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»Eine Pause im Irrsinn. Noch eine Anstrengung, das Aussterben zu verhindern, in einer seltsamen Entschlossenheit vereint. Es ist der letzte Versuch.« Sibylle Bergs neuer Roman setzt da an, wo »GRM« endet – in unserer neoliberalen Absurdität, in der der Einzelne machtlos scheint. Der Kapitalismus ist alternativlos geworden. Das beste aller Systeme hat wenigen zu absurdem Reichtum verholfen und sehr vielen ein menschenwürdiges Dasein genommen. Die Krise ist der Normalzustand, Ausbeutung heißt nicht mehr »Kolonialismus« sondern »Förderung strukturschwacher Länder«. Inflation, Seuchen, Kriege, Diktatoren, Naturkatastrophen, Müllberge. Und die Menschheit vereint nur noch in ihrer Todessehnsucht. Die Lage scheint ausweglos. Aber in einem abhörsicheren Container brennt noch Licht. Fünf Hacker programmieren die Weltrettung. Manchmal gibt es diese historischen Momente, in denen Mauern eingerissen werden, Frauen studieren und wählen dürfen, Rassismus nur noch in einigen Köpfen existiert, Geschlechter keine Rolle mehr spielen, in denen verschwindet, was Menschen für hundert Jahre für ein Naturgesetz hielten.
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Seitenzahl: 698
Sibylle Berg
#RemoteCodeExecution
Roman
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Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Über Sibylle Berg
Über dieses Buch
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
Irgendwann
2 Jahre und 7 ...
5 Jahre vor dem ...
Zweieinhalb Jahre vor dem ...
2 Jahre und 5 ...
Damals
2 Jahre und 1 ...
2 Jahre vor dem ...
immer noch 2 Jahre ...
1 Jahr und 10 ...
1 Jahr und 9 ...
1 Jahr und achteinhalb ...
1 Jahr und 8 ...
1 Jahr und 6 ...
1 Jahr vor dem ...
11 Monate vor dem ...
10 Monate und 2 ...
10 Monate vor dem ...
6 Monate vor dem ...
Immer noch 6 Monate ...
5 Monate vor dem ...
4 Monate vor dem ...
dreieinhalb Monate vor dem ...
immer noch ungefähr dreieinhalb ...
1 Monat vor dem ...
2 Wochen vor dem ...
Gleich geht es los.
eineinhalb Wochen vor dem ...
10 Tage vor dem ...
immer noch 10 Tage ...
immer noch 10 Tage ...
3 Tage vor dem ...
2 Tage vor dem ...
11 Stunden vor dem ...
10 Stunden vor dem ...
8 Stunden vor dem ...
5 Stunden vor dem ...
4 Stunden vor dem ...
Das Ereignis. Jetzt.
Dank
Glossar
Förderhinweis
Inhaltsverzeichnis
Irgendwann
Später.
Liegt da ein Mann in seiner zu kalten Wohnung.
Na ja, Wohnung.
Also.
Da liegt er, in einem Bärchen-Pyjama, unter einer Gewichtsdecke – die ist, neben Psychopharmaka, Singleplattformen und Alkohol, ein weiterer geldwerter Vorteil der codegesponserten Massenvereinsamung, statt eines Menschen oder Hundes decken die Leute sich mit kiloschweren Textilien zu.
Sie nennen es Kuscheln.
Der Mann in seiner zwangsbelüfteten, ökologisch-grünen Unterkunft steht kurz vor dem Erwachens-Impuls, den Nanobots dem betreffenden Gehirnareal geben werden. Sie sind noch nicht so genau, die kleinen Biester, ab und an läuft etwas schief, aber –
der Moment des Halbschlafs ist stets ein somnambules Fest, wie das Leben, das wir feiern sollten.
Mitten im nebligen Raum zwischen Traum und Realität vermeint der Mann eine Stimme zu hören:
»Geht es dir gut, an diesem Morgen?« Sagt sie. Und
»Es ist ein wunderbarer Tag. Es regnet.«
»Das magst du, dann kannst du dein Homeoffice genießen. Solange es noch da ist, solange du noch ein inneres Office hast, denn dein Beruf als – egal – wird gerade ausgelagert.
Du wirst
heute vermutlich wütend werden«, sagt die Stimme »Es wird fast jeder wütend im Moment. Wegen der unglaublichen Zumutungen, die so ein Leben mit sich bringt. Wegen dieser – nennen wir es – Ohnmacht, die dich begleitet bei allen Verrichtungen.
So ein Ärger, wenn sich die Türen der Tram nicht öffnen, einem Fehler des Bezahlsystems geschuldet.
So ein Hass. Wenn das Smartmeter dir ein Stromverschwenden bescheinigt und dir das wöchentliche Duschen mit warmem Wasser verwehrt.
Und wenn dein Tele-Arzt nicht erreichbar ist, weil die Analyse deiner Daten den Schluss zulässt, dass du mit deiner Existenz ein marktwirtschaftliches Desaster performst, ist das wirklich – unerfreulich. Aber
bei der Rettung des Planeten müssen wir alle zusammenhalten.
Solidarisch sein.
Solidarisch sein.
Solidarisch sein.«
Hoppla, ab und zu hängt das Programm.
»Dann
sind wir hilflos – was auch tun, wen
anrufen, wohin eine Mail senden, wo demonstrieren und mit wem? Und außerdem –
wird geäußerter Unwille mit dem Einzug deiner digitalen Vermögenswerte bestraft.
Vermögenswerte. Der war gut.
Du vermagst – nichts.
Außer dein Leben zu feiern.
So ein Leben, das ist schon was, kannst du sagen und tief durchatmen. Die Luft ist so gut, seit alle Rad fahren.
241.364 neue Menschen werden heute die Erde betreten, und im gleichen Moment vergessen sein, aber – sie werden alle Rad fahren, wegen des Klimas, und sie werden es bewusst tun.
Apropos. Du hast dich gut ernährt gestern, dein Magen meldet den Verzehr von etwas, das du für einen Insekten-Burger gehalten hast.
Du hast trainiert.
Mach weiter, sonst wirst du einer der 1.712.325.934 übergewichtigen Menschen auf der Erde oder einer der
786.067.272 Fetten – hoppla, korrekter: der Menschen mit einem unausgewogenen Gewichts-Fett-Anteil,
die keinen Zugang zu den Gesundheitsdiensten mehr haben.
Du wirst an diesem wunderbaren Tag deine
eigenverantwortliche Psychohygiene in den sozialen Netzwerken ausleben, und einige der 518.807.449 Einträge auf der Massenablenkungswaffe Twitter oder sonst wo –
ins Nichts senden.
Wenn du dich solidarisch, solidarisch, solidarisch,
hoppla,
verhältst,
steht dir ein elektronischer Hund zu.
Und nun – geht es los –
Hast du Angst? Viel Angst?«
Willkommen
im
fortgeschrittenen Jahrtausend!
Es würde als »Zeit des Wandels« in die Geschichtsbücher eingehen. Wenn es später noch Bücher geben würde. Oder eine Geschichte. Oder eine Welt.
Draußen schien alles ruhig.
Die neue Technologie, der Segen der Menschheit, würde der Ausweg aus Gewalt, Hass, Ungerechtigkeit und Klimakatastrophen sein.
Hoffentlich.
Nach zweihundert Jahren Fortschritt, der den Menschen so viel Gutes gebracht hatte – Strom und Wohnung und Konsum gegen Aufstände –, war der Planet am Ende und konnte nur durch die Entfernung der Menschen repariert werden –
(Hier erklingt ein kleiner esoterischer Healing-Song, mit Delfinen.)
Es gab zu viele Leute, die alle etwas wollten.
Leben zum Beispiel.
Doch das Gefühl des Untergangs war immer vorhanden,
so verzweifelt sie auch mit Netzen Plastik aus dem Meer fischten. Sosehr sie versuchten, die Tiere, die auf dem Plastik über die Meere krabbelten und wackelten, um in einem neuen Zuhause einen invasiven Job zu erledigen, zu lynchen.
Sie versuchten, Mauern gegen die, sagen wir,
Natur
zu bauen. Und klonten Tiere, um sie danach beim Aussterben zu beobachten.
Der Himmel erleuchtet von Explosionen im All – da kollidierten chinesische Schallraketen mit den Satelliten, die Milliardäre ins All schossen, um das Internet zu retten, das am Boden zusammenbrach.
Das schöne Internet.
Die Bevölkerung der westlichen Länder teilte sich in die dicke Mehrheit und die fitte Minderheit. Die Dicken, die Adipösen, Diabetiker, herangezüchtet durch all das, was man Nahrung nannte. In Pappkartons lag das Zeug, nicht einmal in Regale mit netter Beleuchtung wurde es geordnet. Der nächste Schritt wäre, den Leuten Zucker, Fett, Hormone und Pestizide einfach in die Venen zu spritzen.
Für Konzerne, also Aktionäre, hatte die Wissenschaft erforscht, wie viel Zucker und Fett und Dreck so ein Körper erträgt, und wie lange es sich für das Wachstum rentiert, den Organismus am Leben zu erhalten. Siebenhundertsechzig Milliarden hatten die Aktionäre mit Insulin verdient.
Das schöne Geld.
All das schöne Geld für die privaten Krankenhausketten, all die armen Leute, die da mit den amputierten Beinen hockten und glaubten, was ihnen von Aufstieg und Glück der kleinen Leute berichtet worden war.
Die Kranken, Langsamen, Dummen, die Alten, die Unnützen, die,
die es anders gekannt hatten, die vom Krieg erzählten und sich doch darin befanden.
Bad News: Sie hatten verloren. Der Feind musste nicht einmal kämpfen. Er war einfach – durchspaziert. Der neue Mensch. Mit Coding und Fremdsprachenkenntnissen, mit virtuellen Brillen liefen sie gegen Laternen und sagten: »Ich unterscheide nicht zwischen Leben im Netz und Real Life.«
Die Fitten, die ihr Humankapital in Form halten,
fanden ihr Leben fantastisch. Sie filmten sich beim Fantastischfinden. Sie hatten nichts zu verbergen. Ihre Vorbilder waren Konzernchefs, Milliardäre, Macher, mutige Männer.
Von denen sie radikalisiert worden waren.
Training und Nahkampf, Diät und Orthorexie.
Die westlichen Kleinbürgerkörper verformt und kurz vor dem Zusammenbruch, der Anspruch, zu einem genormten, energiegeladenen, einheitlich funktionierenden, beschäftigten Konsumkörper zu werden, am Rand des Wahnsinns.
Kaum eines mit einem Gefühl außer ständiger Panik.
Und dem Bewusstsein der eigenen Individualität.
Jedes mit seiner Identität, seiner Nationalität, Regionalität, seiner Religion und seiner Generation, seinen Vorlieben und Abneigungen, gegen den Rest.
Da gehörte keines zu irgendwas.
Außer zur großen Klasse der Betrogenen. Der TagelöhnerInnen, der armen SchluckerInnen, der Arbeiterklasse, die sich aber nicht mehr als Klasse verstand, zu der keiner gehören wollte, zu der fast alle gehörten. Sie strengten sich so an, alles richtig zu machen. Den Planeten zu retten, zu sparen, auf alles zu verzichten, aber – da war kaum noch etwas, was verzichtbar wäre, außer – man stürbe ökologisch.
Mit den Resten ihrer Wut, ihrer Verzweiflung angesichts Lebens, das doch nicht einmal mehr ein bisschen Spaß machte, gab es an allen Orten, in allen Ländern, immer wieder Aufstände, Demonstrationen, Unruhen, die erfolgreich und mit zunehmender Brutalität niedergeschlagen wurden.
Wir nennen es: »Die Schraube anziehen.«
Einen Halt gab es nicht mehr für die Leute am Rand der sich öffnenden Böden. Sie taumelten, strauchelten, schrien Befehle in ihre smarten Geräte, wenigstens jemandem etwas befehlen. »Hauptsache: Arbeit«, stöhnten sie und schleppten sich in Großraumbüros, in denen sie beschäftigt wurden, mit der Programmierung dessen, was sie unnütz machen würde. Sie digitalisierten bis in den letzten Winkel jeden Bereich des Lebens, vergessend, was wohl passierte, wenn der Strom ausblieb.
Oder die AI wirklich den Verstand aller Menschen übertreffen wollte. »AI – gestalte eine nachhaltige Welt.« Und ENTER.
Aber bis es so weit war, lieferten
die Verlierer den neuen, programmierenden Berufstätigen das ausgewogene Essen, das von anderen Verlierern zubereitet worden war.
Die neuen schlanken Menschen hatten geschädigte Nerven – sollten sie nun dauernd Angst haben oder mutig vorangehen? Sollten sie empfindsam ökologisch sein oder wachsam?
Man bräuchte einen Neustart. Aber wer sollte das tun? Und was sollte danach kommen? Wogegen sollte man sein und kämpfen und anschreien?
Und war nicht jede Zeit den Menschen als die schrecklichste erschienen? War es nicht immer weitergegangen? Dank der Innovationskraft, der Technologien, des Weltraumes und des Gottes –
Immerhin konnten sie noch wählen, die Leute.
Zwischen Produkten oder Parteien, die sie mehr oder ein bisschen weniger verwalteten. Sie hatten das Recht, Steuern zu zahlen, und sie durften sagen, was sie dachten und. Verdammter Mist! Es wusste doch keiner mehr, was er denken sollte, es war alles – zu viel. Zu viel Netz und Hormone, Panik, Adrenalin und Mitteilungen. Dauernd gab es Mitteilungen. Und überall waren es dieselben.
Es war die Zeit nach dem Kapitalismus.
Der Glaube an Zukunft, Fortschritt, Wohlstand, Urlaubsreisen, die runde Welt, das friedliche Ende, die glückliche Familie, hatte die Menschen zusammengehalten, lange Zeit.
Doch nun – glaubte keiner mehr irgendwas.
Die unfassbare Menge an realen und gefälschten Informationen, an Schwachsinn, Brutalität, und die Geschwindigkeit, mit der die alten Gesellschaftsordnungen verschwanden und durch irgendwas ausgetauscht wurden, versetzten die Bevölkerungen und ihre Organe in permanente Erregung.
Der Darm. Ein großes Thema.
Gereizt waren sie, die meisten Menschen, durch den Brand in der Amygdala. Das Leben war zu einem Schlachtfeld der Mikroaggressionen geworden, ein Krieg, ausgetragen mit sturmeinsatzfähigen Automobilen, Bikes, Helmen, Masken, Muskeln.
Sie handelten kollektiv gegen alles, was ihnen ein Wohlbefinden bereiten könnte – gegen Ruhe, Entspannung und Müßiggang.
Sie hatten die Parolen ihrer Geiselnehmer verinnerlicht:
»Der Wettbewerb, ich will den Wettbewerb«, röchelten sie auf den letzten Metern zum Ziel.
Fast jeder unter einer Milliarde Vermögen ahnte, dass es nicht gut enden würde. Mit den Menschen der Welt, dem ganzen Zeug, aber –
einen Ausweg wusste keiner.
Apropos. In jeder Sekunde multiplizierte sich die Zahl der Bereiche, die digitalisiert wurden.
Alle Bereiche des Lebens würden schon bald darauf warten, mit ein paar gut ausgeführten Remote Code Executions übernommen zu werden.
So weit zur Theorie.
Jetzt geht es richtig los. Also fast.
Inhaltsverzeichnis
lag Ben
Ethnie: irisch
Hobbys: Geheimdienste, Geofencing
Gefährderstufe: unbedeutend
Sexualität: asexuell
Familienzusammenhang: Eltern mit Alkoholschäden. vermutlich tot
mit dem Gesicht auf der Tastatur seines Rechners. Seine Wut war so groß, dass sie in einem paradoxen Systemkollaps einen Ausweg aus seinem Hirn gesucht hatte. Ben war dabei, eine große Sache aufzudecken. Also wie immer. Seit Jahren war Ben mit der Erforschung der smarten Kriege gegen die Bevölkerungen beschäftigt. Stets war eingetreten, was er irgendwann befürchtet hatte. Dinge, die er kaum jemandem erzählen konnte, seit es die Freunde nicht mehr gab. Sie hätten ihn als raunenden Spinner abgetan, die Leute, wenn er von elektronischen Identitätskarten berichtet hätte, von Massenüberwachung und Manipulation, von einer Renaissance des Feudalismus.
Die Technik, die im Moment fast jeden Bereich des Einzelnen ausspähte, sortierte, für den Fall katalogisierte, dass es irgendwann notwendig sein könnte, den Menschen aus dem Verkehr zu ziehen, war aus reiner Profitfreude entstanden. Die Übernahme des Verstandes und der Debatten durch die sozialen Medien, die biometrischen Kameras, die Spionagesoftware, die in fast allen Geräten aktiv war – eine Mischung aus Absicht und Zufall, aus Kapitalvermehrung und Sehnsucht, die Menschheit zu beherrschen, Ordnungssysteme zu schaffen, um das Chaos zu verunmöglichen, das eventuell ausbrechen würde, wenn große Teile der digitalisierten Welt ausfallen würden, es mehr Überschwemmungen, Hunger, Zuwanderung, Abwanderung, Inflation und Elend gäbe.
Gerade war das Internet of Bodies, der große Leuchtturm am Himmel der Monetarisierungsmöglichkeiten, aufgetaucht. In den USA wurde seit einiger Zeit die Beaconisierung schwacher Verkehrsteilnehmer durchgeführt, um sie vor den Gefahren webverbundener Fahrzeuge zu schützen.
Es hatte mit Versuchen begonnen, Fahrräder mit
Transponderbeacons zu sichern, die von den Sensoren smarter Autos automatisch erkannt wurden, um die Fahrradfahrenden nicht zu überrollen. Das funktionierte einigermaßen, aber würde Passanten nicht vor den fast autonomen Automobilen schützen, die, einem Hack oder Fehler geschuldet, immer wieder in weiche Ziele rasten. Inzwischen liefen Versuche, Passanten zu ihrer eigenen Sicherheit RFID-Technologie in Chipform zuzuführen.
Eine grobe Technik, die vor ihrem Einsatz schon veraltet war, denn Ben war überzeugt, dass der Milliarden-Markt der Nanotechnologie bald einsatzfähig wäre.
Er hatte eine Reihe von eingetragenen Patenten gefunden, die seine These belegten, dass es bald ein »Internet of Bodies« geben würde.
Die Verbindung von Netz und Körper, um Menschen auszulesen, zu schützen, zu heilen und so weiter, stand kurz vor ihrer Masseneinsatzmöglichkeit.
Ben suchte, wie alle die Erregung für Lebendigkeit hielten, ausschließlich Belege, die seine Annahme unterstützten. Zum Beispiel im Patentregister.
Es gab Dutzende, die sich als Basis für den Einsatz von Nanobots in Organismen lesen ließen – das Patent US9382579B2 zu elektromagnetisch funktionalisierten DNA/Nanopartikel-Komplexen, zum Beispiel, oder US3816709A zu technischen Grundlagen der Authentifizierung und der biologischen Diagnostik.
Das Patent US20020188470A1 sicherte sich die Rechte an der Möglichkeit, Lebewesen durch zuvor zugeführte Nanopartikel zu identifizieren.
Wenn die Nanotechnologie Ingenieure wie Elon Musk in Aufregung versetzte, war die Chance, dass an ihrem kommerziellen Einsatz gearbeitet wurde, sehr groß. Wenn es möglich ist, kleine, von außen gesteuerte Roboter, einen Milliardstel Meter groß, mit Wasser oder Nahrung aufzunehmen, sie gezielt im Körper zu bewegen, dann –
Ben wurde durch etwas abgelenkt, wie so oft, wenn er etwas Großem auf der Spur war.
Es war eine
Erinnerung.
Inhaltsverzeichnis
Die Freunde
waren
Ben, Kemal, Maggy, Pavel, Rachel,
Mentale Einschränkung: diverse Zwangsstörungen
Krankheitsbild: Schuppenflechte, Sonnenallergie
Hobbys: schlechte Ernährung, Gamen
Technische Kenntnisse: befriedigend
Abneigungen: Marvel-Hater, Faschisten, die da oben
damals jugendliche Menschen, die sich in Ermangelung von Bekannten im 1.0-Leben »Die Freunde« nannten. Die Freunde hatten Mitgliederstatuten festgelegt und viel geredet und dabei zu Boden gesehen, um ihren Zuschreibungen als Asperger-Nerds gerecht zu werden. Sie hatten sich über Programmiersprachen, ihre Geräte, Server, Racks, Kryptografie und Lötkolben ausgetauscht und waren im Rahmen ihrer Emotionshemmung erfreut gewesen, dass da andere existierten wie sie: Außenseiter, die sich kraft ihres Außenseitertums dazu berufen fühlten, für alle Außenseiter zu kämpfen. Sie hatten eine Aufgabe gefunden, die größer war als sie. Die jungen Leute, die stotterten, die anderen nicht in die Augen sehen konnten, die keinen Kontakt zu Artfremden hatten, weil keiner hier eine Ahnung hatte, worüber die anderen Menschen sich unterhielten. Über die zwanzig Millionen IP-Adressen, die von der Regierung innerhalb der letzten Monate gesperrt worden waren. »WTF ist eine IP-Adresse«, würden sie fragen, die Normalen.
Die Freunde hatten ihren Hackerspace durch eine gezielte Suche gefunden. Ganz wie die Klimamission GRACE, die angeblich die Schwerefelder der Erde vermessen sollte, hauptsächlich aber nach verschwindenden Wasservorräten Ausschau gehalten hatte, damit im Anschluss Armeen der westlichen Welt in die Orte der südlichen Welt gesendet würden und vorsorglich gegen das Fluchtverhalten von Menschen in wasserlosen Gegenden Stellung beziehen könnten. Genauso hatten die Freunde die Cloud der beliebtesten Fitness-Tracking-App nach interessanten Daten durchsucht. Und diese Perle am Stadtrand gefunden. Hier joggte keine Sau. Keine Wärmeballung, keine Funknetze. Das hieß: Hier gab es keine Überwachungskameras. Das hieß: Hier war nichts. Keine Tiere, keine Drohnen. Keine mit Roboterhunden verbundenen Drohnen. Gute Gegend.
Da war
Ben.
Er war bereits achtzehn und versorgte die Gruppe mit Geld. Er prüfte Unternehmens-IT auf Schwachstellen. Und versuchte in der freien Zeit, ein dezentralisiertes Netz zu entwickeln. Was ihm vermutlich in fünfzig Jahren gelingen würde. Na ja. Oder doch nicht, denn er hatte keine zig Millionen zur Verfügung, um ein Rudel Topprogrammierer an die Aufgabe zu setzen. Er hatte keine Millionen zur Verfügung, weil niemand, der Millionen zur Verfügung hatte, an einem neuen Internet interessiert war. Das alte arbeitet hervorragend.
Da war Maggy,
die sehr jung war und mit Menschen Probleme hatte. Also, die Menschen hatten Probleme mit ihr, denn Maggy war zu dick und zu uneindeutig, um den sozialen Verabredungen zu entsprechen, die darüber bestimmten, wie ein junges Mädchen auszusehen hatte.
Rachel,
da in der Ecke mit dem Bärenohren-Plüsch-Overall, war erst vierzehn und redete nicht gerne. Reden langweilte sie. Sie war auch nicht so gut darin. Sie hatte ständig kalte Finger, an denen sie kaute, und starrte ins Netz – da war es warm. Da waren
Kemal und Pavel.
Kinder von irgendwelchen Einwanderern, die in letzter Zeit gehasst wurden, und zwar zu Recht, und zwar, weil sie schuld an der Klimaerwärmung waren. Und der Privatisierung. Und der Steuerhinterziehung durch Konten auf den Cayman Islands.
Das waren:
die Freunde.
Die Wut auf die Gesellschaft hatten und nicht wussten, wen sie damit meinten. Die von Anarchie redeten und nicht wussten, was das sein sollte. Die sich nach Aktionen sehnten und Dinge im Netz meinten. Sie waren die Guten. Was auch immer das bedeuten mochte.
Die Freunde hatten irgendwann an ihren Sieg geglaubt. Daran, dass sie immer mehr würden. Die neue coole Jugendbewegung. Dabei hatten sie nicht bedacht, dass Nerds keine erotische Kleidung tragen und die Masse keine Ahnung von Technik und Politik hatte. Dazu konnte man nicht tanzen. Die Freunde waren weniger geworden statt mehr. Immer öfter verschwanden ihre Leute. In Gefängnissen oder Nervenheilanstalten. Zu viele Informationen waren nicht gut für menschliche Hirne. Sie wussten, dass dieses sogenannte Internet nicht nur ein Ort war, in dem Leute Katzenpornos betrachteten und Reiseschnäppchen suchten. Sie wussten, dass im Netz alles war. Die Stromversorgung, die Verkehrsregelung, die Börse, der Welthandel, die Züge, das Leben. Und dass alles Leben endete, wenn Systeme angegriffen wurden. Oder keine Rohstoffe für den Bau von Rechnern mehr zur Verfügung standen. Sie wussten, dass es Kriege um diese Rohstoffe gab. Dass sie Kriege gegen den Terror hießen. Sie wussten, dass Menschen manipuliert und überwacht wurden in diesem Internet. Dass ihre Stimmen und Körper und Mails gefälscht wurden, dass es zu Anklagen kam und zur Beseitigung von –
Querulanten.
Es war ernst. Das war es immer, aber früher war es nicht lebensbedrohlich gewesen. Und nun?
Saßen sie hier. In dieser scheiß Fabrik. Und wussten nicht weiter.
Es hatte sich kaum einer für ihre Revolution interessiert. Was Menschen nicht begreifen, interessiert sie nicht. Sie interessierten sich für Terror. Darum fanden in regelmäßigen Abständen Angriffe irgendwelcher Fundamentalisten statt. Gerne ließen sich die Leute im Anschluss an solche Aktionen röntgen, nackt ausziehen und filmen, bevor sie ein Flugzeug bestiegen. Keiner hatte doch etwas zu verbergen. Die Freunde
hatten die Massen nicht mobilisiert.
Bis vor einigen Jahren hatte es noch anarchistische Jugendliche gegeben, die demonstrierten oder Grundstücke besetzten, die auszogen, um Faschisten zu jagen, die ihre Gesichter verhüllten und glaubten, sie könnten England zu einer Freistadt Christiania umbauen, einem rechtsfreien Raum, in dem heitere junge Hippies saßen und veganen Brei aßen. Die Aufstockung der Polizei und die Ausstattung mit Maschinengewehren hatten dem ein Ende gesetzt. Danach war Ruhe. Gewesen. Seitdem gab es nur noch ein paar Jugendliche, die sich nicht dem System untergeordnet hatten. Nur noch ein paar, die nicht glaubten, in der besten aller Zeiten zu leben. Die wenigen Querulanten, die noch rappten oder hackten, würden auch bald ihren Platz in der Gemeinschaft finden. Und das war gut für sie. Nur angepasst konnte man schließlich an den Erfolgen einer Gesellschaft teilhaben.
Egal.
Die meisten, die sich hier im Raum aufhielten, waren unbeliebt. Gewesen. Weil sie den Standards der Menschen-Norm nicht genügten. Weil sie zu laut, zu leise, zu groß, zu klein, zu dick, zu dünn waren. Sich zu schnell oder zu langsam bewegten, zu schwul oder zu nichtsexuell, zu unsportlich oder zu nervös waren. Einsam gewesen waren alle. Waren es immer noch, wenn sie die geschützte Werkstätte verlassen und mit schlechten Augen auf die Umgebung außerhalb des Netzes starrten. Die meisten wollten die Welt retten. Ein paar wollten einfach nur angeben. Und alle ahnten, dass sie nichts erreichen würden. Die Übermacht war zu groß geworden, oder sagen wir: Sie begriffen allmählich, gegen wen sie kämpften –
Geheimdienste, Staaten, Milliardenunternehmen, Rechtsradikale, Nationalisten, Spinner, Verschwörungstheoretiker und Mörder. Wo fing man da an? Kaum hatten sie ein Nazinetzwerk erledigt, wuchsen Tausende von Bots nach. Ein paar Überwachungskameras ausgeschaltet, und schon standen da wie durch ein Wunder neue Laternen mit biometrischen Erkennungssystemen.
Sie hatten gekämpft damals – und irgendwann aufgegeben. Denn die Menschheit war zufrieden in einem vollüberwachten, geregelten System, das eigentlich ohne Menschen auskäme. Sie waren ruhig und satt inmitten der Auflösung. Es war doch alles so wunderbar
smart geworden.
Nun folgt ein verwirrender Zeitsprung. Zurück zu –
Inhaltsverzeichnis
Ben, der in einem Bus in London
auf zwei Plätzen saß. Von vier im Bus installierten Kameras beobachtet, die die Sicherheit der Busreisenden gewährleisteten.
Der Vorteil, Ben zu sein, war – gepflegte Einsamkeit im öffentlichen Raum, denn außer Leuten, die zu viel Crystal Meth geraucht hatten, mieden die meisten eine körperliche Nähe zu Menschen, die aus zwei Metern und hundertzehn Kilo Fett, Muskeln und schlechter Laune bestanden.
Ben war schon immer aufbrausend gewesen. Würde sein ehemaliges Lehrpersonal sagen, wenn sie nach Bens imaginärem Amoklauf befragt werden würden.
Die Psychologen, wenn er welche hätte, würden sagen: »Hier liegt ein typischer Fall von Impulskontrollstörung vor.«
Oder einfach: Ben hatte den ganzen Schwachsinn noch nie verstanden.
Den Drill vom Kindergarten an. Das Wählen der beliebten Kinder im Sportunterricht, die Verächtlichmachung von allem, was nicht »normal« schien, das Einpeitschen des Wettbewerbs in Kinderhirne, bis sie jeden Spaß am Lernen und auch am Leben verlernt hatten und nur noch voller Angst waren – Angst, dass die Eltern den Job verlören,
Angst, sitzen zu bleiben und später keine großartige Karriere zu machen. Kinder, die sich einnässten und unter Psychopharmaka standen. Kinder, die zu verstörten Jugendlichen wurden und danach direkt zu Rentnern. Oder Arbeitslosen, oder tot.
Aber die größte Panik, egal aus welcher Schicht die Kinder stammten, war – gar keine Arbeit zu bekommen, sich ihr Leben nicht verdienen zu dürfen.
Ben hatte seine Tabletten, irgendwelche musste ja jedes westliche Kind nehmen, um für die Zukunft gerüstet zu sein, immer ausgespuckt.
Sein Hass war mit ihm gewachsen, mit seinem Körper, der ständig bebte. Die Haare wie rote Antennen in der Luft. Das Gesicht voller Sommersprossen.
Ben sah aus wie ein miserabel gelaunter Feuerlöscher, aber das wäre eine Untertreibung. Er war richtig geladen.
Er war vierundzwanzig und seit über zehn Jahren Hacker. Seit über zehn Jahren sah er, dass sich fast – alles so entwickelte, wie er es geahnt hatte.
Der Bus fuhr an Häusern vorbei, die früher eher Ställe als Menschenunterkünfte gewesen waren und in denen Sozialhilfeempfänger entspannt auf ihr Aussterben gewartet hatten. Nun hatten die Häuser Isolierglasfenster, bunte Anstriche und wurden von Programmierern, Systemanalytikern und Entwicklern bewohnt. Früher Spitzenverdiener, war alles, was ein »IT« oder »digital« in der Berufsbezeichnung hatte, inzwischen in der neuen Mitte der Gesellschaft angelangt. Bei denen, die sich selbstausbeutend im Homeoffice oder in Sichtbeton-Co-Working-Spaces mit Chill Lounge saßen und vierzehn Stunden am Tag absolut öde Jobs machten. IT-Sicherheit für Versicherungen, Onlineshopping-Bezahlsysteme für Kaufhäuser, Digitalentwickler bei den Wasserwerken oder 3-D-Statistiker, die Produktchancen für Softdrink-Hersteller errechneten. Es gab ein Überangebot an IT-Fachleuten, die unterdessen keine Helden mehr waren, sondern den Status von Fernmeldetechnikern hatten.
Einer von ihnen stieg in den Bus.
Der
Mann in Bens Alter
Intelligenz: durchschnittlich
Ethnie: pink
Gesundheitszustand: Anabolikamissbrauch, fit wie ein Schuh
Kreditwürdigkeit: korrekt verschuldet
Sexualität: Selbstbefriedigung
hatte bereits die Aura früherer mittvierzigjähriger Versicherungsmitarbeiter. Leute, die es gab, ehe sie durch Geräte ersetzt worden waren.
Der Mann in Bens Alter trug die neuen Ohrhörer, die gleichzeitig die Gehirnströme maßen, um Musik der Stimmung entsprechend aus Playlisten abzuspielen. Seit deren Markteinführung wurden zunehmend Menschen wegen angeblich subversiver Aktionen verhaftet. Sie badeten nackt in Brunnen oder grillten ihre Insektenburger vor Shoppingmalls.
Egal.
Der Mann in Bens Alter betrachtete die schönen bunten Häuser. In einem davon lebte er und war stolz darauf. So ein schöner ehemaliger Stall stand ihm zu, denn er hatte es durch seiner Hände Arbeit ganz nach oben gebracht. Also fast.
Der Mann in Bens Alter hatte sich auf Entmietungen spezialisiert. Erst nur als Hobby, weil er sich für Menschen interessierte, ihr Verhalten und ihre sogenannten Gefühle. Später professionell.
In England wurden jeden Tag ein paar Hundert Menschen aus ihren Wohnungen entfernt, um die im Anschluss als Anlagemasse zu verwenden oder sie nach der Beseitigung des Humankapitals anzustreichen und für den fünffachen Preis neu zu vermieten.
Diese Entmietungen waren eine ständige Quelle für Konflikte, denn kaum jemand begrüßte die Möglichkeiten, die eine Veränderung des Umfelds mit sich brachte. Weinende Frauen, Mütter gar, Kinder, die sich ebenfalls weinend an die weinenden Mütter aller Geschlechtszugehörigkeiten klammern. Kranke Alte, bettlägerige kranke Alte, in denen Katheder steckten. Männer, die durchdrehten, Schusswaffengebrauch, die Einsatztruppe und so weiter. Ein immenser Kostenfaktor. Der Mann in Bens Alter hatte ein System der friedlichen Entmietung entwickelt, sprich, er hatte eine AI programmieren lassen, die, mit den Daten des zu Entmietenden gespeist, das perfekte Vorgehen berechnete.
Ein Drei-Phasen-Programm der liebevollen Trennung von Menschen und Materie, das immer mit einer emotionalen Ansprache begann, in der sich der zu Entmietende als –
Mensch?
wahrgenommen sah – denn die Leute verfielen in Panik, wenn der Verlust eines Ortes drohte, wo sie ihren Krempel unterbringen konnten.
Die zweite Phase des Programms bestand aus emotionaler Zuwendung des Entmieters, eine virtuelle Berührung eventuell, ein verstehender Blick
und die geheime Information, die den zu Entmietenden zur Kooperation bewegen würde.
Die finale Phase basierte auf der Datenauswertung des zukünftigen Obdachlosen. Seine größten Ängste und Schwächen wurden ermittelt und das Wissen wurde eloquent eingesetzt.
Sagen wir zum Beispiel, der Mensch neigte zum Hass auf Muslime – so wurde der Einzug von siebenundsechzig Strenggläubigen in das Haus bestätigt.
Dasselbe konnte bei jeder Hass- und Angststörung angewandt werden. Von Spinnen über Schlangen, Rottweilerzüchtern über LSBTTIQQAA*-Bars im Erdgeschoss.
Das System war so perfekt, dass die Entmietung innerhalb von fünfzehn Minuten abgeschlossen werden konnte.
Und das muss man sich jetzt einmal vorstellen. Diese Effektivität. Früher hatte die vom Steuerzahlenden entlohnte Polizei einschreiten müssen, damit das Volk sich selber auf die Straße setzte.
Der Mann in Bens Alter hatte vor einigen Tagen aus Gründen des Respekts persönlich die Entmietung seiner Eltern durchgeführt. Und das ist doch verrückt, denn
bis vor Kurzem hatte er selbst noch auf dem Sofa ihres Ein-Raum-Appartements gewohnt. Seine Mutter war Röntgenassistentin, der Vater Lehrer. Gewesen. Die beiden bekamen ihr Grundeinkommen und verbrachten ihr Leben im Bett. Leider in Bromley, wo gerade andere Pläne bestanden. Ein Plattforminhaber hatte den gesamten Stadtteil über seine Anlagefirma gekauft und wollte
irgendwas. Ohne Menschen.
In diesem Moment wurde bekannt, dass die japanische Regierung plante, das durch den Reaktoren-Unfall von Fukushima verseuchte Wasser ins Meer abzuleiten
– hoppla!,
zur selben Zeitwurde
Ben aus seinen Sitzen im Bus in London geschleudert.
Eine Bodenwelle brachte eine kurzfristige Bewegung, einen Moment der Menschlichkeit. Der kleinen Schreie, des peinlich berührten Lachens ob des eigenen Schrecks,
ehe alle wieder in sich zurückfanden.
Die Straßen außerhalb des Zentrums waren in einem Zustand wie in den Sechzigerjahren des letzten Jahrtausends. Die Oligarchen oder Philantropen, wie sie im Westen genannt wurden, zahlten keine Steuern, der Mittelstand war zu klein, um verrückte Dinge wie Infrastruktur oder etwa ein Gesundheitssystem zu finanzieren. Das war dann auch privatisiert worden. Seitdem lief der Laden.
Jeder Mensch konnte eigenverantwortlich seinen Körper wie einen Tempel behandeln und sich gesund ernähren, Sport treiben und für mentalen Überfluss sorgen.
Ben suchte im Netz nach etwas, das er während des Suchvorgangs schon wieder vergessen hatte. Er war auf der Homepage der CIA hängen geblieben. Wie um die These zu bebildern, dass wegen der ständigen Verfügbarkeit von Informationen und Ablenkungen bereits die zweite Generation der Menschheit komplett verrückt geworden war, unfähig, sich zu konzentrieren oder so etwas wie – Gedanken zu entwickeln. Ein paar Milliarden reizüberflutete Menschen, abhängig von der Dauererregung, auf die das Gehirn in seiner langsamen Evolutionsgeschichte komplett unvorbereitet war. Die Abhängigen jagten nach schnellen emotionalen Kicks beim Lesen von mehr oder weniger stabilem Schwachsinn und wussten nicht mehr, ob es ihnen wohl war, ob sie litten, oder dass es eine größere Palette an emotionalen Zuständen gab, außer Erregung, Ablenkung und scheinbarer Verfügbarkeit von
allem.
Ben hatte sein Ziel erreicht.
Er hatte, nach dem Scheitern des Hacks vor fünf Jahren, wieder für die Kapitalisten gearbeitet. Er testete in White-Hat-Teams die IT-Infrastruktur von Banken, die fast immer an der Infrastruktur sparten, damit der Umsatz stimmte. Und die Boni. Kann man machen. In einer Zeit, in der jedes Jahr über zweihundert Millionen neue Varianten von Programmen entstanden, die durch Sicherheitslücken in anderen Programmen spazierten und Schadsoftware einschleusten, um Rechnersysteme lahmzulegen oder zu erpressen oder Informationen abzugreifen oder einfach um –
Chaos zu stiften.
Heute würde er das System der alten Opiumbank HSBC untersuchen. Gute Bank – Stichwort: Geldwäsche für Terrorist- und DrogenhändlerInnen, Panama Papers, Swiss Leaks, FinCEN Files, Gelder von kriminellen Netzwerken, aber – was war schon nicht kriminell. Der Bank ging es prächtig. Sie expandierte, sie war systemrelevant. Was das wohl für ein System sein musste, das eine kriminelle Institution benötigte, um zu bestehen.
Der gläserne Turm in Canary Wharf war abgeschirmt wie eine mittelalterliche Burg, mit einem Wassergraben geschützt, in Google Street View nicht sichtbar.
Ben saß im Eingangsbereich auf einem Fake-Barcelona-Chair und betrachtete Dutzende komplett identisch aussehende Männer in etwas zu abgewetzten Anzügen. Guten Morgen, ihr Sackratten, ihr kleinen Schrauben im Motor der Welt.
Nach ein paar Stunden, die Ben sich zu einem Tagessatz von 10 Tausend Pfund durch die Lücken des Intranets gehackt hatte, war sein Arbeitstag beendet und er schob sich durch die Massen nach Hause. Im Nieselregen hielten die müden Leute den Blick zu Boden. Sie trugen Westen, die sie mit einer App heizen konnten. Ein paar Minuten der Wärme und Zuwendung, und schnell noch einkaufen. Ein systemerhaltender Spaß, der sich monatlich verteuerte.
Die Konzerne Bayer, Monsanto und Syngenta, die zu einem Megakonzern zusammengewachsen waren, der Markt hatte es geregelt und jede störende Konkurrenz beseitigt, hielten die Patente auf fast alles, was einmal gelebt hatte oder gewachsen war. Viertausend Patente auf Tiere und Pflanzen in Europa. Etwas mehr als dreizehntausend Patente in Bearbeitung. Und Tausende weitere warten auf den Stempel des europäischen Patentamtes. Wenn Menschen irgendwann endlich von ihren Defekten bereinigt sein werden, kann man sie auch patentieren.
Die Leute also würden nach Hause gehen, den Ort, der natürlich nicht ihr Zuhause wäre, sondern irgendwelchen Anlegern bei einer der zwei, drei großen Investmentfirmen gehörte. Sie würden sich eigenverantwortlich um ihren Kram kümmern.
Solidarisch Sport treiben, sich ein bisschen Monsantos Superkohl wärmen, ihre Gesundheitsapp würde das liken. Die Krankenkassen dito. Die meisten würden danach noch irgendeinen Quatsch im Netz machen, um ein paar Likes für das gute Gefühl zu bekommen, Medikamente einnehmen, gegen oder für ihre Laune, ihre Gesundheit, ihr Hirn, damit sie ein wenig Sex haben konnten oder schlafen oder einfach nur, um das Dröhnen in ihrem Kopf nicht zu hören.
Am nächsten Tag würden sie dankbar, noch Arbeit zu haben und damit eine Berechtigung für Tabletten und Patentgemüse, irgendeinen Schwachsinn machen, der im Zweifel mit der digitalisierten Version von irgendwas zu tun hatte und der darauf ausgerichtet war, dass die Branche, für die sie das taten, weiter wachsen konnte, weil:
ohne Wachstum: Krise, und mit Wachstum: Kollaps.
Fast alle Bereiche dessen, was vom Leben des Einzelnen noch übrig war, gehörte Konzernen, Anteilseignern, Rentenkassen, Investmentfirmen. Juristische Personen, denen egal war, ob das Wetter sich unangenehm veränderte, der Müll sich vor den Städten stapelte, ob der Boden voll Gift war und die Insekten verreist. Die einen Shit darauf gaben, dass die Straßen zu voll, die Luft krebserregend, der Himmel nicht zu sehen war, denn sie fühlten nur etwas, wenn sich zu den nicht realen Nullen auf ihren nicht realen Konten neue Nullen hinzufügten. Die Menschen sagten: »Es geht uns doch gut.« Und glaubten sich selber nicht, denn es fühlte sich alles – beschissen an vom Erwachen an, so, dass man nicht aufstehen mochte und sich bewegen – wozu.
Keiner glaubte mehr an etwas.
Na ja, außer an Geld.
Ben verstand plötzlich, woran all jene scheiterten, die sich für die Guten hielten. Die vielen Ideen von Gerechtigkeit, dem erfüllten fairen Leben, die Gleichheit von Menschen und Tieren, an klaren Flüssen. Mit einem sauberen Himmel, unter dem sie ihre Fahrräder reparierten, die Meere von Plastik befreiten, ein super Schulsystem bauten. Und Fair-Trade-Kaffee tranken. Sie wollten die Komplexität der menschlichen Interessen und deren Auswirkungen begreifen, und das war der Fehler.
Jene, die die Welt beherrschten, wollten nur:
Die Welt beherrschen.
Es war so einfach:
Wenn man siegen will, muss man von Menschen lernen,
die den Planeten besitzen, ihn ruinieren und im Anschluss verlassen wollen.
Ben war erregt.
An jenem Morgen.
Als
Rachel
Intelligenz: tunnelbegabt
Aggressionspotenzial: hoch
Ethnie: unklar, nicht weiß
Kreditwürdigkeit: nicht vorhanden
Gesundheitsstatus: hoffnungslos
zur selben Zeit
in London Rad fuhr.
Sie rollte von der Familienwohnung in Tower Hamlets in einen sogenannten Workspace in Notting Hill. Ein Raum unter einer Autogarage. Wie interessant, es gibt noch Autogaragen?
Natürlich nicht, denn heutzutage brachte man sein E-Mobil in ein Car-Lab. Operationsräumen ähnliche Hightechbuden mit Kundenberatern und Check-in, und: Bewerten Sie unseren Service.
Die Notting-Hill-Garage war ein Do-it-yourself-Lab. Die reichen Frauen im Viertel liebten es, vollkommen verblödete Sachen selber zu machen: Scheuermilch. Oder eben Autos reparieren. Sie verschenkten die selbst gemachte Scheuermilch dann bei Babypartys. Und fotografierten sich dabei mit Filtern, die ihnen Hundeohren verpassten.
Egal.
Rachel hatte hier einen kleinen Verschlag gefunden, wo sie in guter Distanz zu ihrer Familie arbeiten konnte, und fuhr jeden Tag eine Stunde mit dem Rad hin und eine wieder zurück, sie war noch jung, da machte es einem Menschen nichts aus, eine Stunde durch den Regen zu eiern.
Sie hätte den typischen Weg einer Hochbegabten vor sich gehabt – mit zehn Abitur, mit vierzehn Studienabschluss in Mathe und Kybernetik, dann Nobelpreis und tschüss! Aber leider
bekam sie nur Ermahnungen und Briefe an die Eltern, weil sie sich so unerträglich langweilte im Unterricht, der ihren Verstand beleidigte. Briefe an die Eltern bedeuteten in ihrem Fall nicht: Oh, unser Kind langweilt sich in der Schule, lass mal einen IQ-Test durchführen, sondern: Prügel. Weil sie von Leuten abstammte, die auch geprügelt worden waren und so weiter. Und weil es unglaublich viele Menschen gab, die Kinder hassten, vor allem ihre eigenen.
Weil sie sich das alles ganz anders vorgestellt hatten.
Die meisten Morde, Gewalttaten, Eigenverletzungen, Aggressionen oder Hassattacken erfolgten doch, weil die Realität sich nie den Vorstellungen des Einzelnen anpasste. Immer war es weniger – golden, warm, liebevoll. Im Falle von Kindern vor allem das. Da stellte sich dieses die Leere verdrängende, alles ausfüllende Liebesgefühl einfach nicht ein. Millionen Eltern verstehen diese Kinder nicht, aber entdecken in den Kindergesichtern den erwachsenen Menschen, mit seinem Verfall, den Falten, der Bosheit, dem Geruch.
Rachel war für Fremde ein sogenanntes verstörtes Kind, was sie so nicht empfand. Sie war das normalste Kind der Welt in ihrer Wahrnehmung. Sie redete einfach nicht gerne.
Mit zwölf hatte sie entschieden, nicht mehr am Präsenzunterricht teilzunehmen. Damals gab es noch LehrerInnen und Präsenzunterricht doch Rachel ging nur noch in die Schule, wenn Arbeiten geschrieben wurden, und verschwand danach wieder in den Keller der Familienwohnung, wo sie gamte oder Geräte reparierte. Sie hatte sich nie wirklich für das sogenannte System interessiert, sie wusste nicht einmal, dass es so etwas gab, denn die Welt bestand für Rachel nur aus dem, was sie sah und vermeintlich begriff.
Bis sie vor einigen Jahren in einem Laden, in dem sie Platinen kaufen wollte, Kemal getroffen hatte. Und etwas später die Freunde. Der Rest war Geschichte und hieß: Radikalisierung und Enttäuschung.
Nach der Auflösung der Gruppe war Rachel wieder allein gewesen und hatte in den letzten zwei Jahren eine Leakingplattform programmiert. So was wie WikiLeaks, nur in massenkompatibler. Die Datenpakete, die sie veröffentlichte, reichten von Geldwäscherei einer schweizer Bank,
bis hin zu geplanten und aktuellen Militäreinsätzen und Waffenlieferungen des Friedensnobelpreisträgers EU in rohstoffreiche Länder. Die Wirkung war sensationell gewesen. Es passierte – nichts. Keine Sondersendungen, keine ExpertInnengruppen in der Regierung, kein Verdienstorden. Es gab ein paar kleine Berichte in antifaschistischen, linken Blogs.
Um sich ihr sinnloses Hobby leisten zu können, holte sich Rachel ein wenig Geld. Stichwort Keylogger. Sie besuchte Unternehmen von Luis Alfonso de Borbón, Oberhaupt des Hauses Borbón und Anwärter auf den französischen Thron (viel Glück, Bruder),
der, bis er endlich den Thron besteigen durfte, im Bankwesen (AllBank Corp, Banco del Orinoco) tätig war und ein Freund des Führers der rechten VOX-Partei, Santiago Abascal, war, der machte, was Faschisten eben so machten.
Rachel hatte Alfonso nur wegen seines unangenehmen Gesichtes ausgewählt. Rachel sprach Spanisch und sechs andere Sprachen, die sie sich aus Langeweile beigebracht hatte, was egal war, denn sie redete wie gesagt – kaum. Was auch besser war, denn ihr Verstand würde die Menschen dazu bringen, sie zu hassen. Die meisten begegneten mit an Verachtung grenzendem Misstrauen allem, was ihnen eine Ahnung der eigenen Mittelmäßigkeit schenkte. Zum Glück für Rachel nahm niemand sie wahr, das 150 Zentimeter kleine Lebewesen, an dem alles verschwommen schien. Mit fast kahl geschorenen schwarzen Haaren, absolut nicht vorhandenen Geschlechtsmerkmalen und undeutlicher ethnischen Zugehörigkeit war sie komplett uninteressant für die Märkte.
Rachel saß in ihrem Verschlag, kassierte Cryptowährung, sie beendete ihren Arbeitstag und fuhr zurück durch die aufgeräumte Stadt. Keiner lag hier mehr an der Straße, keine Menschen bettelten, keine Dealer, keine Proteste. London war ein poliertes kapitalistisches Uhrwerk geworden, aus dem der Schmutz verschwunden war. Die Stadt würde bald schon die erste Privatstadt des Westens werden. Nachdem es in Honduras mit Prospera den ersten Versuch gab, die wunderbare Welt Stück für Stück komplett zu enteignen, um sie in den Besitz von juristischen Personen zu übertragen. Seit den 1980er-Jahren gab es in ultralibertären Kreisen die Idee, Städte komplett zu privatisieren. An den Experimenten waren zum Beispiel Peter Thiel, die Adrianople Group, die Free Private Cities Foundation, pronomous Capital, neWay Capital beteiligt. Und nun ist es so weit. Überall entstehen Smart-Cities oder neue kleine Stadtstaaten, die ohne Beschränkungen hervorragend wirtschaften. Für die BewohnerInnen Londons hatte sich nicht viel geändert. Außer dass sie nun offiziell rechtlos waren und sich ihre Steuern erhöht hatten und die Lebenshaltungskosten und dass sie von einer komplett privatisierten Polizei überwacht wurden.
In dem Sozialbau, der einer Holding gehörte,
hockten ihre Eltern vor dem Fernseher und sahen im Fernseher Leuten, die ihnen glichen, dabei zu, wie sie nackt durch eine Jauchegrube hüpften, um eine private Krankenversicherung zu gewinnen.
Die Nachricht auf Briar kam um 8.33 p.m.
und
einige Stunden vorher
hatte Kemal
Politische Ausrichtung: Desinteresse
Konsumverhalten: abhängig von Koffein und zuckerhaltigen Getränken, Games
Ethnie: unklar asiatisch
Gesundheitszustand: permanente Übermüdung
Sexualität: asexuell, vermutlich
seine Londoner Wohnung in Hackney verlassen und die Welt betreten. »Fick dich, Welt«, sagte er jeden Morgen auf der komplett geputzten Straße, in der statt – wie noch vor wenigen Jahren – Zugewanderte und Leute unterhalb der Armutsgrenze
nun
junge weiße Familien
Intelligenz: systemgläubig
Aggressionspotenzial: nicht vorhanden
Hobbys: shoppen
Ethnie: pink
Gesundheitszustand: hoffnungslos
lebten.
Die junge weiße Familie hatte es kraft einer Erbschaft zu einem hässlichen engen Haus in Hackney gebracht.
Genauer: zur Anzahlung eines engen kleinen Hauses, das nun zu 80 Prozent der Bank gehörte. Die junge weiße Familie hatte gelernt, dass es steuerlich klug war, eine hohe Belastung auf Wohneigentum zu haben, sie sparten pro Jahr zweitausend Pfund und zahlten siebentausend Pfund Zinsen.
An die Bank, die es ja auch nicht leicht hatte.
Die junge weiße Familie zahlte ihre Raten online, weil es keine Bankfilialen mehr gab, wo sie Bargeld hätten einzahlen können. Alle Filialen waren abgebaut worden und durch wenige physische und digitale Kontaktpunkte ersetzt. Die physische und digitale Kontaktstelle würde dem jungen weißen Paar ihre Hypothek in den kommenden Jahren, wenn der Preis sich vervierfacht haben würde, kündigen, um anstelle ihres engen Hauses einen Block mit smarten Wohnungen zu errichten, der seine BewohnerInnen regulieren würde.
Aber das wusste die junge, weiße Familie jetzt noch nicht. Beide Elternteile arbeiteten in einer Koordinationsstelle für NGOs, Schulen für alle, Krankenhäuser für den Rest – was auch immer gerade los war, wurde in dieser Anlaufstelle für die Verteilung von steuerbefreiten Privatspenden in ihrem Büro organisiert. Die gut verdienenden Spendenden fühlten sich verantwortlich für ihr kolonial belastetes Erbe. Wenn es weit entfernt stattfand. Wohlmeinende nahmen sich selten des Elends im eigenen Land an. Das kam auf Pressefotos nicht gut rüber.
Die Familie also
kämpfte gegen Rassismus, der sich vor allem in Aneignung und Sprache dokumentierte. Sie hatten schwarze Freunde, also zwei. Also fast schwarz, na ja, man sah es nicht, aus ihrer Schicht, die man heute Bubble nannte, um einen Zustand, der seit Beginn der Menschheit normal war – dass Leute mit Leuten verkehrten, die ihnen vom Sozialstatus, der Bildung und dem Aussehen glichen –, mit ein wenig Schuldgefühlen anzureichern. Die Leute aus ihrer Bubble hatten keinen Kontakt mit Bildungsfernen. Das sagte man heute so, und es klang, als ob diese Schichten gerade auf den Malediven Urlaub machen würden.
Die junge weiße Familie war permanent nervlich am Anschlag.
Sie hatten spät geboren, und der Schlafmangel setzte ihnen zu. Und die Angst. Wegen ihrer Zukunft, die nicht rosig war. Oder wegen des chinesischsprachigen Kindergartens. Man sollte den Kindern sagen, dass sie dankbar für die Chance sein sollten, später als Essenslieferanten für chinesische Kleinfamilien zu arbeiten. Was aber auch nicht eintreten würde, denn was sollten die chinesischen Leute in diesem verregneten, verbauten Land schon wollen, als sich den Mist einzuverleiben, um ihre Produktionen zum Niedriglohntarif in Europa stattfinden zu lassen.
Und ihren Müll hier zu deponieren. Und ein paar Atomkraftwerke. Und ein paar Schweinemastfarmen.
Das junge weiße Paar hatte gegen Ende des Monats nach Abzug von Hypothek, Versicherungen, Nahrung, Kleidung und Steuern, die sich jährlich erhöhten, nichts mehr übrig. Also kein Geld. Aber Gesundheit kann man sich eh nicht kaufen, und Geld macht nicht glücklich.
Glücklich waren sie nicht. Sie sagten: »Wir sind zufrieden.«
Sie liefen zufrieden durch das Viertel, in dem noch vor Kurzem bildungsferne Schichten gelebt hatten
in sogenannten Sozialwohnungen.
Auch
das Haus, in dem
Kemal wohnte, war ein Sozialgebäude – welch schwarzer Fleck in einer rosigen Lunge des Fortschrittsversprechens.
Es regnete, wie fast immer.
Die Menschen hatten sich daran gewöhnt, denn die Märkte hatten mit einem breiten Sortiment bunter Plastik-Regenbekleidungsteilen reagiert. Die Leute liebten ihre bunten, lebensbejahenden Schirme, unter denen sie verschwinden konnten, die anderen nicht sehen mussten, die verhassten Leute, die nicht sie selber waren.
Die menscheigene Skepsis, mit der man einem Fremden begegnete, war zu einem passiv-aggressiven Dauerzustand geworden –
jeder neue Kontakt wurde in Sekunden auf die Richtigkeit seiner Meinung abgetastet.
Da gab es kein »vielleicht« mehr, keine Grauzonen oder Diskussionen. Alles, was die Erde belebte, jede technische Entwicklung, jede Denkschule oder Aussage barg Konfliktstoff. Wurde zu einem Outing, wurde zu: für oder gegen mich, als ob die kleinste Abweichung von den eigenen mäßigen Ideen einen Riss in der Welt verursachen wollte, in den ein jeder zu stürzen drohte. Der Zustand der Hysterie wurde von den Algorithmen der sozialen Medien und PR-Agenturen befeuert. Die besten Propaganda-Agenturen kamen aus Amerika. Die beste aller amerikanischen Agenturen hatte Rauchen zu einem eleganten Hobby geformt, nachdem der Zusammenhang zwischen Tabakkonsum und Krebs in den Fünfzigerjahren bekannt geworden war. Sie reinigten das Image von Banken, die in Geldwäsche-Skandale beteiligt waren, erklärten Diktaturen wie die Türkei und die Malediven zu den erlesensten Urlaubsgebieten. Sie bewarben Fracking, Asbest, Vinylchlorid und FCKW. Und arbeiteten für 50 Prozent aller Fortune-500-Unternehmen.
Hoppla.
Kemal war in einen Passanten gelaufen. Er entschuldigte sich überschwänglich, um keine Anzeige zu erhalten.
Deren Zahl hatte sich in den letzten fünf Jahren verhundertfacht. Die Leute meldeten einander wegen Ruhestörung, Terrorverdachtes, Verstößen gegen das Verkehrsgesetz und die korrekte Mülltrennung, wegen übermäßigem Rauchen oder kurz gesagt –
Sie hatten so eine Wut. Auf Kemal zum Beispiel, den chinesisch-pakistanischen Engländer mit einem türkischen Namen, mit schlechten Augen, der ihnen ihre Drecksjobs streitig machen könnte.
All die Berufe, die früher mit einer Festanstellung, mit Urlaub und Gewerkschaften für fröhliche Ferien in Massentourismusgebieten sorgten, in denen man für zwei Wochen endlich einmal andere ausbeuten durfte, waren jetzt outgesourct worden. An Holdings, Groups, Investmentfirmen, die Aktionären gehörten.
Das riesige Heer der erschöpften, wütenden, ängstlichen, deformierten Bürger, die ohne jede Hoffnung aneinander vorbeischlingerten, nicht ohne sich schnell noch mit einem ohnmächtigen und doch aufrichtig hasserfüllten Blick betrachtet zu haben, war zu temporär Versklavten geworden.
Die Zähne karieszerfressen vom Zucker in Fertiggerichten. Sie waren dreißig oder vierzig und sahen aus wie achtzig oder schon tot.
Leute, die bald keiner mehr brauchte, die der Kapitalismus nur mehr verwalten musste, jene, die nicht zu gebrauchen waren in dem prächtigen Bild einer Zukunft, die aus Quantenrechnern, CRISPR-Scheren perfektionierter DNA und Robotik bestand.
Kemal war jetzt zwanzig und in sehr aufrechter Haltung ein Meter siebzig groß, er hatte lange schwarze Haare, eine Brille und wurde oft für eine junge Frau gehalten, weil die Menschen Einordnungen liebten. Oder eben Identitäten.
Und so weiter. Seit es die Freunde nicht mehr gab,
hatte Kemal bei Tinder, Strava und Spotify gearbeitet, man wusste ja nie, wie man das Wissen um die Sicherheitslücken noch gebrauchen konnte. Nebenher hatte er noch ein Start-up beraten, das Investmentunternehmen, Treuhändern und Bankern ständig Updates zu bevorstehenden Bewertungsveränderungen von Wohnquartieren weltweit lieferte.
Die Klimaveränderung hatte die Anfrage nach sicheren Immobilien um 300 Prozent wachsen lassen. Die teuersten Gebiete lagen in der Schweiz, sie verfügten über Grundstücke zur notfallmäßigen Eigenbewirtschaftung. Danach kamen die höher gelegenen Randgebiete größerer Städte in Meeresnähe. Auch bei Immobilien, die man gut mit Sicherheitspersonal verteidigen konnte und die nicht neben leicht entflammbaren Wäldern lagen, überstieg die Nachfrage das Angebot. Die besten Preise erzielten Grundstücke mit einer eigenen Quelle.
Kemal hätte den Start-up-Leuten sagen können – »vergesst den Scheiß, das, was ihr hier tut, machen BlackRock, Blackstone – Hauptsache: massiv und schwarz – und Bloomberg tausendmal besser, boshafter und schneller« –, aber Kemal sagte nichts. Es war ihm alles egal geworden.
An jenem Tag hatte Kemal einen Einsatz bei den Vollidioten von Spotify.
»Morgen, ihr Vollidioten von Spotify!«
»Morgen, Kemal!«
Im Großraumbüro im Süden der Stadt arbeiteten fidele junge Programmierer, zwei Frauen mitgemeint, denen es komplett egal war, was sie hier taten. Und warum sie welchen Bereich des Lebens modifizierten. Hauptsache, die Kantine war angenehm. Hauptsache, es gab organische Pampe, denn Leute, die in solchen Läden arbeiteten, legten großen Wert auf ihren Organismus, und all die neuen Arbeitsplätze hatten Kantinen, die Smoothie-Lounge hießen und ein Chill-Sofa hatten, auf dem keiner saß. Die Programmiertrottel hatten Anspruch auf fünfzehn Minuten Pause, in denen sie veganen Brei in sich hineinstopften,
in die Ohren wollten sie sich das Zeug schmieren, ihre Körper damit bedecken, um mit der Aussagekraft der geschroteten Superfoods zu verschmelzen, ihre Kraft komplett aufzunehmen.
Die Arbeitnehmerinnen hier waren nicht modern, sie folgten wie alle nur dem uralten Trieb, die Spezies zu erhalten, und garnierten den Instinkt mit ein paar Gadgets. Sie waren jung und rechneten diesen Umstand ihrem Verdienst zu. Sie dachten, dass sie an der Entscheiderfront säßen, und sprachen von ihren Karrieren.
In all den IT-Läden weltweit arbeiteten dieselben Leute am selben Geschäftsmodell: Täterprofile anfertigen, die Daten an Parteien und Geheimdienste, die Polizei, die Einsatzgruppen, Beratungsfirmen und Thinktanks verkaufen und nebenbei noch irgendwas zerstören. Prost. Hundertzehn Milliarden verdient Google mit Datensammeln und -verkaufen und ein paar Werbeeinnahmen, im Jahr.
Jeder, der in einer der Plattformbuden durch die Flure lief, hatte schon aufgegeben: Noch nicht einmal eine Schweineplattform erfinden, sondern für Milliardäre arbeiten, die sich zum Ziel gesetzt hatten, alles verschwinden zu lassen, was einen Wert hat. – Neben dem Datenhandel wurde bei Spotify im großen Stil an der Vernichtung von MusikerInnen gearbeitet. Das Firmenmodell basierte auf einer Analysesoftware, die jeden Titel in Bruchteile zerlegte und untersuchte, um auch dem letzten Deppen auf der Welt seinen aberwitzig individuellen Musikgeschmack in sein Hirn zu schießen. Die Hälfte aller angebotenen Songs kam von einer modifizierten Version der Amper-Software. Die AI war treffsicherer und perfekter, als jeder Mensch es sein konnte. Sie erkannte den Geschmack hundertprozentig. In einem Jahr würde jeder Song auf Spotify von der hauseigenen AI produziert werden, was finanziell unerfreulich für Künstler war, ihnen aber mehr Freizeit schenkte, die sie in den Schlangen der Essensausgabe vertrödeln konnten.
Kemal glaubte nicht mehr daran, dass es einen Ausweg geben könnte aus diesem sich autonom zerstörenden System der Optimierung. Lächerliche Demonstrationen, Streiks – von wem?
Es gab keine Massen, die sich auf irgendwas einigen konnten. Seit Generationen hatten die KleinbürgerInnen den Einzelkampf verinnerlicht, waren in immer kleinere Einheiten der Zugehörigkeiten zerlegt worden, jeder fühlte sich benachteiligt, jeder hatte das Gefühl, zu kurz gekommen und von einer anderen Splittergruppe um etwas betrogen worden zu sein.
Das würde jetzt alles so weitergehen. Ein paar Idioten würden sich auf schwimmende Inseln verabschieden. Dem Rest würde nichts übrig bleiben, als um die Wasserreserven zu kämpfen auf einem Planeten, der absolut keine Lust mehr auf sie hatte.
Die Nachricht kam 8.33 p.m.,
und
ein paar Stunden zuvor
war Maggy
Gesundheitsstatus: sehr stark gebaut?
Aggressionspotenzial: hoch
Geschlecht: unklar
Ethnie: pink
Verwendbarkeit für Vermehrung: gering
durch London gelaufen. Sie hätte sehr gerne anderen Passanten ihren Ellenbogen in den Magen gerammt, doch da stellte sich keiner in ihren Weg – denn Maggy glich einer Mörderpuppe mit hundert Kilo Kampfgewicht. Sie trug einen mit Anarchisten-A bemalten Parka, der erstaunlicherweise nicht von einem komplett verblödeten Modelabel stammte und viertausend Pfund kostete. Dazu hatte sie, um jeden Zweifel an ihrer Absicht zu beseitigen, eine zerrissene Strumpfhose mit Springerstiefeln kombiniert.
Maggy war neunzehn, über eins achtzig, und ihr Oberkörper war doppelt so breit wie der Rest ihres Körpers. Früher, bevor sie sich egal wurde, hatte Maggy versucht, sich selber irgendwo einzuordnen. Es gelang ihr nicht. Sie wusste nicht, wie man sich als Mann fühlte oder als Frau oder als Lesbe oder als jemand, der sich mit erotischen Gedanken an Marschflugkörper schmiegte. Sie fühlte sie nicht, die Erregung, die Menschen befiel, wenn sie ihresgleichen gefunden hatten, ihre Gruppe, in der sie aufgehen, sie selbst sein konnten, was auch immer damit gemeint war.
Maggy hatte in ihrer pubertären Ratlosigkeit begonnen, Programmiersprachen zu erlernen, und war in die Welt der Einsen und Nullen, des körperlosen Raumes und der Freunde geraten. Vor einigen Jahren hatte sich die Gruppe in Scham aufgelöst. Ihre Revolution war am Desinteresse der Menschen gescheitert, die sich nie für Abstraktes wie Überwachung und Codes interessierten, sondern nur durchdrehten, wenn das Toilettenpapier knapp wurde, oder das Benzin, oder Hähnchenteile.
Nachdem sie keine Freunde und keine Aufgabe mehr hatte, begann Maggy, ihr Einkommen, das sie mit der Erstellung von Wordpress-Websiten (sic) verdiente, in billige Süßwaren umzuwandeln, die sie in sich stopfte, während sie Serien sah und mit ihrer Hand redete. Die Rettung kam, wie fast jeder Segen, durch den Kapitalismus. Mit One, der Vereinigung verschiedener Dienste, dem IT-Unternehmen eines stattlichen Deutschen, der von Palantir über FinFisher und NSO so ziemlich jedes Unternehmen gekauft hatte, das mit der Sicherheit der Bevölkerung Geld verdiente.
Maggy arbeitete in der Sicherheitsabteilung, sprich, sie prüfte die IT-Infrastruktur finanzstarker oder systemrelevanter Firmen auf Sicherheitslücken, um ihnen dann die entsprechenden Produkte zu verkaufen. Die ihnen auch nicht helfen würden, denn Sicherheitslücken waren nötig, um mit Überwachung die Welt zu einem besseren Ort werden zu lassen. Das klang seltsam und war es auch.
Maggy arbeitete bei der Firma, weil sie aufgegeben hatte. Das sagte sie sich so nicht, sie redete sich ein, den Feind zu studieren, um den nächsten Angriff besser vorzubereiten und so weiter, aber
sie hatte aufgegeben.
Würde sie den Angestellten in der Firma, den Menschen, die schon morgens mit Panik aus einem kurzen Albtraum erwachten, sagen: »Kommt, wir lassen das System abstürzen«, würde sie vermutlich von ihnen niedergeschlagen, totgetrampelt, angespuckt werden.
Maggy saß auf ihrem Bett, sie sah aus dem Fenster, es regnete mal wieder, und Bens Nachricht erreichte sie um 8.33 p.m.
Kurz vorher
hatte
Pavel
Ethnie: weiß oder osteuropäisch
Kaufverhalten: Games, Platinen, Kabel, PCs
Sexualität: keine
Familie: irgendwo
Gesundheitsstatus: Einsamkeit
in Londondas Büro einer Privatfirma verlassen, die irgendeinen digitalen Scheiß für einen der Inlandsgeheimdienste machte, der so langweilig war, dass es Pavel nicht einmal interessierte, was er da eigentlich tat. Er hatte im letzten Jahr an der automatisierten Chatkontrolle gearbeitet, die laut des EU-Abkommens für Chatkontrolle für jeden Chat- und Mail-Anbieter verpflichtend vorinstalliert werden musste. Eine halbe Milliarde mögliche Überwachungen, oder – fünfhundert Millionen potenzielle Verdächtige. Im Moment programmiert er irgendeinen Quark in Sachen Biometrik – die Verbindung von digitalisierten Körpermerkmalen mit Überwachungstechnologie lohnt sich. Analysten raunen von Gewinnen von hundertfünf Milliarden Dollar innerhalb der nächsten Jahre. Die Firma Onfido, bei der Pavel gerade jobbt, baut an einem nahtlosen europaweiten System zur Identitätsüberprüfung. Zum Beispiel für Online-Glücksspiele, elektronische Wahlen und
Überwachung, zur selben Zeit forschen Wissenschaftler an einem globalen Datenspeicher für biologische Daten. Es läuft alles hervorragend.
Pavel war es egal.
Er würde also noch ein wenig herumlungern, bis das Büro leer war, und sich dann zum Schlafen unter den Schreibtisch legen.
Aber er war sich selbst nicht sicher.
Also – ob er es war, der da auf einem alten Spannteppich lag. Oder ob er nur das Bild gut fand.
Er hatte so oft gelogen, dass er selber nicht mehr wusste, ob irgendwas in seinem Leben der sogenannten Realität entsprach und ob es überhaupt etwas gab, das real war, oder ob alles um ihn auf Lügen basierte. Seit einiger Zeit nannte er sich Pjotr. Weil er irgendwann seinen ursprünglichen, genauso falschen Namen vergessen hatte. Pjotr also wusste nicht, was er mochte, wie er sich mit was wohlfühlte und wer er war. Vermutlich kein Russe. Denn er konnte kein Wort Russisch.
Seine Biografie änderte sich je nach Nachfrage. Mal war er das adoptierte Kind russischer Spione aus Moskau. Dann wieder kam er aus einem Waisenhaus.
Von allen Versionen seiner nicht weit zurückliegenden Jugend stimmte sicher die mit dem Kinderheim und drei Dutzend Pflegefamilien und den Rahmenbedingungen einer durchschnittlichen, sogenannten tragischen Kindheit. Alles, was Erwachsene einem wehrlosen Menschen antun konnten, war ihm widerfahren. Prügel, Angst, wieder ins Heim zu müssen, im Heim landen, eine neue Familie, die ihn seltsam fand, weil er seltsam war. Kein nettes Kind, immer lief die Nase, immer war es wütend und zu laut und zu verstockt. Egal. Pjotr überlebte mit Games. Er gewann gegen Zombies und Armeeangehörige, gegen Trolle, und irgendwann begann er den Rechner aufzuschrauben, um nachzusehen, ob feindliche Angreifer in der Hardware steckten. Ohne diesen kleinen Schritt wäre er vermutlich inzwischen tot, oder säße unter einer privatisierten Brücke und würde Klebstoff inhalierend auf das Erscheinen der privaten Polizei warten, die den privaten Grund von ihm bereinigen würde. Pjotr log zwar immer noch, weil er gelernt hatte, dass es zum Überleben wichtig war, aber er war ein guter Hacker geworden. Einfach ohne Sozialkontakte. Einfach als Soziopath.
Einfach sehr einsam.
Um 8.33 p.m. erreichte ihn eine Nachricht von Ben.
Und
Inhaltsverzeichnis
beginnt die Geschichte von
Ben, Maggy, Rachel, Pjotr und Kemal,
die jungen Menschen, die sich früher »Die Freunde« genannt hatten und das im Rahmen ihrer Kontaktstörung auch waren,
in einem Starbucks oder einem anderen Laden irgendeiner Milliarden-Dollar-Umsatz-Kette, der aussah wie ein Starbucks.
Es war kalt. Der hervorragenden Klimaanlage geschuldet –
Seit ein Hersteller für Klimaanlagen einen der Spitzenlobbyisten beschäftigte, standen sie in jeder Filiale der großen Café- und Restaurantketten, verbrauchten Strom und erzeugten die zum Kapitalismus gehörige Eiseskälte.
Willkommen in den Caféketten – der konsumgewordenen Verzweiflung des Anthropozäns. Verzweifelt urban, verzweifelt global, verzweifelt einsam war jeder der KundInnen. »Hey, wir rufen deinen Vornamen laut in den klimaanlageunterkühlten Raum und geben dir einen Moment der Sichtbarkeit, du Lurch« – bezahl diesen schlechten Kaffee, von nichts kommt nichts, und ab mit dir in unsere urbane Klubatmosphäre, die wirkt, als hätten sich verzweifelt designende Unternehmensberater (also Arbeitslose) eine amerikanische Landhaus-Upperclass-Bibliothek vorgestellt.
Die sie nie betreten werden.
Schade.
Diese Läden, die überall auf der Welt gleich aussehen, in der sich gleich aussehende Menschen mit den gleichen Dingen beschäftigen, im Zweifel mit dem Smartphone, könnten einem Halt des Vertrauten sein. War aber nicht.
Es gab nur noch multinationale Ketten, multinationale Konzerne, multinationale Manager mit multinationalen Aktionären und Rechtspersonen, die keine Menschen waren, und so sah der Scheiß dann aus.
Starbucks hatte alle kleinen Cafés ersetzt, die es gegeben hatte – mit handgerösteten Bohnen und Barista-Wettbewerben und sanften, aber doch reizenden Powermännern, die neben der Aufzucht der Kinder noch ein Hobby brauchten und ein kleines Café geführt hatten.
Die waren jetzt alle weg.
Diese von EigentümerInnen geführten Bars und Cafés und Restaurants waren verschwunden. Nach der letzten Krise, der letzten Immobilienblase, der letzten Inflation, dem letzten Finanzskandal, dem letzten Naturereignis hatten die Regierungen wieder einmal Geld gedruckt und großzügige Kredite an Unternehmen und Selbstständige ausgezahlt. Leider erfolgte zu lange keine Verbesserung auf den Finanzmärkten, und außer den großen Konzernen, den Oligarchen, war kaum einer in der Lage, die Kredite zurückzuzahlen. Schade.
Die zu kalte Filiale, multinational, falls noch nicht erwähnt, war jedenfalls fast leer. Die hochgradig verspannten Baristas, die den Verlust ihres geliebten Arbeitsplatzes fürchteten, brüllten verzweifelt die Namen der nicht vorhandenen Kunden in die Leere.
Es waren neben den fünf jungen Menschen nur zwei vermeintliche Junior-Investmentbanker anwesend, die man an den Restless Legs, den Seidenkrawatten, am Mahlen der Kieferknochen und der Geste, mit der sie sich die Nase rieben, um auch das letzte Klischee von koksenden Arschgeigen zu erfüllen,
erkannte.
Es war Frühling oder Herbst, es regnete,
und die fünf jungen Menschen schwiegen. Ihre selbst definierte Zugehörigkeit zu einer pathologischen Minderheit erlaubte es ihnen nur, schwallartig zu monologisieren oder eben – nichts zu sagen.
Es war ihnen unbehaglich, sie pressten ihre mit anarchistischen Stickern beklebten Rechner fest an den Körper. Genug Berührung für heute –
Die Freunde hatten kaum miteinander geredet, seit damals.
Sie hatten sich nicht gesehen, weil die Erinnerung an den misslungenen Hack, an den verunglückten Umsturz, sofort wieder anwesend gewesen wäre.
»Wollen wir darüber sprechen?«, fragte Ben.
Keine wollte darüber sprechen, denn sie erinnerten sich alle an den Tag des Elends.
Inhaltsverzeichnis
wollten die Freunde die Massen mit der Wahrheit schockieren und
hatten die Aufnahmen aller Überwachungskameras der Stadt mit den dazugehörigen intimen Informationen über jede Bürgerin und jeden Bürger, die in den Zentralen der Geheimdienste gespeichert wurden, auf sämtliche Werbebildschirme der Stadt umgeleitet. Die Menschen hatten sich gesehen, auf den Bildschirmen und digitalen Werbeflächen. Vor denen sie gestanden hatten, in begeisterter Betrachtung ihrer selbst. Sie hatten gesehen, was die Geheimdienste sahen. Sich beim Sichbetrachten, mit all den Informationen, ihren Namen, Adressen, dem Alter, den Einträgen zu ihrem Sexualverhalten, den Geschlechtskrankheiten, dem Kreditverhalten, den politischen Einstellungen und ihren sogenannten Geheimnissen (fickt Hunde, begeistert sich für Kinderpornos etc.).
Die Menschen waren erregt gewesen. So eine große Aufmerksamkeit war ihnen zuteilgeworden. Man hatte sie endlich wahrgenommen, und das Einzige, was sie hatten wissen wollen, war,
ob man das interessante Programm auch zu Hause empfangen konnte.
So weit zum Erfolg des Aufstands der Hacker und der Auflösung ihrer Gruppe.
Und nun –
starrten die Freunde in ihre Getränke.
In diesem Starbucks in London.
Sie sahen immer noch aus wie Leute, die mit ein paar Hunden und F*CK-the-System-Shirts vor Warenhäusern hockten.
Das Leben hatte sich für keines wirklich erfreulich entwickelt.
Die Welt – dito.
Die Stadt war bereinigt. Sie war smart. Sie gehörte juristischen Personen. Fondsbetreibern und Anteilseignern in fernen Ländern, sie war entmietet. Eine Pseudostadt aus Pappe war über gut funktionierende Finanzgeschäfte gestülpt worden.
Geschaffen nach Berechnungen, um den Menschen ein Maximum an Geld für ein Minimum an Gegenleistung abzunehmen.
Das Versprechen auf ein wunderbares Leben in dieser prächtigen Stadt glich einer Beerdigung, mit personalisierter Gedenktafel im Internet.