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Sibylle Bergs »Ende Gut« - endlich bei Kiepenheuer & Witsch als E-Book. Die Heldin dieses Romans sieht, dass alles den Bach runtergeht: Flutkatastrophen vorm Fenster und im Fernseher, mal wieder bricht eine neue Seuche aus, ihren Job in irgendeiner Agentur ist sie auch los, nun denn. Die Menschheit ist immer Scheiße gewesen. Und nun geht eben die Welt unter. In einem Café explodiert eine Bombe, die Heldin mittendrin. Sie schält sich aus den Trümmern und macht sich auf, das Glück oder zumindest ein Leben zu suchen …
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Seitenzahl: 423
Sibylle Berg
Roman
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Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Über Sibylle Berg
Über dieses Buch
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
Widmung
1 Wir lernen den Helden des Buches kennen. Die eine Heldin ist auch falsch. Helden sind irgendwie anders.
2 Es ist Sonntag. Die Heldin denkt über die Weltlage nach, dazu läuft der Fernseher, und es regnet.
3 Es ist immer noch Sonntag. Die dauern extra lange. Die Heldin besichtigt ihre Wohnung, verleiht einen Pokal, und der Fernseher läuft.
4 Ein Pudding wird gegessen, eine alte Dame gerettet, ein Millennium-Tower gebaut, und es regnet.
5 Wir besichtigen die Stadt, einen Geschenkeladenbesitzer und eine Sekretärin. Die aber auch nichts zur Geschichte beitragen.
6 Die Stadt wird munter. Harkan erzählt von Schweinen. Seine Mutter von Steinen und Brüsten. Und Rea von Würmern.
7 Wie viele unerwünschte Gedanken hat man pro Minute? Die Heldin denkt über Liebe, Sex und Berufe in der Vergangenheit nach. Im Anschluss wird sie ein wenig traurig.
8 Die Heldin erreicht ihre Arbeitsstelle. Eine Putzfrau kommt imaginär zu Schaden und auch andere Frauen nicht gut weg.
9 Zwei Sorten Frauen kommen zu Wort und Urlauber zu Schaden. Die Heldin muss sich nach einer neuen Stelle umsehen.
10 Die Heldin steht auf der Straße, ein Trinker stellt sich vor, und die Vergangenheit hat auch einiges zu erzählen.
11 Unsere Heldin geht in ein Restaurant. Dort beobachtet sie Frauen, Männer und die Fortpflanzung von Insekten.
12 In einem Krankenhaus geschehen seltsame Dinge. Es gibt eine neue Arbeitsstelle und ein paar Journalisten kennenzulernen.
13 Die Heldin hat Sex oder so ähnlich und eine Einsicht. Ein Chefredakteur erklärt die Welt.
14 Wir erfahren etwas über Liebe, lernen einen traurigen Hund kennen, und Dinge fliegen in die Luft.
15 Wir schauen fern, und die Heldin hat zum ersten Mal seit dreißig Jahren eine Idee.
16 Alles geht weiter wie gehabt. Die Journalisten haben Spaß.
17 Endlich wird in der Gruppe ferngesehen. Die Heldin bekommt Besuch und eine dicke Frau ihren letzten Auftritt.
18 Die dicke Frau badet, und unsere Heldin trennt sich von einigen Dingen. Ein Ausländer kommt zu Fall, und in der Stadt wird es ungemütlich.
19 Die Heldin fällt um und jammert ein wenig. Vielleicht stirbt sie auch. Es war wohl alles ein bisschen viel in den letzten Tagen.
20 Überraschung: Die Heldin ist nicht gestorben. Es wird Morgen. Geld wird ausbezahlt für den reibungslosen Verlauf, und ein Naherholungsgebiet redet.
21 Wir erfahren, was gerade im Stadion läuft, lernen einen Soldaten und Ameisen kennen.
22 Wir fahren nach Hamburg, lernen die Innenstadt kennen und einen Makler.
23 Wir lernen etwas über Viren, besuchen einen Bunker, und diverse Leute erzählen von ihrem Leben.
24 Ein neuer Morgen in Hamburg. Die Sonne scheint immer noch nicht. Eine Busreise wird unternommen, und ein dicker Junge hat Mist gebaut.
25 Die Heldin entwischt. Berlin ist immer eine Reise wert, ein Bauer klagt sein Leid, und das Kind reist nach Polen. Immer diese Kinder an der Ostfront.
26 Ein Besuch am Kudamm. Anale Erfahrungen, Berlin wird noch ungemütlicher. Und: Hurra, es gibt endlich Designer-Gasmasken!
27 Ein naiver Diskurs über die Zeit. Menschen in Bars. Und: Erwischt!
28 Besuch bei einer alten Dame. Die Heldin verlässt die Stadt, um neue Abenteuer zu erleben.
29 Unsere Heldin kommt in ihren Geburtsort zurück. Der Osten war gar nicht so schlecht, denkt sie sich, und schreibt schnell einen Bestseller darüber.
30 Die Heldin sieht ein brennendes Rathaus, und schon wieder sterben unschuldige Schulkinder. Wir lernen einen Professor kennen.
31 Es wird etwas überspült. Die Heldin isst Thunfisch und trocknet Opas. Ein Mädchen wird Popstar.
32 Die Börse ist weg, die Bombe hat Geburtstag, ein Auto wird entführt, und die Heldin hat bessere Laune.
33 Es wird eine Spritztour unternommen, und wir lernen einen netten Mann kennen. Unsere Geschichte bewegt sich auf eine völlig neue, emotionale Ebene zu.
34 Wir erfahren mehr über den stillen Mann. Die Menschen im Dorf waren sehr sehr krank. Nachts Autofahren ist wie in einer Streichholzschachtel voller Watte liegen.
35 Wunderbares Amsterdam. Was mit Königin Beatrix passierte und die erste große Enttäuschung.
36 Eine Bootsfahrt steht an, dabei wird eine Hand gehalten. Der Heldin ist sonderbar.
37 Finnland, Finnland, Finnland. Ein paar Stunden ungetrübter Freude, wir lernen die Moskau-Bar und einen Hausmeister kennen.
38 Auf zur Insel. Da sind merkwürdige Menschen, die gute Zeit scheint vorbei. Oder fängt jetzt etwas Neues an?
39 Ein neuer Tag mit Hildelore. Noch mehr komische Leute, die Stimmung wird dadurch nicht besser.
40 Merkwürdige Gruppendynamik. Was ist mit dem stillen Mann? Unsere Heldin hasst Inseln.
41 Weitere lustige Experimente im Lager. Rudi erzählt. Keine Neuigkeiten vom stummen Mann. Die Welt explodiert immer noch.
42 Maik wird Guru. Alle haben merkwürdige Sachen an. Die Insel ist überfüllt. Nackte ficken zu Delfinmusik.
43 Wir erfahren, was mit künstlichen Hüftgelenken passiert. Der stumme Mann baut Scheiße.
44 Willkommen auf den Ålands. Birken und Holzhäuser. Vielleicht wird jetzt alles gut.
45 Kökar. Endstation. Es gibt Kaffee und Ruhe. Wir erfahren, wie heile Welt geht.
46 Ein paar Monate sind vergangen. Die Heldin hat sich eingelebt, und nun gibt es: eine Überraschung!
47 Die Heldin bildet ein Paar. Die Sonne geht nicht auf, und kein Wunder geschieht.
48 Ende gut.
Inhaltsverzeichnis
Danke, meine niedlichen Freunde
und Mutter Sissi,
von der ich alles lerne.
Inhaltsverzeichnis
Ich bin so um die 40. Das sagt man heute auf Partys, zu denen einen keiner einlädt, noch nicht mal zu verdammten Stehpartys oder EVENTMANAGER-GEBURTSTAGEN lädt einen eine Sau ein, und wenn doch, wäre da sicher ein dicker Mann mit Schweiß, der fragte: Na, wie alt sind wir denn? Und statt ihm mit einem Bauchschuss zu antworten, dass seine Scheißgedärme auf den Boden klatschen und gegen den Cindy-Sherman-Original-Abzug mit Nummerierung, sagt man, den Kopf zu Boden geneigt: Ich bin so um die 40. Ich bin 176 Zentimeter groß, ich wiege 56 Kilogramm, ich habe irgendwelche Haare, meine Augen sind blau, aber nicht sehr, und meine Haut wird immer weicher oder das Fleisch darunter, das kann ich nie auseinanderhalten. Ich wohne in einer deutschen Stadt, die wirkt, als wäre sie komplett besoffen. Ich mache fast alles für Geld, und nichts davon interessiert mich. Ich habe mich für kaum etwas bewusst entschieden, ich habe es passieren lassen, das Leben. Wenn man isst, schläft, keine Drogen nimmt, sich sauber hält und nicht weiter auffällt, dann passiert es einem so, das Leben, man muss da keine Verrenkungen machen. Ich lebe alleine, weil das auch so passiert ist. Ich arbeite irgendetwas, danach gehe ich nach Hause, mache mir tiefgekühlte Sachen warm, esse die im Bett, schaue fern, schlafe, und am nächsten Morgen geht alles von vorne los. Ich mache die meisten Dinge, weil alle sie so machen. Alle wohnen und arbeiten, falls sie nicht arbeitslos sind, alle essen was und haben Schlafprobleme, besonders in meinem Alter, weil sie Angst haben, nicht wieder aufzuwachen. Aber das würde der dicke Mann überhaupt nicht wissen wollen. Er wäre auch bereits nach einer Minute verschwunden. Denn so ist das heute: Keiner hört mehr wem zu. Da kann man noch so interessante Sachen erzählen.
Inhaltsverzeichnis
Es ginge durchaus noch unerfreulicher: An einem Sonntag zum Beispiel. Im Herbst zum Beispiel, im Sommer oder egal wie das Zeug heißt, denn Jahreszeiten sind uninteressant geworden, nicht zu unterscheiden, seit die Welt begonnen hat, sich in einer Geschwindigkeit aufzulösen, mit der keiner gerechnet hat.
O-Ton Welt Damit habe ich irgendwie nicht gerechnet!
Die wenigen, die sich für etwas außerhalb ihrer selbst interessieren, wissen, dass sich die Anzeichen für den Untergang häufen. Aber sie denken auch: Jede Zeit ist den Menschen vermutlich als die furchtbarste erschienen.
O-Ton Melchior und Michelangelo Findest du unsere Zeit nicht auch verkommen, Michel? Ja, Melchi, ich glaube, die Welt hat ihren Höhepunkt überschritten. Die Inquisition und die Pest, Frauen brennen auf Scheiterhaufen, ich glaub, das geht nicht mehr lange.
Wollen wir uns mal nicht so wichtig nehmen. Denken die Pessimisten, die eigentlich Realisten sind, weil sie erkannt haben, dass es keine andere Spezies gibt, die so habgierig, boshaft, verkommen und neurotisch ist wie der Mensch. Und trinken einen Kaffee, einen Schnaps. Was sollen sie sonst auch trinken? Oder tun?
Es ist:
Zu spät für Lösungen.
Es gibt:
Keinen Anfang und kein Ende.
Keine Konturen.
Die Menschheit ist schon immer Scheiße gewesen. Und nun ist auch noch die Welt, auf der sie herumläuft, zu einem Haufen Dings geworden, aufgestapelte, wurmstichige Bretter, alles, was Leute mit Schwung, Gier und Dummheit aufgehäuft hatten in ein paar Tausend Jahren. Zieht man ein Teil heraus, stürzt der Rest in sich zusammen.
Einige Bretter sind entnommen worden.
Keiner hat mehr eine Ahnung. Alle wissen gleich viel. Jede Sekunde kann jeder eine neue Meinung haben und sie, ist er dumpf genug, auch äußern. Aber alles ist falsch. Die Zeit der Meinungen ist vorbei. War früher, als die Welt überschaubar schien, sich Gut und Böse besser bestimmen ließen. Es hat zu viele Menschen heute, zu viele Schattierungen, zu viel Geräusch, gibt weder links noch rechts, nur ein wenig Moral existiert noch. Aber was das ist, bestimmt jeder für sich.
Zu nah sind sich die Länder durch den unentwegt überall Tag und Nacht rauschenden Fluss manipulierter Informationen. Zu billig die Reisen, dass jeder überallhin kann und sich eine Meinung bilden, im Urlauberreservat.
Alle wissen Bescheid.
Zu unklar die Lage.
Der letzte große Krieg hat begonnen. Die geschickt eingeleitete Schlacht der Giganten. Ein paar Godzillas verteilen die Weltherrschaft neu. Ob sie bedacht haben, dass es im Anschluss vielleicht keine Welt mehr geben wird?
Aber auch wir hier unten haben was zu tun. Unterentwickelte Nebenkriege für die kleinen Leute. Seit ein paar Jahren ist die scheinbare Ordnung der Welt, die durch Diktatur und Mord, Gesetze und Folter hergestellte Ordnung der Welt, durcheinandergeraten. Die Twin Towers, Aufräumarbeiten in Afghanistan und dem Irak, viele kleine Plakate mit Friedenstauben, tote Russen in der Oper, tausend Attentate, die kaum mehr einen interessieren.
Europa ist noch ruhig, ruht sich noch aus in seiner vermeintlichen Überlegenheit. Doch es ist ungemütlich geworden. Auf allen Kontinenten bricht die Wirtschaft zusammen, Handyanschlüsse werden gesperrt, Jungjournalisten machen Karriere als Obdachlose, Broker erhängen sich. Überall werden westliche Touristen entführt. Hunderttausend Menschen im Land, davon 30 Prozent Teenager, bringen sich Jahr für Jahr um, ohne andere mit in den Tod zu nehmen – was für eine Verschwendung. Keiner glaubt, keiner will mehr etwas. Außer persönliches Glück. Doch woher soll das kommen, wohin gehen – zu Leuten, die nicht bei sich sind? Da will doch keiner hin.
In allen Ländern, die nicht von Weißen bewohnt sind, wird weiterhin massiv gestorben an Hunger und Seuchen. Die Bürgerkriege sind so zahlreich, dass man mit ihrer Registrierung nicht nachkommt, sich nicht im Ansatz die Namen all der neuen Zwergstaaten merken kann, von denen jeden Tag ein paar entstehen. Es wohnt ohnehin keiner mehr da, alle gestorben im Unabhängigkeitskrieg. Also nichts Neues.
In Europa ist es spannender. Malaria, Beri-Beri und die Krätze, die in unseren Breitengraden, in unseren überlegenen Leibern nix verloren hatten, sich aber wegen der Klimaveränderung prima entwickeln konnten, erobern den Norden, was aber nicht weiter schlimm ist, weil der sowieso gerade weggespült wird.
Es ist das dritte Jahr der Flut. Das Fernsehen zeigt, wie in den Jahren zuvor, per Live-Cam 24 Stunden lang Überschwemmung. All die nutzlos Schlaflosen können in den frühen Morgenstunden beobachten, wie Kühe in den großen Abfluss der Erde strudeln und übergewichtige Menschen, die ihren Lebenshöhepunkt nie gehabt haben, kleine Sandsackwälle gegen meterhohe Wassermassen errichten. Schwitzend versuchen sie, seltsame Couchgarnituren aus hellem Kunstholz mit Bezügen, auf denen lilafarbene Dreiecke torkeln, gegen die Plörre aus Kot und aufgeweichten Gräbern zu schützen. Sie weinen in die Kameras, während das Wasser einen Totenschädel gegen ihre dicken Knie spült.
O-Ton Ossi Herbert Mein Hab und Gut – alles dahin. 40Jahre Arbeit, stückweit umsonst. Erst hat uns die DDR betrogen um unseren gerechten Lohn, und dann kamen die Wessis und die Treuhand und der Teuro. Von vorne bis hinten beschissen. Ich bin Frührentner, da, sehn Sie, na, Sie sehen nichts, da ist das Bein weg. Noch mal alles aufbauen, das kann ich vergessen. Und von wegen Entschädigung, da lach ich, wie das aussieht, wissen wir: 50Mark Begrüßungsgeld und ein Bündel Bananen. An dem Haus hatte ich ja so weit alles selber gemacht. Zuletzt den Grillplatz im Garten. Mit Platten auf dem Boden und einer Laube, und die Bänke hatte ich angemalt, da hinten, sehen Sie, da, wo der Fluss so breit ist, überdacht hatte ich das und mit Glitzerschlangen geschmückt, und noch letztes Wochenende haben wir da gesessen. Freunde und ihre Frauen. Wir haben Ferkel gegessen und Korn getrunken, wir haben gelacht und Karten gespielt, und selbst mit meiner Frau habe ich mich wieder verstanden. Auch sexuell. Dann war ich so voll, dass ich kotzen musste, das schöne Ferkel kam wieder raus, ich dachte, wie der Spieß durch seinen Mund ging, und dass es eigentlich aussah wie ein gegrillter Mensch. Da hinten stand mein Auto. Ein Mercedes. Gebraucht zwar, aber immerhin ein Einspritzer und mit Handschaltung, wegen des Beines. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Ohne Auto sind mir die Hände gebunden. Die Einbauküche ist noch nicht abbezahlt. Meine Frau ist ertrunken, als sie versucht hat, die Couch zu retten. Die war erst drei Monate alt.
So unerheblich, ob sie ihre Pappmaché-Häuser wieder errichten oder sich in Höhlen verkriechen, zu erwarten steht von den Menschen nichts Überraschendes. Nachdem das Wasser abgezogen, die gold-blau-gelb gestreiften Tapeten wieder angebracht, werden sie Kredite aufnehmen, um sich rasch neue, große Autos zu kaufen. Sie werden in die Supermärkte kriechen, über eingetrocknete Schlammschollen, und billig Fleisch kaufen, Früchte und Zeug, das anderenorts für Pfennige produziert worden ist.
O-Ton Manni Ich hab’s auch nicht so dicke. Ich muss schon auf den geldwerten Vorteil achten, und grad beim Essen kann ich mir keine großen Sprünge erlauben.
Sich aufregen, wenn sie erfahren, dass die Brocken, die in ihren Leibern verwesen, von mit Pestizid vollgestopften toten Tieren stammen. Sie werden schreien: Mein Hab und Gut, wenn sich ihre Körper auf Couchgarnituren auflösen. Und der letzte oder vielleicht erste Gedanke ihres Lebens wird sein: Die da oben haben uns verarscht.
Das ist er also, der Beginn des neuen Jahrtausends.
Was gerade hinter uns liegt, ist mäßig interessant.
Die 80er-Jahre mit dieser fast rührenden Anbetung des Geldes waren harmlos gewesen im Vergleich zu den 90ern, dem Jahrzehnt der komplett verblödeten Jugend, die Millionen mit nicht existierenden Dingen verdiente, jeder sein eigener Börsenguru, die Welt im globalen Wahn, da wurde aufgekauft, expandiert, ausgebeutet und gelebt, als seien alle unsterblich. Weil die Bevölkerung der westlichen Welt hoffnungslos überaltert war, wurde Jugend als luxuriöse Qualität verehrt. Zwanzigjährige schrieben Bücher, Fünfzehnjährige machten Millionen mit Musik, Vierzehnjährige waren Top-Models. In Zeitungen, Magazinen und im Fernsehen erklärten minderjährige Schwachköpfe im deliriösen Orgasmus ihrer eigenen Größe die Welt. Alle anderen waren Verlierer, alt oder ohne Lehrstelle, waren Ausländer oder Proleten, tanzten verzweifelt, mit Drogen zugedröhnt, auf Technoparaden und ließen sich als Spaßgeneration beschimpfen. Das Jahrzehnt hatte den Körper zum heiligen Dings erklärt, gerade weil keiner mehr Körper brauchte, Männer keine Muskeln mehr benötigten, denn der neue Mittelstand, das neue Mittelmaß, die geistige Elite, hockte vor Computern, während ihre Frauen jung und straff sein mussten, und so waren die 90er auch das Jahrzehnt der Schönheitschirurgie, der Hülle, der Leere. Was nun wohl kommen mochte?
Aufräumen zum Neubeginn?
O-Ton Kakerlaken Yes Sir.
Inhaltsverzeichnis
Ach, was könnte ich mich wieder aufregen, wie ich da so liege und an meinem verkommenen Körper entlang in den Fernseher sehe. Soso – begleitet vom Wackeln des Kopfes, wenn er noch wackeln könnte und nicht abgetrennt zwischen meinen Beinen läge –, die Luftfahrt mal wieder. Mehrere Flugzeuge sind abgestürzt, außerdem haben Terroristen sich und andere in diversen arabischen und asiatischen Ländern aus verschiedenen Gründen in die Luft gesprengt, was aber nur als Lauftext unter den Überschwemmungsbildern gesendet wird. Zu viele Attentate, zu weit weg, von denen kaum noch einer was wissen will. Ach Göttchen, denken die Leute, wenn sie so einen zerfetzten Terroristen sehen, den Mund zu einem letzten Allah Hu Akbar aufgerissen, an einem Kopf, der sich irgendwo, aber jedenfalls nicht mehr auf dem Körper befindet, in den Trümmern eines Busses, eines Einkaufszentrums oder eines Restaurants, inmitten zerfetzter Leiber verhasster Ungläubiger. Nicht schon wieder diese kaputten Fundis, denken die Leute und konzentrieren sich auf das Bild eines Sofas im Fluss (Dreiecke im Dessin), das auf den Schaumkronen tanzt.
Bei mir scheint jedoch alles ruhig. Der Boden trocken, die Wände nicht von großen Rissen zerteilt. Der Sonntag gewinnt in meinem Wettkampf der Depressionen nach Pfingsten und Weihnachten den Trostlosigkeitspokal in Bronze: Ein kleiner Hund, der überfahren an einer Straße liegt. Mit Sockel und Kupferplatte.
O-Ton Hund Ich bin so müde von Elend, Traurigkeit und Hass, von dem, was Menschen sich antun. Es wäre doch so einfach, anders zu leben – aber sie wollen nicht hören. Darum gehe ich heim.
Chor: Oh Erlöser, da geht er hiiiieeeen, und zwar heim.
Vor einiger Zeit habe ich begonnen, mich für die Welt zu interessieren. Ich lese Zeitungen und Bücher über den Islam, den Osten, den Westen, den Vaterländischen Krieg, das Dritte Reich, Schwackelschutzwert – das ganze Zeug, und all diese Informationen führen zum Begreifen von nichts. Ich weiß unterdes, wo der Irak liegt – gesehen habe ich ihn nicht, aber auf einer Karte nachgeschaut, die werden ja nicht lügen da – und welche Länder Südamerikas mit Dollar zahlen, ich weiß, wer Pol Pot war, und dass Stalingrad umbenannt worden ist, leuchtet mir auch ein. Ich habe begriffen, dass mein Gehirn nicht das eines Genies ist. Mit jeder neuen Information wächst meine Erstarrung, denn ich verstehe immer weniger. Ich bewege mich durch die Wohnung in der komplett spannungsfreien Haltung eines angetretenen Käfers
– all die Fliegen, die ich als junger Mensch verletzt habe, um sie danach gesund zu zähmen, die toten Haustiere, die ich in eine goldene Büchse legte, sie vergrub und jede Woche nach dem Stand der Verwesung schaute, Indizien des späteren Serienmörders, der ich hätte werden können, wäre ich nicht zu träge zu allem –
die eines automatisch bei Dunkelheit, Depression und nach zu langem Liegen einnimmt.
Heute würde man sagen, dass meine Wohnung 300Euro kostet, jedoch weigere ich mich, das Wort EURO auszusprechen. Ich schäme mich des albernen Wortes, sehe die gealterten Sozialdemokraten mit ihren gelben Krawatten und ihren roten Brillengestellen, die es sich ausgedacht haben, ein Wort wie Kinder in Trachten, die um einen Maibaum tanzen, auf dem alle Flaggen Europas wehen, sehe sie abends vergeblich zu onanieren trachten, die Herren, ob des Gedankens, eine neue Währung erfunden zu haben, aber leider kommt da nichts, die Prostata, Sie wissen schon.
Meine Wohnung ist auf jeden Fall billig. Nachdem ich den Mietvertrag unterschrieben und angeekelt die dunkle Bude betrachtet hatte, dachte ich, dass ich wenigstens viel Geld für informative, lehrsame Reisen übrig haben würde. Außerdem wäre ich in dem spannenden Leben, das mir bevorstünde, vermutlich sowieso nicht oft zu Hause, denn da wäre die Welt, und die würde ich erforschen mit meinen interessanten Bekannten.
Ich bin dann auch mal auf Mallorca gewesen. Alleine.
Die Wohnung ist ein fensterloser Gang, ein kleines Zimmer mit Gartenbank und Tisch, ein Klo, eine Küche mit einem Spiegel über der Spüle zum Waschen und Betrachten des Gesichts, ein kleines Zimmer, darin ein Bett und ein Fernseher, ein wenig Verwüstung zu schauen. Dort höre ich seit Stunden Christian Death, Siouxsie & The Banshees, DAF und Jeffrey Lee Pierce. Dazwischen Stille, angenehm unterbrochen vom unangemessen lauten Aufschlagen des Regens, gleich springenden Brokern.
Irgendwann, gestern oder vor hundert Jahren, bin ich in diese Stadt gekommen, die mir weder Heimat noch besonders attraktiv war.
Es hat sich nicht viel verändert seitdem. Zwar stehle ich keine Portemonnaies mehr aus den Umkleidekabinen von Chiropraktikern und sammle keine Zigarettenkippen von der Straße, doch halte ich mich noch immer in derselben Wohnung (300 EURRRRRO) auf – 40 Quadratmeter mit Blick auf einen Hinterhof zur einen und einer Kreuzung zur anderen Seite. Draußen: gelb. Ich habe ein paar Poster (Giger, Escher, Bauhaus) von den Wänden genommen, die Raufasertapete gegen 80er-Jahre-Wischtechnik und die Holzkiste gegen ein Ikearegal getauscht. Die alten Balletttrikots, zerrissenen T-Shirts und spitzen Stiefel sind an unbekannte Orte (innere Landschaften? Gefühlswelten?) verschwunden, wurden ersetzt durch Kleidungsstücke, die jede Grafikerin oder alternde Designerin im Schrank hat: schwarzer Schwachsinn in Textil. Vor der Tür die normale europäische Unscheinbarkeit einer Stadt, die nichts Besonderes kann: in den 50ern nervös hingeworfener Beton, auf dass er sich zu einer anständigen Form finden möge, die anschließend um sich greifen kann, bis in die neuen Stadtrandgebiete.
Und überall immer mehr Menschen, Moscheen und Erbärmlichkeit. Auch Kultur. Ein Zentrum im Untergeschoss eines Blocks aus den 50ern, mit Jugendtreff, Dia-Abenden, Vorträgen bosnischer Bauarbeiter, die in ihrer Heimat Uni-Professoren gewesen sind, Basaren zugunsten von Amnesty International und einer Bibliothek, in der es Lesungen unbekannter Autoren gibt, die ein Stipendium erhalten haben und nun hauptsächlich ausufernde Lebensläufe verfassen neben ihrem Hauptwerk, der Schilderung schwieriger Familiensituationen hinter unbeheizten Kachelöfen in Ostpreußen.
Erfolgreiche Bücher sind wie Fernsehsendungen. Leicht müssen sie sein, mit amerikanischem oder spanischem Schwung, Epen wie Hollywoodfilme, oder ghostgewritete Werke sexsüchtiger Popsänger. Bücher, die dem Leser einen Gedanken schenken, interessieren nur eine bibliophile Minderheit, und die ist tot. Keiner will wissen, dass ein französischer Autor lange vor dem tatsächlichen Ereignis ein Buch geschrieben hat, in dem er ein Attentat auf Bali, bei dem zweihundert betrunkene Touristen ermordet wurden, fast exakt vorausgesehen hat. Der französische Autor stand später vor Gericht wegen Religionsbeleidigung. Fundamentalistische FÜHRER dagegen können weiter von der Bestrafung der Ungläubigen reden, ohne dass ihnen jemand die Lampe ausbläst. Die Unsicherheit, in der wir alle leben, hat sich durch die Wiederbelebung der guten alten Kamikaze-Idee erheblich erhöht und ist durch die Medien weiter verstärkt worden. Prost.
Meine Wohnung ist voller Informationshaufen. Wann immer ich irgendetwas finde, von dem ich vermute, dass es ein Teil dessen sein könnte, das mich die Welt verstehen lässt, schneide ich es aus und lege es auf einen Haufen. Ich habe Bomben-, Ost-West-Konflikt-, Biowaffen- und Geschichtshaufen. Auf einem der letzteren liegt zuoberst eine Liste, die ich gerade ausgeschnitten habe.
19. Juli 1994 in Panama: Eine Bombe zerreißt eine Embraer-Maschine nach dem Start in der Hafenstadt Colon. Unter den 21 Opfern des Absturzes sind mindestens 12 jüdische Geschäftsleute. Hinter dem Anschlag werden moslemische Fundamentalisten im Libanon vermutet.
18. Juli 1994 in Argentinien: Die Explosion einer Bombe bringt das Haus des Jüdischen Zentrums in Buenos Aires zum Einsturz. Bei dem bislang blutigsten antijüdischen Terrorakt gibt es mindestens 86 Tote und mehr als 300 Verletzte, Juden wie Nichtjuden. Als Urheber der Tat wird die proiranische Hisbollah vermutet.
17. März 1992 in Argentinien: Vor der israelischen Botschaft in Buenos Aires explodiert eine Autobombe und verwüstet das Gebäude. Unter den 29 Toten sind vier Israelis. 242 Menschen werden verletzt. Zu dem Anschlag bekennt sich ein Dschihad-Kommando der schiitischen Hisbollah, die damit den Tod eines Anführers rächen wollte.
4. Februar 1990 in Ägypten: In Ismailia greifen ägyptische Terroristen einen Reisebus mit Schusswaffen und Handgranaten an. 9 der 11Toten sind Israelis.
6. September 1986 in der Türkei: Mehrere bewaffnete Männer richten in einer Synagoge in Istanbul ein Massaker an, 24 der zum Sabbatgebet versammelten türkischen Juden sterben. Der Anschlag sei die Rache für israelische Aktionen im Südlibanon, erklärt eine »Islamische Widerstandsfront«.
27. Dezember 1985 in Österreich und Italien: Nahezu zeitgleich stürmen Palästinenserkommandos der Abu-Nidal-Gruppe die Abfertigungsschalter der Fluggesellschaft El AI in Wien und Rom. Bilanz nach den Angriffen mit Gewehren und Granaten sowie Feuergefechten mit Sicherheitsbeamten: 16 Tote in Rom, 4 in Wien.
5. September 1972 in Deutschland: Mitglieder des palästinensischen »Schwarzen September« nehmen die israelische Olympiamannschaft in München als Geiseln. Nach einem misslungenen Befreiungsversuch der Polizei in Fürstenfeldbruck sind insgesamt 17 Menschen tot, unter ihnen 11 israelische Sportler.
Das sagt mir noch gar nichts. Das macht doch alles keinen Sinn, sie können doch nicht Sprengsätze in Kindergärten schmeißen, mit Flugzeugen in Hochhäuser fliegen, sie können doch nicht Atombomben abwerfen, Frauen steinigen, lebende Menschen ausweiden, vergasen, essen, ihnen die Augen ausstechen, sie durchsägen, Gift ins Meer schütten, Kriege arrangieren, um an Rohstoffe zu kommen.
Denken manche Menschen.
Doch, denke ich, das können sie. Und stecke mir ein Dings in den Mund.
Inhaltsverzeichnis
Im Deckel des Soja-Puddings, der heute meine Hauptmahlzeit gewesen ist, steht: Von Menschen hergestellt, die ein gutes Bewusstsein pflegen. Ökoalarm! Selbstgerechte, ungeschminkte, übergewichtige Damen, die Kunst machen, vermutlich Scherenschnitte, und Weltmusik hören, die voll bewusst in ungeheizten Häusern verkehren und Sojamus reiben between ihren nackten Schenkeln.
Muss den Soja-Pudding erbrechen.
Draußen schwanken, gepeitscht vom Regensturm, Ampeln oder Erhängte an Drähten. Kein Passant. Es gibt kaum noch Licht, die Sonne ist vielleicht schon aus.
Die Luft: Feuchtigkeit und Schimmelgeruch.
Dass es, wenn es nicht nieselt, regnet und die Sonne nicht mehr zu sehen ist, daran haben sich alle gewöhnt. Sicher, es gibt mehr Selbstmorde und Depressive, die meist zügig Selbstmord begehen, doch wer soll es ihnen übel nehmen – man trennt sich leicht von Sachen, um die man nicht gebeten hat. Wer glücklich ist in dieser Welt, muss geisteskrank sein. Ich weiß nicht, was erstrebenswerter ist: die Erbärmlichkeit des Lebens, den Untergang der Welt, die Attentate und Kriege, den Hass und Neid auszublenden und sich trotzdem an vereinzelten Blumen zu erfreuen, sich immer zu sagen: Was nützt es, wenn ich leide, ich sterbe eh bald und kann es nicht ändern. Oder die ganze Katastrophe tatsächlich wahrzunehmen. Was immer auch bedeutet: Glück liegt nicht drin.
Täglich überprüfe ich, ob mir Schwimmhäute wachsen. Das nicht. Dafür ist das Alter eingetreten, es scheint identisch mit dem Alter der Welt, die ihrem Ende entgegenzutaumeln scheint, bevor sie einen Neuanfang wagt als Wüste am Meer, mit Kakerlaken und Ratten, die viel Zeit haben, ehe sie sich Hütchen aufsetzen und unsere Fehler wiederholen.
Langsam schleppe ich mich in die Küche, vielleicht ist da etwas passiert in der letzten Stunde. Seltsam, dass nein. Ich schaue aus dem Fenster nach umgefallenen Rentnern. Gestern lag dort eine. Eine gestürzte Dame.
O-Ton alte Dame ES ist eben so passiert. Meine Güte, solche Dinge passieren halt, und am Ende sagt man Leben dazu. Kein Grund, sich aufzuregen. Alles wird alt: Bäume, Tiere, Insekten, Häuser, Autos, alle Dinge auf der Welt werden alt, die Welt wird auch alt, und dann sterben die Dinge, wechseln die Beschaffenheit, Fleisch und Knochen werden Staub und Moder und zerfallen in Atome, die sich neu zusammenfinden, zu etwas anderem. Vielleicht werde ich bald ein Computer. Die Idee gefällt mir nicht wirklich, denn noch sind meine Atome in Form, wenn auch in schlechter. Vor Kurzem war ich noch in prächtiger Verfassung. Ich war vierzig oder älter, fühlte mich wie immer, die Form war fest, und ich verstand nicht, warum Leute SIE zu mir sagten. Vor Kurzem erst hatte ich mit meinen Freundinnen in einer WG neben einem Altersheim gewohnt. Wenn ich mit der Straßenbahn nach Hause gefahren bin, saßen darin oft alte Frauen. Sie waren immer alleine. Ich schaute in die Gesichter der alten Frauen, und es war gut zu erkennen, wie sie als junge Mädchen ausgesehen hatten. Ich konnte mir in solchen Momenten vorstellen, wie es ist, alt zu sein. In so einem fremden Körper, der von niemandem berührt und beachtet würde. Den man zu Bett legt und wieder entnimmt, gänzlich ohne Bestimmung. Und manchmal wurde mir ganz übel vor Angst, das könnte auch mir passieren, irgendwann weit weg. Dann stieg ich aus der Bahn, ging in meine WG, lachte mit den Freundinnen und wusste, dazu würde es nie kommen. Bis ich so alt wäre, hätte man ein Mittel gegen den Verfall erfunden. Überraschend ist: Das Mittel hat keiner entdeckt. Und so stehe ich nun jeden Tag am Fenster in einem Altersheim. Zu mehr hat es eben doch nicht gereicht, obwohl ich immer gedacht habe, nie würde ich in so ein Heim gehen. Ich hatte auch gedacht, ich wäre bestimmt nicht allein im Alter, es würde schon noch eine große Liebe kommen, eine Familie, oder zumindest zöge ich mit vielen Freunden in ein schönes Haus am Meer. Die Freunde sind tot. Und die große Liebe ist nie gekommen. Alle Männer meines Alters hatten plötzlich junge Grafikerinnen als Freundinnen und erzählten, dass die Mädchen echt weit seien für ihr Alter und sie sich nicht hätten aussuchen können, wo die Liebe hinfiele. Dann bin ich mal gestürzt, das Hüftgelenk ist schlecht zusammengewachsen, und ich bekam eine Lungenentzündung. Über Nacht mussten mir Menschen beim Einkaufen helfen und beim Ankleiden, meine Hände zitterten, und jeder Schritt schmerzte. Innen, innen war ich noch jung, aber trotzdem stand ich jeden Tag am Fenster. In diesem Heim. Ich habe dort ein kleines Zimmer mit Kochnische, und zum Einkaufen fahre ich mit der Straßenbahn. Manchmal stelle ich mir vor, ich wäre jung und würde mich Alte da sitzen sehen. Na ja, und heute habe ich mich in meinem Zimmer umgesehen, die Kochnische, die Saftpresse, die Mikrowelle, wie die Dinge so abgestaubt darauf warten, Erbmasse zu werden, und ich begann zu lachen. Ich lachte, bis mir Tränen über die Wangen liefen. Ich muss doch verrückt sein, dachte ich. Ich werde doch nicht als gottverdammter Computer enden, auf dem pickelige Jungs Tiersexseiten anschauen. Ich packte eine leichte Reisetasche, ging aus dem Haus, hob mein Geld vom Konto und wollte gerade los, irgendwohin. Und da bin ich hingefallen.
Da saß sie blutend auf der Straße, die Menschen gingen an ihr vorbei, schauten in den Himmel, der war nicht für sie, und ich fragte die Dame, ob sie jemanden hätte. Sie schwieg lange und flüsterte schließlich leise, als schämte sie sich für das Scheitern ihres Lebens: KEINEN. Sie wurde dann abtransportiert.
Aber das geht mich nichts an. Mein Leben findet in einer unentschlossenen Übergangszeit der Evolution statt. Vermutlich ist dies das Schicksal eines jeden, der sich zwischen zwei Jahrhunderten aufhält. Wir haben sogar ein neues Jahrtausend. Diese Aufregung zum Jahrtausendwechsel. Was für ein Theater. Von Computerzusammenbrüchen und dem Ende des öffentlichen Lebens, großen Katastrophen und Ufos haben sie gefaselt. Vereinzelt waren sie in kleinen, suizidalen Gemeinschaften nach Stonehenge gereist, um sich Schlag zwölf die Lampe auszublasen.
AUS ANGST.
Doch es wurde Schlag zwölf, und wie kleine, verirrte Raketen verpuffte der gewaltige Millennium-Bug, von dem ich nie wusste, was das eigentlich war. Die wirklichen Katastrophen kommen, wie es sich gehört: wenn alle sich in Sicherheit wiegen.
JETZT.
In Tokio soll ein Millennium-Tower gebaut werden. Lese ich in einer der Zeitungen, die jeden Morgen um mich in meinem Bett verteilt sind, in denen ich blättere und versuche, etwas zu verstehen, von dem ich nicht weiß, wozu. Norman Foster hat den Tower entworfen, und er geht so: Er soll 800 Meter aus dem Meer in die Höhe ragen, Wohnungen sollen drin sein und Restaurants, Theater, Kinos und Geschäfte, sodass die Menschen gar nicht mehr aus dem Tower rausmüssen, und, unter uns, wo sollten sie auch hinwollen, da draußen wäre Tokio, wo die Autos im Stau stecken bleiben und die Menschen in Menschen stecken – besser im Turm bleiben, der 300 Milliarden Dollar kosten wird, aber leider fehlt gerade das Geld. Schade. Doch irgendwann wird das Geld wieder da sein, und dann ist Zukunft. Wir werden das nicht mehr erleben, und das ist traurig, denn die Zukunft wird schön.
Bereits vor der Geburt werden die Menschen zurechtgebaut in einem Gen-Baukasten. Ich habe nichts dagegen, denn wenn man sieht, was aus freilaufenden Genen entsteht, kann man diese Entwicklung nur begrüßen. Wunderschön werden die Menschen sein. Von jedem Volk nur das Beste. Vom Asiaten die Haut, vom Finnen den Humor, von den Iren die Haare, ein wenig Schweizer Freundlichkeit und italienische Geselligkeit. Alle werden 200 Jahre alt und sterben nicht an Alterserscheinungen, sondern aus Langeweile. Jeder hat erlesene Talente. Die Eltern können das bestimmen. Milliarden Stars auf der Welt singen wie Andrew Eldritch, malen wie William Turner, tanzen wie Fred Astaire. Die schönen, talentierten Menschen hüpfen in wundervoll designten Millennium-Towern herum, klingeln an den Türen und singen und tanzen sich was vor.
Ansonsten machen sie nichts, weil alles automatisch ist. Am Morgen blicken sie auf die Bucht von Tokio, die künstliche Sonne geht auf, und ein weiterer sorgloser Tag ihres herrrrlichen Lebens beginnt. Mit einem Freudenschrei hopsen sie aus dem Bett, das sie mit einem gut aussehenden Partner teilen, denn teilen tun sie gerne, der Egoismus ist aus den Genen verschwunden. Sie bummeln ein wenig im künstlichen Park, in dem die künstliche Erde duftet, und singen sich etwas vor, dann gehen sie ins Theater, essen Fisch zum Mittag und reden miteinander, was das Zeug hält. Jeder redet mit jedem, jeder hat Mitleid mit jedem, falls einer mal umknickt beim Herumhüpfen, andere Gründe für Mitleid gibt es nicht mehr. Keiner nimmt sich wichtig. Keiner grübelt mehr oder leidet, nur weil er ein Mensch ist und zu blöd zu erkennen, dass das nichts Besonderes ist. Alle sind etwas Besonderes oder nichts, und ihr Job auf Erden ist ins Kino gehen, singen, tanzen, das Meer und die Sonne ansehen und miteinander ein Schwätzchen halten. Das ist wohl nicht zu viel verlangt, denken die schönen Menschen. Sie freuen sich daran, einen Menschen zum Anfassen zu haben, und genörgelt wird nicht. Sehr oft lesen sich die Menschen im Tower aus Büchern vor, denn Bücher lieben sie sehr. Sie küssen Schriftsteller und werfen sie in die Luft, wenn sie ihnen begegnen. Dann gehen sie zu Bett, die Sonne geht über der Bucht von Tokio unter, und die Leutchen küssen sich, bevor sie einschlafen. So wird das mit der Zukunft.
Schade, dass wir zu früh sind. Dass wir nichts sind, in einer Nichtzeit, in der die Welt sich vorbereitet, vielleicht auf eine gerechte Verteilung des Reichtums, auf etwas, wie es in den Broschüren der Zeugen Jehovas erzählt wird. Oder vielleicht auf ihr Ende. Doch auch dieser Gedanke wiederholt sich vermutlich bei allen Jahrhundertgrenzgängern. Oooohhhh, Automobile, der Weltuntergang ist nah, riefen die Maschinenstürmer.
Wir armen Jahrtausendgänger stehen in einem zugigen Flur und warten auf den Umzugswagen.
Hitler, Stalin, Pol Pot, Harpo und Che Guevara waren die Helden meiner Geschichte, mit der man einen jungen Menschen heute nicht einmal mehr erschrecken kann. Die Herren hängen an meiner Wand und haben Hüte auf. Die gelb gerauchten Wände, der Zustand meiner Lungen
– es gibt Tage, an denen ich die Erbärmlichkeit meiner Umgebung zu klar erfasse, wie ein Geisteskranker, der für Sekunden wach ist und begreift, dass sich sein Verstand sofort wieder trüben wird –
über allem der Schmutz, in den Ecken kleben einige Generationen erbärmlichen Daseins, die sich nicht durch Reinigungsgeräte, sondern nur ein zackiges Abfackeln der Wohnung beseitigen ließen. Diese langweilige, komplett uninteressante Wahrnehmungsverschiebung. Die Zeit, die immer schneller vergeht, das große Gähnen, jeder spricht davon, der über 40 ist, weil der Speicher im Kopf immer voller wird und die Wiederholungen immer zahlreicher, weil man immer mehr gleichzeitig geschehen lässt: Musik hören, SMS schreiben, Mails checken, Fernsehen schauen, Zeitungen überfliegen, ohne dass wirklich etwas geschieht, denn alles ist virtuell.
Ich sehe träge durch den Schleier der Creme, die in meinen Augen geronnen ist. Meine Hand wirkt unangemessen durchscheinend. Ich meine, verschwommen eine Hasenfamilie beim gemachen Hoppeln auf einer Lichtung zu schauen.
Je länger der Sonntag anhält – es sind unterdes 739 Stunden –, umso weniger kann ich mir vorstellen, dass irgendwo jemand weiß, was er mit sich anfangen soll. Ein paar Hasenfamilien und der eine oder andere Reiche vielleicht. Ich glaube unbedingt, dass Reichtum glücklich macht. Dass Reiche ein gutes Bewusstsein pflegen, sozusagen.
Was soll falsch daran sein, den Chauffeur vor die Villa mit Meersicht in L.A. rufen zu lassen, nachdem man sich hervorragend hatte massieren lassen, zu versinken in weiche Lederpolster, in den privaten Jet zu gleiten, guten Morgen, Harry, Sie altes Schrapnell, ein paar Telefonate, ein Filmdings mit irgendwem und so weiter, Landung in Hongkong, ab ins Penthouse, von dort aus ein paar Sachen besichtigt, in die man Millionen gesteckt hat, Häuser, Universitäten in Bangladesch, Zeug in Asien – was soll daran nicht in Ordnung sein?
Der Tee ist kalt geworden, das Licht definitiv verschwunden, und noch Stunden, ehe ich zu Bett kann, hoffend, Schlaf zu finden. Liegen ist nicht mehr drin, der Rücken schmerzt. Die Zeitungen und Magazine, die ich während der Woche wie ein Eichhörnchen gesammelt habe, zeigen mir allein, dass es nichts zu wissen gibt. In den USA wurde demonstriert und inhaftiert, der Irak ist egal, Elfriede Jelinek hat den Nobelpreis gewonnen, der Absturz der französischen Boeing ist nicht auf menschliches Versagen, sondern auf ein Attentat zurückzuführen – ich muss unbedingt meinen Sekretär benachrichtigen, dass er meinen Concorde-Flug storniert –, Sars und Aids sind eindeutig als Attentate identifiziert, und es hat bereits eine neue Seuche, irgendwas mit Hautausschlag und Sterben. Da gibt es aber erst 30 Todesfälle weltweit, und darum ist die Sache noch kein Titelgeschichtenmaterial.
Ich verdränge auch diese Informationen, was soll ich sonst tun?
Im Haus gegenüber Neonlicht in der Küche, Menschen- oder Tierschatten, es könnten sich durchaus auch Bären in der Wohnung aufhalten, sie springen um den Tisch, was zum Teufel tun die da? Ich verabscheue Familienleben zutiefst. Ich denke an Familien und sehe Paare vor mir, die in Betten liegen, der Fernseher läuft, und dann kochen sie zusammen Ratatouille. Oder sie haben sich vermehrt, und das will ich mir wirklich nicht vorstellen, deutsche Eltern mit Kind, den Lebenssinn gefunden – und natürlich wollen sie auch da die Besten sein. Sonntage sind unbedingt etwas für Familien oder Menschen, die arbeiten und darum müde sind, die lange schlafen und sich dann die Fußnägel schneiden. Sonntage sind für kleine alte Damen, die in der Küche stehen und Kuchen backen, ein Enkel wäre auch da, der würde auf dem Küchenboden mit der Katze der alten kleinen Dame spielen. Das Kätzchen wäre – – – – tot. Um es noch mal richtig krachen zu lassen, ziehe ich mir einen Mantel (schwarz) über den Pyjama (schwarz) und verlasse meine Wohnung (gelb). Der Hausflur riecht nach Hund. Vor dem Haus riecht es nach Hund. Der Regen spült kleine Hunde um meine Knöchel. Degenerierte Gräser zwängen sich durch bröckelnden Asphalt, die Bäume am Straßenrand würden in freier Wildbahn von gesünderen Baumkollegen erschlagen, mit dem Kopf vor den Baum geknallt, so im Ansatz krebszerfressen sind sie. Die Mülltonnen fließen über, wohnten hier Prominente, würden in ihnen Mülljäger hocken, die nach Abtreibungsbelegsquittungszeug von Madonna suchten, und ich könnte sie grüßen und ein wenig mit ihnen reden.
Ich rede ungern mit Menschen, über die Jahre bin ich immer ruhiger geworden. Spreche ich, höre ich meine Stimme, gepresst und falsch, und je deutlicher ich sie höre, umso gepresster ist sie und mir immer unwohler. Mir ist nicht klar, wozu reden dient. Es entstehen nur Missverständnisse aus Worten, die Sätze bilden, gefiltert durch das Hirn, das sich seine eigene Realität baut, und die hat mit anderen Menschen nichts weiter zu tun. Wollen nur wirken, die Worte, die Sau.
Hinter den Fenstern leuchtet es blau aus vollgerauchten Wohnstuben, klamm ist es, die Heizungen noch nicht angestellt – dass das keinem auffällt, alle ihr Leben als unabänderlich hinnehmen.
Muss ja.
Da sitzen in Büros Menschen, die morgens eine Stempeluhr drücken, die sich erkälten in klimaanlagenbeatmeten Büros und die entscheiden, dass in diversen Mietshäusern die Heizungen noch nicht angeschaltet werden. Man spart 30 Pfennig pro Quartal, das bringt eine Kostenersparnis von 3Prozent, macht in hundert Jahren 38967 DM. Oder Dings. Hey, das muss man mal hochrechnen. Abends werden auch sie heimgehen in ihre kleinen Mietwohnungen und frösteln. Aber Job ist Job, und so überwacht sich das Volk. Macht sich das Leben zur leisen Hölle.
Auf der Straße spritzt ab und an ein Auto über den Asphalt. Im Pkw eine übergewichtige Fleischhülle mit Fleischmütze und Fleischschürze, bewegt von einem durch Unterforderung geschrumpften Hirn. Das sagt, fahr links, dann rechts, da steigst du aus, dann gehst du in eine gelb gerauchte Wohnung, nimmst dir ein Bier und setzt dich auf eine großbedreieckte Couch, schaust in den Fernseher, und wenn dir schwindelig genug ist vom Glotzen und Trinken, gehst du zu Bett, das riecht nach dir, nach Talg, und da schläfst du dann. Viel Spaß noch.
Die, die nicht schlafen, saufen und glotzen, begegnen der Leere mit Kegeln, Kino, Schlagen oder Kindervergewaltigen. Das ist ein Sport geworden, für Männer im schlechtesten Alter, also jeden. Seit im Fernsehen ausführlich über entführte, geschändete und getötete Kinder berichtet wird und eine Nation den Atem anhält, kommen viele auf den Geschmack. So könnte ich mir einen Kick geben, mein Leben aus der Dumpfheit reißen, lass mich die kleine Moni vögeln.
O-Ton Horst, der eigentlich Rüdiger heisst Ein Wald im Dunst und die kleine Moni so bleich, riecht so gut, und diese Macht, ist es nicht wunderbar, so eine richtig mächtige Macht ist das, von einer schönen Schönheit. Endlich bettelt mal eine vor Malte (34), arbeitsloser Anlagenmechaniker. Die Kindheit war geht so, alleinerziehende Mutter, war alles nicht schlimm, aber eben auch nichts Besonderes, war ein Leben wie eine angebissene Currywurst, die im Regen vor einer Mülltonne liegt, die Eltern werden Augen machen, Scheißkinderzimmer mit Sonne, die durch gelbe Vorhänge fällt, und es duftet nach Kuchen, abends kommen Mama und Papa und geben Küsse, da hast du’s, du kleine Sau, ich zeig dir, wo der Hammer hängt, die Nation wird den Atem anhalten wegen mir, und wow ist die zart, nicht so benutzt, die ist noch gar nicht richtig auf der Welt, und nun schreit sie, aber das geht nicht, das geht gar nicht.
Ich habe seit Langem keinen mehr getroffen, der auch nur mal für einen Tag zufrieden war. Das könnte daran liegen, dass Deutschland ein wenig Mühe mit der Zufriedenheit hat. Viele haben versucht, diesen etwas schwierigen Charakter zu erklären.
Viele suchten schon nach einer Volksseele. Die gibt es sicher, die erzeugt eine Stimmung, egal ob das Volk in Bayern, im Osten, auf Usedom wohnt, oder ob es Nachkomme von Einwanderern ist, die die Volksseele noch genauer zu kopieren versuchen, als sie ihre deutschen Mitbewohner je in sich tragen können, ja tragen. Es gibt da etwas, das nie zufrieden ist, das korrekt ist und doch so faul, das an Gesetze glaubt und bei roter Ampel anhält, auch in der Nacht. Es gibt da etwas, das ist anders als das Klassendenken und Rumgeprolle der Engländer, der Hass auf die Regierung der Italiener, die Arroganz und distinguierte Larmoyanz der Franzosen. Liegt es an der Preußischen Erziehung, der Pflicht zum Gehorsam, daran, dass deutsche Kinder nie gelobt werden, weil es immer noch ein MEHR gibt, an den zwei versiebten Kriegen, den nicht vorhandenen Kolonien? Warum hatten sie keinen Mut zur Revolution, die kleinen Kartoffelfresser, warum konnte sich der Mörder Rosa Luxemburgs noch in den 60er-Jahren seiner Tat rühmen? Was genau hat dieses Land so werden lassen? Dass so viele meinen, ihnen stünde etwas Besonderes zu, doch sie müssten es sich nicht verdienen, sondern es von OBEN bekommen. Warum funktioniert es hier, die Gefühle den Gesetzen unterzuordnen? Ist es das Wetter, die Größe des Landes, die nicht ganz zu einer Weltmacht reicht, das offensichtliche Mittelmaß, das alles hassen muss, was größer oder kleiner ist als der Durchschnitt? Ein unentschlossenes Land, auch wenn es nun Milchkaffee gibt, in dem der Kriegsverherrlicher Ernst Jünger verehrt wird und in dem in den letzten Jahren rund 1000 Menschen von Nazis erschlagen worden sind. Manche meinen, wenn sie Deutschland auf eine Therapiecouch legten und seine Kindheit besähen, wäre am Ende der Dreißigjährige Krieg die Ursache für den großen Komplex. Zwei Drittel der Bewohner gestorben, ermordet, verbrannt, gedemütigt. So eine große Angst und Scham, so ein Gefühl, nichts wert zu sein, und der Verlust der Unschuld, der sich nie wiedergutmachen lässt – das setzt sich in den Genen fest und verformt Generationen. Lässt sie begeistert in den Ersten Weltkrieg rennen, um endlich wieder wer zu sein, war dann aber auch nichts. Ein schwieriges Land, trotz all seiner Scham, trotz des großen Willens, alles richtig zu machen und die besseren Menschen zu sein. Die Besten wollen sie sein, auch wenn es um Güte geht, um politische Korrektheit. Wie sie auf den Straßen tanzten, als Deutschland fast Fußballweltmeister wurde, wir wollen wieder stolz auf unser Land sein dürfen, sagten junge Menschen, schwenkten Fahnen und sahen dabei so groß aus und blond.
Vielleicht sind meine Beobachtungen nicht korrekt. Möglicherweise sind alle Menschen nicht besonders liebenswert. Egal wo sie wohnen. Doch ich sehe nur die, die mich umgeben, deren dumme Reden ich verstehe. Ich habe kein Bedürfnis danach, Fremde kennenzulernen. Die Leute, die ich bereits kenne, langweilen mich ausreichend. Nicht weil ich sie für weniger wertvoll erachte, ich halte die meisten Menschen für genauso unerheblich und leer wie mich – die Öde entspringt eher der Unverbindlichkeit der Beziehungen, die mich mit den anderen nicht verbinden. Es ist mir nicht gelungen, einen Freund zu finden.
In dem Alter, da man noch leichtfertig Freundschaften hätte schließen können, waren alle ausschließlich mit sich beschäftigt. Die, denen ich mich entfernt zugehörig fühlen wollte, waren kleine, schwarz angemalte Monde, die langsam um sich selber kreisten. In dunklen Bars schließt man keine Freundschaften, bei Konzerten nicht, auf dem Sozialamt nicht, und es hätte damals auch keiner gewusst, warum sich einem Menschen widmen, wo doch alle gleich waren, wo man doch von all den Gleichen umgeben war, wann immer man wollte. In einer Wolke scheinbarer Geborgenheit schweigsamer Menschen stehen konnte, die die richtigen Sachen (schwarz) trugen und das Richtige (nichts) sagten.
Später ist es zu spät gewesen. Die Geduld, die es benötigt, um einen Menschen, der nicht ich ist, auszuhalten, fehlt mir. Freundschaft zu schließen bedarf einer geraumen Zeit der Langeweile, in der sich die Menschen verstellen, Blödsinn reden und sich verspannen. Dass ihnen wohl wird und sie sich miteinander fühlen, als seien sie alleine, benötigt Jahre.
Allein fühle ich mich auch allein.
Die Menschen (6), die ich kenne, sind ausnahmslos auf niedrigstem Niveau gescheitert. Magersüchtig, drogensüchtig, süchtig nach irgendetwas, und Sucht ist optisch wie inhaltlich nur bei sehr jungen Menschen zu ertragen. Kommen sie in ein gewisses Alter, die Süchtigen, sind ihre Hirne zerfressen von Substanzen, ihre Nerven zerstört und ihre Körper offensichtlich am Vergammeln. Zu uninteressant der Narzissmus der Untergehenden.
Einige andere, an die ich mich vom Neben-ihnen-Stehen in Einrichtungen erinnere, haben wie ich weitergelebt, als wäre Zeit ohne Bedeutung. Wie sie bin ich eine von denen, die nicht erwachsen werden wollen, die sich mit 40 noch zu jung für ein Kind fühlen, die nie aus ihren schwarzen Kleidern herausgefunden haben, stehen geblieben in den 80er-Jahren, als alle, die man kannte, dünn waren und über den Tod sprachen, in Bands vom Tod sangen oder jemanden kannten, der in einer Band vom Tod sang, Rilke lasen und schließlich starben, meist an Drogen oder Selbstmord. Wir dachten, es würde immer so weitergehen, dass wir die Tage vertrödeln könnten, ungestraft, aufstünden in der Dunkelheit, uns träfen zu Bandproben oder um über den Tod zu reden, dass wir untergewichtig sein könnten, in uns dieser Rhythmus aus schweren Liedern und zu wenig Schlaf. Doch wir sind versteinerte Reptilien geworden oder haben Kostüme angezogen und wurden Medienberater oder Eltern. Verloren haben wir auf jeden Fall. Wir haben uns immer nur mit uns beschäftigt. Die Welt interessierte uns allein, wenn sie sich auf uns beziehen ließ, wir haben gesucht und natürlich nichts gefunden. Haben geglaubt, es wäre egal, was man mit sich anfängt, weil wir mit 30 sowieso sterben würden oder ein Wunder geschähe, das uns reich oder zu Rockstars machen würde. Die erste Generation, die für ihr Überleben nicht zwingend arbeiten musste – das bekommt keinem.
Die vergangenen Jahre fließen zusammen zu Stunden, die ich auf dem Bett gelegen, auf Sofas gelegen, in Kneipen gelegen habe, wo ich Musik gehört und Bücher gelesen habe und ein paarmal unglücklich verliebt gewesen war. Träge Stunden. Gelangweilt und nutzlos. Sie spielten nicht einmal Karten.
Ein Energiestoß: ein Spaziergang, Sonntag, nachts, um zwei, ein Bad für Depressive. Die aalen sich nicht in warmem Schaum, in kaltem tun sie es, in abgestandenem Spülwasser, gilt es doch, die Stimmung zu halten.
Die perfekte Kulisse eines Christian-Death-Videos: nasser Asphalt, verhungertes Gebüsch und torkelnder Menschenrest. Um diese Zeit ist nur unterwegs, wer gesucht und nichts gefunden hat, gewartet in Clubs und Bars auf ein Wunder, und einsamer gewesen als daheim, weil noch klarer, dass da niemand ist, nur Rauch in den Augen und schwere Beine, wenn doch wenigstens einer mit mir ficken möge. Möchte keiner. Geschlechtsverkehr hat man mit sich, vor Filmen und Heften, vor dem Computer. Ist man zufällig ein Paar, so wird nicht gefickt, weil man gelesen hat in den letzten zehn Jahren, wie das zu sein hat: laut und lang, alle Zonen erforschend, und unter drei Orgasmen läuft nichts. Der Verkehr ist ein Statussymbol wie der Bodybuilding-Leib, er muss funktionieren und wird benotet.
Leider sind alle impotent geworden.
Sonst ist in dieser Nacht alles ruhig: keine Wärme, kein Mensch, keine Drogen. Der Höhepunkt eines gut genutzten Sonntags: Ich gehe zum Bahnhof und kaufe mir ein paar Magazine, ein Fertiggericht, Zigaretten und einen anorektischen Strauß verwaschener Nelken, den ich in meiner Wohnung in eine Flasche ohne Wasser stellen werde. Extra.
Inhaltsverzeichnis
In meinem Viertel lebt, wer sich definitiv aufgegeben oder nie an sich geglaubt hat: DAS GESUNDE VOLKSEMPFINDEN – Familienväter, die nach Verlust ihres Lageristenjobs sich und im Anschluss ihre sechs Kinder erdrosseln, betrunkene Frauen, die Gasexplosionen herbeiführen, weil sie über dem Herd zusammenbrechen, mit einer Kippe im Mund, weil sie nicht mehr gebraucht werden, die älteste Tochter mit dreizehn schwanger und außer Haus, der Mann im Schlafzimmer, quer über dem Bett, die Schuhe an, der Bauch hebt und senkt sich im Takt seines Schnarchens, oh, wie sie dieses Schnarchen hasst, das Unterhemd, das seinen Bauchnabel freigibt, in dem sich dunkle Fusseln sammeln, und seine Hände, mit denen er seinen Arsch anfasst und dann sie, auch wenn sie schreit, auch wenn sie versucht, sich zu wehren.
O-Ton Nachbarin Ja, ich hab mich schon gewundert, dass ich die Frau Meier nie mehr gesehen habe, aber ich dachte, sie wäre einfach mal verreist, auf Kur oder, na Sie wissen schon. Ja, komisch gerochen hat es letzte Woche … Dabei hat sie doch immer so lustige Gedichte geschrieben, die sie dann betrunken aus dem Fenster gerufen hat. Eines weiß ich noch:
Dein Herz ist weg, kein Atem mehr
die Brust die hebt sich zentnerschwer
Vor deinem Fenster hockt ein Geier
du greifst nervös nach dem Herrn Meier
Herr Meier, nun den gibt’s nicht mehr
drum geht ja auch dein Atem schwer
Und wieder mal erkennst du klar
dass alles nur ein Irrtum war.
Der Einzige, der dir noch bleibt
das ist dein Freund, Herr Einsamkeit