Empire of Sins and Souls 1 - Das verratene Herz - Beril Kehribar - E-Book

Empire of Sins and Souls 1 - Das verratene Herz E-Book

Beril Kehribar

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wenn dein Tod erst der Anfang ist und im Vorhof zur Hölle die Liebe lauert »Das verratene Herz« ist der Auftakt der Pageturner-Trilogie »Empire of Sins and Souls« von Bestseller-Autorin Beril Kehribar: Dark Romantasy mit einem morally gray cast und einer Heldin, für die der Tod nicht das Ende ist. Zoé Durand ist eine Sünderin. Eine Lügnerin, eine Prostituierte und eine berüchtigte Diebin. Nach einer schicksalhaften Nacht muss sie sich einen weiteren Titel auf ihre Liste schreiben: Mörderin. Kein Wunder, dass sie sich nach ihrer Hinrichtung in Xanthia wiederfindet, der letzten Station vor den Toren der Hölle. Plötzlich sieht Zoé sich hungrigen Xathyr ausgesetzt, die nach den Sünden in ihrem Blut gieren. Da kommt es gerade recht, dass der attraktive Xathyr-Graf Alexei ihr einen Pakt anbietet: Sie soll drei Relikte für ihn stehlen – im Gegenzug für ihre Freiheit. Doch gerade, als Zoé denkt, sie hätte Xanthias gefährlichste Dämonen schon kennengelernt, taucht der dunkle Prinz Kaspar auf – Alexeis größter Feind und jener Xathyr, vor dem der ganze Hof in Angst lebt. Zoé ist von Kaspars Schatten gleichermaßen abgestoßen und fasziniert. Noch ahnt sie nicht, dass sie weder Kas noch Alexei vertrauen sollte … Diese Tropes sind enthalten (Auswahl): - strangers to lovers - emotional scars - Touch her and die / Touch her and I kill you! - Who did this to you? Spicy Fantasy mit Gothic-Touch für eine erwachsene Zielgruppe Beril Kehribar ist die Bestseller-Autorin der düsteren New-Adult-Dilogie »Schattenthron«. Mit »Empire of Sins and Souls« hat sie eine Fantasy-Liebesroman-Trilogie voller Intrigen, Geheimnisse, blutrünstiger Dämonen und sexy Höllenfürsten geschrieben. Die Dark-Romantasy-Geschichte geht weiter in »Empire of Sins and Souls 2: Das gestohlene Herz« und wird abgeschlossen in »Empire of Sins and Souls 3: Das zerrissene Herz«. »Düster, sinnlich, herzzerreißend. Ich konnte das Buch gar nicht aus der Hand legen.« – Carina Schnell  »Dieses Buch lebt von düsterer Romantik und einem tragisch-schönen Erzählton vor seiner bitterbösen Kulisse. Ich bin hoffnungslos verliebt!« – Juli Dorne Diese Trilogie beinhaltet Themen, die bei manchen Menschen ungewollte Reaktionen auslösen können. Bitte achtet daher auf die Liste mit sensiblen Inhalten, die wir im Buch zur Verfügung stellen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 501

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Beril Kehribar

Empire of Sins and Souls 1

Das verratene Herz

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Zoé Durand ist eine Sünderin. Eine Lügnerin, eine Prostituierte und eine berüchtigte Diebin, die sich nach einer schicksalhaften Nacht einen weiteren Titel auf ihre Liste schreiben muss: Mörderin. Doch Zoés Leben endet jäh, als sie für ihre Sünden verurteilt und hingerichtet wird. Ihr Kopf rollt, und ihre Seele landet in Xanthia, der letzten Station vor den Toren der Hölle. Ihr letzter Ausweg ist Alexei, der attraktive Graf der Unterwelt – und blutsaugender Xathyr. Wenn Zoé für ihn drei mächtige Relikte stiehlt, verspricht er, sie zurück in die Welt der Lebenden zu senden.

Doch Zoé ist nicht die Meisterdiebin, für die Alexei sie hält. Ein Diebstahl misslingt, und sie läuft ausgerechnet seinem größten Feind, dem dunklen Prinzen Kaspar, in die Arme. Und obwohl dieser von allen gefürchtet wird, fühlt Zoé sich von seiner Dunkelheit unwiderstehlich angezogen. Noch ahnt sie nicht, dass sie weder Kas noch Alexei vertrauen sollte …

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Vorwort

Playlist

Prolog

Zuvor

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Heute

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Danksagung

Glossar

Content Notes

Für alle, denen Leid angetan wurde

Ihr seid nicht allein.

Ihr seid nicht schuld.

Ihr seid stärker, als ihr glaubt.

Es wird uns nicht zerstören.

 

Für Emine Kehribar

Es tut mir leid, dass ich dich nicht heilen konnte,

obwohl ich es dir versprochen hatte.

Jetzt muss ich heilen.

Vorwort

 

Vielen Dank, dass du dich dazu entschieden hast, Empire of Sins and Souls zu lesen. Dies ist der erste Band einer Trilogie, die mir sehr am Herzen liegt, nicht zuletzt wegen eines Traumas, das die Protagonistin Zoé und ich teilen.

Deshalb ist es mir wichtig, zu betonen, dass jeder Mensch anders mit einem Trauma umgeht, selbst wenn sich das Erlebte in einigen Situationen vielleicht ähneln mag. Unser Umgang mit Traumata ist genauso individuell wie unser Fingerabdruck, unser Charakter, unser Aussehen, unsere Lebensweise. Und doch wissen wir alle, wie sich Schmerz für uns anfühlt.

Bei den einen schließt sich die Wunde schneller, bei den anderen brauchen Körper und Geist mehr Zeit, um sich zu erholen. Die einen schieben Erinnerungen so lange von sich wie nur möglich, während andere sie (mit Hilfe) aufarbeiten. Manche können nach einem traumatischen Erlebnis nie wieder zurück in ihr Davor, für andere gibt es kein Danach mehr.

 

Zoé ist eine starke junge Frau, die Zeit braucht, um zu erkennen, wie stark sie wirklich ist – und um zu begreifen, dass man selbst nie Schuld daran trägt, wenn einem Dinge angetan werden, die man so nicht wollte. Bitte gebt ihr die Zeit, in ihrem eigenen Tempo zu lernen und zu heilen. Sie erzählt hier ihre eigene, ganz persönliche Geschichte.

 

Hinweis: Dies ist ein Buch, das sich an eine erwachsene Zielgruppe richtet. Euch werden im Verlauf Tod, Blut, Gewalt, Mord und andere möglicherweise triggernde Themen begegnen. Eine genaue Auflistung jener Themen findet ihr auf Seite 395, jedoch enthält sie potenzielle Spoiler für die Geschichte. Bitte passt gut auf euch und eure mentale Gesundheit auf.

Und ja, auch angenehmere (und damit meine ich heiße) Erwachsenen-Szenen kommen vor, vor allem im Verlauf der weiteren Bände. Die Liebesgeschichte entfaltet sich noch … Das hier ist erst der Anfang. Versprochen!

 

Jetzt wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen und hoffe, ihr liebt diese düstere, dramatisch-romantische Geschichte genauso sehr wie ich.

 

Eure Beril

Playlist

 

How Villains Are Made – Madalen Duke

I See Red – Everybody Loves an Outlaw

Farther Away – Evanescence

Last Resort – Reimagined – Falling in Reverse

DOWNFALL – Neoni

Middle Of The Night – Elley Duhé

THE DEATH OF PEACE OF MIND – Bad Omens

The Mirror – Halocene, Violet Orlandi

Enough, Enough Now – Bad Omens

Tourniquet – Evanescence

all the good girls go to hell – Billie Eilish

Origin – Besomorph, Neoni

Devil Devil – MILCK

THE LONELIEST – Måneskin

Love In The Dark – Adele

The End – Bullet For My Valentine

The Phantom Of The Opera – Nightwish

Saviour II – Black Veil Brides

The Unforgiven – Metallica

I’m yours – Isabel LaRosa

Vermillion, Pt. 2 – Slipknot

Scarlett Cross – Black Veil Brides

Like A Villain – Bad Omens

Enemy – Tommee Profitt, Beacon Light, Sam Tinnesz

Prolog

 

Das Letzte, an das ich mich erinnerte, war das Geräusch des herabsausenden Fallbeils, das sirrend die Stille zerschnitt, ehe es auf meinen Nacken traf, und dann – Dunkelheit.

Grauen erfüllte mich, noch bevor ich die Augen öffnete. Weitere Erinnerungen prasselten unaufhörlich auf mich nieder, erschlugen mich mit brutaler Unbarmherzigkeit. Meine Verurteilung, die Tage im Verlies, der Gang aufs Schafott … Die Angst, die sich mit jedem Atemzug tiefer in meinen Bauch grub, war zu greifbar, um nur ein Albtraum zu sein.

War das wirklich passiert? Und doch war ich hier.

Aber … wo war hier? Meine Brust wurde eng, und mein Herz pochte wild und schmerzhaft, als fürchtete es die Antwort.

Dennoch nahm ich all meinen Mut zusammen – zumindest das, was davon übrig war – und schlug die Lider auf.

Rot.

Es war überall und sickerte in jeden Winkel meines Bewusstseins. Ich blinzelte einige Male, und meine Sicht wurde klarer, der Rotton tiefer. Ich sah hinauf zum kreisrunden Mond, der direkt über mir am Nachthimmel prangte, und erkannte, dass er es war, der die Welt in sein unheimliches blutfarbenes Licht tauchte.

Mein Puls trommelte unter meiner Haut, und ich atmete heftiger, versuchte verzweifelt, mich zu orientieren. Ich lag auf dem Boden, um mich herum riesige Bäume. Ihre nackten Äste schimmerten in dem unnatürlichen Mondlicht. Etwas Feuchtes tropfte honigdick an ihnen hinab.

Ich ließ meinen Blick wandern, konnte nicht begreifen, was geschehen war. In der Ferne verfingen sich finstere Wolken in spitzen Dächern, die unheilvoll in den Himmel hinaufragten. Der Anblick verursachte mir eine Gänsehaut.

Vorsichtig stemmte ich mich hoch, stützte mich auf meine Ellenbogen, bevor ich mich aufsetzen konnte.

Ein Kribbeln lenkte meine Aufmerksamkeit zurück auf das, was man mir angetan hatte, löste eine weitere Welle von Panik aus, die sich langsam von meinem Magen zu meiner Brust und hoch in meine Kehle ausbreitete. Instinktiv fuhr ich mit den Fingern über die prickelnde Stelle in meinem Nacken, direkt unter meinem Haaransatz. Doch da war nichts. Nur die blasse Erinnerung an einen längst vergangenen Schmerz.

Außerdem war dieser Ort eindeutig nicht der Marktplatz von Rivière, auf dem ich mich bis gerade eben noch befunden hatte. Der Ort meines Todes.

Ein verzweifelter Schrei baute sich in mir auf, blieb jedoch in meiner Kehle stecken. Lediglich ein rauer, abgehackter Laut drang über meine Lippen. Meine Hand schoss zu meinem ausgedörrten Hals, ich hatte das Gefühl, tagelang nichts mehr getrunken zu haben, und in dem Moment erschien er mir.

Der Mann mit der schwarzen Maske. Ich spürte seinen brutalen Griff um meinen Oberarm, die Hitze seiner Finger versengte meine Haut, steckte mich in Brand.

Doch der Henker war nicht wirklich hier. Und auch nicht die Schaulustigen, die meiner Hinrichtung mit großen, leuchtenden Augen zugesehen hatten, als wäre es ein fröhliches Spektakel.

Endlich bekommt es, was es verdient, le fantôme d’Aubervilliers.

Das Phantom. Wie wenig sie doch wussten. Als hätte ich irgendetwas davon getan, weil es mir Freude bereitet hatte. Genau wie sie alle hatte auch ich einfach nur versucht, zu überleben.

Meine Methoden waren nicht ehrenhaft, das wusste ich, aber sie waren mein letzter Ausweg gewesen. Die einzige Chance, die ich je bekommen hatte.

Pécheresse. Pécheresse. Pécheresse.

Scham kochte in meinen Adern, verglühte zu Wut. Dass sie selbst alle Sünder waren, daran dachten sie nicht. Ich sah ihre Gesichter noch vor mir, und vor allem eines würde ich nie vergessen. Seinetwegen war ich hingerichtet worden. Aber ich war doch nicht … tot? Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Denn dann konnte dieser Ort hier nur eins bedeuten …

Ich zwang mich zur Ruhe, und obwohl ich meinen Beinen nicht traute, wagte ich den Versuch aufzustehen. Es dauerte einen Moment, bis ich mein Gleichgewicht fand, und als ich an mir hinabsah, erkannte ich das Kleid, das ich trug. Man hatte es mir nach dem Auspeitschen in meine Zelle geworfen – es war einfach gewoben und von einem schmutzigen Beige, passend zu dem Abschaum, für den sie mich gehalten hatten.

Reiß dich zusammen.

Ich verschloss all die Bilder und Erinnerungen tief in mir, sperrte sie weg, bevor sie mich unter sich begraben konnten. So, wie ich es schon immer getan hatte, wenn ich ein Gefühl nicht länger aushielt. Weil ich funktionieren musste.

Mit einer zaghaften Entschlossenheit hob ich den Kopf, drehte mich einmal um meine eigene Achse, bis ich das Gesamtbild erfasste, das sich einem düsteren Gemälde gleich um mich herum erstreckte. Stück für Stück setzte sich die Erkenntnis in meinem Kopf zusammen, drohte mir den Boden unter den Füßen ein weiteres Mal zu entreißen. Meine Haut pulsierte vom Rauschen des Blutes, das mir inzwischen laut in den Ohren dröhnte, die grausame Melodie meines Untergangs.

Sünderin. Sünderin. Sünderin.

Konnte es wirklich sein? In jenem Moment löste sich ein menschenhoher Schatten von einem der Dächer, und für einige Sekunden hielt ich den Atem an. Schwarz hob sich seine Silhouette vor dem düsterroten Himmel ab, ehe sich riesige Schwingen zu seinen Seiten ausbreiteten.

Das ist nicht echt. Ich bin krank. Ich werde wie meine Mutter. Ich …

Meine Gedanken brachen ab, und ich sog scharf die Luft ein, als sich das Wesen unweit von mir in die Lüfte erhob.

Bei Gott, ich bin … Dieser Ort, er …

Wind stob auf. Er roch seltsam metallisch und zugleich bittersüß. Er zerzauste mein Haar, dessen Strähnen sich wie ein pechschwarzer schützender Vorhang über mein Gesicht legten.

Das Geräusch der Schwingen, die die kalte Dunkelheit teilten, verstummte. Das Wesen landete dicht vor mir und es … es sah verflucht noch mal aus wie ein geflügelter Mensch, nur –

»Willkommen im Vorhof der Hölle. Ich habe auf dich gewartet.«

Die Augen der Kreatur glänzten gefährlich auf, und je länger ich in den tiefen Weinton der Iriden sah, desto betrunkener fühlte ich mich. Die Schatten, die die Gestalt umschwirrten wie eine zweite Haut, verdichteten sich und verwehrten mir nun jeglichen Blick auf ihr Gesicht. Die Welt um mich herum begann zu wanken, dann ertönte die rauchige Stimme ein weiteres Mal und riss meinen Verstand endgültig mit sich.

»Bist du bereit für einen Pakt, Zoé?«

Zuvor

Aubervilliers bei Rivière in der République Adrasteau

Kapitel 1

 

Und wenn du einmal groß bist, wirst du Ärztin, nicht wahr, Zoé? Dann machst du mich wieder gesund.«

Ich hielt in meiner Bewegung inne. Wie jeden Abend saßen wir zu zweit im Wohnzimmer, und ich kämmte meiner Mutter das Haar, bevor ich sie zu Bett brachte. Zwischen den abgetragenen Vorhängen fiel silbernes Mondlicht in den kleinen Raum und malte unsere Schatten an die Wand. Ich seufzte leise.

»Ja, Maman.«

Es war gleich, wie oft ich sie daran erinnerte, dass ich bereits einundzwanzig Jahre alt war und dass aus mir niemals mehr eine Ärztin werden würde. Dass wir nicht das nötige Geld dafür hatten, um mich auf eine Universität zu schicken. Dass ich noch nicht einmal eine nennenswerte Schulbildung vorweisen konnte, weil ich schon als Kind für unseren Lebensunterhalt hatte aufkommen müssen.

Ja, früher, als ich noch ein kleines Mädchen gewesen war, hatten wir mal davon geträumt. Ich hatte Ärztin werden und ihre Krankheiten heilen wollen. Aber heute fühlte sich diese Erinnerung an wie aus einem völlig anderen Leben. Dieses Mädchen war ich nicht mehr. Aber für meine Mutter würde ich es immer bleiben. Sie war auf ewig in der Vergangenheit gefangen.

»Das ist wunderbar.« Sie klang erleichtert, vielleicht sogar ein wenig stolz. »Du bist so ein artiges, braves Kind.«

Ich krallte eine Hand in das Polster des Sessels, und für einen Moment war es still zwischen uns. Mein Blick glitt zu der Kommode unter dem Fenster, auf dem ein eingerahmtes Bild stand, das ich vor siebzehn Jahren gemalt hatte. Es zeigte mich und Maman und wie ich ihr selbst gepflückte Rosen aus unserem geliebten Garten schenkte. Man benötigte vielleicht ein wenig Fantasie, um das zu erkennen, dennoch bedeutete das Bild mir viel. Es war zu einer Zeit entstanden, in der es meiner Mutter noch gut ging.

»Aber wer passt auf mich auf, wenn du weg bist, Zoé? Du musst an die Universität im Zentrum von Rivière, damit du Ärztin wirst.«

Ich hörte das Zittern in ihrer Stimme, und es versetzte meinem Herzen einen Riss. Irgendwann hatte ich damit aufgehört, die Kratzer und Hiebe zu zählen, die es über die letzten Jahre bereits hatte erdulden müssen. Irgendwann hatte ich Mauern darum errichtet, und es hatte aufgehört, wehzutun. Vermutlich war es nicht sonderlich zuträglich, den Schmerz nicht an mich heranzulassen, aber ich wusste, dass mich nur diese Taubheit davor bewahren konnte, endgültig auseinanderzubrechen.

»Ich gehe nicht weg, Maman. Ich passe auf dich auf. Ich werde immer auf dich aufpassen.« Auch wenn die Worte nur geflüstert über meine Lippen kamen, waren sie ein Versprechen, an das ich mich halten würde.

»Das ist gut. Danke, mein Kind. Mein einziges Kind.« Bevor ich reagieren konnte, drehte sie sich zu mir um, und ich blickte in ihre blassblauen Augen, die wie immer durch mich hindurchsahen. Sie wirkten viel zu alt, viel zu traurig für das junge Gesicht, erzählten von all den Ungerechtigkeiten, die meiner Mutter ihr Leben lang widerfahren waren. Sie hatte alles ertragen. Und wofür? Anstatt ihre schreckliche Vergangenheit endlich vergessen zu können, war es ihr aufgrund dieser elendigen Krankheit nicht mehr möglich, neue Erinnerungen zu schaffen. Sie würde ihren Albträumen nie entkommen.

»Du bist mein Leben, das weißt du, oder, Zoé?«

Ich spürte, wie die Schuldgefühle von innen an meinen Mauern kratzten. Wenn sie wüsste, was ich tat, während sie schlief, würde sie diese Worte niemals sagen.

Sosehr ich mein viel zu weiches Herz vor anderen versteckt hielt – manchmal vergaß ich, dass ich es auch vor mir selbst schützen musste.

»Ich weiß, Maman.« Ich löste meine Hand aus dem Sesselpolster und strich ihr über die glatte Wange. »Und du bist meines.«

Sie nickte und wandte sich zurück zum Kamin, in dem ein knisterndes Feuer prasselte und vergeblich versuchte, den Winter fernzuhalten. »Und bald kannst du mich heilen. Du wirst doch Ärztin, Zoé, nicht wahr?«

Meine Schultern verkrampften, mein nächster Atemzug ging mühsam, und ich kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an.

»Ja, Maman.«

***

Die Nacht war kalt und unerbittlich. Ich schlang mir den Mantel enger um meinen zitternden Leib, während ich der Rue de Lorraine bis runter ins Trou folgte. Jenes Viertel Rivières, das man lediglich Loch nannte. Freudenhäuser, Spielhallen und Tavernen reihten sich hier aneinander, zwielichtige Gestalten bewegten sich in den Schatten leer stehender Häuser, die oftmals nichts weiter waren als Schauplätze dubioser Geschäfte. Kurz: Das Trou war ein Ort, der von der Sünde lebte.

Das einzige Geräusch weit und breit war das Klackern meiner Absätze auf den Pflastersteinen. Um diese Uhrzeit – es musste weit nach Mitternacht sein – trieb sich niemand mehr auf den Straßen herum, es sei denn, er war ein Gauner, ein Mörder oder wie ich – eine Hure.

»Vite, vite!«, schnitt eine glockenhelle Stimme durch die ansonsten vollkommene Stille der Finsternis. Marie stand vor der rot gestrichenen Tür des Salon Rouge und gestikulierte in meine Richtung.

Ich beschleunigte meine Schritte, achtete darauf, dass ich mit den spitzen Absätzen meiner Stiefel nicht umknickte oder in den groben Fugen hängen blieb. Eilig lief ich an der Schlachterei vorbei, die um diese Uhrzeit natürlich schon längst geschlossen war.

»Du bist zu spät, Claire!« Marie hatte die Hände in ihre üppigen Hüften gestemmt, ihr Gesichtsausdruck wirkte jedoch sanft und strafte ihren Ton Lügen.

Claire war der Name, den ich auf der Arbeit benutzte, obwohl sein Klang mir jedes Mal einen Stich versetzte, mich an einen Verlust erinnerte, den ich wohl nie überwinden würde. Aber er bot mir Schutz. Ich konnte mich hinter ihm verstecken, jemand anderes sein. Sie sein. Zumindest für die Nacht.

Jeden Abend, wenn ich das Gebäude betrat, schaffte ich es für einen Moment, mir einzubilden, es wäre das letzte Mal. Nur noch eine Nacht, und dann würde mir eine andere Lösung für meine Geldprobleme einfallen. Doch es folgte stets eine weitere Nacht, und alles begann von vorn. Ein Teufelskreis, in den ich mich eigenständig manövriert hatte und aus dem ich in nächster Zeit auch nicht ausbrechen konnte. Nicht nur, weil ich allein für Mamans Versorgung verantwortlich war, sondern auch, weil ich mich aus meiner Not heraus auf Dinge eingelassen hatte, für die ich noch immer bezahlte. Im wahrsten Sinne des Wortes. Einzig der Gedanke, eines Tages irgendwo anders ein neues Leben anfangen zu können, hielt mich bei Verstand.

»Ich habe Jean-Paul für die nächsten zehn Minuten hingehalten.« Marie führte eine glimmende Zigarette an ihren Mund, ohne mich aus den Augen zu lassen. Einen Zug später füllte sich die klare Nachtluft mit Rauch. Ihre samtroten Lippen zuckten amüsiert. »Hast du noch einen privaten Kunden bedient?«

»Nein«, erwiderte ich sofort, weil der Gedanke absurd war. Und verboten. »Du weißt doch, meine Mutter, sie …«

Maries Mundwinkel sanken herab, ehe sie erneut an dem Gift zog, das ihre Lungen verpestete. »Geht es ihr immer noch nicht besser?«

Es würde ihr nie besser gehen, aber das wusste meine Freundin nicht. Ihr hatte ich erzählt, dass meine Mutter an den Spätfolgen einer Schwindsucht litt, statt an dem Hirnschaden, der sie mir für immer geraubt hatte. Ich wollte nicht, dass man Rückschlüsse auf meine wahre Identität zog. Und obwohl ich Marie mehr vertraute als irgendjemandem sonst, wollte ich dieses Risiko auch bei ihr nicht eingehen.

Also schüttelte ich den Kopf.

»Das muss so schwer für dich sein.«

Ich senkte den Blick, weil ich das Mitleid, das Maries Stimme färbte, nicht in ihren Augen sehen wollte. Sie hatte doch selbst ein Leben, um das sie niemand beneidete. Ich fragte mich oft, wie es ihr gelang, die Schatten aus ihrem Kopf zu vertreiben. Wie konnte sie in ihrer Situation Lebensfreude versprühen, während ich die Arme um meinen Körper schlang, in dem verzweifelten Versuch, Halt zu finden?

»Ich komme zurecht.« Ich lächelte, ein wenig verkrampft.

»Das sagst du immer. Und du denkst, ich kaufe dir dieses Lächeln ab. Das beleidigt mich.«

»Marie …« Ich sah nun doch in ihr Gesicht und begegnete dem warmen Blick aus ihren himmelfarbenen Augen.

Marie schüttelte den Kopf, was ihre weizenblonden Locken zum Wippen brachte und den ihr so eigenen schweren Duft zu mir herübertrug. »Ich weiß, dass du Geheimnisse vor mir hast, und das ist in Ordnung. Du musst mir nichts erzählen, aber wenn du es möchtest, bin ich für dich da. Du musst mir nur versprechen, dass du zu mir kommst, bevor du an alldem erstickst. Ja?«

Ich spürte, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete, und nickte nur, weil ich meiner Stimme nicht traute.

»Jean-Paul macht mich einen Kopf kürzer, wenn ich nicht auf sein bestes Mädchen aufpasse.« Marie lachte trocken und drückte ihre Zigarette am Mauerwerk aus, ehe sie den Stummel wegschnipste.

Diesmal war mein Lächeln echt. »Ich verspreche es.«

»Nun gut, dann zieh dich aus, und ran an die Arbeit! Noch mehr Ausreden für dein Wegbleiben kann ich mir nicht einfallen lassen, und sosehr ich Männer liebe, werde ich es nicht schaffen, deine Kunden auch noch zu befriedigen. Irgendwann herrscht selbst bei mir trockene Wüste.«

Sie gestikulierte mit den Händen in Richtung ihres Schrittes.

»Ich beeile mich. Und danke, Marie.«

Wir umarmten uns kurz, aber fest, bevor ich das Etablissement betrat.

Dicke Parfumschwaden umfingen mich, stickige Luft und der Geruch von nackten, erhitzten Körpern, die sich aneinander rieben, als gäbe es kein Morgen.

Der vordere Bereich des Salon Rouge sah aus wie ein gewöhnliches Wirtshaus. Holzbalken stützten die morsche Decke, an der ein Kerzenleuchter baumelte, dessen flackerndes Licht mich am Anfang beinahe um den Verstand gebracht hatte. Auf der linken Seite befand sich ein offener Speisebereich, daneben eine Theke. Die Tische waren kaum besetzt, denn das eigentliche Treiben spielte sich unten ab.

Begleitet von den Blicken der männlichen Gäste entledigte ich mich auf dem Weg zur geschwungenen Treppe meines Mantels, dann stieg ich in die schattenhafte Dunkelheit hinab. Hier unten wurden die Gerüche noch intensiver, Gerede und Lachen und lustvolles Stöhnen drangen an meine Ohren und wurden begleitet von sinnlicher Musik. Ein Abend wie jeder andere.

Ich stieß die Schwingtüren auf und warf mir im Gehen lässig das Haar über die Schulter. Wie immer, wenn ich diesen Teil des Gebäudes betrat, sperrte ich Zoé in einen Käfig tief in meinem Inneren, verbannte sie aus meiner Mimik und Körperhaltung.

Mit durchgestrecktem Rücken und erhobenem Kinn hielt ich Ausschau nach Jean-Paul, dem Inhaber des Etablissements, in dem ich nunmehr seit drei Jahren arbeitete.

Es dauerte nicht lange, da spürte ich den Druck einer Hand auf meinem unteren Rücken. Zigarettenqualm stieg mir in die Nase, ehe Jean-Paul sich vor mich schob. Seine Hand wanderte eine Etage tiefer. Ich unterdrückte den Ekel, der jedes Mal in mir aufstieg, wenn er mich ohne mein Einverständnis anfasste.

»Ich habe auf dich gewartet, Claire«, raunte er an meinen Lippen und blies eine weitere Qualmwolke in mein Gesicht.

Ich verzog keine Miene.

»Und jetzt bin ich hier.«

Er wusste genau, was ich ihm schuldete und dass ich es mir nicht leisten konnte, der Arbeit auch nur für einen Tag fernzubleiben. Ohne mich von ihm abzuwenden, warf ich meinen Mantel über einen der wenigen leeren Stühle. Es war Wochenende und entsprechend voll.

Der Blick aus Jean-Pauls giftgrünen Augen glitt gierig über meinen Körper, blieb an meinen Brüsten hängen, deren Spitzen sich deutlich unter dem hauchdünnen Stoff meines Kleides abzeichneten. Mit einem Finger fuhr er ihre Konturen nach, bevor er ihn über meine eingeschnürte Taille hinab zu meinem Hintern wandern ließ.

Das Wanken meiner sorgsam errichteten inneren Mauern hallte in meinem ganzen Körper nach, und obwohl ich mir immer wieder schwor, dass ich bald einen Ausweg finden würde, flüsterte mir eine leise Stimme in meinem Kopf zu, dass ich es niemals schaffen konnte. Dass das hier mein Leben war.

Ein Ruck ging durch mich hindurch, als er fest zupackte und mich an sich zog. Trotz seiner Kleidung spürte ich mehr von ihm, als ich wollte.

»Ich würde dich am liebsten über den Tisch beugen und hier und jetzt nehmen, Claire«, raunte er mir ins Ohr. »Ich vermisse deine weichen Schenkel, den Blumenduft deines Haars.« Er atmete geräuschvoll ein, und ich konnte sein schmieriges Grinsen beinahe vor mir sehen. »Und dieses leise Stöhnen, das du von dir gibst, wenn ich mich in dir bewege.« Jean-Paul ließ plötzlich von mir ab, ein bedauerndes Schnalzen verließ seine Lippen. »Leider haben wir heute einen Ehrengast hier, der dich ganz für sich will.« Er stand jetzt einen Meter von mir entfernt, doch sein intensiver Geruch nach Alkohol und Zigaretten hatte sich bis in meine Poren gebrannt.

Ich zog eine Augenbraue hoch, versuchte möglichst unbeteiligt zu klingen. »Wer soll das sein?«

Mit einer unauffälligen Kopfbewegung deutete er schräg hinter sich. Ein Mann saß dort ganz allein im Halbschatten und nippte an seinem Krug. Er beobachtete zwei Frauen, die einen Tisch weiter saßen, eine von ihnen nackt. Sie hatte die Beine gespreizt, während die andere vor ihr hockte und kichernd an ihr herumspielte. Lola und Lilou. Manchmal beneidete ich die Frauen, die gerne hierherkamen.

»Er sagt, ihr kennt euch.«

Mein Kopf schnellte zurück zu Jean-Paul, und Entsetzen sickerte in meine Glieder, begleitet von Lilous Stöhnen.

»Ich kenne niemanden.« Und das war die Wahrheit. Niemanden außer meiner Mutter, die ich sogleich aus meinen Gedanken verbannte, an denselben Ort, an dem Zoé darauf wartete, dass die Nacht verstrich. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen, um mich zu beruhigen, denn natürlich gab es genügend Menschen, die mich von hier kannten.

»Dann wird es Zeit, dass ihr euch kennenlernt. Oder du dich erinnerst. Mir ist das gleich, er hat im Voraus bezahlt – und das nicht zu knapp. Du lieferst ihm die beste Show, die er je gesehen hat, Claire. Haben wir uns da verstanden?« Sein Gesicht erzählte davon, wie gern er dieser Show beiwohnen würde.

»Verstanden.« Mein Herz hämmerte wie mit Fäusten gegen meinen Brustkorb. Ich konnte mir nicht erklären, weshalb es mich so aus der Fassung brachte, dass man nach mir gefragt hatte, und doch bemühte ich mich, dieses aufkommende Gefühl der Panik zu unterdrücken.

Langsam ging ich auf den Fremden zu, musterte ihn auf meinem Weg genauer. Er hatte schulterlanges dunkelbraunes Haar, das im Nacken zusammengebunden war. Sein Hemd war bis zur Brust aufgeknöpft und entblößte hellbraune Haut, die im schummrigen Zwielicht beinahe golden schimmerte. Ich schätzte ihn auf vierzig, vielleicht fünfundvierzig Jahre.

Er war bisher noch nie mein Kunde gewesen, da war ich mir sicher. Ich hatte noch nie ein Gesicht vergessen.

Als ich nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, drehte er sich mir zu, und seine schwarzbraunen Augen bohrten sich in meine. Sein Blick ging mir durch und durch. Es war ein unangenehmes Gefühl, gleich dem Stechen eines Rosendorns.

Nur noch ein Jahr, redete ich mir ein. Höchstens ein Jahr.

Es wird keinen Ausweg geben, flüsterte eine andere altbekannte Stimme in meinem Kopf.

»Du bist Claire?«, unterbrach der Mann meinen inneren Monolog, als ich vor ihm stehen blieb.

Ich verbannte meine Unsicherheiten und blinzelte ihn kokett an. »Ich dachte, das wüsstest du.«

Ein Schmunzeln umspielte seine schmalen Lippen, dann erhob er sich. »Wo kann man hier ungestört sein?«

Immerhin kam er schnell zur Sache, so konnte ich die Show bald hinter mich bringen und noch ein paar weitere Kunden abarbeiten. Viel Geld fehlte mir nicht mehr. Nur noch ein Jahr.

»Folge mir.« Ich steuerte auf eine der privaten Kabinen zu, die von schweren Samtvorhängen vom restlichen Raum abgetrennt wurden.

Der Mann ging so dicht hinter mir, dass ich die Wärme seines Körpers spürte.

Und wenn er von der Gendarmerie ist?, meldete sich meine innere Stimme zu Wort.

Ich rollte mit den Augen. Warum war ich heute so zerstreut?

Dann habe ich ein Problem, antwortete ich in meinem Kopf, und es klang nicht ganz so gleichgültig wie ich gewollt hatte.

Die Wahrheit war, dass man ein Kopfgeld auf mich ausgesetzt hatte. Die Gesetzeshüter hielten mich für das Phantom, das ganz Rivière und Umgebung in Atem hielt. Wenn sie mich in die Finger bekamen, würde ich sterben.

Es war jedoch nicht der Gedanke an den Tod, der mir Angst machte – mein Leben war mir egal. Aber ich hatte meiner Mutter ein Versprechen gegeben, und ich war fest entschlossen, es zu halten.

Mit einem Ruck zog ich die Vorhänge beiseite. In der Kabine saß Marie auf einem Mann, der das Gesicht lustvoll verzogen hatte, während sie sich auf seinem nackten Schoß rekelte und unnatürlich laut stöhnte. Mit einer Handbewegung scheuchte sie mich fort, ohne sich von ihrem Kunden abzuwenden, und ich zog die Vorhänge wieder zu.

Nur einen Moment später spürte ich die Hand des Fremden von hinten zwischen meine Beine gleiten. Seine Härte, die sich in meinen Rücken bohrte, verriet, dass ihn der Anblick gerade erregt haben musste. Er war also doch nur ein gewöhnlicher Mann, der aus denselben Gründen hergekommen war wie all die anderen auch.

Ich warf ihm einen Blick über die Schulter zu, um ihn besser einschätzen zu können. Er überragte mich um mehr als einen Kopf, und ich musste mich beinahe verrenken, um ihm ins Gesicht sehen zu können.

»Beeil dich, sonst kann ich nicht länger an mich halten.«

Ah, zu dieser Sorte gehörte er also. Wahrscheinlich musste ich ihn nur anfassen, und er würde fertig werden. Wie gut, dass er im Voraus bezahlt hatte, ansonsten würde er hinterher vermutlich versuchen, den Preis zu drücken.

Ich trat an die nächste Kabine, prüfte, ob diese noch frei war, und bevor ich überhaupt die Gelegenheit hätte haben können, meine Einschätzung zu seiner Person zu überdenken, stieß der Mann mich bereits in die kleine Nische, in der nichts weiter stand als ein schmales, klappriges Bett.

Er packte mich an den Schultern, drückte mich auf die Matratze und stellte sich so vor mich, dass sich seine Hüfte in Höhe meines Gesichts befand. Die Erektion, die sich durch den Stoff seiner Hose abzeichnete, war unverkennbar. Mit einer Handbewegung entledigte er sich seines Gürtels, und seine Augen blitzten auf.

Ich atmete schwer und hoffte, dass er nicht zu der Sorte Freier gehörte, die uns für Objekte hielten. Sie konnten schnell die Kontrolle verlieren.

Bist du das denn nicht?, höhnte meine innere Stimme. Ein Objekt, das gegen Geld benutzt werden kann, wie es den Männern beliebt? Sieh doch nur, wozu dein Leben geworden ist, Zoé. Sitzt Abend für Abend hier und betest, dass dein nächster Kunde dich nicht aus Versehen im Rausch erdrosselt.

Claire, korrigierte ich mich in Gedanken. Ich bin Claire, und ich werde das hier überstehen, so wie ich es jedes Mal überstehe.

Ich musste nur tun, was er von mir verlangte. Durch meine Wimpern sah ich zu ihm hoch, ehe ich mir über die Lippen leckte und näher an seinen Schoß heranrückte. Ich wusste, wie ich Erregung vortäuschte. Lust, die ich nicht empfand.

Ja, einige meiner Kunden sahen gut aus und waren in dem Alter, in dem sie unter anderen Umständen für mich auch als potenzielle Partner infrage gekommen wären, aber das machte es mir nicht unbedingt einfacher. Tatsächlich waren die Älteren das geringere Übel – sie hatten wenig Ausdauer und nicht allzu ausgefallene Vorlieben.

Meistens jedenfalls.

Kapitel 2

 

Ich sah, wie der Gürtel des Mannes die Luft zerschnitt, und im ersten Moment erschrak ich bei dem Geräusch, das folgte. Ich spürte einen stechenden Schmerz in meinem Gesicht, und schon schmeckte ich Blut auf meinen Lippen.

Brennend heiße Scham kochte in mir hoch, Angst und … Als ich meine Mauern wieder hochzog, war da Wut. Auch in den Augen des Freiers erkannte ich ganz unverhohlenen Zorn, was mich für einen Atemzug erstarren ließ.

»Hier ist es nicht erlaubt, so mit den Huren umzugehen. Dies ist ein ehrenwertes Etablis–«

Ein weiterer Hieb traf auf meine Brust, und ich krümmte mich zusammen. Tränen sammelten sich in meinen Augen, die Geräuschkulisse des Bordells wurde zu einem lauten Rauschen.

Hatte ich eben noch gedacht, der Typ hier wäre leicht zu befriedigen, entpuppte er sich gerade als einer von der schlimmsten Sorte. Die meisten Männer kamen her, um Lust zu empfinden, aber es gab auch einige, die auf Schmerzen standen. Und dann waren da noch jene, die beides miteinander verbanden und Lust in den Schmerzen anderer suchten. In meinen Schmerzen.

»Ehrenwert?« Der Hauch eines höhnischen Lachens begleitete seine Worte. »Du wagst es, die Worte Hure und ehrenwert in einem Atemzug zu verwenden?«

Ich sah gerade noch rechtzeitig auf, um zu erkennen, dass er sich die Hose ausgezogen hatte und über seine Erektion rieb. Sein abgehacktes Stöhnen hing über mir wie eine Warnung.

»Mal gucken, wie ehrenwert du dich fühlst, wenn ich mit dir fertig bin«, presste er schwer atmend hervor. Dann ließ er von seinem Schaft ab, und Entsetzen traf mich hart in die Brust, als seine Hand hervorschnellte und sich um meinen Hals schloss. Ich gab gurgelnde Geräusche von mir, nackte Angst kroch in meine Glieder. Er hob mich auf die Beine und drückte mich an die von Feuchtigkeit durchzogene Wand. Kälte fraß sich durch den dünnen Stoff meines Kleids bis tief in meine Knochen, der Griff des Mannes wurde fester, und ich spürte, wie meine Kräfte schwanden. Die Ränder meines Sichtfelds verschwammen, dann setzte ein schwarzes Flackern ein, und verzweifelt krallte ich meine Fingernägel in die Hand meines Peinigers, der trotzdem nicht von mir abließ.

Wie jede Nacht, in der ich das Salon Rouge betrat, hatte ich mir auch heute eingeredet, es wäre die letzte. Und jetzt, während ich hier um mein Leben rang, realisierte ich, dass dieser Wunsch sich verwirklichen würde – nur nicht so, wie ich gehofft hatte.

Ich würde sterben. Durch die Hände dieses Widerlings. Als Claire. Meine Mutter würde niemals herausfinden, was mit mir geschehen war. Sie würde denken, dass ich sie verlassen hätte, ohne auch nur ein Wort zu sagen.

Der Druck in meiner Brust rührte nicht länger nur von dem Sauerstoffmangel her, Schuldgefühle verdunkelten meine Gedanken und nahmen mich vollständig ein. Finsternis sammelte sich in meinem Herzen.

Er durfte mich nicht töten. Was würde aus Maman werden? Wer würde sich um sie kümmern? Wer, nachdem sich alle meinetwegen von ihr abgewandt hatten? Weil sie sich als unverheiratete Frau dazu entschieden hatte, mich zu behalten, anstatt mich in irgendeiner verlassenen Ecke loszuwerden wie das Problem, das ich war. Ich hatte ihr Leben, wie sie es kannte, beendet, weit bevor es ihre Krankheit tat.

»Nachdem man mich auf offener Straße bestohlen hat, habe ich mich ein wenig umgehört«, raunte der Mann dicht an meinem Ohr. »Man sprach von einer Diebin, die in den Schatten haust. Sie sei ein Phantom, würde sogar erwachsene Männer und Adlige bestehlen.«

Ich hörte seine Worte, aber noch drangen sie nicht zu mir durch. Strampelnd versuchte ich, mich irgendwie zu befreien.

»Und dann habe ich Ausschau nach dir gehalten, Claire. Tag und Nacht lag ich auf der Lauer, bis ich dich endlich entdeckte.«

Mit verschwommenem Blick sah ich ihn an, aber mir wollte nicht einfallen, wer er war. Ich vergaß keine Gesichter, weder die von meinen Kunden noch die von meinen Opfern.

Plötzlich ließ er von mir ab, und ich sackte zu Boden. Meine Beine waren nicht länger in der Lage, mich zu tragen.

Hustend rieb ich mir den Hals, sog gierig Luft in meine Lungen, aber der Moment des Verschnaufens hielt nicht lange an. Der Mann krallte die Finger in mein Haar und zerrte mich auf die Füße.

»Umdrehen.«

Ich wimmerte, konnte mich nicht rühren.

»UMDREHEN!«

Tränen liefen mir über das Gesicht, und ich tat, was er verlangte. Ich würde es über mich ergehen lassen müssen. Er durfte mich nicht töten. Ich musste mich endlich zusammenreißen. Ich war Claire. Claire Moreau. Ich empfand keinen Schmerz. Keine Angst, keine Wut, keine Scham. Gar nichts. Ich hatte keine Gefühle, und das hier bedeutete mir nichts. Das hier würde mich nicht zerstören.

»So ist es brav, kleine Sünderin«, säuselte der Mann, während seine Hand unter meinem Rock verschwand und eiskalt zwischen meine warmen Schenkel glitt. »Wenn du nur wüsstest, wie oft ich darüber nachgedacht habe, wie ich dich bestrafe und was ich mit dir mache, wenn wir allein sind. Zuerst werde ich dich ficken, bis du nicht mehr weißt, wie du heißt.« Er lachte leise, und das Geräusch schrammte über meine Wirbelsäule. »Und danach gibst du mir mein Geld wieder. Das, was ich deinem Zuhälter gegeben habe, und das, was du von mir gestohlen hast. Mal sehen, ob ich dich danach leben lasse. Vielleicht schlitze ich dich auch auf und schaue dir beim Verbluten zu. Kommt darauf an, wie viel Spaß wir gleich miteinander haben werden.«

Ich drehte den Kopf zur Seite, um seinem heißen Atem zu entgehen, und meine Wange wurde umgehend gegen die raue Wand gedrückt.

»Ich zahle … alles … zurück«, presste ich irgendwie hervor, obwohl ich mir immer noch nicht sicher war, ob ich ihn wirklich bestohlen hatte. Aber ich nahm an, die Frage der Schuld war ohnehin irrelevant.

»Oh ja, das wirst du«, knurrte er, während seine Hand sich immer höher schob. »Das ändert aber nichts an dem, was ich mir für dich überlegt habe. Ich will deine Angst spüren, Claire. Zeig mir, wie sehr du mich fürchtest. Flehe mich an, dich am Leben zu lassen, wenn ich mit dir fertig bin.«

Eine dunkle Vorahnung erfasste mein Herz, und ich brachte meine letzte Kraft dafür auf, das zitternde Schluchzen zu unterdrücken, das in mir hochstieg. Ich durfte nicht sterben, aber ich wollte diesem Sadisten auch nicht die Genugtuung verschaffen, ihm zu geben, was er verlangte. Er würde so oder so nicht von mir ablassen. Er würde mich nicht verschonen. Das Leben war nicht so einfach. Man konnte nicht um etwas bitten und dann bekam man es. Nein, das Leben bestrafte einen nur umso härter, wenn man nach billigen Ausflüchten suchte. Alles hatte seinen Preis.

Im nächsten Moment machte der Mann sich an meinem Unterkleid zu schaffen, und als ich den feinen Stoff reißen hörte, kam endlich das Gefühl der Taubheit zurück, das sich schützend um mein Herz legte. Ich würde ihn mich benutzen lassen und mir überlegen, wie ich hier rauskam, bevor er mich töten könnte.

Um Hilfe schreien kam nicht infrage, dafür wusste er zu viel über mich. Ich durfte nicht riskieren, dass er mich an Jean-Paul verriet. Der würde mich entweder für das Kopfgeld ausliefern, oder meine Schulden bei ihm auf eine Summe erhöhen, die ich nicht einmal abarbeiten könnte, wenn ich meinen Körper ein Leben lang für ihn verlieh. In wenigen Jahren würde er ohnehin kaum mehr etwas wert sein.

»Willst du nicht für mich winseln, kleine Sünderin?«

Seine klebrig-süße Stimme ließ Ekel in mir aufsteigen.

»Dann hast du deine Chance vertan, fürchte ich.«

Die Worte fielen herab wie Steine, und ihre Bedeutung tröpfelte erst nach und nach in meinen Verstand, kroch wie Gift in meine Glieder. Er presste seinen nackten Unterleib an meinen und drückte meine Beine auseinander. Ich konnte mich nicht wehren, selbst wenn ich wollte. Mein Körper gehorchte mir nicht länger.

»Aber mir gefällt dein Trotz.«

Ich spürte ihn auf meiner Haut, und ein kaltes Schaudern durchfuhr mich. Vielleicht war es Resignation. War es wirklich so einfach für ihn, meinen Willen zu brechen?

Gerade als ich die Augen schließen wollte, als könnte ich dem, was mir bevorstand, so entfliehen, blitzte etwas in meinem Blickfeld auf, das einen Funken in mir entfachte. Warm rauschte das Gefühl durch mich hindurch und ließ das Eis in meinem Inneren schmelzen. Hoffnung.

Ein Dolch lag neben seiner Hose, die er unachtsam auf den Boden hatte fallen lassen.

Endlich fiel mir wieder ein, dass Claire nicht nur keine Angst empfand, sondern auch keine Reue. Claire würde überleben, koste es, was es wolle, für Zoé und ihre Mutter.

Bevor er gewaltsam in mich eindringen konnte, schlug ich meinen Schädel gegen seinen. Ein leises Knacken ertönte, der Mann schrie gequält auf. Ich drehte mich halb um, stieß ihn von mir, sodass er gegen die Wand krachte, und ich musste mich nur bücken, um nach dem Dolch zu greifen. Er fühlte sich schwer an in meiner Hand, kalt und fremd. Mein Puls raste. Doch als sich der Mann wieder gefangen hatte und sich auf mich stürzte, brauchte ich nur den Arm mit der Waffe auszustrecken, um alles zu beenden. Um mich zu retten. Also tat ich es.

Seine Augen weiteten sich entsetzt, dann blickte er hinab auf seinen Bauch, in den ich seinen Dolch versenkt hatte.

Das schmatzende Geräusch, als ich die Waffe aus seinem Leib zog, würde ich nie vergessen. Genauso wenig wie das Blut, das an der silbrigen Schneide klebte und langsam zu Boden tropfte.

Der Mann sackte auf die Knie und hielt sich die Wunde. Ich war beinahe sicher, dass er nicht daran sterben würde. Nicht sofort. Seine Worte von vorhin drangen in mein Bewusstsein. Er wusste, wer ich war. Er hatte das Gesicht von den Flugblättern mit mir in Verbindung gebracht.

Vielleicht hatte er mich sogar bis nach Hause verfolgt? Bis zu Maman?

»Damit kommst du nicht durch, du dreckiges Miststück.«

Das Ächzen, das dieser Beleidigung folgte, befriedigte mich mehr, als es sollte. Ein Rinnsal Blut lief aus seinem Mundwinkel über sein Kinn, und irgendetwas in mir reagierte heftig darauf. Verlangend. Ich trat näher an ihn heran, griff in sein Haar und riss seinen Kopf nach hinten, sodass seine Kehle entblößt vor mir lag. Er wollte etwas sagen, aber da hatte ich den Dolch bereits angesetzt. Etwas Neues berauschte meine Sinne. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich die Kontrolle.

»Ich mag vielleicht ein Miststück sein, aber du bist nicht weniger Sünder als ich. Und nur einer von uns reist heute nach Xanthia.« Und mit diesen Worten drückte ich die Klinge tiefer in sein Fleisch und zog sie mit einem Ruck über seine zuckende Kehle. Blut spritzte und traf warm auf mein Gesicht, während er gurgelte und gurgelte und gurgelte und nach einer Ewigkeit, die genauso gut auch nur wenige Sekunden sein konnten, schließlich verstummte.

Es gab ein dumpfes Geräusch, als ich ihn losließ und er leblos vornüberkippte. Erst jetzt erkannte ich das Adrenalin, das wild durch meine Adern rauschte. Ich hatte ihn getötet. Und es bedeutete mir gar nichts.

In diesem Moment war ich ganz Claire Moreau. Diebin, Lügnerin, Hure und von nun an auch Mörderin.

Kapitel 3

 

Eine Lache aus Blut bildete sich unter dem toten Körper. Tiefrot sickerte es in die Holzdielen, wo sich der metallisch-salzige Geruch vermutlich für immer festbiss. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Rinnsale unter den Vorhängen hindurchlaufen und meine blutige Tat verraten würden.

Meine blutige Tat.

Ich war weiß Gott kein Engel, aber bisher hatte ich noch niemanden verletzt. Zumindest nicht mit meinen eigenen Händen. Doch den Mann dort liegen zu sehen, löste nichts in mir aus. Da war ein Mensch zu meinen Füßen, der bis gerade eben noch geatmet hatte. Gesprochen.

Mich beinahe vergewaltigt.

Ich spürte ein eigenartiges Brennen hinter den Augen und riss mich zusammen, bevor sich das alles meiner Kontrolle entzog.

Hat es das nicht schon längst?

Ich schüttelte meinen Kopf, um den Strom wirbelnder, lärmender Gedanken loszuwerden. Sosehr ich meine Ängste auch zu unterdrücken versuchte: Sie waren gerade dabei, durch die Oberfläche zu brechen und mich mit in ihren Abgrund zu reißen.

Ich war so naiv gewesen. Wie hatte ich mir nur all die Jahre einreden können, ich würde nur noch ein wenig durchhalten müssen? Dass sich alles irgendwann auszahlen würde? Die Schlinge, die man mir schon im Kindesalter um den Hals gelegt hatte, zog sich zu und nahm mir endgültig die Illusion von Sicherheit.

Ich musste hier weg. Nicht nur aus dem Salon Rouge – aus diesem Leben. Ich hatte geglaubt, ich hätte noch Zeit, aber die hatte ich nicht. Nicht mehr. Nicht nach dem hier.

Mein Blick flog durch den kleinen Raum, und ich entdeckte die Brieftasche des Mannes, die ich sogleich an mich nahm. Obwohl ich versuchte, ruhig zu bleiben, zitterten meine Finger, als ich sie hektisch durchwühlte.

Raoul Vignaud, geboren in Martin bei Rivière, stand auf seinen Ausweispapieren. Ich stopfte sie zurück und kramte weiter. Kein Geld. Der verfluchte Mistkerl hatte kein Geld, keinen einzigen Centime.

»Verfickte Scheiße!« Ich rieb mir über die Stirn, überlegte fieberhaft, was ich tun sollte. Mein Brustkorb hob und senkte sich schwer, jetzt, da das Adrenalin abflaute und ich allmählich einen dumpfen Schmerz in meinem Hinterkopf spürte. Dennoch schlug mir mein Herz bis in die Kehle, während ich krampfhaft versuchte, mir einen Plan zurechtzulegen.

Konnte ich es Jean-Paul erzählen? Ihm mitteilen, dass dieser Mann – Raoul – das beste Pferd in seinem Stall, wie er mich immer nannte, kaltmachen wollte? Dass ich mich wehren musste? Er würde Verständnis dafür haben.

Oder?

Aber ich hatte meinem Angreifer zwei Wunden beigebracht. Den Stich in den Bauch konnte ich vielleicht erklären, doch der Rest? Der Schnitt durch die Kehle glich mehr einer Hinrichtung denn Notwehr.

Vielleicht sollte ich mich eher Marie anvertrauen?

Ich fuhr mir mit der Hand durchs schweißnasse Haar. Erst als ich die Feuchtigkeit an meinem Unterkleid abstreifen wollte, fiel mir auf, dass ich über und über mit Blut besudelt war. So konnte ich unmöglich durch den Laden laufen. Übelkeit stieg in mir auf, als sich meine Optionen in Luft auflösten. Meine Kehle wurde so eng, dass mir das Atmen schwerfiel. Ich musste hier raus. Einfach nur raus. Eilig nahm ich den Dolch, die Tatwaffe, und steckte ihn mir in den Stiefel.

Ich hob Raouls Hose auf und wischte mir damit über mein Gesicht, immer und immer wieder, in dem verzweifelten Versuch, das Blut loszuwerden. Tränen sammelten sich in meinen Augen, die Grenze zwischen Zoé und Claire verschwamm. Ich realisierte, dass ich nie wieder hierher zurückkommen konnte. Jean-Paul hatte den Mann gesehen. Er wusste, dass er mich gebucht hatte. Und ihm würde schnell klar werden, dass ich für den Tod seines Kunden verantwortlich war.

Ich ließ den blutigen Stoff zu Boden fallen und stieg über den Leichnam. Vorsichtig spähte ich zwischen den Vorhängen der Kabine hindurch. Die meisten Augenpaare waren auf die kleine Bühne gerichtet, auf der einige Frauen ihre halbnackten Körper zu den lauten Klängen der Musik bewegten.

In einer Ecke des dämmrig beleuchteten Salons entdeckte ich Jean-Paul. Er und ein anderer Mann hatten die Köpfe zusammengesteckt und schienen sich über die laute Musik hinweg zu unterhalten. Jean-Pauls Gesprächspartner hatte ich hier noch nie zuvor gesehen, obwohl es doch meist dieselben Männer waren, die unsere Dienste in Anspruch nahmen.

Ob er kein Kunde, sondern von der Gendarmerie war? Seit diese Steckbriefe von mir überall in Rivière und Umgebung aushingen, wurde ich paranoid, das wusste ich. Aber es war möglich.

Auf den Zeichnungen erkannte man mein langes schwarzes Haar, die ungewöhnlich kleine und geschwungene Nase und auch meine vollen Lippen, für die ich mir schon einige Kommentare von meinen Freiern hatte anhören müssen. Besonders auffällig waren jedoch meine dunklen Augen, die leicht auseinanderstanden und dem Betrachter der Skizze leer in die Seele starrten, als hätte ich selbst keine.

Es war ein Wunder, dass mich bisher noch niemand im Salon Rouge erkannt hatte – oder es lag an meinen ausgeprägten Fertigkeiten mit Puder, Kajalstift und Lippenfarbe, die jede Nacht zum Einsatz kamen, wenn ich Männer bezirzen musste. Vermutlich brachte man eine wohlgepflegte Hure nicht mit einer räudigen Diebin in Verbindung.

Aber wenn der Mann neben Jean-Paul mir doch auf die Schliche gekommen war, durfte er mich nicht erkennen. Sollte er ein Gesetzeshüter sein, dann war er noch dazu einer von den korrupten, die mein nicht ganz so gesetzestreuer Zuhälter geschmiert hatte. Vermutlich könnte Jean-Paul mich aus dieser Misere rauskaufen, aber dann würde ich ihm für immer gehören. Flucht war die bessere Option. Ich könnte es schaffen. Bisher hatte ich es immer irgendwie geschafft, meinen Kopf rechtzeitig aus der Schlinge zu ziehen, egal, wie eng sie um meinen Hals lag.

Ich schüttelte mein Haar auf, legte es so, dass es mein Gesicht zum Teil verdeckte. Mit hämmerndem Herzen trat ich zwischen den Vorhängen hindurch. Schweiß rann mir über die Stirn, den Hals, ins Dekolleté. Ich setzte einen Fuß vor den anderen. Schnell, aber nicht so schnell, dass man aufmerksam auf mich wurde.

Die Schwingtüren kamen in Reichweite, und mein Brustkorb war drauf und dran zu explodieren. Ich streckte die Arme nach ihnen aus.

Erleichterung flutete meinen Körper, als ich zwischen ihnen hindurchschlüpfte. Die letzte Kraft verließ meinen Körper, und ich krallte mich an das Treppengeländer, um irgendwie aufrecht stehen zu bleiben. Ich unterdrückte ein Aufstoßen, das von der Übelkeit herrührte, die noch immer nicht von mir abgelassen hatte. Zittrig atmete ich ein und aus, meine Lider flatterten, und die Treppenstufen verschwammen vor meinen Augen, als läge ein Schleier auf ihnen. Ich presste mir eine Hand auf den Magen, und als sich mein Blick endlich ein wenig klärte, bemerkte ich, dass ich vergessen hatte, sie ebenfalls von all den roten Blutspritzern zu befreien.

Ein Luftzug streifte mich im Nacken. Ich versteifte mich.

»Wo willst du hin?« Jean-Pauls vom Rauchen kratzige Stimme schnitt wie ein Springmesser durch die übliche Geräuschkulisse, die ich bis gerade eben ausgeblendet hatte.

»Ich muss mich frisch machen.« Erstaunlich, wie selbstsicher ich klang, obwohl meine Nerven wild flatterten.

Dennoch zuckte ich unwillkürlich zusammen, als Jean-Paul seine Hand nach mir ausstreckte. Jeder Muskel in mir verkrampfte sich unter der Berührung seiner schwieligen Finger, die meine Wirbelsäule entlangfuhren. Meine Nasenflügel bebten, und ich konnte den Blick nicht von meiner blutigen Hand abwenden.

»Vielleicht wartest du damit, bis wir fertig sind«, raunte er an meiner Halsbeuge, ehe seine Lippen die Stelle hinter meinem Ohr fanden. Seine Arme schlossen sich um meine Taille, seine Hände wanderten hoch zu meinen Brüsten, und ich fühlte mich wie betäubt.

»Ich bin ganz dreckig und verschwitzt, Jean-Paul.«

»Dreckig mag ich dich am liebsten«, sagte er heiser, was eine weitere Welle der Übelkeit durch meinen Körper schickte.

Für eine Sekunde schloss ich die Augen, sammelte mich und drehte mich in seiner Umarmung, sodass ich ihm ins hagere Gesicht blicken konnte. Ich legte meine Hände auf seinen Rücken, dorthin, wo er sie nicht sehen konnte. Eine warme Träne lief über mein Gesicht, und ich verfluchte meinen Körper dafür, dass er mir nicht gehorchte. Ich betete, dass die fahle Beleuchtung sie nicht offenbarte.

»Warte in einer der Kabinen auf mich. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich dich will.« Ich sträubte mich gegen jedes Wort, das meine Lippen verließ.

»Dann zeig es mir.« Seine Augen blitzten im Halbdunkel auf, und ich überlegte fieberhaft, wie ich der Situation entkommen konnte. Wenn ich ihn jetzt küsste, würde er mich nicht mehr gehen lassen, das wusste ich. Bevor ich jedoch reagieren konnte, zog Jean-Paul seine dunklen Augenbrauen zusammen, und eine steile Falte bildete sich zwischen ihnen. Sein eben noch vor Begehren verschleierter Blick wurde hart. Er griff an mein Kinn, fest, und drehte meinen Kopf zur Seite.

»Ist das Blut?«

Das war der Moment, in dem mein Herzschlag aussetzte.

»Hat der verfickte Bastard dir wehgetan?«

Atme, atme, atme, Zoé.

»Sag nur ein Wort, und ich bringe den Pisser um!«

Ich formte meine Lippen zu einem Grinsen, von dem ich hoffte, dass es verwegen aussah. Eines, das jeden Moment von meinem Gesicht zu rutschen drohte. »Nein. Wir hatten nur ein bisschen zu viel Spaß.«

Jean-Pauls Augen waren wie scharfe Dolche, die er auf mich richtete, ehe er sie sinken ließ. »Ich warte in der violetten Kabine auf dich. Mach schnell.«

Er ließ von mir ab, und doch hatte ich das Gefühl, seine rauen Hände noch immer an meinem Gesicht zu spüren wie Raouls Finger zwischen meinen Beinen. Ohne ein weiteres Wort nickte ich und wandte mich wieder der Treppe zu. Kaum war ich auf halbem Wege oben, ertönte Jean-Pauls Stimme ein weiteres Mal hinter mir.

»Und wehe, ich bekomme nicht die gleiche Show wie dieser Wichser!«

Ich ignorierte ihn und stürmte die letzten Stufen hinauf. Als mir einer der Gäste entgegenkam, wich ich eilig in die Waschräume aus. Mit zitternden Fingern verriegelte ich die Tür.

Mein Blick traf auf den Spiegel über dem Waschbecken, und mir entwich ein schockierter Laut. Mein zersplittertes Spiegelbild sah schrecklich aus.

Rote Male glühten an meinem Hals wie ein verfluchtes Brandzeichen. Ich ahnte schon jetzt, dass sie nicht allzu bald verblassen würden.

Meine Augen waren vor Schreck geweitet, die Pupillen so riesig, dass die Iris beinahe schwarz wirkte statt braun. Blass war ich schon immer gewesen, aber jetzt war jegliche Rest-Farbe aus meinen Wangen gewichen. Ich konnte sogar die feinen Äderchen ausmachen, die sich wie blaue Schlangen durch das Weiß wanden.

Und dann war da dieses dunkle Rot, das nicht in mein Gesicht gehörte. In feinen Sprenkeln bedeckte es meine rechte Schläfe, weiter darunter wurde es heller, dort, wo ich das Blut in meinem Versuch, es abzubekommen, verwischt hatte.

Mechanisch drehte ich den Wasserhahn auf und hielt eins der Stofftücher unter den kalten Strahl. Ich rieb mir die roten Flecken aus dem Gesicht, ehe ich es auf den Boden klatschen ließ, ohne weiter darüber nachzudenken.

Ich klammerte mich an den Rand des Waschbeckens, versuchte mich auf das Wesentliche zu konzentrieren: Wie ging es nun weiter? Ich musste hier rauskommen, bevor man die Leiche unten entdeckte und die Tat mit mir in Verbindung brachte. Danach würde es vermutlich nicht lange dauern, bis man eins und eins zusammenzählte und herausfand, wer ich wirklich war. Nicht, dass ich Zoé Durand aus Aubervilliers war – dieses Geheimnis würde ich irgendwann mit mir ins Grab nehmen –, aber dass ich die gesuchte Diebin war, die Rivière in den letzten Jahren in Aufruhr versetzt hatte.

Zumindest, wenn es nach den Flugblättern ging, die mein Gesicht zeigten. Dass ich die aufgezählten Verbrechen nicht allein begangen hatte, stand auf keinem davon. Unser letzter großer Coup hatte für jede Menge Schlagzeilen gesorgt, dabei war es gar nicht der Raub der seltenen Reliquie gewesen, der mich berühmt-berüchtigt gemacht hatte. Es war die Tatsache, dass meine Komplizin bei dem Überfall getötet worden war.

Schmerz flammte in meiner Brust auf, Schuld grub ihre Klauen in mich. Wie damals erschien dieser körperlose Schemen vor meinem geistigen Auge. Wieder waren da diese ruhelosen, vagen Gesichtszüge, die sich in Rauch auflösten, kaum dass ich sie zu erfassen versuchte. Seitdem war ich mir sicher: Ich wurde krank. Wie meine Mutter.

Ein Flackern im Spiegel ließ mich zusammenzucken und zerstreute meine Gedanken. Panisch wandte ich mich um, doch hinter mir stand niemand. Ich richtete meinen Blick zurück auf den gesprungenen Spiegel, in dem ich nichts weiter ausmachte als meine eigene traurige Reflexion. Ich hatte mich zu nahe an die Tür zu meinem Unterbewusstsein begeben, die ich längst verschlossen hatte.

Hastig wusch ich mir die Hände, strich mein Kleid glatt und schlüpfte zurück in den Barbereich des Salon Rouge, ohne mich noch mal umzudrehen. Das Geklapper von Tellern und Klirren von Gläsern drang an meine Ohren und begleitete mich bis zur Tür.

Erst als ich die Klinke ergriff, fiel mir ein, dass ich meinen Mantel unten vergessen hatte, aber ich würde den Teufel tun und noch mal in diese Hölle hinabsteigen, in der ich einen toten Mann zurückgelassen hatte. Und einen anderen, der sich gerade vermutlich selbst befummelte, während er auf meine Rückkehr wartete.

Also trat ich in meinem aufgerissenen Baumwollkleid, das nur noch an schmalen Trägern an meinem Körper hing, in die kalte Novemberluft hinaus. Sie empfing mich nicht gerade freundlich, schon nach wenigen Schritten spürte ich Nadelstiche über meine nackten Arme ziehen.

Doch ich würde jetzt nicht umdrehen. Ich würde nie wieder zurückblicken. Ich würde weitergehen. Weitermachen. Mein ganzes Leben bestand aus Weitermachen. Weiter, weiter, weiter, einfach nur weiter. So lange, bis es aufhörte. Bis alles aufhörte. Bis ich eines Tages nicht mehr weitermachen musste. Nicht mehr fühlen, nicht mehr denken, nicht mehr atmen. Atmen war so verflucht anstrengend.

Auf der anderen Straßenseite erspähte ich einen Mann. Er saß auf dem Boden und hatte sich an die Hausmauer in seinem Rücken gelehnt, in den Händen einen Bierkrug, der Kopf halb auf die Schulter gesackt.

Ich passierte das Café Komine. Heute blickte ich nicht wie sonst sehnsüchtig durch das Schaufenster auf die Reste von glasiertem Gebäck. Alles, was ich wollte, war mein Bett.

Ich taumelte über die Kreuzung, die mich von zu Hause trennte. Durch den aufgekommenen Nebel hinweg warf ich noch einen letzten Blick zu dem schlafenden Mann. Ich wollte sichergehen, dass er mir nicht folgte, nicht doch auf mich aufmerksam geworden war. Die Gefahr, die von Männern ausging, war mir immer bewusst, doch gerade wirkte sie auf mich besonders real. Meine Haut fühlte sich noch immer schmutzig an, überall, wo Raoul mich berührt hatte.

Die viel zu frischen Erinnerungen an die Erfahrung, die ich gerade erst gemacht hatte – ein Blick zur Turmuhr legte nahe, dass es keine halbe Stunde her war – konnte das wirklich sein? –, sorgten dafür, dass ich genau vor Augen hatte, wie verloren ich sein würde, wenn ein weiterer Mann beschloss, mich gegen meinen Willen festzuhalten. In dem Moment spürte ich das Gewicht des Dolches in meinem Stiefelschaft ganz deutlich.

Wäre ich wirklich so hilflos, wie ich glaubte? Was machte schon ein zweiter Toter auf meiner Liste, die mich ohnehin bereits nach Xanthia verdammte? An jenen Ort, der eine jede sündenbefleckte Seele nach ihrem irdischen Tod in Empfang nahm.

So hat es mir Maman erzählt. Man hat es sie in der Schule gelehrt. Ich selbst war nur die ersten Jahre meiner Kindheit auf einer Schule gewesen, später hatten wir nicht länger die Mittel, geschweige denn den Ruf.

Kaum war Maman vor zweiundzwanzig Jahren schwanger geworden, hatte man sie aus der Dorfgemeinde Aubervilliers verstoßen. Denn sie war nicht vermählt gewesen, als sie mich empfangen hatte. Man hatte sie eine Hure geschimpft, eine Sünderin, eine Gottlose. Ihre eigenen Eltern hatten sie vor die Tür gesetzt, da war sie gerade siebzehn Jahre alt gewesen. Jünger als ich jetzt.

Sie hatte nur noch mich gehabt, war den ganzen Tag arbeiten gewesen, um mich zu ernähren. Zumindest bis zu diesem Anfall beim Wocheneinkauf auf dem Marktplatz. Er hatte alles verändert. Jahre später hatte ich erfahren, dass ihr Gehirn für immer geschädigt war.

Von da an war ich diejenige, die auf sie aufpasste, die dafür sorgte, dass genug Geld da war, um uns über Wasser zu halten. Meistens hatte ich gebettelt, manchmal gestohlen. Irgendwann reichte das alles nicht mehr. Nicht, wenn wir diesem elendigen Leben entkommen wollten. Das war es, was ich mir für uns wünschte – fortgehen, neu anfangen. Dafür brauchte man bei Weitem mehr Geld, doch ich hatte nicht die nötige Bildung für einen angesehenen Beruf. Wo mich das alles hingeführt hatte, war kaum zu verkennen.

Als sich die Konturen unseres Hauses aus dem Zwielicht schälten, gerade außerhalb der Stadtgrenzen Rivières, verlangsamte ich meine Schritte. Man hatte das einzige Fenster mit einem schweren Stein eingeworfen, und das Holzbrett, das ich über dem Loch angebracht hatte, hing schon wieder halb herunter.

»Verdammt«, fluchte ich leise vor mich hin, weil mir einfiel, dass meine Schlüssel sich in meiner Manteltasche befanden. Maman würde sich erschrecken, wenn es mitten in der Nacht an der Tür klopfte. Und wenn sie mich erst in diesem Aufzug erblickte … Aber sie würde es ohnehin gleich wieder vergessen. Das war die Tücke und nun in gewisser Weise auch der Vorzug ihrer Krankheit. Für sie hatten wir noch immer jenes Jahr, in dem sie ihren Anfall erlitten hatte. Ich war noch immer neun Jahre alt und ihr ganzer Stolz. Trotz all der Schande, der sie meinetwegen ausgesetzt gewesen war.

Während ich näher kam, packte mich ein beklemmendes Gefühl. Um mich herum war es beinahe stockfinster, da nur noch eine der Laternen funktionierte, aber es sah so aus, als würde die Tür unseres Hauses halb offen stehen. Die böse Vorahnung verwandelte sich schnell in die reinste Form von Panik.

Ich begann zu rennen, ignorierte meine brennenden Fußsohlen, die schon viel zu lange in Schuhen steckten, die alles andere als gut für sie waren. Schwer atmend hielt ich vor unserem Haus inne, griff instinktiv nach dem Dolch in meinem Stiefel und hielt ihn vor mich. Die Tür stand tatsächlich einen Spaltbreit offen.

Und dann habe ich Ausschau nach dir gehalten, Claire. Tag und Nacht lag ich auf der Lauer, bis ich dich endlich entdeckte.

Meine Existenz war nicht länger nur ein Gerücht. Was, wenn Raoul Vignaud nicht der Einzige war, der von mir gewusst hatte? Was, wenn man mich bis nach Hause verfolgt hatte, bis zu …

»Maman!«, rief ich erstickt. »Maman, geht es dir gut?«

Ich stürzte in ihr Zimmer, direkt an ihr Bett, und musste mich an der Wand dahinter stützen, als der Boden unter meinen Füßen wankte.

Der Dolch fiel klirrend auf die abgenutzten Holzdielen.

Meine Mutter richtete sich auf und sah mich aus geweiteten Augen an.

»Du hast mich erschreckt, Zoé.« Ihre Stimme klang heiser vom Schlaf.

Ohne ein Wort ließ ich mich zu ihr nieder und fiel ihr um den Hals, konnte meine Tränen nicht länger zurückhalten. Ich klammerte mich an meine Mutter, als wäre ich das neunjährige Kind, das nach Schutz und Geborgenheit suchte.

»Hat Émile dich wieder geärgert, mein liebes Kind?«, fragte Maman und strich mir dabei liebevoll über den Rücken.

Ich schluchzte laut auf, und obwohl ich sie daraufhin noch fester umarmte, fühlte ich mich so allein wie schon lange nicht mehr. Da war niemand, dem ich von dem erzählen konnte, was mir heute passiert war. Was ich getan hatte. Was ich jede Nacht tat. Wozu mein Leben geworden war. Niemand, dem ich mitteilen konnte, wie sehr ich meine Mutter vermisste. Meine Mutter, die irgendwie hier war, aber irgendwie auch nicht.