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Die Europäische Union steht innerhalb des internationalen Systems seit geraumer Zeit im Fokus der Diskussion um innovative politische Ordnungs- bzw. Herrschaftsmodelle. Dabei nimmt zunehmend die Idee einer neuen imperialen Ordnung im Rahmen der EU Gestalt an. Sie steht im Widerspruch zu etablierten Ordnungskonzepten, die die EU auf dem Weg zum Staatenbund oder europäischen Einheitsstaat sehen. Philipp Hofmann widmet sich vier zentralen Beiträgen der "neuen Imperiumstheorien" aus der Governance-Perspektive. Dazu macht er die Qualität der EU als Imperium nicht vornehmlich in einer nach außen gerichteten Zwangsordnung fest, sondern an ihrer nach innen gerichteten Herrschaftsordnung. Nach Verortung jener Steuerungs- und Regelungs-Mechanismen, in denen sich imperiale Herrschaft widerspiegelt, identifiziert der Autor Anknüpfungspunkte von der imperialen Governance zur Multi-Level Governance der EU. Als Fallbeispiele zur Sprache kommen dabei die neuen EU-Entscheidungsregeln nach dem Lissabonvertrag sowie die Formung und Umsetzung der letzten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion.
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Seitenzahl: 189
Philipp Hofmann
Empire Europe? Die EU im Licht neuer Imperiumstheorien
Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag. Politikwissenschaften, Bd. 34
© Tectum Verlag Marburg, 2010
ISSN 1861-7840
ISBN 978-3-8288-5641-7
Bildnachweis Cover: © Schmuttel / pixelio.de
(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter der ISBN 978-3-8288-2423-2 im Tectum Verlag erschienen.)
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Wandel in der internationalen Ordnung
1.2 Die Entwicklung der Europäischen Union nach dem Ost-West-Konflikt
1.3 Exkurs: Die Renaissance des Imperiums als politische Ordnung
1.4 Die neuen Imperiumstheorien und die EU
1.5 Methodische Anmerkungen – Governance als Analyseperspektive
2. Die neuen Imperiumstheorien
2.1 Das „postmoderne“ Imperium von Robert Cooper
2.1.1 Zerfall der Weltordnung
2.1.2 Sicherheitspolitische Konsequenzen – Das „postmoderne“ EU-Imperium
2.2 Das „postimperiale“ Imperium von Herfried Münkler
2.2.1 Imperien als politische Ordnungskategorie
2.2.2 Imperien im postimperialen Zeitalter und die imperiale Herausforderung Europas
2.3 Das „neomittelalterliche“ Imperium von Jan Zielonka
2.3.1 Genese des „neomittelalterlichen“ Imperiums
2.4 Das „kosmopolitische“ Imperium von Edgar Grande und Ulrich Beck
2.4.1 Die kosmopolitische Öffnung des nationalen Blickwinkels für Europa
2.4.2 Die EU als „kosmopolitisches“ Imperium
3. Differenz und Einheit in den neuen Imperiumstheorien
3.1 Das Imperium – Ein negativer Definitionsversuch
3.1.1. Staat
3.1.2. Imperialismus
3.1.3. Hegemonie
3.2 Governance-Entwürfe in den neuen Imperiumstheorien
3.2.1 Imperiale Grenzraumkonzepte
3.2.2 Die politische und ökonomische Leistungsfähigkeit imperialer Ordnungen
3.2.3 Imperiale Interventionen
3.2.4 Imperiale Expansion des EU-Imperiums
3.3. Imperiale Legitimationsargumente
3.3.1. Legitimation zwischen Partizipation und Effizienz
3.3.2. Mechanismen der imperialen Legitimation
3.4 Normative Implikationen der neuen Imperiumstheorien
3.4.1 Imperiale Räson unter dem Primat der Politik
3.4.2 Multi-Level-Governance unter dem Primat demokratisch legitimen Rechts
3.5 Die Genese einer neuen Imperiumstheorie?
4. Empire EU? – Ist die EU eine imperiale Herrschaftsordnung?
4.1 Politische Entscheidungen in der EU-Hierarchie
4.1.1 EU-Recht und -Entscheidungsfindung – Verfahren und Institutionen
4.1.2 Weichenstellungen im Reformvertrag von Lissabon
4.1.3 Mehrheitsentscheidungen im Rat nach Lissabon – fair und gerecht?
4.2 Die Vollendung der WWU als Beispiel eines imperialen Projekts
4.2.1 Politökonomische Rolle der Geldpolitik
4.2.2 Die Genese des Euro
4.2.3 Politische Praxis der Währungsunion
4.2.4 Die WWU als imperiales Projekt – Implikationen auf nationale Politiken und Sozioökonomie
5. Schlussbetrachtung
6. Literaturverzeichnis
7. Anhang – Tabellen, Schaubilder und Abkürzungen
1. Einleitung
1.1 Wandel in der internationalen Ordnung
Das Ende des Ost-West-Konflikts markierte eine tiefe Zäsur des internationalen politischen Systems. Die Revolutionen in Europa vom Herbst 1989, die ökonomische Kapitulation des real existierenden Sozialismus und der Zusammenbruch des Ostblocks waren Kulminationspunkte des einsetzenden Wandlungsprozesses. Spätestens mit der Auflösung des Warschauer Paktes und der Sowjetunion gewann die Frage nach der neuen internationalen Weltordnung dramatisch an Aktualität. Eine Antwort gab der amerikanische Politologe Francis Fukuyama in seinem Buch „Das Ende der Geschichte“. Er stellt darin fest, dass sich der liberale, demokratische Nationalstaat als überlegenes politisches Ordnungsmodell durchgesetzt habe bzw. in der Welt durchsetzen werde. Aus dieser Perspektive ist das Ende des Ost-West-Konflikts als Ende des Kampfes von Ideologien zu betrachten, aus dem sich der Liberalismus aufgrund seiner geringen inneren Widersprüche und seiner überlegenen wirtschaftlichen Performanz als Sieger hervorgetan hat.
Der liberale, demokratische Staat ist für Fukuyama somit nicht nur eine Episode in der politischen Geschichte, sondern zugleich der Endpunkt eines evolutionären Prozesses, eine endgültige Regierungsform (vgl. Fukuyama 1992: 11ff.). Diese Argumentation kann gleichzeitig auch als ein Abgesang auf das politische Ordnungsmodell der Sowjetunion gedeutet werden. Die politische Organisation als großräumiges, autoritär geführtes Imperium mit einer zentral geplanten Ökonomie steht hier als Auslaufmodell der Geschichte da. Die Periode imperial geordneter Räume schien somit beendet zu sein. Im Jahr 1995 konstatiert Eric Hobsbawm: „Das imperiale Zeitalter war zu Ende (…) Dieses Zeitalter ist unwiederbringlich Vergangenheit“ (Hobsbawm 1995: 281). Auch in der Folgezeit wurde in politikwissenschaftlichen Arbeiten der Rückgriff auf das Modell des Imperiums als politische Ordnung verzichtet, um die mit der Zäsur einhergehende Dynamik im internationalen System theoretisch zu fassen. Der Fokus der Forschung wurde zunehmend auf die Deskription und Analyse der neuen, schnell wachsenden, transnationalen Interaktionsbeziehungen gelegt, welche unter dem Stichwort Globalisierung firmieren. Diese neuen Netzwerke des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Austausches stellten das Konzept des souveränen Nationalstaates zunehmend in Frage. So postuliert Elmar Altvater eine „neue Geoökononmie“, welche die Nationalstaaten als „Spieler“ in der Tradition der realistischen Schule der internationalen Beziehungen zunehmend überflüssig macht (vgl. Altvater 1995: 192ff.). Ulrich Beck hingegen sieht in der Globalisierung den Anfang einer neuen „großen Erzählung“ des Transnationalen, welche die Welt in eine „unvertraute, entterritorialisierte sozialräumliche Ordnung“ katapultiert habe, aber trotzdem „Regierungsmöglichkeiten jenseits des Nationalstaates“ biete (vgl. Beck 1998: 10-11). Der Staat verliert seine gestaltende und ordnende Kraft, die transnationalen Verflechtungen in internationalen Regimen, Institutionen und Konzernen erfahren eine politische Aufwertung. Aus der Weltordnung des bipolaren Systemkonflikts wurde die Weltunordnung der Globalisierung.
1.2 Die Entwicklung der Europäischen Union nach dem Ost-West-Konflikt
In der realen Politik war Europa besonders stark von der Dynamik des Umbruchs im internationalen System betroffen. Der Wegfall des „Eisernen Vorhangs“ konfrontierte den vorher geteilten Kontinent mit der Aufgabe, eine politische Ordnung zu schaffen, die den bisher stabilen Zustand der Blockkonfrontation abzulösen vermochte. In der Europäischen Gemeinschaft setzte die Frage der deutschen Wiedervereinigung diese Aufgabe auf die Agenda. Um neue Hegemonialbestrebungen Deutschlands auszuschließen, wurde eine Vertiefung der Integration auf politischer, wirtschaftlicher und institutioneller Ebene zur Bedingung der deutschen Einigung gemacht. Parallel stellte sich die Herausforderung, die neuen Staaten Osteuropas möglichst schnell in eine neue europäische Ordnung einzufügen bzw. an die westliche EG heranzuführen. Zu diesem Zweck wurden zahlreich Formen von Hilfs-, Kooperations- und Transformationsabkommen zwischen Ost und West ins Leben gerufen. Auch für diese Aufgabe war die Weiterentwicklung der Integrationsbemühungen in der EG unabdingbar. In der folgenden Zeit prägten die neuen Herausforderungen und Reformbemühungen die Politik in Europa. Der qualitative Sprung der Integrationsdynamik wird in den schnell aufeinanderfolgenden Vertragsrevisionen von Maastricht (1992), Amsterdam (1997), Nizza (2000) sowie Lissabon (2009) deutlich. Der Wandel des internationalen Systems wirkte hierbei als Katalysator für viele, bereits zuvor angedachte, europäische Integrationsprojekte. Diese Projekte zielten erstens auf eine Vertiefung der Integration, zweitens auf eine Ausweitung der europäischen Kompetenzen bzw. der europäischen Zusammenarbeit und drittens auf die Erweiterung der europäischen Ordnung auf Osteuropa. Das Prinzip, die Beziehungen der europäischen Staaten durch eine zunehmende Wirtschaftsverflechtung zu integrieren, wurde mit der Zusammenarbeit auf Feldern genuiner politischer Souveränität des Nationalstaats erweitert. Die Europäische Gemeinschaft wandelte sich zudem in der Benennung zur Europäischen Union. Mit der Norderweiterung (1995), der Osterweiterung (2004) sowie dem Beitritt von Rumänien und Bulgarien (2007) hat sich die Anzahl der EU-Länder von 12 auf 27 Mitglieder mehr als verdoppelt (vgl. Brunn 2005: 254ff.).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass 20 Jahre nach der tiefen Zäsur in Europa und der Welt die politische Ordnung in Europa maßgeblich durch die EU geprägt worden ist. Doch die Widersprüchlichkeit des Ordnungsmodells EU ist hoch. Einerseits fördert die EU die Transformation Osteuropas zu liberalen, demokratischen Staaten, andererseits entzieht sie ihnen gleich wieder die neu gewonnene Souveränität und Mitbestimmungsrechte des Bürgers. Sie treibt den Prozess der Globalisierung durch Abbau von Grenzen voran und schafft es gleichzeitig, die Kompetenzen und Reichweite ihrer Politik zu steigern. Sie erscheint einerseits als Befehlsempfänger nationaler Regierungen oder umgekehrt als eigentlicher Träger der politischen Souveränität in Europa. Es ist wenig verwunderlich, dass die politikwissenschaftliche Debatte bisher weder einen Konsens über den Charakter der Ordnung, welche die EU begründet, noch über die Einordnung der EU in das internationale System erzielt hat. Verschiedene Theorien, Konzeptionen und Denkmodelle versuchen in stetiger Konkurrenz einen analytischen Zugang zum Gebilde EU zu ermöglichen (vgl. bspw. Grimmel/ Jakobeit 2009).
1.3 Exkurs: Die Renaissance des Imperiums als politische Ordnung
Eine vollkommen neue Perspektive, die sich der klassischen Integrations- und Ordnungsdebatte entzieht und mit einem eigenen Ordnungsmodell für die Welt und Europa aufwartet, bietet das Buch „Empire“ von Michael Hardt und Antonio Negri, welches im Jahr 2000 erschien. Die beiden Autoren beschreiben die globalisierte Welt in ihrer gesellschaftlichen und politischen Totalität als globales Empire, welches eine neue globale Souveränität begründe: Staaten haben darin ihre zentrale politische Rolle eingebüßt. Weltmärkte lösen die Kategorien Innen und Außen auf. Souveränität kann somit nicht mehr nach einem Territorium und dessen Verhältnis zur Außenwelt bestimmt werden. Die neue Souveränität konstituiert sich stattdessen über eine gemeinsame globale Herrschaftslogik. Es existiert also kein zentrales Trägersubjekt der Souveränität mehr, sondern viele in ihrer Herrschaft geeinte nationale sowie supranationale Organisationen und Institutionen. Die begründete Herrschaft kennt keine Schranken. Grenzen hören auf zu existieren. Die Organisation des Empire ist dezentral und deterritorialisiert. „Es residiert in einem weltweiten Kontext, der es fortwährend zu neuem Leben erweckt“ (Hardt/Negri 2002: 193). Kernbestand der Herrschaft im Empire ist einerseits die Konstituierung eines supranational legitimen Rechts und andererseits die „biopolitische Produktion“ einer Kontrollgesellschaft.
Das supranationale Rechtsparadigma des Empire verallgemeinert und verbindet Normen und Moral zu universellen Werten, welche die bisherigen Rechtsordnungen überlagern und ersetzen. Die globale Rechtseinheit ermöglicht den imperialen Frieden, denn ohne ein „Außen“, ohne einen anderen Rechtssouverän gibt es keinen Feind, der zu bekämpfen wäre. Krieg und Gewaltaktionen sind herabgestuft auf Polizeiaktionen. Im Konfliktfall ist die gewaltsame Intervention des Empire von mindestens einer Konfliktpartei erbeten. Das Empire formt sich also „nicht auf der Grundlage von Gewalt, sondern auf der Fähigkeit, den Einsatz von Gewalt als im Dienst des Rechts und des Friedens stehend darzustellen“ (Hardt/Negri 2002: 31). Als Beispiel für die Entstehung und Durchsetzung des supranationalen Rechts im Empire werden die Vereinten Nationen und die von ihr beschlossenen Militäreinsätze in den 1990er Jahren angeführt. Auf der Ebene des Individuums manifestiert sich die Herrschaft des Empire in Form von „Biomacht“, welche Hardt und Negri von Foucault entlehnen. Hierbei wird auf die Internalisierung und Normalisierung von kapitalistischen Logiken bzw. kapitalistischer Disziplinierung in die gesellschaftliche Praxis hingewiesen. Die Herrschaft verlagert sich direkt in das Subjekt und in alle Vorgänge des gesellschaftlichen Lebens. Transnationale Konzerne schaffen die notwendige Struktur und Verflechtung für den „globalen biopolitischen Apparat“ des Empire (vgl. ebenda 2002: 45-54).
Auf der Makroebene wandelt sich die Rolle des Staates und seiner Regierungen dramatisch. Die politische Souveränität des Staates ist gebrochen. Es wird zwar eingeräumt, dass z.B. die USA im Empire eine herausgehobene Stellung einnehmen, weil sie erstens mit ihren Verfassungsgrundsätzen die Vorlage des neuen imperialen Rechts und zweitens die militärischen Kapazitäten zur Durchsetzung derselben liefern. Trotzdem sind die USA nur Agent der imperialen Herrschaft, nicht Motor oder Zentrum (vgl. ebenda 2002: 192-194). Regierungen verlieren durch die imperiale Überlagerung ihre angestammten Möglichkeiten zur Herrschaftsausübung und politischen Gestaltung. Konnten sie vorher als „kohärentes soziales Dispositiv“ Konflikte in der Gesellschaft integrieren, ist diese Möglichkeit nun durch die Grenzenlosigkeit verloren. Regierungshandeln wirkt nun als „Dispositiv zur Streuung und Differenzierung“, um Konflikte zu kontrollieren (vgl. Hardt/Negri 2002: 348-50).
Fasst man die Herrschaftsordnung, die das „Empire“ postuliert, zusammen, erkennt man eine Art Superstruktur, welche die Herrschaft und Organisation über die menschliche Gesellschaft bestimmt. Die scheinbare Unordnung der Globalisierung weicht in Hardt und Negris Werk der „unsichtbaren und indirekten“ Hierarchie des Empire. Normatives Ziel der beiden Autoren ist ein Aufruf zum Kampf gegen die neue Souveränität des Empire. Dieser Kampf soll aus dem Inneren des Empire von der Multitude, „der vielgestaltigen Menge produktiver, kreativer Subjektivitäten in der Globalisierung“ geführt werden (ebenda 2002: 73).
Nach der Veröffentlichung von „Empire“ wurde das Buch weltweit rezipiert und diskutiert. Kritik wurde an der analytisch ungenauen und teilweise widersprüchlichen Konstruktion des Empire laut, insbesondere dass das Empire nicht in Form hegemonialer Mächte oder Akteure zu verorten sei (vgl. bspw. Buckel/Wissel 2001: 1-3). Diese analytische Unschärfe ist der normativen Stoßrichtung des Werkes geschuldet. Empire ist die Konstruktion des Gegners für die Multitude und nähert sich dem Gegenstand Weltordnung konsequent aus diesem Blickwinkel. Deswegen lässt sich „Empire“ schwer als analytisches Konzept in der vorliegenden Analyse nutzbar machen. Trotzdem nehmen Hardt und Negri eine wichtige Scharnierfunktion für die politische Theorie ein. Sie interpretieren das Chaos der Globalisierung neu und stellen eine neue Verbindung her zu dem bereits abgeschriebenen Modell einer imperialen Ordnung im internationalen System.
1.4 Die neuen Imperiumstheorien und die EU
Viele Autoren griffen diese theoretische Modellierung der Weltordnung als Imperium auf. Besonders die USA rückten nach den Ereignissen in New York vom 11.09.2001 und den folgenden Militärinterventionen in Afghanistan und im Irak ins Zentrum der Diskussion über Imperien (vgl. bspw. Speck/Sznaider 2003 oder Panitch 2004). Aber auch die Europäische Union wurde immer öfter theoretisch als regionales Imperium gefasst und analysiert, obwohl diese Perspektive stark von den bisherigen Ansätzen der Integrationsdebatte abweicht. Anhänger dieses neuen theoretischen Zugangs zur EU finden sich nicht nur in der (Politik-)Wissenschaft. Auch zentrale Akteure der EU, wie der EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso, bescheinigen der EU „Dimensionen eines Imperiums“ (vgl. Die Welt 2007). Aus diesem Grund scheint es geboten, die Anwendbarkeit der neuen Imperiumstheorien auf die EU hinsichtlich der institutionellen und politischen Prämissen zu beleuchten.
Die vorliegende Analyse hat das Ziel zu prüfen, ob das Imperium ein angemessener Deskriptions- und Analyserahmen für die Politik der EU ist. Zuerst sollen hierzu vier zentrale Konzeptionen knapp vorgestellt werden, welche die EU als Imperium modellieren bzw. ihr Anleihen an eine imperiale Ordnung empfehlen. Danach sollen in einem zweiten Schritt die Herrschafts- und Handlungslogiken im Imperium herausgearbeitet und zu klassischen Staatskonzeptionen abgegrenzt werden. Im Fokus dieser Betrachtung steht die Frage der politischen Handlungskoordination und deren systemischer Verschachtelung im Imperium. Zu diesem Zweck wird die Perspektive der Governance-Forschung auf die Imperiumstheorien eingenommen. Ein zweiter Schwerpunkt soll die Legitimation des neuen Herrschaftsmodells und normative Implikationen für die europäische Ordnung thematisieren. Im Zwischenfazit wird dann geprüft, ob die vier Theorieansätze auf gemeinsame Kerninhalte zu reduzieren sind und ein arbeitsfähiges theoretisches Konzept über imperiales Regieren zu „destillieren“ ist. Im dritten Schritt wird dieses Konzept, oder falls keine gemeinsame Theorieposition zu gewinnen ist, eine „neue Imperiumstheorie“ aufgegriffen und mit dem politischen System der EU sowie der politischen Praxis in einem ausgewählten Politikfeld verglichen. Im Fokus sollen dabei die Entwicklung des zentralen europäischen Politikbereichs, der Wirtschafts- und Währungsunion sowie der zukünftige Entscheidungsmodus im Rat der EU stehen. Das abschließende Fazit wird die Ergebnisse der Untersuchung zusammenfassen und bewerten.
1.5 Methodische Anmerkungen – Governance als Analyseperspektive
Der Governance-Begriff findet in vielen wissenschaftlichen Disziplinen, teilweise mit verschiedenen Bedeutungsinhalten, Verwendung. Eine einheitliche Definition ist somit schwer möglich. Als gemeinsamer Kerninhalt von Governance können aber die Zurückdrängung staatlicher Hierarchie als Steuerungsmuster und die neue Relevanz privater und substaatlicher Akteure auf die politische Ordnung ausgemacht werden (vgl. Kjaer 2004: 1-6). In der Politikwissenschaft verweist Governance auf „Formen und Mechanismen der Koordinierung zwischen mehr oder weniger autonomen Akteuren, deren Handlungen interdependent sind (Benz 2007: 9). Die Governance-Perspektive ermöglicht somit eine Erweiterung des politischen Steuerungsbegriffs auf politische Prozesse, die außerhalb hierarchischer Strukturen im Kernbereich des Staates ablaufen. Eine mögliche analytische Unterscheidung der Steuerungs- und Koordinationsmodi ist die Unterteilung in prozessorientierte und strukturorientierte Komponenten von Governance. Verschiedene Akteure interagieren wechselseitig in einem ständigen Koordinationsprozess mit dem Ziel, sich gegenseitig zu beeinflussen bzw. Verhaltensänderungen der anderen Akteure herbeizuführen. Diese Prozesse verlaufen allerdings nicht unabhängig voneinander, sondern sind eingebettet in ein System von Regelungsstrukturen. Diese Strukturen institutionalisieren Arenen für die Koordinationsprozesse, sie reglementieren die zur Verfügung stehenden Optionen und sanktionieren oder alimentieren bestimmte Akteure. Es besteht somit ein komplementäres Verhältnis der Struktur- und Prozesskomponente. Die Struktur begünstigt bestimmte Interaktionsmuster, allerdings ohne sie zu determinieren. Es ist zudem möglich, dass die verschiedenen Akteure ihre Handlungen auf die Regelungsstrukturen selbst richten, um diese zu verändern (vgl. Börzel 2006: 2ff.). Die Governance-Forschung identifiziert verschiedene Mechanismen und Formen der Koordination, welche in Regelungsstrukturen institutionalisiert sind oder sich im Prozess ausbilden. Ausgehend von der Transaktionskostenökonomie von O. E. Williamson wurde in frühen Arbeiten zwischen hierarchischer Koordination, z.B. in Bürokratien und dezentraler Koordination, z.B. im Markt, unterschieden. Die politikwissenschaftliche Erweiterung erfolgte mit analytischen Arbeiten über weitere soziale und politische Ordnungen sowie Interaktionsformen. Die vorliegende Arbeit greift auf Williamsons Unterscheidung zurück sowie auf eine Typologie von Governance-Mechanismen und -Formen, welche dem „Handbuch Governance“ von Arthur Benz u.a. entnommen ist (vgl. Benz 2007: 29-157). Diese Typologie unterscheidet neun verschiedene Formen und Mechanismen, nämlich Markt, Hierarchie, Politischer Wettbewerb, Gemeinschaft, Verhandlung, Netzwerk, Pfadabhängigkeit, Policy-Transfer und -Diffusion sowie Transformation. In Tabelle 1 (siehe Anhang) werden die zentralen Merkmale dieser Kategorien dargestellt. Die Typologie bietet eine kleinteilige Unterteilung verschiedener Mechanismen, die zur Beschreibung komplexer politischer Systeme geeignet erscheint. Aus der kategorialen Darstellung wird jedenfalls ersichtlich, dass alle aufgeführten Mechanismen idealtypisch dargestellt sind. In der Realität sind sie selten in Reinform zu identifizieren. Der Großteil der Governance-Formen ist mit weiteren Mechanismen vermischt, verschachtelt oder in sie eingebettet. Diese Kombinationen, Überlappungen oder auch Konkurrenzen verschiedener Interaktionsmodi bilden im Staat und darüber hinaus ein Netzwerk aus vertikalen und horizontalen Verflechtungen bzw. politischen Interaktionsbeziehungen (vgl. Mayntz 2007: 68ff.). Entscheidende Entwicklungen sowie Erweiterungen in der Governance-Forschung entstanden in der Beschäftigung mit dem politischen System der EU. In der Auseinandersetzung entstand das Konzept der Multi-Level-Governance oder des Regierens im Mehrebenensystem.
Für die EU wird hier auf der Strukturebene eine starke vertikale und horizontale Segmentierung politischer Kompetenzen im Mehrebenensystem festgestellt. Die politische Autorität wird zwischen mindestens zwei Akteuren in unterschiedlichen institutionellen Arrangements geteilt. Durch die Verflechtungsbeziehungen ist die Aufteilung von Befugnissen nach dem Subsidiaritätsprinzip, in Abgrenzung zum Föderalismus, stark eingeschränkt. Auf der Akteursebene gibt es kein strenges Verhältnis der Unterordnung zu den unteren Ebenen, die mit ausgeprägten Teilhabe- und Mitbestimmungsrechten ausgestattet sind. Im Gegensatz zum Intergouvernementalismus ergibt sich somit eine Interdependenz im Netzwerk, die aufgrund des Abstimmungs- und Kooperationsbedarfs zur Verhandlung zwischen den Ebenen zwingt. Nicht nur staatliche Akteure unterschiedlicher Länder agieren in diesem System, sondern auch gesellschaftliche, ökonomische sowie die supranationalen EU-Institutionen. Entscheidungen, insbesondere solche über die Allokation von Befugnissen, werden als Nullsummenspiel modelliert. Es können also klare Gewinner und Verlierer zwischen Staaten, privaten Akteuren und der supranationalen Ebene ausgemacht werden. Zusammengefasst bedeutet Multi-Level-Governance das nicht-hierarchische Regieren im Netzwerk unter Einbindung einer Vielzahl von Akteuren (vgl. Knodt/ Große Hüttmann 2005: 223-233).
Im Rahmen dieser Analyse dient die Governance-Perspektive als Hilfsmittel zum Vergleich der Imperiumstheorien untereinander und mit der EU. Dieses Vorgehen scheint aus mehreren Gründen geboten. Erstens entwickeln die vier betrachteten Theorien eigens definierte Begriffe und Semantiken. Der fruchtbare Vergleich erfordert deshalb den Transfer in eine gemeinsame „Begriffswelt“. Zweitens liegt der Fokus der Governance-Forschung auf den Strukturen und Prozessen zur politischen Handlungskoordination sowie dem Wandel der Akteurskonstellation in diesen Strukturen, welche im Rahmen dieser Analyse verglichen werden sollen. Drittens liegt für die EU mit dem „Multi-Level-Governance“-Ansatz bereits ein detailliertes Modell aus dieser Perspektive vor und muss nicht zusätzlich entwickelt werden. Der angestrebte Vergleich erfolgt in zwei Schritten. Die Governance-Strukturen, welche imperiale Herrschaft charakterisieren, sollen zuerst identifiziert und dargestellt werden. In einem zweiten Schritt wird dann die Kompatibilität der Governance im Imperium zur Multi-Level-Governance in der EU überprüft.
2. Die neuen Imperiumstheorien
In viele wissenschaftliche Arbeiten hat der Begriff „Imperium“, „Empire“ oder „liberaler Imperialismus“ in Verbindung mit der EU bereits Eingang gefunden. Es wird hier nicht angestrebt, sie in ihrer Breite und Vielfalt vollständig darzustellen. Vielmehr sollen vier häufig zitierte Ansätze vorgestellt werden, die jeweils einen eigenen kohärenten Imperiumsbegriff entwerfen. Das politische System der EU bzw. die politische Herrschaft in Europa wird jeweils als eigenes theoretisches Konstrukt in der Form eines neuartigen Imperiums modelliert oder zumindest eine stärkere Orientierung hin zu einer imperialen Herrschaftsordnung für die Zukunft empfohlen. Der Fokus der Betrachtung liegt zunächst bei der jeweiligen Ableitung des Imperiums aus einer spezifischen Fragestellung und der Deskription modellrelevanter Begriffe. Die konstituierte Herrschaftsordnung und abgeleitete Handlungslogiken oder Governance-Modi werden danach komparativ in Gliederungspunkt 3 diskutiert. Es soll aufgezeigt werden, dass alle vier Konzeptionen teils zu sehr ähnlichen und teils zu gegenteiligen Ergebnissen über die europäische Ordnung und zugehörigen politischen Herausforderungen kommen. Vereint sind alle Ansätze über die gemeinsame Begriffsverwendung „Imperium“.
2.1 Das „postmoderne“ Imperium von Robert Cooper
Der Diplomat Robert Cooper galt als einer der wichtigsten Berater des britischen Premiers Tony Blair in außen- und sicherheitspolitischen Fragen. Im Jahr 2002 wechselte er vom Foreign Office als Generaldirektor für auswärtige und politisch-militärische Angelegenheiten in das Generalsekretariat des Rats der Europäischen Union. In seiner Monografie „The Breaking of Nations“ und weiteren Artikeln diskutiert er Perspektiven der Sicherheitspolitik sowie der Weltordnung im 21. Jahrhundert aus europäischer Perspektive. Er ist einer der ersten Vertreter der EU, der ein neues Konzept imperialer Politik für die EU in den Diskurs eingebracht und vertreten hat. Am Anfang dieser Überlegungen steht auch bei Cooper die Zäsur des internationalen Systems 1989/90. Mit dem Ende der Dominanz der zwei Supermächte zerfällt die internationale Ordnung nach seiner Theorie in drei verschiedene Ordnungsprinzipien, die er als vor-modern, modern und post-modern bezeichnet (vgl. Cooper 2003: 15ff.). Seine zentrale Fragestellung zielt auf die politische Herstellung von (physischer) Sicherheit, welche das zentrale Unterscheidungsmerkmal der drei Ordnungen ist.
2.1.1 Zerfall der Weltordnung
Die vor-moderne Welt umfasst Territorien ohne oder mit nur schwacher staatlicher Souveränität, in denen kein hegemonialer Akteur die staatlichen Funktionen wahrnimmt. Es existiert kein legitimes Gewaltmonopol. Private Akteure üben mittels Gewalt oder Gewaltandrohung die politische Herrschaft aus, sie konkurrieren mit staatlichen Reststrukturen und übernehmen die sonst originären Staatsaufgaben. Aufgrund dieses Mangels an Staatlichkeit geht von der Vormoderne eine permanente Bedrohung in ihre Umgebung aus. Drogenhandel, organisierte Kriminalität und Terrorismus finden hier ihre Ausgangsbasis. Coopers Konzept der Vormoderne orientiert sich somit implizit stark am politikwissenschaftlichen Konzept der gescheiterten Staatlichkeit. Einen anhand empirischer Kriterien erstellten Überblick, welche Länder der Vormoderne angehören, kann z.B. der Failed-States-Index geben (vgl. The Fund for Peace 2009).
Das zweite Ordnungsprinzip der Moderne ist definiert über souveräne Nationalstaaten mit legitimem Gewaltmonopol. Es entspricht der Sicht der realistischen Schule in den internationalen Beziehungen. Die staatliche Politik ist in innere und äußere Angelegenheiten getrennt, zwischen den Staaten herrscht ein striktes Nichteinmischungsprinzip in innere Angelegenheiten. Militärische und ökonomische Stärke sind staatliche Kernziele, um Sicherheit herzustellen. Macht, Staatsräson und Interessenverfolgung bestimmen die internationale Ordnung. Im internationalen System herrscht Anarchie, weil es keinen höheren Souverän als den Staat gibt. Aus diesem Grund ordnen sich die Staaten nach ihrer Stärke und bilden ein System der Machtbalance. Hierin sieht Cooper das zentrale Problem der Moderne. Das staatliche Streben nach Stärke destabilisiert die Machtbalance auf internationaler Ebene. Selbst friedfertige Staaten müssen auf die Gefahr der wachsenden Überlegenheit eines mächtigen Staates reagieren. Im Ergebnis ist das internationale System in der Moderne sehr fragil. Zahlreiche zwischenstaatliche Auseinandersetzungen zur Verschiebung oder Wiederherstellung der Machtbalance verursachen den Konfliktreichtum der Moderne. Als Beleg führt Cooper die zahlreichen Auseinandersetzungen im europäischen Staatensystem zwischen dem Westfälischen Frieden 1648 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 an (vgl. Cooper 2003: 21-26.). In der heutigen Welt nehmen die USA, als mit Abstand größte Militärmacht, eine fragile hegemoniale Stellung für die nicht atomar gerüstete Staatenwelt ein. Sie teilt die Werte der Post-Moderne und nimmt deshalb eine sicherheitspolitische Wächterfunktion für die post-moderne Staatenwelt ein (vgl. Cooper 2003: 45).