Endlich das ganze Leben - Roberta Recchia - E-Book

Endlich das ganze Leben E-Book

Roberta Recchia

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Beschreibung

Und plötzlich gibt es ein Davor und ein Danach. Rom, 1980er Jahre: es ist ein ruhiges, zufriedenes Leben, das die Familie Ansaldo führt. Der Alltag dreht sich um den Feinkostladen, in dem Marisa, Stelvio und ihre Tochter Betta arbeiten. Den Sommer verbringen sie seit Jahren in ihrem kleinen Haus am Meer. Aber als Betta nachts auf dem Weg zu einem Strandfest ums Leben kommt, ändert sich alles: der einst so harmonische Zusammenhalt der Familie bekommt Risse und niemand ahnt, welches Geheimnis Bettas Cousine Miriam belastet. Erst eine unwahrscheinliche Freundschaft eröffnet neue Hoffnung. Der große Familienroman und Bestsellererfolg aus Italien. »Mitreißend. Diesen Roman dürfen Sie nicht verpassen.« Elle

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Seitenzahl: 561

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Roberta Recchia

Endlich das ganze Leben

Roman

 

Aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt

 

Über dieses Buch

 

 

Rom, in den 1950er Jahren: Seit Generationen ist der Lebensmittelladen in der Nähe der Via Merulana im Besitz der Familie Balestrieri. Alles scheint perfekt, bis die Tochter Marisa abrupt von ihrem Verlobten sitzengelassen wird. Ein Skandal droht, denn Marisa ist schwanger. Ihre Eltern beschließen daraufhin, sie mit ihrem Lehrling Stelvio Ansaldo zu verheiraten. Marisa, willigt ein, und was eigentlich nur eine lieblose arrangierte Ehe sein sollte, entwickelt sich mit der Zeit zu einer erfüllten Beziehung voller Liebe und Vertrautheit.

In den achtziger Jahren sind Stelvio und Marisa Ansaldo wirklich zufrieden: Ihr Geschäft läuft gut, sie lieben sich innig, ihr ältester Sohn bereist als Konzertpianist die Welt, und ihre Tochter Betta ist eine lebhafte Sechzehnjährige.

Die Familie verbringt die Sommerferien in Torre Domizia, in einem Haus an der Küste. Betta und ihre gleichaltrige Cousine Miriam freuen sich auf die unbeschwerte Zeit am Meer. Doch dann geschieht eine Tragödie, die die ganze Familie zu zerstören droht…

Ein bewegender Roman über Eltern und Kinder, über Verlust und die Liebe, die erst aus der Vergebung entstehen kann.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Roberta Recchia stammt aus Rom, wo sie Literatur und interkulturelle Beziehungen studierte. Nach Stationen in Großkonzernen lehrt sie heute an einer römischen Schule Englisch und lebt an der Küste von Latium. Sie schreibt schon ihr ganzes Leben, dieser Roman ist ihr Debüt.

 

Christiane Burkhardt lebt in München. Sie übersetzt aus dem Italienischen, Niederländischen und Englischen, u.a. die Romane von Paolo Cognetti und Fabio Geda, Darüber hinaus unterrichtet sie literarisches Übersetzen.

Inhalt

[Widmung]

Prolog Ein neuer Morgen, 1980

I Das Leben davor

II Zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang

III Die entscheidende Nacht

IV Die Konsequenzen

V Goldblonde Locken

VI Alltag

VII Das Mädchen mit dem Diadem

VIII Das Mädchen mit den Korallen

IX Felsen in der Brandung

X Das Ende des Winters

XI Die unangenehme Wahrheit

XII Der Sturm

XIII Ein weiterer Sommer

Epilog Ein neuer Morgen, 1985

Danksagung

Für meine Großmutter Agata

PrologEin neuer Morgen, 1980

Bis an ihr Lebensende sollte Marisa Ansaldo nicht mehr vergessen, wie sie damals, Anfang August, aufgewacht war.

Als wäre es erst gestern gewesen, sah sie sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzen und wohlig erschauern. Kein Lüftchen regte sich an diesem Morgen. Vor dem offenen Fenster der Strand und dahinter das spiegelglatte Meer. Während das Sonnenlicht über die Badezimmerfliesen kroch, bürstete sie sich langsam das Haar, bewunderte nicht ganz uneitel die gelungene Tönung in fast demselben goldenen Kastanienbraun, das sie als junge Frau gehabt hatte. Anschließend musterte sie ohne Bitterkeit die Spuren, die fast fünfzig Lebensjahre hinterlassen hatten.

In ihrem Haus am Meer stand sie auch während der Ferien früh auf. Schweigend genoss sie es, Zeit für sich zu haben, bevor sie mit den immer gleichen Handgriffen den Kaffee zubereitete, mit dem sie ihren Mann jeden Morgen weckte.

Doch als sie an diesem Tag in den Morgenmantel schlüpfte und den Gürtel um die Taille knotete, fiel ihr Blick auf die verspiegelte Schranktür. Darin sah sie den verschwitzten, noch tief schlafenden Stelvio. Zum ersten Mal seit langem verspürte sie wieder erotische Gefühle. Sie begehrten sich nicht mehr so wie früher und schoben die Trägheit auf Erschöpfung, auf die ständige Anwesenheit der Tochter, auf die stets aufmerksame, einschüchternde Mutter. Langsam drehte sie sich um. Im Halbdunkel des Zimmers hatte sie plötzlich das Bedürfnis, ihm zärtlich über den nackten Oberkörper und die Bartstoppeln zu streichen. Vielleicht lag es an den gerade begonnenen Ferien, an der intimen Stille, dass ihre Lippen beim Gedanken an seine rauen Küsse sehnsüchtig prickelten und ihr ganz warm zwischen den Beinen wurde.

Die Leidenschaft war wiederentflammt, genauso ungestüm wie früher.

Doch ausgerechnet in diesem Moment hörte sie durch die angelehnte Tür die schleppenden Schritte ihrer Mutter Letizia im Flur und lächelte wegen der verpassten Gelegenheit in sich hinein. Mit einem liebevollen Blick auf ihren Mann verließ sie das Zimmer.

Das war das letzte Mal, dass Marisa Ansaldo körperliches Begehren empfunden hatte.

Der letzte Morgen im Leben davor.

IDas Leben davor

Doch wann hatte es eigentlich begonnen, ihr Leben davor?

Als sie beschloss, Stelvio Ansaldo zu heiraten, da war sich Marisa ganz sicher.

Und zwar genau in dem Moment, als sie schweigend nebeneinander durch die Via del Moro liefen und sie sich zu ihm umdrehte.

»Ich will dich heiraten! Lass uns heiraten, Ste!« Das rutschte ihr einfach so heraus, im Ton einer Frau, die ihren Freund dazu anstiften will, etwas völlig Verrücktes zu tun.

Verblüfft starrte er sie an. Unzählige Fragen brannten ihm auf der Zunge, lauter Wenns und Abers und Warums. Doch seine Verliebtheit in diese Frau mit den Lachgrübchen, mit dem lebhaften, offenen Blick, mit Augen, die einfach nicht lügen konnten, sagten ihm alles, was er wissen musste. Er nickte wortlos. Und als er sich bei ihr unterhakte und ihr die Hand drückte, begann das Leben davor.

An einem Sonntag im November 1956.

Vor der Heirat mit Stelvio hatte sie bei ihren Eltern gelebt. In ihrer Erinnerung überlappten sich Kindheit und Pubertät wie Schwarzweißbilder in einem großen Fotoalbum: Szenen, die immer mehr verblassten, während die Zeit ihre Konturen und Details aufweichte. Das waren die Jahre mit ihrer Schwester Emma und den Eltern. Eine lange Reihe von ruhigen oder auch turbulenten Tagen, jedoch stets voller Geborgenheit, als ob der Vater sie an seinen wassermelonengroßen, stets von seiner Ladenschürze bedeckten Bauch zog.

Marisa wusste nicht mehr, wann sie Stelvio zum ersten Mal gesehen hatte. Er war in ihr Leben getreten wie ein Statist, ganz weit im Hintergrund eines flüchtig geschauten Films. Anfang 1954 vielleicht, als Ruggero, der Lieferant der Backstube Camastra kündigte, um in Turin sein Glück zu suchen. Weil sie so in ihre eigenen Angelegenheiten und die Arbeit im familieneigenen Lebensmittelladen vertieft war, hatte Marisa ihn lange kaum wahrgenommen, diesen schweigsamen jungen Mann, der nun statt Ruggero frühmorgens das Brot von Camastra brachte. Noch bevor sie aufmachten, räumte Marisa tagtäglich die Waren in die Regale, preiste sie aus und notierte, was nachbestellt werden musste, während ihr Vater in der blütenweißen Schürze die frischen Wurstwaren in die neue Kühltheke legte, sein ganzer Stolz. Stelvio klopfte, wenn er kam, zweimal vorsichtig gegen die Glasscheibe der Ladentür, wartete, bis ihr Vater ihm aufmachte, und gab ihm erst den Korb mit den verschiedenen Backwaren, mit den ciriole und fruste, und anschließend den mit den knusprigen pagnotte. Eilig leerte der Vater die Körbe, um sie ihm, der inzwischen zur Kasse gegangen war, anschließend zurückzugeben und die Lieferung zu quittieren. Nichts weiter als ein höfliches Guten Tag und Dankeschön, jeden Morgen bis auf sonntags wieder aufs Neue. Damals war Marisa mit den Gedanken ganz woanders, bei Francesco, ihrem Verlobten, der zwei Jahre zuvor in die Schweiz gegangen war, um im Hotel Bellevue am Genfer See als Kellner zu arbeiten. Natürlich war das nicht einfach – sie waren räumlich voneinander getrennt und mussten sich mit Briefen begnügen, aber der Blick in die Zukunft half ihnen, sich in Geduld zu üben. Um sie zu trösten, rief ihr Francesco wiederholt in Erinnerung, dass er das schließlich für sie beide tue, um das nötige Geld für die Eröffnung eines großen Cafés zusammenzusparen, und zwar direkt an der Piazza – eines, das den Vergleich mit denen auf der Via Veneto nicht zu scheuen brauchte. Wenn er es schaffte, für ein paar Tage nach Rom zurückzukehren, beschrieb er ihr, nachdem sie sich geliebt hatten, in allen Einzelheiten ihr gemeinsames Gran Caffè Malpighi: Tischchen und Stühle im Jugendstil, rosafarbener Marmor, Stuckdecken, hell erleuchtete, von Schmiedeeisen gerahmte Schaufenster und ab fünf Uhr nachmittags Musik. Francesco wollte, dass sie weder hinter der Kasse stehen noch bedienen musste. Dafür gebe es Angestellte. Sie würde sich nur ab und zu in einem schicken Pelzmantel zeigen, so wie es sich für die Chefin gehörte. Beim ersten Mal hatte Marisa nur gelacht und eingewandt, ihr mache es nichts aus zu arbeiten, sie sei das gewöhnt: Seit der Schule arbeite sie im familieneigenen Laden, und das gern. Außerdem könne er sich so das Geld für eine Angestellte sparen, vor allem am Anfang. Aber er wollte nichts davon wissen, denn sie sollte für das lange Warten entschädigt werden – sie, aber auch ihre Eltern, die sie endlich unter der Haube wissen wollten.

Marisa war jung, verliebt und leichtsinnig. Im November 1955, nachdem sie sich ein halbes Jahr nicht gesehen hatten, kam Francesco zur Beerdigung einer Tante mütterlicherseits nach Rom. Besonders traurig waren sie nicht, dafür war die Leidenschaft nach der langen Trennung viel zu groß, und nach Weihnachten war sich Marisa sicher, dass sie ein Kind erwartete.

Eines Morgens Ende Dezember flehte sie den Hausarzt der Familie unter Tränen an, bloß nichts zu sagen und eilte dann in den Laden, wo sie ihre Verspätung mit einer banalen Ausrede entschuldigte. Mit einer weiteren Ausrede floh sie in den kleinen Lagerraum und lief dort nervös auf und ab. Die Scham, die Angst, jetzt, wo Francesco so weit weg war … Sie erlaubte sich ein paar Tränen, war einfach überfordert. Dann kühlte sie die Lider mit kaltem Wasser, schließlich war das kein Weltuntergang. Es war durchaus möglich, in wenigen Wochen eine Hochzeit auf die Beine zu stellen, danach konnte sie Francesco in die Schweiz folgen und so lange bleiben wie nötig. Sie hatte ihm das schon oft vorgeschlagen, doch er hatte nie was davon wissen wollen. Im Grand Hotel bekam er zwar Kost und Logis, das Zimmer teilte er aber mit einem Kollegen. Auf diese Weise sparte er viel Geld, so dass er am Monatsende fast seinen gesamten Lohn, abzüglich der Summe, die er seiner Familie schickte, beiseitelegen konnte. Doch dieses Kind änderte alles: Jetzt musste es unter irgendeinem Vorwand schnell gehen – sollten die Leute doch reden!

Am nächsten Sonntag, an dem sie angeblich eine Freundin im Krankenhaus besuchte, rief sie Francesco aus einer Telefonzelle in einem Hotel in der Innenstadt an. Die Telefonistin ließ sie eine Ewigkeit warten und dann ließ sie der Portier des Grand Hotel, der zum Glück Italienisch sprach, noch einmal warten, bevor er den Anruf ins Restaurant durchstellte. Marisa flehte stumm, es möge nicht lange dauern, weil sie nicht mehr viele Telefonmünzen besaß, außerdem war sie voller Ungeduld. Endlich hatte sie Francescos Stimme am Ohr. Sie klang so schön und so besorgt, dass die Angst, die ihr seit zwei Tagen Bauchschmerzen machte, ein wenig nachließ.

»Mimì! Was ist denn?« So nannte er sie immer. Mimì. Man hörte ihm an, dass er sofort zum Telefon geeilt war.

Marisa unterbrach ihn, denn die Telefonmünzen wurden immer weniger. »France, es ist was passiert. Du musst sofort nach Rom kommen, wir müssen reden.«

»Nach Rom? Jetzt sofort? Aber was ist denn passiert?«

»Das kann ich dir am Telefon nicht sagen. Wir müssen reden.« Sie wurde leiser, Zärtlichkeit dämpfte ihre Stimme, während sie lächelnd hinzufügte: »Du musst dringend kommen, aber keine Sorge. Mir … uns geht es gut.«

Am anderen Ende der Leitung war nichts als ein Rauschen zu hören, nur durch entferntes Geschirrklappern unterbrochen. »Hast du es schon jemandem gesagt?« Er sprach so leise, dass sie ihn kaum verstand.

Marisa schüttelte langsam den Kopf, leicht verstört von der unerwarteten Frage. »Nein, natürlich nicht.«

»Nach Silvester komm ich runter, aber sag niemandem etwas davon. Wir sehen uns dann am Donnerstagabend ums sechs in der Wohnung meiner Tante. Ich warte dort auf dich.«

Noch bevor sie »In Ordnung«, hauchen konnte, hatte er bereits grußlos aufgelegt.

Marisa kehrte zu Fuß nach Hause zurück, den Wollmantel eng um sich gezogen, denn es war noch kälter geworden. Ein leichter, aber schneidender Wind ließ das Kopftuch flattern, das sie um Haare und Hals gebunden hatte. Mehr als nur einmal sauste eine Straßenbahn an ihr vorbei, doch sie ignorierte sie, obwohl ihr die Füße weh taten. Sie war dankbar, dass es schon dunkel war, so brauchte sie die Enttäuschung und Niedergeschlagenheit nicht zu überspielen, sich nicht vor neugierigen Blicken zu fürchten. Konnte es sein, dass Francesco nicht richtig verstanden hatte? Und wenn er verstanden hatte, was war das dann für eine seltsame Reaktion? Diese plötzliche Distanz, dieser offizielle Termin, als gälte es etwas Geschäftliches zu regeln. Ohne jedes Feingefühl. Überhaupt ohne jede emotionale Regung. Marisa versuchte, Verständnis aufzubringen: Er war seit jeher ehrgeizig und voller Pläne. Auf keinen Fall wollte er so leben wie sein Vater, ein einfacher Angestellter bei der Telefongesellschaft TETI, der fünf hungrige Mäuler stopfen musste und immer knapp bei Kasse war. Und hatte ihr nicht genau das immer an ihm gefallen? So ein unerwartetes, viel zu frühes Kind brachte da natürlich einiges durcheinander. Andererseits sparte er schon lange, auch sie hatte etwas Geld auf ihr Sparbuch eingezahlt. Und dann war da noch der Anteil, den er für den Verkauf der Wohnung der Tante mütterlicherseits bekommen würde, die kinderlos gestorben war. Gemeinsam würden sie schon eine Lösung finden, ohne deswegen allzu große Opfer bringen zu müssen. Kurz bevor sie nach Hause kam, sagte sie sich, dass Francescos Kälte im Grunde nur verständlich war. Sie machte sich Vorwürfe, dass sie nicht die richtigen Worte gefunden hatte, um ihm zu sagen, dass er Vater wurde.

Die Zeit bis zu jenem Donnerstag nach Silvester kam ihr endlos vor. Um ihre gedrückte Stimmung zu erklären, täuschte sie eine leichte Grippe vor – erhöhte Temperatur und Halsschmerzen, Kopfweh, das einfach nicht weggehen wollte. Gern nahm sie die heiße Milch mit Honig von ihrer Mutter entgegen, die Ruhezeiten, die ihr der Vater verordnete. Lange blieb sie auf ihrem Zimmer, das sie einst mit ihrer älteren Schwester Emma geteilt hatte, die seit zwei Jahren verheiratet war. Vom Familienbetrieb hatte Emma nie etwas wissen wollen, mit vierzehn hatte sie in einer Näherei angefangen, da sie Modistin werden wollte. Und weil sie sich geschickt anstellte, hatten ihr die Eltern Anfang 1951 Geld für ein kleines Atelier in der Via Pinerolo gegeben. Dann hatte sie Emanuele Bassevi kennengelernt, einen jüdischen Textilunternehmer, der aus Liebe zu ihr mit seiner Familie gebrochen hatte, es hinnahm, aus seiner strengen Welt verstoßen zu werden, ja der sogar die schmerzliche Erfahrung machen musste, vom Vater noch auf dessen Totenbett verflucht zu werden. Jetzt waren sie trotz allem ein glückliches Paar. Den Erstgeborenen hatten sie nach dem verstorbenen Vater Donato genannt, denn für Emanuele war das eine Möglichkeit, das wiedergutzumachen, was er seinem Vater angetan hatte. Bis zur Hochzeit mit Emma hatte ihn dieser inniglich geliebt und es ihm an nichts fehlen lassen. Während ihrer gesamten Verlobungszeit mit Francesco hatte Marisa von einer solchen Verbindung geträumt, die es auch mit Krisen und Enttäuschungen aufnehmen konnte.

Als der Donnerstagnachmittag gekommen war, behauptete sie, es gehe ihr besser, sie habe jetzt einen Termin bei ihrer Friseurin Clelia, obwohl sie sich die Haare bereits mehr als gründlich gewaschen und gekämmt hatte. Clelia war auch eine gute Freundin von ihr, deshalb gab sie ihr Bescheid, damit sie mitspielte, und nahm die Straßenbahn zur Porta Maggiore. Sie war eine Stunde zu früh dran, klopfte aber trotzdem, erst zögernd, dann immer energischer, woraufhin Francesco ihr aufmachte. Die Ärmel seines Hemdes waren hochgekrempelt, die obersten drei Knöpfe standen offen. Er begrüßte sie vollkommen freudlos. »Komm rein«, sagte er nur und trat zur Seite. Marisa war wie gelähmt, wagte es nicht mal, ihn zu umarmen.

In dieser Wohnung hatten sie sich in den letzten beiden Jahren bereits mehrmals getroffen, weil Tante Costantina vor ihrem Tod mehr im Sanatorium als zu Hause gewesen war. Sie trafen sich heimlich dort – seit dem Tag, an dem Marisa beschlossen hatte, sich ihm hinzugeben, damit er nicht anderswo suchte, was sie ihm geben konnte, sie liebten sich ja schließlich. Schon nach dem ersten Nachmittag im pompösen Bett Costantinas war sich Marisa sicher gewesen: Francesco war der Mann ihres Lebens. Wenn sie ihn, der nur Augen für sie hatte, so neben sich liegen sah, verlor sie jedes Schamgefühl und jede Zurückhaltung. Sie war hier glücklich gewesen, doch an diesem Abend hatte Marisa das Gefühl, von den zinnoberroten Tapeten, den Möbeln voller Nippes schier erdrückt zu werden. Sie schienen ihr jede Luft zum Atmen zu nehmen.

Francesco zeigte auf den Servierwagen. »Möchtest du ein Glas?«

Als Marisa langsam den Kopf schüttelte, bedeutete er ihr, Platz zu nehmen. Sie gehorchte automatisch und setzte sich auf das Sofa mit der hohen goldbestickten Lehne und den abgewetzten, durchgesessenen Kissen, in die sie tief einsank. Sie trug nach wie vor ihren Mantel, umklammerte mit beiden Händen die Handtaschenbügel.

Auf einmal war ihr diese männliche, schlanke Erscheinung, die trotz schwerer Arbeit nichts von ihrer Eleganz eingebüßt hatte, ja dieser Körper, den sie mit allen Sinnen erkundet hatte, vollkommen fremd. Francesco stand stocksteif da, die Hände in den Hosentaschen, und hielt bewusst Abstand. Er schaute zwar in ihre Richtung, hatte sie aber bisher nicht einmal wirklich angesehen. Wie ein Blinder starrte er sie an, ohne sie überhaupt wahrzunehmen oder besser gesagt, ohne sie wahrnehmen zu wollen. Doch statt zu verzweifeln, spürte Marisa, wie sie auf einmal eine große Ruhe überkam. Sie hatte sich darauf eingestellt, zu weinen, zu flehen, weil sie längst wusste, wie es laufen würde: Seit dem Telefonat aus der Telefonzelle des Hotels wusste sie Bescheid, auch wenn sie sich, um keinen Nervenzusammenbruch zu bekommen, etwas ganz anderes eingeredet hatte. Sie hatte all ihre Kraft zusammengenommen, um sich diesem Moment zu stellen wie bei einer Schlacht. Doch jetzt war Ruhe eingekehrt, ihre Atmung ging regelmäßig, und sie sah ihm abwartend ins Gesicht.

»Ich wollte eigentlich im Februar kommen und mit dir reden, Mimì.« Er streckte die Ellbogen ein wenig zur Seite, aber ohne die Hände aus den Hosentaschen zu nehmen.

Marisa hörte geduldig zu.

»Es hat sich so viel verändert … was soll ich sagen?« Ihr Schweigen, ihr fester Blick, mit dem sie ihn jetzt prüfend musterte, machten ihn langsam nervös. »Die langen Trennungen, die Entfernung … Ich habe dich immer geliebt, aber die Dinge ändern sich.« Sein Ton hatte sich kaum merklich gewandelt, so als beantwortete er Fragen, die sie ihm nie gestellt hatte. »So versteh mich doch, Mimì!«

Marisa atmete tief durch. »Aber das Kind ist trotzdem von dir«, sagte sie leise, tonlos.

»Ich weiß, ich weiß.« Er nickte energisch, fast wütend. Dann nahm er die Hände aus den Hosentaschen und gestikulierte, wie um seine Verzweiflung zu betonen. »Ich wollte es dir eigentlich anders beibringen, in einem anderen Moment …«

»Was beibringen?«

Da gestand ihr Francesco ohne jede Scham: »Ich habe mich in der Schweiz mit einer anderen verlobt.«

Sie gestattete sich nur ein winziges, erstauntes Blinzeln.

»Mit der Tochter des Besitzers. Hast du auch nur die leiseste Ahnung, was das für jemanden wie mich bedeutet?« Es sprudelte nur so aus ihm heraus, während er sich langsam zu ihr beugte und die Hände wieder in die Hosentaschen steckte. »Mit der Tochter des Besitzers, Mimì!«

Marisa nickte kaum merklich. »Mit der Chefin …« Ihr Mund verzog sich zu einem verbitterten Lächeln. Stille trat ein, durch nichts als das Ticken der Pendeluhr unterbrochen. Sie hatte das dringende Bedürfnis, sich abzulenken, und ließ den Blick zum runden Tischchen neben dem Sofa huschen. Neben einer Kristallvase stand eine filigrane weiße Porzellanfigur. Eine melancholische junge Dame saß für immer erstarrt auf einer Schaukel, die an einem von einer dicken Staubschicht bedeckten Blütenzweig hing. Sie empfand Mitleid mit Tante Costantina, der in all den Jahren vielleicht nur diese Nippesfiguren Gesellschaft geleistet hatten. In all den Monaten zuvor hatte sie kein einziges Mal die Einsamkeit des Alters gespürt, die dieser Raum verströmte.

»Und ich? Was soll ich jetzt machen?«, fragte sie ohne ihn anzuschauen, den Blick fest auf diese junge Dame gerichtet. Sie bekam mit, wie er eine Hand zögernd aus der Hosentasche zog.

»Hier hast du die Adresse einer Vertrauensperson in Garbatella. Wenn du an einem Donnerstagnachmittag gegen zwei hingehst, erklärt sie dir, was du machen musst.«

Marisa starrte auf das, was er ihr ungerührt, ja fast schon brutal unter die Nase hielt. Es war eine zusammengefaltete Kinokarte, auf die jemand in einer ihr unbekannten, kindlichen Schrift eine Adresse notiert hatte. Sie sah ihm erneut ins Gesicht, wie um sich zu vergewissern, dass das tatsächlich er war: der Mann, mit dem sie den Rest ihres Lebens hatte verbringen wollen, der Mann, dem sie sich so nah gefühlt und mit dem sie Mund an Mund, voller Leidenschaft gelacht hatte.

Sie machte keine Anstalten, danach zu greifen, und er beugte sich vor, um sie am Arm zu packen und ihr die Kinokarte gewaltsam in die Hand zu drücken. Das war das erste Mal, dass er sie heute anfasste. Bei der groben Geste zog sie die Hand abrupt zurück. Sie stand auf und ließ den Zettel fallen.

»Mimì, so versteh mich doch!«, wiederholte er flehend und bückte sich, um ihn aufzuheben.

»Was soll ich verstehen?«, murmelte sie.

»Du ruinierst mein Leben!«

Sie wich vor ihm zurück. »Fahr zurück in die Schweiz. Von dir will ich gar nichts mehr.«

Francesco, der sie weit überragte, packte sie am Arm – einen Groll im Gesicht, der sie noch fassungsloser machte als seine Worte. »Wenn dieses Kind zur Welt kommt, Marì, wissen alle, dass es von mir ist!«

Mit einem energischen Ruck entwand sie sich seinem Klammergriff. »Wieso denn das? Glaubst du etwa, dir kann man keine Hörner aufsetzen?« Provozierend erwiderte sie seinen Blick.

»Jetzt red keinen Blödsinn!«

»So wie ich mit dir gegangen bin, hätte ich auch mit jedem anderen mitgehen können oder etwa nicht?«

Er schnaubte vor Wut. »Aber so nimm doch Vernunft an!«, schrie er. »Meine Güte, was haben wir denn davon, wenn dieses Kind zur Welt kommt?«

Marisa hätte ihn am liebsten geohrfeigt, aber dazu fehlte ihr die Kraft. Sie nahm die Handtasche, die zwischen die Kissen gefallen war, und wandte sich zur Tür. Wieder packte er sie, zog sie so weit zu sich, dass er sich vorbeugen und etwas aus der Tasche seines über der Sessellehne liegenden Mantels ziehen konnte. Vergeblich versuchte sie sich zu befreien. Diesmal steckte ihr Francesco Malpighi eng aufgerollte, mit Zeitung und Klebeband gesicherte Geldscheine zu.

»Das sind Schweizer Franken, ich hab’s nicht mehr geschafft, sie zu wechseln. Am Largo Santa Susanna ist eine große Bank, dort wird man sie dir im Nu umtauschen.« Er schwieg einen Moment, um ihr dann die Kinokarte mit der Adresse in die Tasche zu stecken, bevor er fast schon beschwichtigend hinzufügte: »Es ist ein stolzes Sümmchen. Die Frau in Garbatella habe ich bereits bezahlt, das hier ist für dich.«

Marisa betrachtete das Geldbündel. Er hatte es sorgfältig aufgerollt – vielleicht aus Diskretion oder damit es sich leichter verstauen ließ. Vielleicht glaubte er, dass sie als Kassiererin so besser damit umgehen könne. Auf einmal war ihr, als läge die ganze Erbärmlichkeit dieses Mannes, dem sie alles gegeben hatte, in ihrer Hand.

»Du bist doch eine intelligente Frau«, säuselte er wieder freundlich und lockerte langsam seinen Klammergriff, als wollte er ihr Zeit geben, wieder zur Vernunft zu kommen, bevor er sie gehen ließ.

Sie schaute ihm in die Augen. An den tiefen Schatten darunter sah sie, wie sehr ihm die letzten Tage zugesetzt hatten. Sie sah die Sorgen, die aus Angst und Feigheit schlaflos verbrachten Nächte, die Gewissensbisse, gegen die er sich nur mit Gefühlskälte zu wehren wusste. »Wäre ich wirklich intelligent gewesen, wäre ich heute nicht in dieser Situation«, erwiderte sie ruhig. Langsam zog sie die Kinokarte aus der Tasche und legte sie ihm fast behutsam in die Hand, zusammen mit dem Geldbündel. Sie ließ ihre Hand bewusst lange in seiner liegen, damit auch er Zeit hatte, seine ganze Erbärmlichkeit zu spüren. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, er solle sich nie mehr bei ihr blicken lassen, doch sie wusste, dass das nicht nötig war.

Sie kehrte ihm den Rücken zu und spürte im Gehen seinen Blick.

Marisa ließ ihn einfach stehen – dort in der verstaubten Wohnung von Tante Costantina.

 

Diesmal nahm sie die Straßenbahn nach Hause. Eine noch nie da gewesene Müdigkeit überfiel sie. Sie saß am Fenster und starrte auf die Straße, die Vorstellung, einem Blick zu begegnen, war ihr schier unerträglich. Es war eher Scham statt Verzweiflung, die sie so erschöpfte. Sie schämte sich nicht für das, was sie getan hatte und auch nicht für das Kind, das, zumindest was sie betraf, aus wahrer Liebe entstanden war. Ja, sie schämte sich nicht einmal für das, was noch kommen würde, wenn sie gezwungen wäre, ihren Zustand zu beichten. Sie schämte sich für sich selbst, weil sie zugelassen hatte, dass Naivität und blindes Vertrauen in einen Mann, den sie kein bisschen gekannt hatte, zu dieser absurden Situation geführt hatten. Hier saß sie nun, Marisa Balestrieri, wie eine der Heldinnen in einem Melodram von Matarazzo, die ihre Mutter und sie so gern im Kino sahen. Sie musste wieder daran denken, wie sie diese naiven jungen Mädchen mit der Verachtung einer modernen Frau verurteilt hatte, aus lauter Fassungslosigkeit, wie man sich bloß so täuschen lassen kann. Wie kann man nur so dumm sein, hatte sie unzählige Male zwischen den Szenen gesagt. Wie kann man nur so dumm sein, sagte sie sich auch jetzt immer wieder, während die quietschende Straßenbahn sie nach Hause fuhr.

So sehr sie sich auch bemühte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen, sie fand keine Lösung, die nicht schmerzhaft gewesen wäre. Francesco hatte ihr seine Lösung vorgeschlagen, aber was für ihn das Beste wäre, war für sie ausgeschlossen. Das war keine Frage der Moral: Sie wollte dieses Kind nicht wegmachen lassen, weil sie es liebte. Und das bereits, seit sie seine Existenz geahnt hatte. Diese Liebe war unbeirrbar – selbst als sich ihre Gefühle für dessen Vater in Luft auflösten. Sie fühlte sich wie eine dieser im Krieg bombardierten Städte: von außen betrachtet nichts als Zerstörung, aber in ihrem Innern hütete sie dieses Wesen wie einen kostbaren Schatz. Doch die Ungewissheit quälte sie. Wie ihre Familie wohl reagieren würde? Wie sollte sie nur auf den enttäuschten Blick ihres Vaters reagieren, der sie vor den Kunden immerzu stolz lobte? Mit dem Schreien und Wehklagen, ja mit den Vorwürfen ihrer Mutter würde sie schon zurechtkommen, nicht aber damit, Ettore Balestrieri dermaßen enttäuscht zu haben. Bei dem Gedanken daran zog es ihr den Boden unter den Füßen weg.

Vielleicht auch um die Blicke der Eltern noch etwas hinauszuzögern, stieg sie zwei Haltestellen früher aus, um mit raschen Schritten zu ihrer besten Freundin Maria Elena zu gehen und bei ihr Trost zu suchen. Während deren Mann im Esszimmer Nachrichten hörte, erzählte sie ihr im Flüsterton die ganze Geschichte. Am Küchentisch weinten sie gemeinsam über ihr Unglück. Die Freundin war solidarisch und verwünschte Malpighi, der ihr offen gestanden noch nie gefallen habe. Sie versprach, stets für sie da zu sein. Mehrmals wiederholte sie, dass sie sie nicht verurteile: Sie könne sich voll und ganz auf sie verlassen.

Um nicht zu spät nach Hause zu kommen, verabschiedete sich Marisa nach einer halben Stunde und ging das letzte Stück zu Fuß. Zu Hause tobte ihre Mutter wegen der Verspätung. Deshalb fiel ihr gar nicht auf, dass Marisa gar keine neue Frisur hatte. Sie schimpfte ausgiebig, während ihre Tochter irgendeine Entschuldigung stammelte, und ließ sie allein zu Abend essen – Ettore und sie seien längst damit fertig. Es sei einfach respektlos, nicht Bescheid zu geben und sie so warten zu lassen. Während Marisa hastig ein paar Löffel der verkochten und inzwischen kalt gewordenen Suppe hinunterwürgte, stand plötzlich heimlich ihr Vater in der Tür.

»Geht’s dir gut?«, flüsterte er fürsorglich.

»Aber ja doch …« Marisa lächelte. »Ich hab noch kurz bei Maria Elena vorbeigeschaut und die Zeit vergessen.«

Er nickte und verschwand.

Währenddessen erzählte Maria Elena, um ihre Verstörung etwas zu verarbeiten, ihrer Schwester Ivana, einer direkten Nachbarin der Balestrieris, am Telefon ganz im Vertrauen von der Tragödie der armen Marisa. Die ihre Situation allerdings selbst verschuldet hatte, wie sich die beiden rasch einig waren. Es war schließlich weithin bekannt, dass Francesco Malpighi vor der Beziehung mit ihr ein ziemlicher Frauenheld gewesen war. Schwer vorstellbar, dass eine so intelligente junge Frau wie Marisa das nicht bedacht hatte. Nur weil sie hübsch und aus guter Familie war, hieß das noch lange nicht, dass es ihr anders ergehen würde als ihren Vorgängerinnen. Bevor sie auflegten, seufzten sie im Chor, wie um zu sagen, dass manche Dinge einfach unausweichlich sind, wenn man sich zu sehr gehen lässt.

Keine vierundzwanzig Stunden später war Marisa, die Tochter des Feinkosthändlers, offiziell Gegenstand von Gerüchten.

 

Am nächsten Tag, dem Dreikönigstag, traf sich die Familie Balestrieri bei Emma zum gemeinsamen Essen. Marisa beschloss noch nichts zu sagen, damit ihre Familie wenigstens die Feiertage genießen konnte. Wer weiß, wann sie sich nach der Katastrophe, die sie sich selbst eingebrockt hatte, alle wieder unbeschwert um einen Tisch setzen konnten! Sie zwang sich, nicht allzu viel zu grübeln und überschüttete ihren Neffen mit noch mehr Zärtlichkeit als sonst. Als sie den Kleinen in sein Stühlchen hob und sich vergewisserte, dass er auch bequem saß und sich nicht weh tun konnte, war es, als wäre ihr der Umgang mit Kindern längst vertraut, ja, als verfügte sie auf einmal über ein uraltes Wissen. Sie strich dem Jungen über die zarte Haut, redete besonders liebevoll mit ihm und lächelte wie jemand, der schon voller Vorfreude ist. Ob sie wohl ebenfalls einen Jungen bekommen würde? An Francesco Malpighi würde sie jedenfalls keinen einzigen Gedanken mehr verschwenden. Obwohl ihr das eigentlich nicht weiter schwerfallen sollte, spürte sie manchmal einen solch schmerzhaften Stich in der Brust, dass sie sich zwingen musste, nicht in verzweifeltes Schluchzen auszubrechen.

Weil sie verzweifelt Unbeschwertheit vortäuschen musste, erwachte sie am nächsten Morgen nach wenigen Stunden unruhigen Schlafs voller Albträume, erschöpft und niedergeschlagen. Sie ging noch früher in den Laden als sonst und machte sich an die Arbeit, um sich ein bisschen abzulenken. Lang bevor sie aufmachten, hatte sie bereits sämtliche Waren in die Regale geräumt. Also setzte sie sich an die Kasse und blätterte in einer Zeitschrift, während der Vater sich fröhlich pfeifend um das Brot kümmerte.

»Alles in Ordnung, Signorina Marisa?«

Marisa zuckte zusammen, denn diese Worte, die ausnahmsweise mal nicht nur »Guten Tag« und »Danke schön« waren, schienen von einem Wildfremden zu kommen. Sie schaute zu Stelvio Ansaldo empor, der ihr den Lieferschein hingelegt hatte und sie leicht besorgt musterte.

Fast hätte sie kurz angebunden mit einem verblüfften Aber natürlich reagiert. Aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund sagte sie: »Ja …, ich bin nur ein bisschen müde. Ich hatte die Grippe.«

»Das hat mir Signor Ettore auch schon erzählt.« Er nickte zweimal, wie um zu betonen, wie sehr ihm ihr Wohlergehen am Herzen lag.

Mit einem kaum merklichen, höflichen Lächeln quittierte ihm Marisa den Lieferschein.

Stelvio verstaute ihn sorgfältig und ließ sich dabei etwas mehr Zeit als sonst, bevor er sich mit einem »Dankeschön« und einem »Bis morgen« verabschiedete. Daraufhin murmelte sie etwas und wandte sich wieder ihrer Zeitschrift zu.

Gegen eins, kurz bevor sie zumachten, ging Marisa nach Hause, um Brot zu bringen und der Mutter wie sonst beim Tischdecken zu helfen. Doch anstatt sie am Herd vorzufinden, saß diese im Esszimmer am Kopf des Tisches – mit gefalteten Händen, als wäre sie in ein Gebet vertieft. Kein Duft kam aus der Küche, kein ungeduldiges Brodeln war zu hören. Letizia trug nach wie vor das Kostüm und die Schuhe mit Absatz, in denen sie einkaufen gewesen war.

Marisa blieb auf der Schwelle stehen, den in Papier gewickelten Viertellaib Brot fest an die Brust gepresst.

Langsam löste die Mutter ihren Blick vom Tafelaufsatz aus Capodimonte-Porzellan und schaute sie ausdruckslos an.

Marisa hielt den Atem an.

Fast unmerklich bewegten sich ihre Lippen. »Was hast du nur getan?« Schwer zu sagen, was sie mit diesem gepressten Flüstern ausdrücken wollte. Mehr als Erstaunen schwang eiskalte Wut darin mit.

»Noch heute Abend hätte ich dir alles gesagt …«, konterte Marisa ganz ruhig und erwiderte ihren Blick.

»Wem hast du bereits davon erzählt?«

»Nur Maria Elena«, beeilte sie sich zu sagen.

»Ja, weißt du denn nicht, was für Klatschbasen sie und ihre Schwester sind?« Erst jetzt wurde Letizia laut und schüttelte ungläubig den Kopf. »Wie blöd bist du eigentlich?«

Marisa blieb nichts anderes übrig als den Blick zu senken. Eine Antwort konnte sie sich sparen.

»Ich musste es von der Weinhändlerin erfahren …« Letizia stützte die Arme auf und verbarg das Gesicht in den Händen. »Jetzt wissen es Krethi und Plethi.«

Marisa legte den Viertellaib Brot auf den Tisch und stützte sich auf die Stuhllehne. Bis vor kurzem hätte ihr der Verrat der Freundin das Herz gebrochen. Doch jetzt spürte sie nur, wie ihr die Enttäuschung alle Kraft raubte. Sie konnte nicht mal mehr Wut empfinden.

»Du warst schon immer frech«, zischte Letizia so leise, als führte sie Selbstgespräche. »Fast dreist …« Sie machte eine Pause, um dann mit erstickter Stimme hinzuzufügen: »Aber was zu viel ist, ist zu viel!«

»Ich habe Francesco geliebt!« Marisa brachte nur diese armselige Entschuldigung heraus.

»Und jetzt?«, schimpfte die Mutter, als hätte sie nichts gehört. »Was willst du jetzt machen?«

Da sie frech und dreist war, fiel Marisa Balestrieri nichts anderes ein als diese Frage mit einem leicht erstaunten Lächeln zu beantworten. Diese bewusst provozierende Frage, wo doch ihre Mutter ganz genau wissen musste, dass sie sich schon seit Tagen damit quälte. »Ich weiß es nicht«, sagte sie mit einem Achselzucken und ließ den Kopf hängen.

»Aha, du weißt es nicht …«, echote sie. »Darüber hast du dir wohl keine Gedanken gemacht, als du dich mit Malpighi amüsiert hast, obwohl du aus einer guten Familie stammst.«

Langsam knöpfte Marisa den Mantel auf und zog ihn aus. »Nein«, erwiderte sie, während sie ihn an die Flurgarderobe hängte. Mehr sagte sie nicht, bevor sie in ihr Zimmer ging und die Tür hinter sich zuzog.

Zunächst saß sie eine Weile auf der Bettkante. Dass ihre Mutter kein Verständnis für sie haben würde, damit hatte sie gerechnet. So war sie eben, streng und unerbittlich – mit sich und anderen. Vor allem wenn es um Sitte und Anstand ging. Marisa war es seit jeher ein Rätsel, dass ihre Eltern aus Liebe geheiratet hatten – eine Liebe, die bis heute Bestand hatte.

Ettore Balestrieri war ein gutmütiger Mensch, freundlich und gesellig. Letizia hingegen eher zurückhaltend-verschlossen und sehr auf den äußeren Anschein bedacht. Wäre Emma auch nur einen Monat vorher zur Welt gekommen – Marisa hätte gewettet, dass die beiden hatten heiraten müssen. Aber nein: Sie hatten sich über einen gemeinsamen Freund kennengelernt, Gefallen aneinander gefunden und sich verliebt. Sie ergänzten sich: Ettores Großzügigkeit linderte die Spießigkeit seiner Frau, während sie großzügig über Angewohnheiten hinwegsah, die sie bei jedem anderen inakzeptabel gefunden hätte. Wenn die beiden in ihrem Schlafzimmer direkt nebenan waren, hörte Marisa sie manchmal lachen, gleich darauf kaum vernehmbar die Stimme ihrer Mutter, die dem Vater gespielt streng befahl, leise zu sein, während dessen Gelächter immer lauter wurde.

Marisa wusste, dass ihre Mutter ihr das nie verzeihen würde. Emma würde sie vielleicht noch verstehen, vielleicht würde sie ihr ja helfen, aber es warteten schwierige Zeiten auf sie.

Spontan stand sie auf, um ein paar Sachen zusammenzupacken. Jetzt, da das ganze Viertel Bescheid wusste, war damit zu rechnen, dass Letizia sie aufforderte, sich eine neue Bleibe zu suchen, um sich wieder selbst an die Ladenkasse zu setzen.

Marisa war gerade dabei, die Unterwäscheschublade zu inspizieren, als ihr Vater ohne anzuklopfen eintrat.

»Komm«, sagte er nur. Tonlos, nicht zu interpretieren, aber ohne die Zärtlichkeit, mit der er sonst das Wort an sie richtete. Dann verschwand er, ohne auf sie zu warten.

Ohne jede Eile folgte Marisa ihm.

Sie fand ihre Eltern am Esszimmertisch vor. Seltsamerweise saß die Mutter nach wie vor am Kopfende und er zu ihrer Rechten, ein zur Hälfte gefülltes Glas Wasser vor sich, das ihm seine Frau gebracht haben dürfte – aus Angst, er könnte bei der Nachricht einen Herzinfarkt bekommen. Ständig lag sie ihm damit in den Ohren, dass er abnehmen müsse, sonst bekomme er noch einen Infarkt. Doch im Grunde wollte sie gar nichts an ihrem Mann ändern und schätzte sich glücklich, ihn zu haben.

»Setz dich«, befahl er und zeigte auf den Stuhl, ohne die Hand vom Tisch zu lösen.

Marisa nahm ihm gegenüber Platz. Die Mutter starrte weiterhin auf den Tafelaufsatz, um ihr klarzumachen, wie ungern sie mit ihr an einem Tisch saß.

Ettore nahm einen Schluck Wasser. Er hatte sichtlich keinen Durst, sondern schindete bloß Zeit. Dann stellte er das Glas ab und verschränkte die Hände wie die Mutter, ließ die Daumen mehrfach gegeneinanderprallen.

»Du sagst mir jetzt, ob du Malpighi heiraten willst«, meinte er.

Marisa verstand nicht. Sie zögerte. Instinktiv sah sie zu ihrer Mutter hinüber, als wäre Hilfe oder Rat von ihr zu erwarten. Doch die war zur Salzsäule erstarrt. »Aber Francesco hat mich sitzenlassen, Papa«, murmelte sie.

»Das habe ich dich nicht gefragt. Ich habe dich gefragt, ob du ihn heiraten willst.«

»Er hat eine andere in der Schweiz.«

Ettore gönnte sich einen weiteren Schluck Wasser. »Mari. Wenn du mir sagst, dass du ihn heiraten willst, hole ich das Jagdgewehr deines Großvaters, nehme noch heute den Zug in die Schweiz und schaff ihn dir bis morgen her – sei es tot oder lebendig.« Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu, in dem sie die Zärtlichkeit eines Vaters erkannte, der in diesem Moment keine Schwäche zeigen durfte, sie aber trotzdem liebte. Die Schande war ihm egal, vielleicht wusste er nicht mal, was das war. Für ihn zählte nur seine Tochter.

»Nein, Papa.« Diesmal antwortete sie ohne zu zögern. »Ich möchte Francesco nie wiedersehen.«

Letizia entschlüpfte ein hysterisches Lachen, ungläubig sah sie ihren Mann an.

»Dann müssen wir eine andere Lösung finden«, verkündete Ettore.

»Und was soll das sein?«, platzte es aus Letizia heraus.

Er atmete tief durch, um nicht die Geduld zu verlieren, die seine Frau so oft auf eine harte Probe stellte. Dann lehnte er sich zurück, verschränkte die Arme vor dem runden Bauch und sagte in einem ebenso ruhigen wie bestimmten Ton, den Marisa so noch nie an ihm gehört hatte: »Mari, die Zeiten haben sich geändert. Aber ein uneheliches Kind stürzt einen immer noch ins Unglück.«

Sie senkte den Blick, verletzt von der Härte, mit der er die unumstößliche Wahrheit verkündete.

Kurz schwiegen sie, was ihr wie eine Ewigkeit vorkam.

»Und wenn sie nach Grottaferrata zieht? Meinst du, Emanuele würde nein sagen?« Letizia sah ihren Mann erwartungsvoll an.

»Wozu denn das? Das Problem ist doch nicht der dicke Bauch?«, erwiderte er gereizt.

»Dann kann sie das Kind dort zur Welt bringen … In Rocca di Papa sind Nonnen …«

Marisa zuckte zusammen. »Ich werde mein Kind ganz bestimmt nicht zu den Nonnen geben!«, schrie sie und sprang so abrupt auf, dass der Stuhl mit einem dumpfen Knall umfiel. Mit beiden Händen stützte sie sich auf den Tisch und beugte sich zum Vater. »Ich gebe mein Kind nicht her!«

Auch Letizia stand jetzt auf, mit ihren Absätzen überragte sie Marisa um eine Handbreit. »Und was für ein Leben willst du ihm bieten, wenn sich die Leute hinter seinem Rücken das Maul zerreißen?«

»Die Leute sind mir vollkommen egal.«

»Dir ist doch alles egal!«

»Setzt euch oder ich werf euch beide raus!«, donnerte Ettore und hieb mit der Faust auf den Tisch, wobei er Frau und Tochter nicht aus den Augen ließ.

Marisa stellte den Stuhl wieder auf. Stumm nahmen beide wieder Platz.

Ettore trank sein Wasser aus. Bei einem guten Glas Wein wäre die Stimmung sicherlich besser gewesen. Ihm hatte es nie etwas ausgemacht, keinen Sohn zu haben. All die Fragen nach dem Nachnamen brachten ihn eher zum Lachen. Wären sie adlig gewesen, wäre das vielleicht etwas anderes gewesen, aber was spielte es schon für eine Rolle, ob es nun einen Balestrieri mehr oder weniger gab? Bevor Marisa Malpighi kennengelernt hatte, hatte er auf einen Schwiegersohn gehofft, der sich auch in seinen Laden verlieben würde. Die Leute kamen von weither, um bei ihm einzukaufen, weil sie wussten, dass es bei sor Ettore höchste Qualität gab: Er hatte einen Blick dafür, wählte für seine Kunden nur das Beste aus, war geschickt im Verhandeln mit Lieferanten und machte gute Preise. Sogar in Porta San Giovanni fragte man, wer nur dieser sor Ettore sei. Sein Vorname genügte, Balestrieri brauchte man gar nicht erst hinzuzufügen. Aber jetzt hätte er gern einen Sohn an seiner Seite gehabt. Jemanden, mit dem er sich ohne diese weibliche Hysterie hätte austauschen können, jemanden, der nicht darauf beharrte, über verschüttete Milch zu jammern. Jemanden, dem nur das Wohl von Marisa und ihrem zukünftigen Kind am Herzen lag, das schließlich auch ein Balestrieri war.

Noch während er das leere Glas in seinen dicken Fingern drehte, kam ihm die Idee, die das Leben seiner Tochter, aber auch seines, von Grund auf verändern sollte.

»Stelvio Ansaldo«, sagte er laut, in der festen Überzeugung, keinen Mucks von sich gegeben zu haben.

Die Frauen sahen sich instinktiv an, um sich davon zu überzeugen, dass wenigstens die andere wusste, wovon er sprach. Doch sie waren gleichermaßen ratlos.

Letizia bekam es mit der Angst. Was, wenn dieser Schicksalsschlag ihren Mann auf einmal hatte dement werden lassen? »Und wer soll das sein, dieser Ansaldo?«

»Der Laufbursche von der Backstube Camastra«, erklärte Marisa hastig mit gerunzelter Stirn.

»Was hat der denn damit zu tun?«, fragte Letizia ungeduldig.

Ettore schaute erneut seine Tochter an. Noch immer ganz in Gedanken sagte er: »Die Besitzerin der Backstube hat mir erzählt, dass ihr Neffe Ruggero im Norden kein Glück hatte. Er fühlt sich dort nicht wohl und möchte wieder nach Hause und seine alte Stelle zurück.« Er schwieg kurz, um dann weiterzureden. »Sie meinte, dass sie Stelvio nur ungern ziehen lässt, weil er wirklich fleißig ist, kann dem Neffen die Stelle aber nicht verweigern. Deshalb hat sie mich gebeten ihr zu helfen, eine andere Lösung für den jungen Mann zu finden.«

»Ja und?« Je mehr Letizia zu hören bekam, desto weniger verstand sie.

Ganz anders Marisa, der es bereits dämmerte.

»Ich überlege schon seit längerem, einen Gehilfen einzustellen, vielleicht vorerst halbtags. An Stelvio habe ich auch schon gedacht. Er ist ein guter, ehrlicher Kerl und ein anständiger … Arbeiter.«

»Aber ich will Stelvio Ansaldo nicht!«, rief Marisa entsetzt.

Letizia sprang auf und zeigte bestürzt auf ihren Mann. »Du willst deine Tochter doch nicht etwa dem Laufburschen geben?« Hätte sie nicht befürchten müssen, dass die Nachbarn alles mitbekamen, hätte sie laut gekreischt.

Ettore breitete die Arme aus. »Sie hat sich mit einem Nichtsnutz eingelassen – und jetzt darf man sie nicht dem Laufburschen geben?«

Seine Frau schlug sich die Hand vor den Mund. »Du bist ja vollkommen verrückt geworden!«

»Dann findet ihr doch eine Lösung!« Er breitete auffordernd die Arme aus. »Dass deine Tochter schwanger ist, weiß man bereits bis zur Via Merulana – deine Worte übrigens! Ja, was glaubst denn du? Dass die Kerle jetzt Schlange stehen, um sie zu heiraten?«

Marisa brach in ein verzweifeltes Schluchzen aus, sie hatte die Arme aufgestützt und raufte sich die Haare.

»Wer ist denn dieser … Ansaldo?« Schon wirkte Letizia etwas umgänglicher. »Kennst du die Familie?«

»Was denn für eine Familie? Die Eltern sind in San Lorenzo ausgebombt worden, kamen dann in den Felice-Aquädukt-Baracken unter und sind innerhalb von zwei Jahren gestorben. Der Junge war ein paar Jahre in einem kirchlichen Heim, weil er noch so klein war. Dann haben ihm die Priester eine Arbeit vermittelt und ihn vor die Tür gesetzt. Er wohnt bei Bekannten der Camastra zur Untermiete.«

»Himmelherrgott«, murmelte Letizia. Aber nicht, weil sie das Schicksal von Stelvio Ansaldo so gerührt hätte.

Ettore stand auf, sein Stuhl rutschte quietschend über den Marmorfußboden. Er warf einen Blick auf seine von Schluchzern geschüttelte Tochter, die den Kopf gesenkt hatte.

»Dieser junge Mann verschlingt dich förmlich mit den Augen. Du hast es bloß nie gemerkt, weil er dir mit Respekt begegnet. Als Vater habe ich beide Augen zugedrückt, er hat schließlich Benehmen. Und dass du schön bist, ist schließlich nicht seine Schuld.« Er seufzte vielsagend. »Etwas anderes fällt mir auch nicht ein«, endete er. »Und jetzt gehe ich nach nebenan und ruhe mich aus, denn euretwegen ist mir jeder Appetit vergangen.«

 

In den darauffolgenden Stunden, in der ganzen darauffolgenden Nacht verschwendete Marisa keinen Gedanken an die vom Vater vorgeschlagene Lösung. Sie konnte kaum glauben, was er da gesagt hatte, ja, fand es absurd, dass sich ausgerechnet er, der so loyal und aufrichtig war, für solch hinterlistige Machenschaften hergeben wollte. Doch das nachmittägliche Schweigen des Vaters, auch später beim Abendessen, sagte mehr als viele Worte: Eine andere Lösung hatte er nicht.

Ihre Mutter würdigte sie keines Blickes und redete nicht mit ihr. Sie hatte sämtliche Fensterläden geschlossen, selbst innerhalb der eigenen vier Wände fühlte sie sich vom Klatsch verfolgt. Das Radio, bei dem sie normalerweise nach dem Abendessen noch für eine Stunde im Esszimmer zusammensaßen, war aus. Jeder von ihnen ging anders mit seiner Niedergeschlagenheit um, die Atmosphäre war bedrückend, die Luft zum Schneiden.

Marisa wälzte sich hin und her. Sie tat kein Auge zu, während sie nach einer Möglichkeit für einen Neuanfang mit Kind suchte, ohne dass die Familie unter der Schande zu leiden hätte. Sie konnte weit wegziehen und sich dort eine Arbeit suchen, aber beim Gedanken, all ihre Lieben zurückzulassen, brach ihr das Herz. Außerdem wusste sie, dass sie zwar so weit fortgehen konnte, wie sie wollte: Die Schande eines unehelichen Kindes würde ihr überallhin folgen. Was habe ich nur getan? Was habe ich nur getan?, fragte sie sich immer wieder dermaßen wütend und verzweifelt, dass sie am liebsten ins Kissen gebissen hätte. Beim Gedanken an ihre glückliche Kindheit und Jugend, die nun für immer vorbei war, empfand sie starke Reue. Noch immer hatte sie die Rufe der Mutter im Ohr, die sie nach dem Plaudern, Jonglieren, Hüpfen und Seilspringen zum Essen rief. Das Abendessen im Kreis der Familie war sogar im Krieg beibehalten worden. Alles blieb so wie immer, nur sie veränderten sich. Emma und Marisa wuchsen heran, die Eltern alterten, was niemandem auffiel, bis Emma heiratete. Am ersten Abend hatte ihr verwaister Stuhl alle verstört. Die Mutter hielt den Blick gesenkt, während sich der Vater ein Glas mehr gönnte, um die Nostalgie und den Schmerz angesichts der viel zu schnell verstreichenden Zeit zu betäuben. Die nahm ihm das Liebste, was er hatte. Von da an begann Marisa, ebenfalls von einer eigenen Familie zu träumen, von gemütlichen gemeinsamen Abendessen, von fröhlichen Ausflügen aufs Land, von Ferien am Meer nach einem anstrengenden Jahr. Als diese nicht enden wollende Nacht im Morgengrauen endlich vorbei war, weinte sie, aber nicht länger aus Verzweiflung über das Scheitern dieses Traums, sondern aus kindlicher Trauer.

Am Sonntagmorgen, Marisa war endlich in einen unruhigen Halbschlaf gefallen, kam ihre Mutter mit einem Tablett, darauf Kekse und Milchkaffee, ins Zimmer. Sie stellte es auf den Nachttisch und setzte sich zu ihr ans Bett, ohne auch nur ein »Guten Morgen« zu murmeln. Sie trug noch ihren Morgenrock, war aber bereits sorgfältig frisiert, Verwahrlosung war ihr ein Gräuel. Sie war die Tochter von Hoteliers, die der Erste Weltkrieg ruiniert hatte, als sie gerade in der Pubertät war. Deshalb konnte sie nichts ertragen, was sie an das damalige Elend erinnerte. Um sie aufzuziehen, sagte Ettore immer, sie habe nur deshalb einen Feinkosthändler geheiratet, um sicherzugehen, nie mehr Hunger leiden zu müssen. Letizia hingegen versicherte ihrem Mann, wenn sie allein waren, immer wieder, dass sie ihn auch geheiratet hätte, wenn er ein Hungerleider gewesen wäre: Solange sie ihn habe, brauche sie nichts anderes mehr.

»Was hat dieser Ansaldo, was dir nicht taugt?«, bemerkte sie jetzt trocken, ohne Marisa anzusehen.

Marisa versuchte wach zu werden, während sie nach einer Antwort suchte. Ihr fiel so einiges ein, aber nichts davon klang überzeugend.

»Ist er etwa hässlich?«, stichelte Letizia. »Oder ungehobelt?«

Im Aufsetzen fuhr sich Marisa durchs zerzauste Haar und strich es aus dem blassen Gesicht mit den dunklen Augenringen. »Nein …« Sie zuckte kaum merklich mit den Schultern. »Ich weiß nicht … wer kennt den überhaupt?«

»Dein Vater sagt, er ist in Ordnung«, rief Letizia ihr wieder ins Gedächtnis.

»Ja«, gestand sie nach kurzem Zögern. »Er macht einen anständigen Eindruck.«

»Was ist es dann? Ist er zu klein? Zu dick? Hat er einen Buckel?«

»Quatsch!«, schnaubte Marisa genervt. »Er ist ganz normal, so wie viele andere auch. Eben nichts Besonderes.«

Letizia atmete tief ein und schaute sie endlich mit ernster Miene an, wenn auch nicht mehr so distanziert, so als wollte sie wieder eine Art Vertrautheit zwischen Mutter und Tochter herstellen. »Na, dann musst du dich eben arrangieren, Mari.«

Marisa stöhnte laut auf. »Ansaldo? Ja, glaubst du, das ist so einfach? Was soll ich denn machen? Zu ihm gehen und ihm sagen, dass ich ein gefallenes Mädchen bin, dass ich von einem anderen ein Kind erwarte und einen Ehemann brauche?«

»Du wirst einen Weg finden müssen.« Wieder dieser kalte Tonfall. »Du hast ja gehört, was dein Vater gesagt hat: Er verschlingt dich förmlich mit seinen Blicken. Und nach Malpighi dürftest du genügend Übung haben, oder?«

Marisa senkte beschämt den Kopf. Dass diese Worte von ihrer Mutter kamen, machte alles noch schlimmer. Sie hielt die Tränen zurück, weil sie wusste, dass sie das nicht erweichen, sondern nur noch mehr reizen würde. Außerdem hatte sie sich in diesen Dingen noch nie Verständnis von ihr erwartet: Sie war schon immer eine strenge Mutter gewesen. Andererseits konnte sie auf ihre Art durchaus liebevoll sein. Sie hatte sie jedoch auf eine Art erzogen, dass klar war: Der gute Name Balestrieri durfte durch nichts in den Schmutz gezogen werden. Sie hasste Klatsch und Tratsch. Das Drama um Emmas Verlobung hatte sie nur ertragen, weil Emanuele ein anständiger Kerl war, der sich nach ihren Vorgaben für die Liebe entschieden hatte. Und tatsächlich hatte niemand im Viertel es gewagt, ein Wort darüber zu verlieren. Dass er Jude war, spielte kaum eine Rolle. Emma stand ein Leben in Wohlstand bevor, da er den Großteil seines Vermögens vom Großvater väterlicherseits geerbt hatte, der in Amerika gestorben war.

»Hast du nie etwas falsch gemacht?«, murmelte Marisa, ohne sie anzuschauen.

Letizia schnaubte verbittert und glättete sorgfältig den Saum ihres Morgenmantels, der ihr übers Knie gerutscht war, um ihre Tochter dann seufzend anzusehen. »Offenbar schon«, erwiderte sie, bevor sie sich erhob und wortlos den Raum verließ.

 

Gleich am Montag, als das Brot von Camastra geliefert wurde, nahm Ettore Balestrieri Stelvio Ansaldo beiseite und bot ihm eine Vollzeitstelle im Laden an. Da dieser bereits wusste, in welch unangenehme Lage Ruggeros Rückkehr seine Arbeitgeberin gebracht hatte, willigte er voller Dankbarkeit ein und drückte ihm überglücklich die Hand. Er versprach, sein Bestes zu geben und sich ins Zeug zu legen, schwere Arbeit schrecke ihn nicht. Daraufhin klopfte ihm Ettore anerkennend auf die Schulter. Sie steckte in einer abgetragenen Jacke, die er über dem Backstubenkittel trug.

»Aber gewiss doch, gewiss«, murmelte er nicht ganz ohne Scham, denn nicht einmal die Liebe zu seiner Tochter war ein hinreichender Grund dafür, ihren guten Ruf auf Kosten dieses jungen Mannes zu retten.

Marisa hatte die Szene von ihrem Platz an der Kasse aus verlegen beobachtet. Sie gab vor, Kleingeld zu zählen, verlor aber immer wieder den Faden und begann von vorn. Erleichtert sah sie, dass Ansaldo mitnichten klein war – im Gegenteil. Vielleicht sogar eine Handbreit größer als ihr Vater, wie sie erleichtert bemerkte. Zugegeben, ein wenig unbeholfen, aber gutaussehend. Mit schönen, ausdrucksvollen Augen. Die Nase vielleicht ein wenig zu groß, aber in einem Gesicht wie dem seinen, hätte eine kleinere wenig männlich gewirkt. Auf einmal wurde ihr klar, dass sie jetzt nicht mehr vom Gran Caffè Malpighi träumte, sondern nach einem Mann suchte wie auf einem Viehmarkt. Ihre Augen füllten sich mit Tränen – nicht aus Enttäuschung, sondern weil sie sich für die Arroganz hasste, mit der sie den armen Kerl beurteilte.

Genau in diesem Moment drehte sich Stelvio zu ihr, wie um seine Begeisterung zeigen. Als er ihre feuchten Augen sah, verging ihm das Lachen.

»Geht es Ihnen immer noch nicht wieder gut, Signorina Marisa?« Er kam zur Kasse, hielt aber respektvoll Abstand.

»Doch, doch, ich habe nur einen kurzen Schwächeanfall«, wiegelte sie ab.

Stelvio sah sie besorgt an. »Sie sind ganz blass.« Er schaute zu Ettore hinüber, um sich zu vergewissern, dass er das auch sah.

Ettore nickte energisch. »Genau! Weil sie so wenig isst! Der Arzt sagt, sie braucht Vitamine, um wieder zu Kräften zu kommen. Diese Grippe …« Er machte Anstalten, seinen Platz hinter der Ladentheke einzunehmen, blieb dann aber auf halbem Weg stehen und lächelte wie über eine plötzliche Eingebung: »Hör mal, Stelvio, wieso begleitest du meine Tochter nicht auf einen schönen heißen Milchkaffee mit viel Zucker? Gleich hier in der Milchbar um die Ecke?« Er machte eine entsprechende Geste.

Marisa zuckte zusammen und riss die Augen auf.

Stelvio hob verlegen die Hände und wurde rot. »Aber … ich möchte niemandem zur Last fallen«, stotterte er.

Ettore trat forsch den Rückweg an, nahm seine Tochter am Arm, zog sie hinter der Kasse hervor und schob sie neben ihn. »Geh mit ihr was trinken und bestell dir auch was. Sag Berardo, er soll es anschreiben, du bist eingeladen!«, befahl er und schob die beiden vor die Tür. »Ich gebe inzwischen der Backstube Bescheid und sage, dass du die nächste Lieferung zehn Minuten später bringst, weil ich was verschusselt habe.«

Kaum standen sie draußen auf dem Bürgersteig, drehte sich Stelvio Ansaldo abrupt um. »Der Mantel! Signor Ettore! Soll das Mädel etwa erfrieren?« Instinktiv hatte er Marisa bereits den Arm um die Schultern gelegt, ganz behutsam, um sie vor dem kalten Januarwind zu schützen.

Ettore blieb einen Augenblick verdattert in der Tür stehen und sah sie beide an. Um dann schleunigst den Mantel seiner Tochter zu holen. Stelvio half ihr hinein, damit sie es gleich warm hatte.

Während die beiden Richtung Milchbar Berardo gingen, ließ Ettore sie nicht aus den Augen. Er lächelte.

Marisa wusste ganz genau, warum Berardos Frau sie so anstarrte, als sie mit Stelvio Ansaldo an einem der Tischchen saß.

Sie hatten zwei Milchkaffee bestellt, und er hatte darauf bestanden, dass sie noch eine Brioche mit Marmelade aß. Sie schwiegen verlegen, ein jeder starrte auf sein Glas. Marisa war froh, dass die Milchbar zu dieser Stunde noch leer war, weitere Blicke hätte sie nicht ertragen.

»Stört es Sie, dass Ihr Vater mich eingestellt hat?«, fragte er plötzlich.

»Wieso sollte mich das stören?«

»Keine Ahnung, vielleicht hätten Sie ja lieber, dass Signor Ettore Ihrem Verlobten die Stelle anbietet.«

Bei der Vorstellung, Malpighi könnte mit Schürze hinter der Ladentheke stehen und Schinken aufschneiden, musste Marisa kurz auflachen – ob aus Nervosität oder Belustigung war schwer zu sagen. Sie seufzte leise. »Ich habe keinen Verlobten. Nicht mehr.«

Stelvio schaute auf, und sie tat es ihm gleich. »Geht es Ihnen deshalb so schlecht?« Marisa merkte, dass er aus aufrichtiger Besorgnis fragte, ganz ohne jede Sensationsgier. »Unter anderem«, gestand sie.

»Das tut mir leid«, erwiderte er sofort mit fester, freundlicher Stimme.

»So was kommt vor.«

»Aber man hätte lieber, es wäre anders, oder?«

»Allerdings.« Sie nickte mit einem traurigen Lächeln und nippte an ihrem Milchkaffee, beide Hände um das Glas gelegt. Nachdem sie kaum an ihrem Brioche geknabbert hatte, zeigte sie auf den Teller. »Möchten Sie etwas davon?«

»Essen Sie, damit Sie wieder zu Kräften kommen!« Er lächelte.

Marisa fiel sein weißes, regelmäßiges Gebiss auf. »Wieso heißen Sie eigentlich Stelvio?«, fragte sie und merkte zu spät, dass ihr Tonfall in Bezug auf den ungewöhnlichen Namen nicht gerade freundlich war.

»Mein Vater war im Ersten Weltkrieg. 1918, bei einem Gefecht in den Bergen, hat ihn eine Höhle auf dem gleichnamigen Gebirgspass vor dem Erfrieren gerettet. Während er bibberte, schwor er der heiligen Mutter Gottes, seinen ersten Sohn Stelvio zu nennen, sollte er wieder lebend nach Hause kommen.« Er schwieg kurz, weil ihm immer noch die Stimme brach, wenn er von seinem Vater sprach. »Er hat sein Versprechen gehalten.«

Marisa legte den Kopf schräg. »Wie schön …«, murmelte sie aufrichtig gerührt.

»Tja, und dann wurde er in den Baracken unter dem Aquädukt vom Typhus dahingerafft«, sagte er und zuckte mit den Schultern.

»Das tut mir leid.« Spontan legte sie ihre Hand auf seine.

Stelvio lächelte dankbar, froh über die Nähe, obwohl sie sich kaum kannten.

»Aber jetzt muss ich wirklich los.« Marisa stand auf, um sich dem bohrenden Blick von Berardos Frau zu entziehen. »In Kürze machen wir auf.«

»Fühlen Sie sich ein wenig besser?«

Marisa überlegte, bevor sie antwortete. »Ja«, sagte sie aufrichtig und nickte.

Er bat sie, kurz zu warten, bis er bezahlt hätte, und begleitete sie dann noch zur Ladentür. Beide wünschten sich einen guten Tag, ohne noch etwas hinzuzufügen. Stelvio und Ettore verabschiedeten sich voneinander, indem sie kurz die Hand hoben.

 

Am nächsten Morgen fanden Marisa und ihr Vater einen durchgefrorenen Stelvio vor dem Laden vor: Er habe Angst gehabt, zu spät zu kommen, die Bushaltestelle sei nämlich recht weit von seiner Wohnung entfernt. Sie sperrten auf, und Ettore überreichte ihm feierlich einen alten, aber noch gut erhaltenen Kittel, den er einst getragen hatte, als er noch dreißig Kilo weniger wog, sowie eine Schürze. Um die Wäsche werde sich Marisa kümmern, die Schürze gelte es täglich zu wechseln, und zwar ohne Ausnahme: Morgens werde er stets eine saubere, gebügelte vorfinden. Stelvio sah Marisa entschuldigend an, weil er ihr jetzt zusätzliche Arbeit machen würde, um sich dann entsprechend umzuziehen.

Ettore wollte, dass er ihm den ganzen Vormittag folgte wie ein Schatten. Er begann, ihm die wichtigsten Grundlagen zu erklären, Augen, Nase und Tastsinn seien sein wichtigstes Arbeitswerkzeug. Er warnte ihn, dass das Zeit brauche und man in einem solchen Laden einfach Erfahrung benötige. Stelvio nickte wortlos. Er war gerührt, sor Ettore war nach dem Tod der Eltern der Erste, der ihn anleitete wie ein Vater. Bei den Priestern hatte er Schreinern und Obst- und Gemüseanbau gelernt. Weil er kräftig gebaut war, hatte er lange beim Ein- und Ausladen auf dem Großmarkt geholfen. Aber das hier im Laden der Balestrieris war etwas ganz anderes. Allein schon die Ordnung und Sauberkeit, der angenehme Duft nach frischen, erstklassigen Lebensmitteln, die Waren, die Signorina Marisa mit weiblichem Geschick und einem Blick für Farben im Schaufenster und in den Regalen arrangierte, die Dosen einheitlich ausgerichtet, die Preisschilder schön beschriftet. Und dann die nach Rosen duftende Signorina Marisa selbst, gleich rechts von ihm.

Als der Laden um zwölf zumachte, bestand Ettore darauf, dass Stelvio mit ihnen zu Mittag aß. Der lehnte verlegen ab, meinte, das sei doch nicht nötig, er könne auch woanders eine Kleinigkeit zu sich nehmen. Doch Ettore wollte nichts davon wissen. Er schickte Marisa, die Letizia Bescheid geben sollte, ein Gedeck mehr hinzustellen, und um Viertel nach eins saßen sie gemeinsam um den Esstisch der Balestrieris. Die Frauen stumm, den Blick auf den Teller gerichtet, Ettore fröhlich plaudernd. Er erzählte, wie ihn sein erster Chef, ein gewisser Peppe Carpi, im Alter von acht Jahren in seinem Feinkostladen in San Giovanni als Laufbursche eingestellt hatte, und wie er schon bald die Kundschaft bedient hatte, wobei er auf einem Podest hinter der Ladentheke stand, weil er noch so kein war. Er hatte fünfzehn Stunden am Tag gearbeitet, sich regelrecht krummgeschuftet und fast zweimal den Finger abgesäbelt. Aber schon mit achtzehn besaß er ein eigenes Geschäft, in dem die Kunden brav und geduldig Schlange standen, da sie nur bei ihm kaufen wollten. Stolz zeigte er den Zeigefinger seiner rechten Hand, der von dicken Narben übersät und sogar etwas krumm war: Sein Laden sei sein Ein und Alles, verkündete er stolz. Hätte es die beiden Weltkriege nicht gegeben, hätte er inzwischen zehn Läden. Im Ersten Weltkrieg sei er an der Front beinahe gestorben, weil er eine Kugel in den Rücken bekommen habe. Der Zweite Weltkrieg habe ihm dann fast alles genommen, was er sich in dreißig entbehrungsreichen Jahren zusammengespart hatte. Dennoch sei er nicht pleitegegangen, unumstößlich wie ein Fels. Stelvio sah ihn voller Bewunderung an, mit der für ihn typischen Schüchternheit lobte er Letizia für das köstliche Essen. Die murmelte ein Dankeschön, begleitet von einer Geste, die eher Gereiztheit statt Freude vermuten ließ.

Als zwei Tage später Ruggero mit Brot aus der Backstube Camastra kam, wirkte Stelvio Ansaldo bereits so, als wäre er in diesem Laden aufgewachsen. Er nahm die Körbe und leerte sie im hinteren Ladenbereich, beanstandete, dass mindestens ein halbes Kilo Ciriole fehlte, was Ruggero auf dem Lieferschein vermerken musste. Mit Ettores Anweisungen im Kopf entbeinte er selbständig einen Schinken, wie es sich gehörte. Und da tat Ettore Balestrieri etwas, was er in fünfundvierzig Jahren als Feinkosthändler noch nie getan hatte: Noch während der Laden geöffnet hatte, legte er die Schürze ab und gönnte sich einen Espresso bei Berardo. Stolzerfüllt sah Stelvio ihm nach, während gerade Signora Cavani für ihre Donnerstagseinkäufe hereinkam, weil an diesem Tag ihr Sohn zum Abendessen kam.