewandt. Wie sich im Lauf der Entwicklung herauskristallisiert hat, sind für die positiven und nachhaltigen Ergebnisse dieses Ansatzes vor allem zwei Faktoren relevant: Erstens die gestochen scharfe Landkarte in Form der „Bindungstheorie“ genannten entwicklungspsychologischen Theorie der Persönlichkeit und zweitens der Fokus auf die systematische Rekonstruktion des in der Sitzung auftretenden emotionalen Erlebens. Wie diese beiden Faktoren im Gesamtfeld der Psychotherapie tatsächlich für Integration und Kohärenz sorgen, hat Susan Johnson in ihrem kürzlich erschienenen Buch dargestellt: Bindungstheorie in der Praxis: Emotionsfokussierte Therapie mit Einzelnen, Paaren und Familien (Johnson 2020b). Soweit das offizielle Statement zur Grundidee dieses Buchs.
In der Psychotherapie geht es immer mehr zu wie im Zirkus, man findet sich kaum noch zurecht bei all den Labels, Störungen, Modellen und Interventionen. Doch die Bindungstheorie ist unser Wegweiser. Sie zeigt uns, wer wir sind, wie wir uns mit den Emotionen unserer Klient:innen anfreunden und es diesen so ermöglichen können, von der Macht korrigierender emotionaler Erfahrungen befeuert neu zu sich selbst zu finden und sich als kompetent und wertvoll zu erfahren.
Dieses Buch ist voller Geschichten, Bilder und Informationen, mit deren Hilfe Sie in jeder Sitzung transformative Momente schaffen können. Wir haben es bewusst locker verfasst, damit Ihnen das Lesen nicht nur leichtfällt, sondern auch noch Spaß macht! Mit der detaillierten Landkarte in der Hand fühlen wir uns selbstsicher und kompetent und das überträgt sich auf unsere Arbeit, macht unsere Interventionen zielgenauer, führt bei unseren Klient:innen zu besseren Ergebnissen und bei uns zu einem Rückgang von Burnout. Wir hoffen, dass Sie damit den richtigen Weg zu jedem Klienten und jeder Klientin finden und dass Sie – so wie wir – anerkennende Worte zu hören bekommen: „Ich fühle mich von Ihnen verstanden. Sie haben da echt ins Schwarze getroffen.“ Oder: „Unglaublich, was die letzte Sitzung mit meinem Leben gemacht hat.“
Bemerkenswerterweise ist EFIT mit wichtigen Gesellschaftsthemen der Gegenwart kompatibel. Sie lässt sich gut online durchführen, was übrigens auf die meisten der hier aufgeführten Sitzungen zutrifft. Was Diversität und Inklusion betrifft (siehe auch das Statement auf http://www.iceeft.com), wurzeln die fundamentalen Konzepte und Werte des allgemeinen EFT-Modells – zu dem die EFIT ja gehört – zum einen in Carl Rogers’ humanistisch-erfahrungsorientierter Auffassung, dass Respekt vor jedem Menschen und die volle Wertschätzung der Person das Fundament einer guten Behandlung bilden, und zum anderen in der Bindungstheorie, die Emotionen, Verletzlichkeiten, Schutzmechanismen und das Bedürfnis nach einer sicheren Verbindung zu anderen Menschen als universell gültig betrachtet. Sich zugehörig fühlen und zu sich selbst finden, sind zwei Seiten derselben Medaille, in einer wahrhaft zivilisierten Gesellschaft müssen alle Menschen dazugehören. Das EFT-Modell, ganz besonders auch die EFIT, kommt in vielen Ländern und Kontexten weltweit zum Einsatz, wobei Therapeut:innen und Klient:innen jeweils jeden erdenklichen kulturellen, sozialen und ethnischen Hintergrund haben können. In verschiedenen Kontexten zu arbeiten, fordert von uns immer wieder eine neue Aufgeschlossenheit und Lernbereitschaft, damit wir unsere Interventionen noch besser an die jeweiligen Kulturen und Klient:innen, mit denen wir zu tun haben, anpassen.
Die gezielt abgestimmten Interventionen und der Emotionsfokus sind also angemessen für die Auseinandersetzung mit den Kernemotionen unserer Klient:innen und ihrem bedeutsamen, identitätsstiftenden existenziellen Drama. Auch online scheinen sie paradoxerweise gerade die Kriterien zu erfüllen, wie man es diesem Format eigentlich nicht zutraut: Sicherheit, uneingeschränktes tiefes Engagement für die Aufgaben und ein therapeutisches Erleben, das effektive Veränderungen hervorbringt. Denn wie das Buch umfassend zeigen wird, sind EFIT-Sitzungen immer schon als sicherer Ort angelegt und darauf, dass wir lernen, ein echtes und authentisches Bündnis zu unseren Klient:innen aufzubauen, sodass es keine Rolle spielt, ob wir in Präsenz oder online arbeiten. Auch die erste großangelegte Studie zur EFIT, auf die sich der vorliegende Band bezieht, wurde online durchgeführt. Demnach scheint der digitale Modus also kein Problem darzustellen für ein Interventionsmodell, das so persönlich ist und richtig unter die Haut geht.
Dieses Buch ist als Einstiegslektüre und Orientierungshilfe gedacht, damit Sie mit EFIT loslegen können. Doch auch wenn Sie schon ein erfahrener emotionsfokussierter Therapeut sind, der jeden Tag mit Einzelklient:innen arbeitet, wird es hoffentlich Ihr EFIT-Repertoire vertiefen und erweitern. Damit Sie das Modell verinnerlichen und sich zu eigen machen, haben wir bewusst viele Transkripte von stattgefundenen Therapiesitzungen eingefügt und die Hauptkonzepte wiederholt. Übungen am Ende jedes Kapitels sollen Ihnen helfen, das Gelernte zu integrieren und sofort in die Praxis umzusetzen. DVDs von Live-EFIT-Sitzungen erhalten Sie über unser Institut auf https://iceeft.com. Als EFT-Therapeut:in (egal ob Sie mit Einzelnen, Paaren oder Familien arbeiten) haben Sie außerdem die Möglichkeit, unserem Berufsverband beizutreten, der seinen Mitgliedern Unterstützung bietet. Schauen Sie gerne auf unserer Website nach einer EFT-Community in Ihrer Nähe oder nach Ressourcen in Ihrer Sprache (neben Englisch und Deutsch auch Farsi, Rumänisch, Finnisch und Niederländisch).1
Was die Integration von Forschung und Anwendung in der Psychotherapie betrifft, so bleibt noch viel zu tun. Die Suche nach immer wirksameren Interventionen für emotionale Störungen und die Fachausbildung für eine lebenslange kreative Praxis hören nie auf. Wir sind sicher, dass Sie die EFIT als eine spannende und effektive Methode erleben, mit der Sie selbst die schwierigsten Klient:innen erreichen können. Viel Spaß mit unserem Lehrbuch!2
1 In Deutschland ist das die EFTCD, http://www.eftcd.de
2 © 2021 Alle Materialen stammen von Dr. Susan Johnson und Dr. Leanne Campbell und sind urheberrechtlich geschützt.
Dieses Kapitel soll Ihnen schnappschussartig zeigen, wie der Veränderungsprozess bei einer Klientin abläuft, die durch extreme sexuelle und physische Gewalt in der Kindheit schwer traumatisiert wurde und noch immer unter den Folgen leidet. So erfüllt Henny im gleich folgenden Fallbeispiel sämtliche Kriterien für eine komplexe entwicklungsbedingte Posttraumatische Belastungsstörung (komplexe PTBS). Damit Sie sich ein Bild machen können, wie EFIT in der Praxis aussieht und vor den abstrakteren Begriffen der Theorie und Praxis erst einmal ein Bauchgefühl dafür bekommen, schauen wir uns einige Interventionen an, die die Therapeutin (Sue Johnson) mit ihr durchführt.
Hennys Portrait einer Veränderung umfasst Ausschnitte aus Sitzungen der Anfangsphase, vom Ende der Phase 1 (Stabilisierung) und schließlich aus Phase 2 (Restrukturierung, Erweiterung der Arbeitsmodelle des Selbst und des anderen), wo Henny einschneidende Veränderungen an der Organisation ihrer emotionalen Welt und an ihrem Selbstbild vornimmt. Letzteres zu erweitern ist das ultimative Ziel der EFIT, um der Einengung entgegenzuwirken, die nicht nur in der Person selbst, sondern häufig auch im Kontakt mit anderen chronisches psychisches Leid verursacht. Dazu stimmt sich die EFIT-Therapeutin in jedem Moment auf die Klientin ein, wobei sie sich an der Landkarte der elementaren menschlichen Verletzlichkeiten orientiert, die ihr die Theorie und Wissenschaft der Bindung an die Hand gibt (Johnson 2020b). Die in jeder Einzel-, Paar- oder Familiensitzung genutzte Makro-Intervention namens EFT-Tango wird in diesem Kapitel nur angerissen und neben weiteren Mikro-Interventionen im späteren Verlauf des Buchs detailliert erläutert.
Kichernd und mit federndem Schritt betritt Henny mein Zimmer. Sie hat volle blonde Locken und trägt schwere Wanderstiefel. Sie spricht sehr schnell und geht sofort in den Kontakt zu mir. Mit ihren 50 Jahren hat sie verschiedene Berufe ausgeübt. Zurzeit arbeitet sie als Fachlektorin und Sportlehrerin. Sie hat zwei Kinder im Teenageralter, Vinnie und Veronica, die sie seit dem Aus ihrer Ehe vor neun Monaten allein erzieht. Tom, ihren Ex-Mann, ein Zahnarzt, den sie mit 18 kennenlernte, hat sie wegen seiner extremen Alkohol-, Kokain- und Spielsucht hinausgeworfen. Dies ist schon ihr dritter Trennungsversuch. Die beiden Male davor ist sie in eine andere Stadt „abgehauen“, wie sie sagt, jetzt sei es aber „endgültig“. Sie nennt mir den Grund für die Therapie: „Ich befinde mich ständig im Überlebensmodus, lebe von Moment zu Moment.“ Nun sei sie „ausgelaugt“: „Ich mache total dicht und schlafe den ganzen Tag.“
Ohne Luft zu holen sprudelt sie heraus: Bei der Geburt ihres zweiten Kindes sei Tom völlig high im Krankenhaus erschienen und dann seien auch noch ihre Eltern völlig überraschend von der anderen Seite des Kontinents angereist, um das neue Baby zu begutachten. Das habe bei ihr laut Diagnose eine PTBS ausgelöst. Eine Woche sei sie wie in „Trance“ gewesen, „katatonisch“. Dies passt zu ihren Werten auf der Traumasymptom-Skala (TSI-2, Briere 2011), die bei Therapiebeginn in allen Hauptkriterien bis auf eines (Suizidalität) erhöht sind und Behandlungsbedarf signalisieren. Direkt nach der katatonen Episode bekam sie hochdosierte Medikamente, jetzt nimmt sie nur ein moderat dosiertes Anxiolytikum. Die Symptome ließen zwischenzeitlich nach, doch seit Toms Rauswurf leidet sie an Albträumen, Niedergeschlagenheit und Panikattacken sowie an intensiven Flashbacks im Zusammenhang mit dem Kindheitstrauma, das sie erlitten hat, als ihr Vater sie und ihre Schwester bis zum Einsetzen der Pubertät mehrmals betäubte und vergewaltigte. Wenn es Schlafenszeit war, schickte er eine von ihnen ins hinterste Zimmer und machte „Jagd“ auf sie. Ihre Mutter bekam das zwar mit, stritt es später dann aber ab.
Trotz ihrer traumatischen Geschichte wirkt Henny auf den ersten Blick offenherzig, lebhaft, hochintelligent und geradezu begierig danach, sich weiterzuentwickeln. Sie weiß sich zu helfen: „Ich kann alles selbst reparieren, wenn es drauf ankommt, sogar ein ganzes Haus wieder instandsetzen.“ Manchmal jongliere sie gleichzeitig drei Jobs und gebe außerdem Turnunterricht. Turnen habe ihr schon immer Spaß gemacht, darin sei sie richtig gut. Als Kind habe sie eine Kommode vor die Tür geschoben, damit ihr Vater nicht hereinkonnte, daran erinnere sie sich und an weitere „Siege“. „Ich will so leben, dass ich mich sicher fühle, ich will das Muster durchbrechen. Aber jetzt ist das schwierig – Tom ist der einzige Mensch, der mich je geliebt hat. Anscheinend geliebt hat. Ich traue niemandem.“
Das Ziel der 1. Phase der EFIT, Stabilisierung, besteht darin, ein positives Bündnis aufzubauen und die Klient:innen zu stabilisieren, ihre Stärken und ihre Resilienz herauszustreichen, Kohärenz und emotionales Gleichgewicht zu fördern und mit ihnen zusammen die zentralen Behandlungsthemen, Dilemmata und Ziele zu formulieren (siehe Kasten 1.1 am Kapitelende: Auflistung der EFIT-Phasen mit den jeweiligen Zielen). Henny vergleicht ihr Leben mit einem „Tornado“ und genauso klingt es: Sie spricht rasend schnell, intellektualisiert, springt willkürlich von Geschichte zu Geschichte, von ihrer Kindheit zur nahen Vergangenheit, zusammenhanglos und daher kaum verständlich. Ich hatte Mühe, die wichtigsten Ereignisse zusammenzufügen und ihre Kindheitserfahrungen, ihre Beziehung zu Tom, die Trennung von ihm zeitlich einzuordnen. Die ersten zehn Sitzungen nach dem Assessment (siehe Kapitel 6) blieb ich fast ständig im empathischen Spiegelmodus, klärte die entscheidenden Momente ihres emotionalen Lebens, ihren Umgang damit wie auch ihre Beziehungsmuster (diesen EFIT-Prozess namens Tango-Move 1 erklären wir später). Sobald ich versuchte, sie zu verlangsamen, bestimmte Momente oder Themen zu vertiefen, brach sie ab und fing mit einer anderen Geschichte an.
Ich konzentrierte mich auf die Bildung eines sicheren Therapiebündnisses, blieb emotional aufgeschlossen und zugänglich, ging responsiv auf sie ein, normalisierte und validierte ihren Schmerz und ihre Dilemmata und wartete, bis ich das Gefühl hatte, dass sie bereit war für die Vertiefung ihres emotionalen Engagements in der Sitzung. An einem Punkt sagte sie, sie könne eine traumatische Szene für mich zeichnen, die sich mit ihrer Mutter und ihrer Schwester draußen vor einer Kirche abgespielt hatte. Ihre Zeichnung ergab für mich jedoch keinen Sinn, denn Menschen waren darauf nicht zu sehen, nur die Kirche. Als ich das anmerkte, lachte sie und wechselte das Thema. Ich konzentrierte mich weiterhin darauf, mich – vom bindungsorientierten Modell gestützt – unablässig empathisch auf sie einstimmen und wartete, bis sie mit ihren bruchstückhaften Informationen durch war und mich wirklich in ihr Leben hineinließ. Wie in der EFIT oder überhaupt in der EFT üblich, wollte ich, dass sie in tiefere Erfahrungslevel im Hier und Jetzt der Sitzung eindringt; weg von der Vergangenheit und dem verkopften Abspulen von Einfällen und Erinnerungen hin zur Gegenwart und ihrer voll engagierten, lebendigen Erkundung aus dem Bauch heraus (gemessen auf der Experiencing-Skala, siehe Kapitel 4). Möglich ist dieser Prozess nur durch die bewusste, allmähliche Schaffung eines bindungsorientierten emotionsfokussierten therapeutischen Bündnisses, das im Sinne von Carl Rogers (2004) authentisch, transparent und akzeptierend ist. Wie die Bindungstheorie nahelegt, bemühen wir uns im Umgang mit unseren Klient:innen stets offen und ansprechbar, emotional responsiv und voll engagiert zu sein (Johnson 2020b, 2021), wie es einer stärkeren, erfahreneren und Sicherheit vermittelnden Bindungsfigur entspricht.
Nach und nach konnte ich Henny verlangsamen und ihr helfen, so weit mit der trennnungsbedingten Trauer und Angst zurechtzukommen, dass sie wieder Boden unter den Füßen bekam und in der Lage war, sich um Dinge wie das Sorgerecht für die Mädchen zu kümmern und sie vor dem Kontakt mit ihrem alkoholisierten oder drogenberauschten Vater zu schützen. Im Fokus stand außerdem die Suche nach Resilienzmomenten als sichere Orte – die ihr Zuflucht gewährten, wenn sie sich einem schmerzhaften Erlebnis öffnete, es dann aber nicht aushielt. In der EFIT ist dies in der Regel ein positiver Moment mit einer früheren sicheren Bindungsfigur, von der sich die Betreffenden angenommen und wertgeschätzt gefühlt haben. Henny fand jedoch zu keinem einzigen Moment dieser Art Zugang, und deshalb suchten wir nach einem anderen, in dem sie sich „stark und kompetent“ gefühlt hatte. Fündig wurden wir beim Turnen, wo sie gut war und gelobt wurde. Ich bat sie, die Augen zu schließen, evozierte ein lebhaftes, konkretes Erlebnis und fasste das dann zusammen.
Therapeutin: Jetzt sind Sie also ungefähr elf Jahre alt, stehen auf dem Schwebebalken, spüren ihn unter Ihren Füßen, stark, selbstsicher. Sie nehmen Anlauf zum Sprung, Ihr Körper dreht sich, Sie spüren Ihre Kraft, landen auf dem Balken, und wieder springen Sie und wirbeln durch die Luft. Sie wissen, wo der Balken ist. Sie wissen, Sie können springen und Ihren Körper biegen und wieder springen und mit erhobenen Armen perfekt landen. Auf dem Gesicht Ihres Trainers sehen Sie ein Lächeln, er strahlt Sie an – Ihr Können, Ihren Mut und Ihre halsbrecherischen Sprünge – die Risiken, die Sie auf sich nehmen. Spüren Sie das jetzt in Ihrem Körper? (Sie nickt energisch.) Gut. Der Sprung, die Drehung, die Landung. Sie wussten, wo der Boden war – was wirklich war. Genauso Ihr Körper, Sie waren in ihm zuhause. Das wäre also ein guter Ort für Sie, wenn Sie Angst haben und unsicher sind. (Sie nickt erneut.) Damals waren Sie ja noch ein Kind – ein Kind, das aus Angst vor dem übergriffigen Vater nicht entspannen und einschlafen konnte. Aber ein Teil von Ihnen war stark und unversehrt. Denn Sie konnten ja fliegen.
Zu diesem Bild werden wir während des gesamten Therapieprozesses immer wieder greifen.
Mit zunehmender emotionaler Präsenz rückte Henny Schlüsselszenen ihrer Kindheit in den Vordergrund, die sie noch immer in Albträumen und Flashbacks heimsuchten. Diese konnten wir, da ihre Geschichte nun zusammenhängender klang, als traumatisch einordnen. War Henny in der Lage, in ihr Affekterleben einzutauchen und dort zu bleiben, konnte ich es mit ihr zusammen systematisch wieder zusammenfügen und vertiefen (Tango-Move 2). Da war zum Beispiel die Erinnerung, wenn sie bei Tisch in „Schlagweite“ ihres Vaters vor lauter Furcht an ihrem Essen würgte und brechen musste. Sie war „nirgends sicher“. Oder das Mal, als sie den Vater dabei überraschte, wie er ihre jüngere Schwester vergewaltigte und in „totale Panik“ ausbrach. Diese Erlebnisse konnte sie nun benennen, aushalten und näher erkunden, was sie dazu befähigte, Kontakt zu den „beängstigenden, erschreckenden, befremdenden“ oder „unannehmbaren“ Emotionen (Bowlby 2018, S. 113) aufzunehmen und sie wirklich zu fühlen, statt „zu erstarren oder zu kämpfen, klarzukommen, immerzu Dinge in Ordnung zu bringen“. All das funktioniere nämlich nicht. Sie wolle „andere retten“ und Dinge in Ordnung bringen, um sich nicht so hilflos, so allein zu fühlen und „jemandem etwas bedeuten, wenigstens einen Moment lang“, doch meistens würde sie verletzt, erstarren und „ausreißen“, entweder an einen anderen Ort oder in eine andere Tätigkeit.
Ich half ihr, lebendigere und konkretere Emotionen in Interaktionen zu verwandeln – Dramen mit Schlüsselfiguren ihres Lebens (EFIT-Tango-Move 3). Diese waren kurz und liefen ungefähr so ab: Sie schloss die Augen und sagte zu Tom: „Ich kann dich nicht in Ordnung bringen. Ich muss es aufgeben, das mit uns.“ Einmal erzählt sie, sie habe geträumt, sie sitze in einer „Falle“: „Ich paddle draußen auf dem Meer herum und versuche die ganze Zeit, Menschen zu retten.“ Ich kam bei einer Gelegenheit darauf zurück und fragte sie, ob sie im Wasser sein und sich manchmal von mir halten lassen könne. Sie weinte und erklärte sich bereit dazu.
Immer bitte ich sie, emotionale Schlüsselszenen zu prozessieren (Tango-Move 4), d. h. in ihrem Körper nachzuspüren und zu schauen, was beim Erschließen ihrer Erinnerungen und deren Zusammenhängen mit ihrem jetzigen Schmerz in ihr hochkommt. Ihre Erfahrung validiere ich ständig und ausdrücklich (Tango-Move 5, der letzte Move).
Am Ende der ersten Phase wirken unsere Klient:innen in der Regel emotional ausgeglichener, was darauf schließen lässt, dass sie ihre Emotionen bewusster wahrnehmen, akzeptieren, reflektieren, in einen sinnvollen Zusammenhang bringen, verstehen und infolgedessen Definitionen von sich selbst, sie seien ungenügend, nichtswürdig oder hilflos, infrage stellen. Da wir Ihnen nun ein sicherer Ort, eine zuverlässige Basis sind, bewegen sie sich mit uns zusammen in einen aktiven Erkundungsmodus hinein, wodurch sich ihr Toleranzfenster weitet.
Henny kommt in die Sitzung und sagt, sie empfinde „Bitterkeit“. Es ist ihr Geburtstag, und als liefe ein Film vor ihr ab, erinnert sie sich an eine Geburtstagsparty, bei der ihr Vater ein anderes Mädchen begrapschte. Dessen Eltern kamen vorbei und beschwerten sich, doch es war „wie immer: NIEMAND HAT ETWAS UNTERNOMMEN!“ Daraufhin sei sie, Henny, von den anderen Kindern geächtet worden.
Henny: Brutal. Ich sehe es vor mir, wie er sie befummelt. Deswegen sage ich Tom, ich gehe zu keiner Feier. Keine Achterbahn mehr. Eine Stunde lang ist er nett zu mir und dann – weg.
Therapeutin: Ja. Da kommt eine bittere Hilflosigkeit auf, wenn Sie an Ihren Vater denken und an Tom.
H: Was für eine Show! Ich weiß noch, Mom hatte Kekse gebacken! Ein paar Brosamen Liebe, die sie hin und wieder vom Tisch fallen ließ. Und Dad – war der mal nett zu einem, dann war sicher etwas faul, es war beinahe gruselig. Er führte etwas im Schilde. Ich weigerte mich, Geschenke von ihm anzunehmen. Und Tom weigert sich einzusehen, dass er süchtig ist. Er sagt, ich wär das Problem und meine PTBS, dass ich anstrengend bin. Dass ich noch nicht mal eine Tür richtig zumachen oder abschließen kann. Immer sei ich auf der Flucht. Auch Dad nannte mich verrückt, wenn ich mich ihm widersetzte.
Th: Ja. Er hat Sie Ihrer Realität beraubt – hat die brutale Realität geleugnet, dass Sie ganz allein und ihm, dem Gewaltmenschen, ausgeliefert waren, dem schreckenerregenden, grenzverletzenden Vater. Und Tom – er hat Sie genauso im Stich gelassen.
H: Ja, und sie, meine Mutter, ging mit mir zum Arzt, weil ich unten rum so wund war und blutete … Aber nichts geschah. Sie fand irgendeine Ausrede. Ich habe immer gesagt, ich würde ausreißen, aber – irgendwie sitze ich immer noch fest. Meine Schwester kann sich angeblich an nichts erinnern, aber die ist schräg drauf, also …
Th: Wie fühlen Sie sich, wenn Sie das sagen, Henny? Sie erzählen mir, dass Sie damit fertigwerden mussten – wie sagten Sie? –, lebenslänglich in der Angst eingesperrt zu sein, ohne sich an jemanden wenden zu können. Niemand kommt und sagt Ihnen, der Schmerz ist echt und ernst. Kein Trost. Also kämpfen Sie heldenhaft immer wieder aufs Neue um Ihr Leben. Ganz allein. (Tango-Move 1– emotionale Prozesse reflektieren, die sich innerhalb der Person sowie zwischen ihr und den anderen abspielen)
H: Ich weiß nicht. Ich habe es doch ganz gut hingekriegt – viele Jobs – Fremdsprachen …
Th: Ja. Und wir haben darüber gesprochen, dass Sie eine Kämpferin sind. Eine erstaunlich starke, energiegeladene Frau. Erinnern Sie sich an unsere Kraftgeschichte? Sie können fliegen – Sie kennen Ihre Stärke – Sie haben das elegant hingekriegt, sind kraftvoll und ohne zu wackeln gelandet. (Resilienzbildevozieren)
H: (mit tränenden Augen) Mein inneres Kind – es ist kaputt. Was habe ich getan, dass ich so schrecklich behandelt wurde? Hab keine Aufmerksamkeit verdient, selbst nicht die von meinem Mann. Letzte Woche hatte ich einen kleinen medizinischen Eingriff und Tom hat noch nicht einmal gefragt, wie es gelaufen ist – wie es mir ging. Das hat mich ganz schön getroffen. (Emotionaler Trigger– eine Einladung an die Therapeutin, zu Tango-Move 2überzugehen: Affekte zusammenfügen und vertiefen)
Th: Ja. Hat niemand von den Leuten, die Ihnen nahestehen, Sie gesehen, Ihren Schmerz und Ihre Angst wahrgenommen, Sie getröstet – Ihnen gezeigt, dass Ihr Schmerz von Bedeutung ist? Das macht kaputt – es ist wirklich entsetzlich – so verletzlich zu sein und so alleingelassen. Ungesehen.
H: Es ist schwierig … (zugrunde liegendes Wahrnehmungselement der Emotion) Und traurig. (Kernemotion)
Th: Ja. Wo spüren Sie das gerade? (Die Körperreaktionist beim Zusammenfügen des Affektsdas entscheidende Element.)
H: In meiner Brust – hier … (schlägt sich auf die Brust) Und ich sage mir – das muss ich in Ordnung bringen. Nichts wie weg hier! (Die EmotionselementeKörper und Bedeutung fügt sie selbst hinzu.) Also gehe ich in die Turnhalle oder arbeite irgendetwas. (die Handlungstendenzals weiteres Emotionselement)
Th:(sie mit ruhiger, langsamer Sprechweise haltend) Stimmt, ich werde es in Ordnung bringen oder weglaufen, aber innerlich machen mich Angst und Traurigkeit kaputt (stellvertretend für die Klientin sprechen). Innerlich bin ich kaputt und allein. (Klientin nickt.) Was habe ich falsch gemacht? Wie kann es sein, dass niemand sich um mich und meinen Schmerz schert? Niemand hat auch nur einen Finger für mich gerührt. Der verletzliche Teil in meinem Inneren kämpft in einem fort, um nicht von dieser Angst und Traurigkeit zerstört zu werden. („Kaputt“ ist ein emotionaler Anker. Auf diese gibt man stets acht und nutzt sie als Erfahrungstüröffner.)
H: (sehr leise und zögernd) Es ist eine Nonstop-Achterbahn – und meine Tochter Vinnie sieht genauso aus wie meine kleine Schwester damals. Sie hat schon ein bisschen Busen. Neulich war sie total wütend auf mich. Tom beschützt sie nicht. Er nimmt sie mit auf Partys. (Sie reißt die Augen weit auf und hält inne, völlig reglos.) Ich habe sie angesehen und war im Nu getriggert. Hab einfach dichtgemacht. Den ganzen Tag. Ausgeklinkt. Wie ein Zombie.
Th: Ja. (Ruhig, langsam) Können Sie jetzt gerade bei mir bleiben, Henny? Spüren Sie Ihre Füße auf dem Boden? (Sie nickt.) Können Sie mich anschauen? Wenn ich in dieser Situation bei Ihnen wäre, würde ich jetzt vorsichtig meine Hand auf Ihren Arm legen. (Die Therapeutin tröstet sie und gibt Containment für ihre Emotion – die Klientin ist wieder bei ihr.) Auf diese Weise haben Sie das Ausreißen gelernt, nicht wahr? Sich ausklinken. Ausreißen. Nur so konnten Sie überleben – die kleine Henny beschützen. Und nun übernimmt Ihr Körper das für Sie. Und Sie machen sich Sorgen um Vinnies Sicherheit? (Sie nickt und weint.) Und Sie haben Ihre kleine Schwester gesehen, wie Sie von Ihrem Vater vergewaltigt wurde, nicht wahr? (Sie nickt.) Und konnten nichts tun – konnten sie nicht beschützen. (Sie weint.) Sie sahen das gleiche, was Ihnen selbst geschehen war. Nun geschah es ihr. Sie waren Zeugin – eine hilflose Zeugin. (Sie schlägt die Hände vors Gesicht und schluchzt. Langes Schweigen.) Das ist unerträglich, nicht wahr? Wie in dem Traum, wo Sie im Meer schwimmen und alle vor dem Ertrinken retten. In diesem Meer aus Angst und Schmerz mussten Sie mitansehen, was ihr angetan wurde – direkt vor Ihren Augen. Kaum auszuhalten. (Dass sie sich an die eigenen Vergewaltigungen nicht erinnert, wie sie immer sagt, ändert sich in Phase 2.)
H: (kaum hörbar) Niemand hat eingegriffen. (Sie umschlingt ihren Oberkörper mit den Armen – hält sich fest.)
Th: Ja. Stimmt. Keine Sicherheit – kein Schutz. Und in der letzten Sitzung sagten Sie, Ihr Ziel sei, sicher zu leben. Ja. Sie konnten weder sich selbst noch Ihre Schwester beschützen. Kaputt und allein versteckten Sie sich nachts hinter dem Vorhang. Keine Sicherheit, nirgends. Und sich dem Schlaf zu überlassen, fällt Ihnen immer noch schwer. Was ist, Henny, sind Sie bei mir? Es ist so schwer.
H: (Sie blickt mich an.) Ja. Ich erstarre gerade ein bisschen – bin angespannt. Ich spüre die Angst.
Th: Wie schrecklich das für Sie gewesen sein muss – ich kann es mir kaum vorstellen, es bricht mir das Herz, was die kleine Henny durchgemacht hat, ganz allein und keine Hilfe in Sicht. Es ist erstaunlich, dass Sie es geschafft haben und die geworden sind, die Sie jetzt sind. Ihr Schmerz ist auch meiner. (Henny weint.) Registrieren Sie das? Fühlen sie, dass ich mit Ihnen fühle? (Move 3 – engagierte Begegnungen– in diesem Fall mit der Therapeutin – choreografieren). Ich sehe Ihren Schrecken und Ihren Schmerz. Kaum auszuhalten!
H: Ja. (Sie lacht.) Was für ein Unterschied. Wie umgeschaltet. Das zu fühlen. Das hilft. (Lange Pause.) Am Muttertag war ich den ganzen Tag total gereizt. Ich konnte sie nicht anrufen. Sie hat doch alles abgestritten.
Th: Ja. Sie hat Sie im Stich gelassen – konnte Ihnen nicht beistehen. Ihretwegen haben Sie so lange an Ihrer Realität gezweifelt – ganz allein mit dieser Angst. Sie durften das Erlebte noch nicht einmal „wissen“. Sie hatten ja keine Worte dafür. Da war nur diffuses Entsetzen, vager Schmerz. Also dann haben Sie – wie Sie sagten – immer an sich „gezweifelt“.
H: (sehr leise.) Sie war DA! Wenn er mit dem Alk ankam, fragte sie ihn: „Was soll das?“ Dabei war ihr klar, dass er uns damit betäuben wollte. Ich dachte, ich wär verrückt – hätte einen Knacks. Sie zuckte nicht mit der Wimper. Ich erinnere mich nicht daran, dass sie mich je getröstet hätte.
Th: Ja. Wissen Sie noch, wie Sie vor ein paar Wochen hier mit geschlossenen Augen mit ihr gesprochen haben? Können Sie das wiederholen? Ihr mitteilen, wie Sie das alles tatsächlich erlebt haben – jetzt haben Sie ja die Worte dafür. (Tango-Move 3– engagierte Begegnungen– in diesem Fall mit einer Bindungsfigur– choreografieren)
H: (schließt die Augen.) Du hast getan, als ob nichts wäre. Uns mit ihm allein gelassen – immer und immer wieder. Ich war nicht verrückt. Du hast tatenlos zugesehen – immer und immer wieder …
Th: Wie fühlen Sie sich jetzt, Henny? Was geht in Ihrem Körper vor? Ist da gerade Wut?
H: Nein – nur ganz, ganz viel Traurigkeit. Dass sie uns das antun konnte. Sich zu verhalten, als wäre nichts. Uns nackt mit ihm allein zu lassen. Sie hatte wohl Angst, aber …
Th: So ausgeliefert. So traurig, im Stockfinstern allein gelassen zu werden. Kein Kind kann dabei stark bleiben – und auch noch andere über Wasser halten. Es war ein verzweifelter Kampf ums reine Überleben, nicht wahr? (Sie nickt.)
H: (schließt wieder die Augen.) GENAU. Und Tom gegenüber habe ich mich genauso benommen wie meine Mutter. Wollte nicht wahrhaben, dass er Alkoholiker und drogenabhängig ist. Aber meinen Kindern konnte ich das nicht antun. Als er sie in betrunkenem Zustand gefahren hat, habe ich ihn angezeigt. (Lange Pause.) Aber am Muttertag werde ich dich nicht anrufen. Ich verzeihe dir nicht. Du warst keine Mutter. (Sie weint.)
Th:(leise) Ich möchte gerne meine Hand auf Ihren Arm legen, Henny. Ich bin da.
H: Du hast ihn gelassen. Kein Schutz. Ich hatte keine Mutter. Ich hatte niemanden.
Th: Ja. Das ist unerträglich. Das ist niemandem zumutbar. Sie mussten sich abschotten. Sie waren noch klein, so verletzlich, jeden Tag dem Schrecken ausgesetzt, ganz allein. (Solch eine tiefe Trauer, so viel Hilflosigkeit und Einsamkeit. Da ich spürte, dass Henny sich über die Grenzen ihres Toleranzfensters hinausbewegte, ging ich zu Tango-Move 5über: Validieren und Integrieren.) Aber Sie haben es durchgestanden. Sie sind jetzt hier. Sie sind eine tolle Frau. Sie haben so viel durchgemacht und sich alldem mutig gestellt. Schauen Sie, was Sie heute hier bei mir gemacht haben! Sie waren offen und ehrlich, haben sich klar ausgedrückt. Das „Bild“, von dem Sie sagten, Sie könnten es nicht zeichnen, nicht ansehen – nun sind Sie direkt darauf zugegangen und haben es sich angeguckt. (Die Erinnerung an das Bild von der Kirche: Es war am Tag, als der Gottesdienst ausfiel und sie früher nach Hause kam, wo der Vater gerade ihre Schwester vergewaltigte und die Mutter dazu schwieg.)
H: (lächelt) Ich habe es durchgestanden. Sie haben es erfasst. Als Kind habe ich mich immer nackt gefühlt, außer in meinem Trikot – das war ja wie ein Panzerhemd.
Th: Ja. Dort waren Sie nicht „eingesperrt“, Sie haben gelernt, durch die Luft zu fliegen und zu landen – auf Ihren Füßen, kraftvoll. Und in der Turnhalle tun Sie das noch immer. Sie zeigen anderen Kindern, wie man fliegt. Ist das nicht toll? (Sie lächelt.) Und hier fliegen Sie auch ein bisschen und landen – ein wenig wacklig, aber dann fangen Sie sich. (Sie lacht.) Kann die Henny, die fliegen lernte – ihr Gleichgewicht auf dem Schwebebalken fand – kraftvoll landete – die Henny, die genau hier und jetzt mit mir spricht, dem kaputten kleinen Mädchen etwas Trost schenken, was meinen Sie? Können Sie die Augen schließen und sehen, wie sie sich hinter dem Vorhang versteckt, Angst vor dem Schlafengehen hat? Sehen Sie ihr Gesicht? (Lange Pause) Was würde die große Henny, die weiß, dass sie fliegen und kraftvoll landen kann, in diesem Moment zu der kleinen Henny sagen? (Tango-Move 3mit dem verletzlichen Teil des Selbst.)
H: (schließt die Augen, klingt sehr sanft.) Du bist so klein. Du wirst einen Weg finden, wie du dich sicher fühlen kannst. Du bist stark. Du bestehst nicht nur aus Angst und Schmerz. Du kannst fliegen. (Sie weint.)
Th: Ja. Kann sie Sie hören? (Henny nickt.) Was geschieht dann?
H: Sie lässt los. Sie schläft.
Th: Ja, Henny – das ist schön.
Nach der Besprechung des Enactments bleiben die Themen bis zum Ende der Sitzung gleich, nur Hennys Beziehung zu Tom tritt in den Hintergrund. An diesem Beispiel erkennen Sie, wie Bindungstheorie in der Praxis funktioniert: an dem Fokus auf Einsamkeit, deren Einfluss auf die traumatische Erfahrung sowie an der Responsivität der Therapeutin als Ersatzbindungsfigur. Außerdem finden Sie darin Mikro-Interventionen nach Rogers (die genauen empathischen Reflexionen und die evokativen Fragen) und systemisch / relationale Interventionen (gestaltete Enactments). Um diese geht es im Detail in Kapitel 5.
In der zweiten Phase haben Klient:innen in uns Therapeut:innen eine sichere Basis, von der aus sie schwierige Erfahrungen vertiefen können – die entscheidenden Momente, in denen sich Arbeitsmodelle des Selbst und anderer herausgebildet haben. Sie tauchen in neue und noch schemenhafte emotionale Realitäten ein, bekommen Zugang zu einschneidenden Erlebnissen von Traurigkeit, Scham und entsetzlicher Angst und können diese aktiv verarbeiten. Die Therapie wird existenzieller, der Prozess intensiver. Das sich abzeichnende kohärente Selbstverständnis ermöglicht neue Reaktionen auf die eigene Person und auf andere. Wir gestalten korrigierende emotionale Erfahrungen und beschäftigen uns mit zentralen wunden Punkten, die wir auf andere Weise auflösen. Sobald diese Phase vervollständigt ist, können wir zu Phase 3 „Konsolidierung“ fortschreiten.
In dieser Sitzung (deren Transkript an einigen Stellen gekürzt wurde) bekommt Henny zum ersten Mal Zugang zu der einzigen Kindheitserinnerung von ihrer eigenen Vergewaltigung, nachdem sie sich zuvor nur daran erinnerte, mitangesehen zu haben, wie ihre Schwester vergewaltigt wurde. Es ist eine intensive Sitzung, wo die Kernemotionen einer traumatischen Erfahrung evoziert, destilliert und prozessiert werden. Achten Sie darauf, wann die Therapeutin mit der Klientin mitgeht, wann sie sie bei nachlassendem Engagement in schwierigen Emotionen hält und wann sie ihr mithilfe ihrer persönlichen Präsenz und mit dem therapeutischen Bündnis eine sichere Basis schafft.
Therapeutin: Wenn Sie mir so von Ihrem Ausflug neulich erzählen, wie Sie allein in der Wildnis unterwegs waren, kommt mir – wie übrigens bei all unseren Gesprächen – das Gefühl, was für eine wahnsinnig mutige, abenteuerlustige Frau Sie sind. In der letzten Sitzung sagten Sie: „Ich will mein Leben neu entwerfen“ und Sie tun es geradezu heldenhaft! (Sie nickt und lächelt.) Was gab es denn noch für Schreckensmomente? Sie wollten doch Ihr Albtraumtagebuch durchschauen … Wie ist es gelaufen? Wie steht es mit den Flashbacks und Albträumen?
Henny: Eigentlich ganz gut, ich meine, irgendwie … Auf meinem Ausflug dachte ich, ich könnte mal an dem Ort anhalten, wo ich aufgewachsen bin, bei meiner Schwester vorbeischauen und so … Und habe mich dann aber dagegen entschieden. (Ihr kommen die Tränen.)
Th:(sanft) Was geht gerade in Ihnen vor, Henny, helfen Sie mir auf die Sprünge? Was ist los? Können Sie darüber sprechen? Können Sie dranbleiben? Ich bin ja da. Ich bin hier bei Ihnen. Was passiert? Genau jetzt?
H: Manchmal wünsche ich mir wohl … eine Familie, zu der ich zurück könnte … Ich fühle mich einsam, schäme mich.
Th: Okay, helfen Sie mir … Was gerade in Ihnen vorgeht, hat mit Scham und Einsamkeit zu tun? Sie waren in der Nähe Ihres Elternhauses – vielleicht war das der Auslöser für das Gefühl: „Da ist niemand, zu dem ich eine Verbindung habe. Ich fühle mich hier eigentlich niemandem verbunden. An diesem Ort ist niemand für mich da“?
H: Ja. Ich bin in meinem Leben in einem neuen Kapitel angelangt und weiß noch nicht mal, was Zuhause ist. Und dann kamen Erinnerungen hoch an die andere Stadt, wo jeder meinen Mann und unsere Familie kannte.
Th: Also hat dieser Ausflug Sie mit all dem, was Sie verloren haben, in Berührung gebracht? Er war plötzlich da, nicht wahr, der Verlust Ihres alten Lebens? Was Sie in Ihrer Kindheit verloren haben und jetzt in Ihrer eigenen Familie. Verstehe ich das richtig?
H: In der Stadt damals mit Tom, das war gut für uns, wir waren eine intakte Familie, gut vernetzt. Tom war da auch viel präsenter. Im Nachhinein ist das beinahe traurig. Jedenfalls dachte ich: „Ach, ich sollte mehr Kontakte knüpfen“, weil Tom mir immer vorhält, ich sei streng und abweisend, aber ich wollte nicht nur auf Partys rumhängen und saufen. Ich wollte was unternehmen. Im Grunde sollte ich vielleicht lernen, wirklich gern allein zu sein.
Th: Klingt, als hätte dieser Ausflug Erinnerungen daran geweckt, dass Sie Tom verloren haben, dass es auch eine Zeit gab, als er präsent war, für Sie da sein konnte. An den Verlust der stabilen Situation, als Sie sich nicht aufmachen und sich neu erfinden mussten, stimmt’s? Viel Traurigkeit.
H: Naja … Ich weiß nicht, es war wohl irgendwie … und deswegen habe ich angefangen zu hinterfragen, was da wirklich gewesen ist. Weil ich doch glaubte, es war gut, aber vor Kurzen habe ich herausgefunden, dass Tom schon damals mit dem Spielen angefangen hat, aber ich hatte ja keine Ahnung!
Th: Ja. Helfen Sie mir … Sie sagen sich also: „Habe ich mir das alles nur eingebildet?“ Ist es das?
H: (lange Pause) Das ist ein bisschen wie in meiner Kindheit. Als würden sogar die guten Erinnerungen von richtig schrecklichen Dingen überschattet. Ein richtig schrecklicher Verrat. Also ist es besser für mich, wenn ich allein bin – dann muss ich nicht … (klingt jetzt distanzierter) Ich komme ganz gut allein zurecht. Ich habe eine tolle Kanufahrt gemacht und … und … (Sie sieht wieder traurig aus.)
Th:(sanft) Ja. Das ist jetzt eine ganze Menge auf einmal – können wir ein wenig langsamer machen? (Statt ihrem Ausstieg aus der schwierigen Emotion zu folgen, refokussiere ich sie.) Ein Teil von Ihnen sagt: „Ich habe das alles hinter mir gelassen, allein bin ich besser dran.“ Aber ein anderer Teil in Ihnen sagt: „Ich wollte doch Kontakt. Ich wollte doch Nähe und da ist diese Erinnerung an Tom, wie ich dachte, er sei mir nahe, aber – aber was da los war, habe ich nicht kapiert.“ Und sogar die guten Zeiten in Ihrer Kindheit waren von all diesen schrecklichen Albträumen, diesem Verrat überschattet … All diese schrecklichen Bilder, nicht wahr? Was geht in Ihrem Körper vor, wenn Sie darüber sprechen? (Th. folgt dem emotionalen Prozess der Klientin und reflektiert ihn.)
H: Ganz steif und verkrampft, wie zugeschnürt, irgendwie spanne ich sämtliche Muskeln an …
Th: Okay, klar. Also so wie: „Das ist alles so beängstigend, alles so schwierig, ich muss alles in mir festhalten, darf nichts rauslassen.“ Trifft es das? Oder spannt sich Ihr Körper vor Angst? (Th. spricht stellvertretend für die Klientin und spezifiziert deren Erfahrung.)
H: Es ist eher, als bekäme ich gleich Schläge und würde in die Abwehrstellung gehen, mich mit aller Kraft dagegen wappnen …
Th:(leise und langsam) Aha … Das tut weh, das tut weh, das tut weh … Weil Sie gleich Schläge bekommen, gehen Sie in Abwehrstellung? Und worin besteht der Schlag? Dass Sie sich nach Verbundenheit zu Ihrem Vater und Ihrer Mutter gesehnt haben und stattdessen verletzt wurden, ganz furchtbar verletzt – und verraten. Und ein Schlag ist auch Ihre Erinnerung an die gute Zeit mit Tom und an seinen Verrat. Dass er sich nicht Ihnen zugewandt hat, sondern dem Spiel, dem Alkohol und den Drogen, nicht wahr? Das ist also ein Schlag. Ihre Eltern haben Sie im Stich gelassen, Sie verraten. Genau wie Tom. Sie haben wirklich gedacht, es bestünde Hoffnung auf Verbundenheit. Und dann ging alles schief. Verstehe ich das richtig?
H: (Pause) Obwohl vieles gut war an unserer Beziehung, habe ich mich immer unsicher gefühlt und mich geängstigt. Jahrelang dachte ich, das war die PTBS. Ich hielt es für mein Problem, meine Unfähigkeit zu vertrauen, aber … Da war keine Ehrlichkeit, keine Sicherheit … Es war nicht meine Schuld. (Sie weint.)
Th:(sanft) Ja, „Es war nicht meine Schuld.“ Genau. Henny, Sie haben gesagt, Sie würden sich schämen, sich einsam fühlen und sich schämen, und jetzt sagen Sie, dass es wehtut. Das kann ich nachfühlen – die Hoffnungsschimmer, die Sie nach Ihrer schrecklichen Kindheit hatten, ich kann nachfühlen, wie Ihnen zumute ist, wenn Sie sich einsam fühlen und denken: „Es muss an mir liegen, es ist meine Schuld, weil ich nicht vertrauen kann.“ Und dann festzustellen: „Es lag nicht an mir. Es lag daran, dass mein Mann mit Drogen, Glücksspiel und Alkohol fremdging, es verheimlichte und leugnete. Es lag nicht an mir.“ All die Jahre war da der Hoffnungsschimmer, aber Sie fühlten sich im Stich gelassen, allein gelassen. Und dabei lag es gar nicht an Ihnen, sondern an der Situation. Das tut weh, oder?
H: Und egal, was ich gesagt habe, er hat es abgestritten, ich würde mich irren, mir das nur einbilden, wäre eifersüchtig oder so. Das ist doch total verrückt. (Lange Pause)
Th: Ja, und genau dasselbe erleben kleine Kinder, wenn in der Familie schreckliche Dinge passieren. (Normalisieren, validieren) Kleine Kinder verstehen das nicht, wie denn auch? Also sagen sie: „Dann liegt es an mir. Wenn mir so etwas passiert, bin ich sicher ein böses kleines Mädchen.“ Weil ihnen niemand erklärt: „Nein, du bist in Gefahr. Es tut weh, klar, du bist ja auch verletzt. Es ist nicht deine Schuld.“ Niemand sagt das.
H: Mein Vater sagte immer: „Niemand wird dir glauben“ und: „Du kannst schreien und heulen, wie du willst – es hört dich eh niemand.“ Das hat er mir immer eingeschärft. (Weint) Dass meine Stimme nicht … dass die Wände vom Schlafzimmer schalldicht waren!
Th: Er sagte: „Du hast keine Stimme, du kannst gar nichts tun. Selbst wenn du schreist, wird dich niemand hören“ und wenn Sie Tom sagen wollten, wie einsam Sie sich fühlten, wie verletzt, dann sagte er: „Ich höre dich nicht. Mit dir stimmt was nicht.“ Er hat Sie abblitzen lassen – Ihnen das Gefühl vermittelt, verrückt zu sein. Und Ihr Vater sagte: „Niemand wird dir glauben. Keiner schert sich drum“, stimmt’s? Und Ihre Mutter hat das irgendwie noch bestätigt, hat getan, als wäre nichts. Ja? Also da waren Sie doch wirklich ganz allein, nicht wahr? (Pause) Das ist eine ganz bestimmte Art von Einsamkeit, nicht wahr? Und die haben Sie auf Ihrem Ausflug berührt. Wenn das nicht Tränen wert ist? Da ist Weinen wirklich angebracht (Henny wirkt jetzt wie weggetreten.) Befinden Sie sich immer noch in Abwehrhaltung? Lassen Sie los, weinen Sie ruhig. Ich bin ja da … Ich bin da. (Äußerst sanft) Das ist auch wirklich Tränen wert, so allein und so ausgeliefert zu sein … Was geschieht gerade mit Ihnen? In Ihrem Körper?
H: Ich dachte gerade, wie ich glaubte, dass ich allein glücklicher wäre. (Sie weint.)
Th: Natürlich. Sie und Ihr Körper, das sind die Momente, in denen Sie Kraft haben, nicht wahr? Im Wald sind Sie sicherer, oder? Als Kind waren Sie auf dem Schwebebalken sicherer. Wenn Sie im Kanu durch die Wildnis paddeln, fühlen Sie sich sicherer, weil Sie sich auf Ihren Körper verlassen können, nicht wahr? Ich höre Sie. Ein Teil von Ihnen sagt: „Allein bin ich sicherer.“ Aber das ist schwierig, weil ein anderer Teil von Ihnen nicht allein sein will und Alleinsein weh tut. Sie wollten ja mit Tom zusammen sein. Sicher. Geborgen. Was Sie als kleines Mädchen brauchten, war Schutz und Liebe und Sicherheit, aber Sie bekamen einen Albtraum. Und da sagten die Menschen, die Sie am nötigsten hatten: „Niemand wird dich sehen oder sich um deinen Schmerz scheren.“ Das ist eine katastrophale Botschaft … Da kann man nur noch weinen, oder? Kommt Ihnen das richtig vor?
H: Ja, schon. Jetzt sagt Tom: „Finde dich damit ab.“ Zum Totlachen, wirklich. (Sie kichert und beide lachen.) Er sagte: „Ach komm, du hast keine Ahnung, was das ist, Liebe oder Zuneigung.“ Dabei habe ich ihm Sachen verziehen, die andere unverzeihlich finden, habe durchgehalten. Schon komisch. Meine Liebe wurde nie erwidert.
Th: Er konnte nicht auf Sie eingehen, nicht wahr? Er hat sich immer ins Glücksspiel, in den Alkohol oder in die Drogen geflüchtet. Sie im Stich gelassen. Und Sie waren immer wieder verletzt, und irgendjemand sagte, du bist selbst schuld und niemand schert sich. Und genau das ist auch in Ihrer Familie passiert … Ihr Vater sagte: „Niemand wird dich hören. Es ist egal, wenn es dir wehtut.“ Und auf dem Ausflug fühlten Sie sich ganz schrecklich, ganz furchtbar verlassen. Weil diese Männer, die Sie geliebt haben, Sie ans Messer geliefert haben. Also sagten Sie sich: „Allein hier draußen bin ich sicherer.“ Und beide haben Ihnen Ihre Wirklichkeit genommen, sie geleugnet – dass Ihr Schmerz ernst ist. Da darf man ruhig weinen, Henny, das ist es wert. (Henny kommt wieder zu sich und holt tief Luft – ist emotional präsenter.) Sie atmen jetzt. Sie kommen ein wenig aus ihrer Abwehrstellung heraus. Vermute ich hier richtig? (Henny nickt.) Sie mussten so hart darum kämpfen, dass Ihr Schmerz ernst und berechtigt ist. Sie waren in der Lage zu sagen: „Mein Schmerz ist echt, ich will, dass er ernstgenommen wird. Und du lässt mich im Stich, du tust mir weh, misshandelst mich.“ Sie haben sich so schwer damit getan, mir zu erzählen, wie Ihr Vater hinter Ihnen her war und Sie sich nicht zu helfen wussten, haben mit der Tatsache gerungen, dass Sie Tom geliebt haben, er aber ein Junkie war. Sie konnten niemandem erzählen, dass Ihr Schmerz ernstzunehmend war. (Henny tut einen tiefen Seufzer.)
H: Mir kommt – einfach – immer wieder diese Erinnerung – wie ich das erste Mal diese Ausweglosigkeit erlebt habe – abgrundtief war das, als ich total dichtgemacht habe, erstarrt bin, als die Zeit irgendwie stehenblieb. (Lange Pause) Sie kam mir beim Meditieren …
Th: Was war das für eine Erinnerung? Können Sie bei ihr bleiben?
H: (ganz leise, stockend) Irgendwie – meine einzige klare Erinnerung daran, wie ich selbst sexuell misshandelt werde. Weil ich mich ja meistens nur an Dinge erinnere, die anderen passiert sind, die ich mitangesehen habe. (Lange Pause) Bei dieser Erinnerung bin ich in einem Badezimmer, ich werde misshandelt und sehe das im Spiegel … Und als die Erinnerung wieder da war, konnte ich es irgendwie nicht mehr verdrängen, hatte es direkt vor mir, eine visuelle Erinnerung, wie ich sehe, was da passiert. (Fängt an zu schluchzen.) Mein Vater hat mich vergewaltigt. Mich vor dem Badezimmer zu Boden geschleudert. Und mich dann angebrüllt: „Freust du dich nicht, dass du heute mit mir zur Arbeit gehen durftest?“ Dann äffte er mich nach und jammerte: „Ich will mit dir mit zu deiner Arbeit.“ Ich erinnere mich, wie ich gegen die Wand gedrückt lag, wie ein Fötus zusammengerollt und dann – Blackout. Ich war gerade sexuell misshandelt worden, ich war da sechs oder sieben Jahre alt. Er lachte mich aus. Ich war komplett weggetreten, ohnmächtig. Irgendwie muss ich ja von dort nach Hause gekommen sein, aber ich weiß es nicht mehr, kann mich an nichts erinnern. Nur an den nächsten Tag, dass es geblutet hat und so … Ich war völlig am Ende.
Th:(versucht, sie mit ihrer Stimme zu streicheln und spricht ganz sachte und langsam. Sie hält die Klientin und ordnet ihre schreckliche Erfahrung.) Ja … Das nämlich ist Ihnen passiert: Sie wurden misshandelt und vergewaltigt. Körperlich und seelisch verletzt. Und dann auch noch verspottet. Als wären Sie selbst schuld daran, weil Sie doch bei ihm sein wollten. Sie wurden verspottet, als wären Sie nichts. Als wären Sie völlig unwichtig. Und Sie waren noch so klein und konnten sich nur zusammenkrampfen. Wie vorhin, als wir über diese Erstarrmomente sprachen, die Blackouts, wenn Sie sich ausklinken. Weil es unerträglich ist … (lange Pause) Können Sie das kleine Mädchen sehen? Jetzt? Haben Sie sie vor Augen? In dem Moment, bevor sie ohnmächtig wird, können Sie sie da sehen? Sie ist sieben – noch so klein. Sie ist mit ihrem Vater mitgegangen, erhofft sich etwas Schönes, einen Moment der Verbundenheit. Und stattdessen – Schmerz, Blut, Angst. Er ist groß, sie kann überhaupt nichts tun, ist ihm ausgeliefert. Und als sie Schmerzen hat und blutet, lacht er und teilt ihr mit: „Ich kann das alles machen, du dagegen gar nichts. Dein Schmerz ist mir piepegal.“ Können Sie sie sehen? Ihr Gesicht? (Sie nickt.) Ja? (sehr sanft) Henny, mir tut es schon beim Zuhören weh. Wie es dann für Sie gewesen muss, das kann ich mir kaum vorstellen. Es tut mir schon beim bloßen Zuhören weh. Kein kleines Mädchen sollte das fühlen – niemals. Sehen Sie ihr Gesicht? (Sie schüttelt den Kopf.) Sehen Sie sie auf dem Boden zusammengekauert? (Sie nickt.) Sind Sie noch bei ihr? Ich möchte, dass Sie bei mir bleiben … Sind Sie noch da? Sehen Sie sie dort auf dem Boden?
H: (ruhig, distanziert) Es ist einfach sicherer allein, wissen Sie?
Th: Ja, ich weiß, ich höre Sie … Allein zu sein ist für Sie in vielerlei Hinsicht sicherer. Aber jetzt gerade sind Sie hier bei mir, spüren Sie das? Jetzt gerade bin ich bei Ihnen. Hören Sie meine Stimme? (Sie nickt.) Wenn ich damals bei Ihnen gewesen wäre, hätte ich meine Hände auf Ihre Arme gelegt … Sie hätten meine Berührung gespürt. Gespürt, wie ich Sie berühre … Ich bin ja bei Ihnen … Sie haben recht, für Sie war es allein sicherer. Sie waren schutzlos, er konnte Sie behandeln, als wären Sie nichts. Aber! Die Kleine hat trotzdem überlebt, auf ihre Weise. Sie ist innerlich weggetreten, ist erstarrt, fortgegangen, aber jetzt sind wir bei ihr. Jetzt haben Sie überlebt und sind bei ihr, und ich bin bei Ihnen. Sehen Sie sie auf dem Boden? Fest zusammengerollt. Gleich wird sie ohnmächtig, weil es sonst unerträglich ist. Sie sind bei ihr, die erwachsene Henny. Die, die überlebt, gekämpft hat, die darum gekämpft hat, dass man ihr glaubt, ihrem Schmerz, die ihr ganzes Leben lang gekämpft hat. Der es nichts ausmacht, einfach so in die Wildnis loszuziehen. Die zu mir gefunden hat und jetzt darüber sprechen kann. Wenn Sie bei ihr wären, bei dem kleinen Mädchen, das da ganz allein ist, als wäre ihr Schmerz nichts, als wäre sie nichts. Wenn Sie bei ihr wären, wie sie da ganz zusammengerollt auf dem Boden liegt, was würden Sie tun?
H: (heftig weinend) Sie fest in den Arm nehmen.
Th: GENAU. Können Sie die Augen schließen und das sehen? Schließen Sie die Augen? (Sie tut es.) Nehmen Sie sie in den Arm und halten Sie sie fest umschlungen. Fühlen Sie es? Sie können sie halten … Ich möchte, dass Sie es spüren. Ich möchte, dass Sie spüren, wie Sie sie an sich drücken, an Ihre Brust, wie Sie das mit denjenigen machen, die Ihnen viel bedeuten, Ihnen am Herzen liegen. Die sehr klein sind, sehr verletzt. Nehmen Sie die Kleine in den Arm und halten Sie sie fest. Drücken Sie sie an sich. Spürt sie Sie, wie Sie sie festhalten?
H: Ich weiß nicht.
Th: Sie spüren sie, Sie halten sie fest. Kann sie das zulassen? Kann sie es spüren, nur ein bisschen, dass Sie sie festhalten? Sie halten sie jetzt fest. Was geschieht jetzt? Sie lächeln – was ist da jetzt los?
H: Ich würde ihr gerne ein Kuscheltier geben. Meine beiden Katzen haben sich gerade ganz dicht neben mir niedergelassen. (Lacht.)
Th: