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Sibylle Bergs modernes Märchen für Erwachsene: endlich bei Kiepenheuer & Witsch als E-Book. Eine doppelte Flucht: Anna und Max, beide fast 14, brechen aus. Raus aus der Kindheit, raus aus der DDR. Fort von Eltern, hinein in ein selbstbestimmtes Leben. Sie trampen durch den Ostblock bis ans Schwarze Meer, wo sie per Schiff in die Türkei türmen wollen, und entkommen dabei nicht nur Kinderhändlern und der Polizei, sondern erleben ein ganz neues Gefühl: Eine erste zarte Liebe erwacht.
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Seitenzahl: 195
Sibylle Berg
Ein Märchen für alle
Mit Zeichnungen und Collagen von Rita Ackermann und Andro Wekua
Buch lesen
Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Über Sibylle Berg
Über dieses Buch
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
Widmung
Anna
Max
Anna
Max
Anna
Max
Anna
Max
Anna
Max
Anna
Max
Anna
Max
Anna
Max
Anna
Max
Anna
Max
Anna
Max
Anna
Max
Anna
Max
Anna
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Anna
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Anna
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Anna
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Anna
Max
Anna
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Anna
Max
Anna
Max
Anna
Max
Anna
Max
Anna
Max
Anna
Max
Anna
Max
Anna
Max
Anna
Max
Anna
Max
Anna
Max
Anna
Max
Anna
Max
Anna.
Max
Anna
Max
Anna
Max
Anna
Max
Anna
Max
Anna
Max
Anna
Max
Anna
Max
Anna
Inhaltsverzeichnis
Für Raphael Gygax, Rita Ackermann, Andro Wekua
und alle, die es normal finden, wenn ein unbekannter Ameisenbär an ihrem Frühstückstisch sitzt.
Inhaltsverzeichnis
Habe ich schon erzählt, dass es immer kalt ist?
Es ist eigentlich immer kalt. Vielleicht gab es auch mal einen Sommer, aber wenn, dann habe ich den vergessen. Ich glaube, man erinnert sich eher an unangenehme Dinge. Der Trick ist, dass sie viel stärkere Gefühle herstellen. Das kann man beweisen. Nehmen wir mal eine schöne Situation, zum Beispiel so etwas wie: ein netter Sommertag, man läuft irgendwo in einem Hasenkostüm rum und beobachtet kleine Tiere. Normal, das mache ich dauernd. Also gut, ich gebe zu, mir fällt nichts Nettes ein. Dann erzähle ich eben von etwas Furchtbarem: von der ungeheizten Wohnung, den Leuten in der Stadt, den Außerirdischen in meiner Klasse, dem Land, in dem ich lebe, dass ich ziemlich daneben aussehe und dass ich mit keinem reden kann. Na, und so weiter.
Negative Erinnerungen habe ich ohne Ende. Die liegen in der Magengegend, und ich werde keine je vergessen. Aber vermutlich ist das Quatsch, denn wenn ich jetzt anfinge, nie etwas zu vergessen, würde ich in 30 Jahren nur noch aus Erinnerungen bestehen, und nichts sonst hätte Platz in meinem Kopf. Obwohl ich glaube, dass es bei manchen Älteren genau so läuft. Sie erzählen immer nur von damals, und ich weiß wirklich nicht, warum sie so sicher sein können, ihre Erinnerungen wirklich erlebt zu haben. Vielleicht wurden die ihnen irgendwann transplantiert, in einem Raumschiff. Außerirdischer A: »ensaqf.q-vclamq.« (Das heißt so viel wie: Schau nur, unansehnliche Ostdeutsche, denen transplantieren wir jetzt ein paar Erinnerungen.) Außerirdischer B: »fjhediqigheuijsabnb.« (Genau, das machen wir.)
Außerirdische sind bekanntlich immer ein Thema.
Ich glaube, ich heiße Anna, weil solche altmodischen Namen, genau wie Außerirdische, immer ein Thema sind. Es hätte auch schlimmer kommen können. Sehr viele in meiner Klasse heißen Peggy, Mandy oder Francise – auf Thüringisch klingt das dann wie: Fränzieeehse … Das tut weh.
Thüringen ist das Gebiet, in dem sich die Stadt befindet, in der ich wohne. Die Leute hier sprechen einen Dialekt, der immer nach Kartoffeln klingt. Die Eltern in Thüringen, überhaupt im Osten, haben so eine Sehnsucht nach der großen weiten Welt, und die Kinder müssen das dann ausbaden mit ihren prima ausländischen Namen. Ich werde bald 14. Na ja, es ist noch ein bisschen hin. Fast ein Jahr, um genau zu sein. Ich weiß nicht, ob ich wie eine normale fast Vierzehnjährige bin. Ich fühle mich nicht mehr als Kind, aber da wage ich mich auf unsicheres Gebiet, denn als ich jünger war, hab ich über solche Sachen einfach noch nicht nachgedacht, und nun fehlt mir der Vergleich zu dem, wie ich mich früher gefühlt habe.
Jetzt kann ich mir nicht mehr folgen. Das geht mir oft so. Ich denke so vor mich hin, und irgendwann werden meine Gedanken zu kompliziert für mich.
Jedenfalls, die Stadt, in der ich wohne, ist eine Kleinstadt. Sagt man. Ich meine, ich wäre da nicht drauf gekommen. Du wächst ja nicht auf und denkst: Na, aber hallo, ist das eine kleine Kleinstadt.
An verbürgten Großstädten kenne ich nur Berlin. Sehr große Sache das, Berlin. So viel zur Einleitung.
Die aktuelle Lage sieht so aus:
Ich stehe in meinem Zimmer am Fenster und schaue auf eine Hauptstraße, über die ab und zu ein Trabant oder ein Wartburg fährt. Die machen dumpfe, einsame Geräusche und Wolken in der Kälte. Es gibt eigentlich nur diese beiden Sorten Autos, ab und an noch mal ein Skoda oder ein Wolga, damit hat sich’s. Autos kauft man nicht einfach im Laden. Man muss sich anmelden, und mit Glück bekommt man zehn Jahre später eines. Das hat zur Folge, dass der Verkehr auf der Straße relativ überschaubar ist. Alle drei bis fünf Minuten kommt ein Pkw.
Am Rande der Straße stehen Mülltonnen, die im Winter immer vor sich hinkokeln, weil die Menschen glühende Asche (die bleibt übrig, wenn man Kohle und Holz verbrennt. Ich schreib das nur, falls meine Aufzeichnungen erst nach meinem Tod von einer anderen Generation gefunden werden) in die Tonnen schmeißen, und das andere Zeug fängt dann an zu brennen. Über der Stadt hängt deshalb im Winter immer eine Schicht aus Abgasen, und eben nicht von den paar Autos, sondern von den Fabriken und Mülltonnenwolken. Hätte man eine gut geheizte Wohnung, aus der man auf die Stadt schauen würde, sähe das vielleicht sogar romantisch aus. Aber warme Wohnung ist nicht.
Ich glaube, so kalt wie hier ist es nirgends sonst auf der Welt. Obwohl ich zugeben muss: Ich hab nicht viel Ahnung vom Rest der Welt. Nur Ideen, aber dazu später.
In meinem Zimmer ist es so kalt, dass sich beim Ausatmen Wolken bilden. Nicht Wölkchen! Alles klar? Es gibt einen kleinen eisernen Ofen, aber dummerweise hat meine Mutter vergessen, Kohlen zu bestellen, darum bleibt der kleine Ofen kalt. Ab und zu verbrenne ich Zeug von der Straße, Holz und was man so findet. Dann glüht der Ofen für eine halbe Stunde, und ein paar Minuten später scheint alles noch kälter als zuvor.
Die Wohnung geht so: ein Raum mit einem Kleiderschrank und Gerümpel, ein Fenster zum Hof, und der Raum ist nicht nur kalt, sondern auch dunkel und feucht. Ganz unter uns: Ich glaube, dass in diesem Raum Geister leben, also sofern Geister leben. Sie wohnen im Schrank und bestehen aus einer verstorbenen Arbeiter- und Bauernfamilie. Ich rede manchmal mit ihnen: Na, erzählt mal, wie es so war, als ihr die DDR mit euren Händen aufgebaut habt. Und sie dann: Ja, wir haben den antiimperialistischen Schutzwall gebaut, um unser Volk und die Errungenschaften des Sozialismus zu schützen. Ist klar, sag ich und verziehe mich wieder. Mit so Leuten kannst du dich echt nicht unterhalten.
Vom Flur, der nach der eiskalten Plumpstoilette (wenigstens unserer eigenen) riecht, geht das Zimmer meiner Mutter ab. Selbstverständlich ist es auch kalt, mit einem feinen Rauchgeruch, meine Mutter raucht am Tag so 2–3 Pakete Zigaretten. Versteh einer die Erwachsenen.
In der Küche steht eine Badewanne. Wer Lust auf ein Bad in eiskaltem Wasser hat, kommt hier voll auf seine Kosten. Für die Badewanne hat es eine Art Boiler, den man beheizen muss, doch da tritt wieder das Problem mit den nicht vorhandenen Kohlen zutage.
Zum Waschen macht man auf einem Herd (immerhin mit Gas) Wasser warm und schüttet das in ein Waschbecken. Das trägt nicht unbedingt dazu bei, Kinder zur Sauberkeit zur erziehen. Waschen ist entweder kalt oder unangenehm, aber auf jeden Fall immer mühsam. Da verzichte ich mit einem Lächeln drauf.
Die Wohnung ist trotzdem schon Luxus. In der letzten mussten wir den Herd in der Küche mit Holz heizen, das wir auch nie hatten, weil meine Mutter immer vergessen hat, es zu bestellen. Die Badewanne stand im Keller, daneben war ein Riesenkessel, in der Wäsche gekocht wurde. (Für die nachfolgende Generation: Ich habe davon gehört, dass es im Westen Waschmaschinen hat, aber bei uns gibt es die nicht. Hier wird Wäsche in kaltes Wasser geschmissen und gekocht, mit einem Riesenholzlöffel umgerührt, dann rausgewuchtet und klitschnass in den Garten gehängt, wenn man einen hat, oder über die Badewanne. Die Wäsche ist dann nach Jahren trocken und steif und riecht immer ein wenig muffig.) Logisch heizte man den ebenfalls mit Holz. Aus dem Kessel holte man auch das Wasser für die Wanne. Das Baden war kein reiner Spaß, denn ich traute mich, wenn ich mal in der Wanne saß, nie raus. Da war der Keller, und der war kalt. Außerdem saßen überall Spinnen, mit langen Beinen, die so wackeln. Immer besoffen, die Viecher.
Also, was ich sagen wollte: Die Wohnung jetzt ist dagegen purer Luxus. Die meisten Leute, die ich kenne … O.K., dazu muss ich sagen: Ich bin nicht der Typ, den Leute irre gern kennen. Oder um genau zu sein: Es schmückt sich niemand besonders gerne mit meiner Freundschaft. Ich glaube, die meisten finden mich merkwürdig. Ich kann es ihnen nicht mal übel nehmen, ich finde mich auch merkwürdig. Ein Tick von mir ist zum Beispiel, dass ich Mühe habe, einen Gedanken zu Ende zu bringen. Es gibt zu viele interessante Abzweigungen von so einer Gedankenstraße.
Im Osten wohnt keiner großartig, wollte ich sagen. Die meisten haben die Toilette auf dem Flur, und mehrere Familien teilen sich ein kaltes Plumpsklo. (Anmerkung für die nächste Generation: Ein Plumpsklo ist eine Toilette, in der die Sachen ohne Wasserspülung in die Tiefe fallen. Das riecht nicht gut und zieht von unten.) Es gibt keine Doppelfenster. Die Häuser sind mies isoliert. Der Putz bröckelt, die Dächer sind undicht. Na, und so weiter. Das liegt daran, dass alle kaum Miete zahlen, die Häuser dem Staat gehören und sich keiner verantwortlich fühlt.
Einige wenige wohnen in Neubauwohnungen. Ich war mal in einer. Beeindruckend: Es gab eine Heizung, die man einfach nur aufdrehen musste, und heißes Wasser kam aus der Leitung. Unfassbar! Es war wie in einem Hotel. Na, O.K.: wie ich es mir in einem Hotel vorstelle. Ich kenne keines persönlich. Ich kenne, wenn wir schon davon reden, sowieso nichts Außergewöhnliches. Die Menschen sehen alle grau aus und übergewichtig, und die Kinder sehen aus wie schlecht gekleidete Kinder.
Ich habe mal einige Zeitungen und einen Katalog aus dem Westen gesehen. Da war alles so unfassbar bunt, dass man meinte, das muss alles duften. Ich habe das Ding stundenlang studiert und konnte nicht glauben, dass die Leute das alles kaufen können. Ich weiß, es ist dumm, aber ich habe das Gefühl, ich wäre verdammt glücklich mit den bunten Sachen. Westwaren kann man bei uns für Westgeld in Intershops kaufen. Das ist völlig absurd. Offiziell sind die Shops nur für Westtouristen. Die Wahrheit ist aber, dass die Leute immer öfter Westgeld im Schwarzhandel benutzen. Also zum Beispiel: Ein Handwerker baut dir nur ein neues Waschbecken ein, wenn du ihn dafür zum Teil mit Westgeld bezahlst. Das Geld dafür bekommt man von Westverwandten oder sonst woher, keine Ahnung.
Ich geh ab und zu in den Intershop. Es riecht unbeschreiblich da, nach Seife und lauter fremden Dingen. Und es gibt Duplo und Jeans. Mir wird richtig schwindlig in dem Laden, und so traurig, wenn ich wieder rausmuss. Nicht mal wegen der Produkte, sondern wegen des fremden Lebens, das dahintersteht. Die haben Farben, wir haben nur Schwarz und Weiß, oder, um genau zu sein, meistens eher Grau.
Eigentlich ist das merkwürdig, dass ich das wahrnehme, weil ich es doch nicht anders kenne. Aber ich sehe das sehr genau: Meine Stadt ist grau, und auch das ganze Land. Die Menschen schleppen sich durch die Straßen, und es gibt keine Orte, wohin sie gehen können, außer in ihre ungeheizten Wohnungen, von denen überall der Putz abbröckelt. Da sitzen sie dann, und ich habe wirklich keine Ahnung, was sie da tun. Es gibt keine schönen Cafés oder Restaurants, keine Freizeitparks und keine Einkaufszentren. Manche Leute besitzen Fernseher. Schwarz-Weiß und zwei Kanäle. Da läuft immer was über die Heldentaten der Arbeiterklasse, oder Filme, in denen graue Menschen in ungeheizten Wohnungen sitzen. Im Kino dasselbe: Filme aus Russland über traurige Leute in ungeheizten Wohnungen, aber synchronisiert. Na danke.
Einen guten Film gab es dieses Jahr: ›Und nächstes Jahr am Balaton‹. Der war toll. Ein Ostjunge traf ein Mädchen aus Holland beim Trampen. Sie verliebten sich, man sah sie nackt, und dann ging sie wieder nach Holland, und er konnte nicht mit, weil er aus dem Osten kam. Trampen wäre mal was. Oder nackt sein.
Sonst hilft nur lesen. Aber wir dürfen nicht alles lesen, weil es uns verderben könnte. Das jedenfalls sagte die Bibliothekarin (sehr alt, mit braunen Schuhen, die am großen Zeh eine Riesenbeule machen. Ich hab sogar mal von ihren Füßen geträumt: Sie fuhren in Booten), als ich ›Der Fänger im Roggen‹ lesen wollte. Ich fragte sie, wie Worte einen verderben können. Sie sagte: Nur Worte können das, und gab mir heimlich Pippi Langstrumpf. Das ist auch ein wenig verboten, sagte sie. Ich fühlte mich nach dem Buch aber kein bisschen schmutziger als davor. Wer glaubt schon an Mädchen, die zaubern können? Gäbe es so etwas, dann wäre es bei uns komplett mädchenleer.
Ich lese, seit ich fünf bin. Natürlich aus dem Grund, aus dem alle lesesüchtigen Kinder lesen: Realitätsflucht. Aber bitte, wie soll man hier auch nicht fliehen wollen? Wenn ich in der Bibliothek bin, umzingelt von Büchern, fühle ich mich glücklich und nicht mehr allein. Ich bin richtig aufgeregt, wenn ich ein tolles neues Buch finde. Das klingt oberöde, aber es ist die Wahrheit.
Inhaltsverzeichnis
Kann man Uhren töten?
Die Uhr tickt. Meine Güte, gibt es ein nervigeres Geräusch als eine Uhr, die tickt, während sonst alles wie ausgestorben ist?
(»Als Uhr muss ich sagen: Ich könnte mir auch was Spannenderes vorstellen, als in einem langweiligen Jungszimmer zu stehen und herumzuticken. Aber, hey: Job ist Job!«)
Es gibt gerade nichts zu tun, weil ich die Aufräumarbeiten in meinem Zimmer dummerweise letzte Woche beendet habe. Also, ich wachte irgendwann auf, und es war Sonntag, so wie jetzt. Ich wollte nicht aufstehen, aber es fiel mir beim besten Willen kein Grund ein, liegen zu bleiben. Dann habe ich meine Füße auf den Teppich vor meinem Bett gestellt und sie beobachtet. Die Füße wollten am liebsten weglaufen. Sie standen auf dem schmutzigen Teppich und schauten sich das Zimmer an. Das sah aus. Überall lagen Socken herum, und es roch nach nassem Hund. Ich dachte dann, es gibt wirklich keinen Grund, warum irgendeiner in so einem Zimmer leben muss, und begann alles aufzuräumen. Die alten Spiele von früher flogen auf den Müll, die Plüschtiere auch und ein alter Fußball, den ich nie benutzt habe, weil mich Fußball anödet, besonders wenn man immer alleine spielen muss, weil keiner mit einem spielen mag. Ich dachte, ein aufgeräumtes, übersichtliches Zimmer ist wie ein aufgeräumter Kopf. Vielleicht klären sich meine Gedanken dann, denn ich habe zu viele Gedanken, die zu nichts führen.
Ich bin recht normal, außer dass ich ab und zu mit Gegenständen rede, oder mit Menschen, die ich auf der Straße sehe. Aber nur in meinem Kopf. Da sehe ich zum Beispiel die Schauspielerin aus ›Und nächstes Jahr am Balaton‹. Ab und zu mache ich Proben mit ihr. Also zum Beispiel: Wenn ich die Ampel bei Grün erwische, werde ich die Schauspielerin wirklich kennenlernen. (Sie hat Sommersprossen und sieht deutlich älter aus als ich, vermutlich ist sie viel älter. Aber sie würde sich trotzdem in mich verlieben, weil ich mein Zimmer aufgeräumt habe.) Ich habe die Schauspielerin allerdings noch nicht getroffen.
Ich heiße Maximilian. Klar, dass keiner Nerv auf so einen langen Namen hat. Also sagen alle: Max. Was ich nicht mag. Maxe sind dick. Aber auch egal, denn ich bin sowieso nicht jemand, der pausenlos gerufen wird. Zu Hause wohne ich alleine mit meinem Vater. Der sagt kaum was. Und meine Mutter ist gestorben. Das ist jetzt aber kein Grund, den Kopf zu senken und zu murmeln: Oooch, das tut mir aber leid, wie es die meisten tun. Erst mal ist ziemlich klar, dass es keinem leidtut. Wieso auch, die kannten meine Mutter doch nicht. Der andere Grund ist: Ich kannte sie auch nicht. Sie ist gestorben, als ich geboren wurde. Na ja, kurz danach. Ich kenne von ihr nur ein paar Fotos. Da ist eine lachende Frau in ziemlich abenteuerlichen Klamotten drauf. Ich studiere die Fotos immer mal wieder und versuche, Gefühle zu der Frau zu entwickeln, aber das ist sehr schwer. Manchmal denke ich mir, es wäre einfacher mit einer Mutter. Vielleicht weniger traurig. Aber ich weiß nicht genau, ob das stimmt.
Vermutlich wäre ich weniger komisch, wenn ich eine Mutter hätte. So kenne ich nur meinen Vater, und wenn ich schon niemand bin, den man gern ruft, so ist er mit Sicherheit niemand, den man gerne kennt.
Inhaltsverzeichnis
Hab ich schon erzählt, wie bescheuert Sonntage sind?
Es ist also, um auf die aktuelle Lage zurückzukommen, Sonntag. Wenn ich schon kein großer Freund der Wochentage bin, so kann ich sagen: Das Wochenende ist mir richtig verhasst. Es ist alles wie ausgestorben am Wochenende. Was heißt da: WIE. Es ist ausgestorben. Vermutlich ein Atombombenalarm, und ich hab mal wieder nichts mitbekommen.
Nicht dass es unter der Woche wirklich krachen würde vor Lebendigkeit. Die Stadt, in der ich wohne, na klar, das klingt jetzt, als hätte ich es mir ausgesucht, ich wohn jetzt mal hier in dieser Stadt, ist klar, also, die Stadt, in der ich geboren wurde, ist nicht sehr groß. In einer Stunde schafft man es bequem, von oben nach unten und links nach rechts durch die Stadt zu laufen. Es gibt aber keinen Grund dafür.
Die Höhepunkte der Stadt sind: eine Eisdiele, die ziemlich gutes Eis macht, auch wenn, zugegeben, mir da der Vergleich fehlt, denn es ist die einzige Eisdiele der Stadt. Ein Laden, der gegrillte Hühner verkauft. Ein Schwimmbad für den Sommer, in dem ich ein paarmal war, dann aber nicht mehr, weil ich das Gefühl hatte, alle starren mich an. Und ein Park, in den ich aber nicht alleine gehe, weil dort immer Gruppen rauchender Jugendlicher rumhängen, und vor denen habe ich Angst.
Die Läden, die es gibt, verkaufen alle denselben Schrott: Schmelzkäse (zwei Sorten), Kohl (zwei Sorten), Äpfel (eine Sorte), Brot (Mischbrot, immer alt), Butter, Wurst (eine Sorte) und Gläser mit Gurken, wenn es sich um Lebensmittelläden handelt. Ziemlich hässliche Anziehsachen, wenn der Laden darauf ausgerichtet ist. Oder uninteressante Spielwaren. Die Leute bekommen schlechte Laune, wenn sie das Zeug kaufen, sie haben immer ein unbefriedigtes Gefühl. Das weiß ich, weil alle unentwegt meckern, den Mund nach unten ziehen und sich betrogen fühlen. Keine Ahnung, von wem. Menschen haben ja oft das Gefühl, dass andere schuld sind, wenn es ihnen nicht gut geht. Da will ich mich nicht ausnehmen.
Es ist die Idee des Sozialismus, dass alle dasselbe haben, dass es keinem schlecht geht und dass alle gleich sind. Aber ich denke, so funktionieren Menschen nicht. Wenn einer sechs Jahre studiert, um Arzt zu werden, will er für diese Anstrengung mehr Geld haben, um sich mehr leisten zu können. Sonst kann er doch einfach eine Lehre machen und in ein Werk gehen, wo er was tut, bei dem er nicht groß nachdenken muss. Es hat also ein paar Fehler im System.
Zumal das ›Alle sind gleich‹ nicht stimmt. Jeder, der mal an der Ostsee war oder an einem anderen See, sieht da alte Villen mit Bootsstegen, die Leuten gehören, die meistens etwas bei der Partei machen. (In der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, der SED, zu sein ist wichtig, wenn man es zu was bringen will. Alle Nicht-Parteimitglieder sind ein wenig verdächtig. Unser Land ist das Land der Arbeiter und Bauern, also sind auch Tiere verdächtig. Kinder, Ärzte und Professoren – alle verdächtig. Das erwähne ich jetzt für die nachfolgenden Generationen, die meine Aufzeichnungen finden werden.)
So ist das also in der DDR. Und ich habe keine Ahnung, wie es anderswo ist. Über allem liegt hier neben dem Geruch im Winter eine große Langeweile. Die Leute wissen nicht, was sie mit sich anfangen sollen. Vielleicht wissen das Menschen sowieso nicht so gut, aber ich denke, woanders, also in den Ländern, die ich nie sehen werde, gibt es genug Sachen, die die Menschen von ihrer Langeweile ablenken. Hier dagegen können die Erwachsenen nur viel Alkohol trinken, damit etwas passiert. Oder damit sie nicht mehr merken, dass nichts passiert.
Leider auch meine Mutter, aber dazu später.
Die Kinder spielen normale Kindersachen, solange sie klein sind, und fangen an sich zu langweilen, sowie sie in die Schule kommen. Für junge Menschen ist dieses Land die Hölle. Es gibt nichts, was sie hier machen können, außer im Kino Russenfilme schauen oder am Denkmal in der Stadt rumzuhängen. Aber ich mache noch nicht mal das, weil ich vor anderen Angst habe. Erwähnte ich das schon?
Ich habe ziemlich viel Angst vor allem Möglichen. Ich sehe mich immer von außen, wenn ich mit anderen bin, und werde ganz steif davon. Mir fällt dann nichts ein, was ich sagen könnte, und wenn doch, höre ich mich etwas sagen, was nicht von mir kommt. Ich bin eigentlich nur entspannt, wenn ich lese. Sonst habe ich dieses Beobachtungsding. Ich hab das Gefühl, dass alle Leute, die mir begegnen, mich anstarren und über mich lachen oder mich verachten. Aber ich ahne, dass das Quatsch ist, weil ich bestimmt nicht wichtig genug bin, damit mich jeder ansieht und auch noch eine Meinung zu mir hat. Also Gedanken über mich, so viel steht mal fest, macht sich keiner.
Inhaltsverzeichnis
Von wegen Eltern
Mein Vater arbeitet bei der Polizei. Das ist schon mal ein Fehler. Die Polizei ist ziemlich weit unten in der Liste mit Elternberufen zum Angeben. Das ist fast so schlimm wie Lehrer.
Er sieht aus, wie ein Vater eben so aussieht. Ich kann das bei Erwachsenen nicht so sagen, ob sie gut aussehen oder schlecht, das ist ja auch völlig uninteressant. Ich weiß noch nicht mal, ob Erwachsene sich irgendwie fühlen. Sie wirken immer wie unter Kontrolle.
Wenn mein Vater heimkommt, hängt er seine Uniformjacke und den Hut auf, die Pistole schließt er weg, dann räuspert er sich, und wir setzen uns schweigend an den Tisch. Er isst, was ich gekocht habe, ohne ein Wort, dann räuspert er sich wieder und geht vor den Fernseher, um zu schauen, was die Arbeiter und Bauern wieder für Heldentaten verzapft haben. Ja, wir besitzen einen Fernseher. Weil mein Vater bei der Polizei ist, haben wir einige Sachen, die andere nicht haben. Ein Telefon zum Beispiel. Das hat kaum einer, und so bringt es einen auch nicht groß weiter, weil man keinen anrufen kann.