Engelgedrängel - Ella Wilhelm - E-Book

Engelgedrängel E-Book

Ella Wilhelm

4,8

Beschreibung

Drei Engel werden auf die Erde geschickt – widerwillig. Dort treffen sie auf ihre Schützlinge, diese reagieren – unwillig. Da beschließen die Engel, miteinander zu kooperieren – leider. Ein Lesevergnügen mit zwei Gedichten, viel Herz, sehr viel Witz, drei Engeln, sechs Singles, einer Detektei, einer Partnerschaftsvermittlungsagentur, einer Talkshow und - einem Kater.

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Für meine liebe Manolya, die mich lustiger als Mario Barth findet.

Wer auch immer das ist.

Inhaltsverzeichnis

Cibelle, Engel Die Folgen mit Bedeutung

... und Ulrike Die bedeutenden Folgen einer Überzeugung

Ulrike und Sieglinde Die Folgen schlagen zu

Ulrike, Sieglinde, Oma, Opa Und die Wahrheit über den Vater.

Doch das Leben dreht sich weiter

Das Leben dreht sich schneller

William, Engel

... und Bernhard Das Leben auf dem Lande

Am Anfang steht immer nur eine kleine Idee

Lothar, Engel (Gruppenname: von der Vogelweide)

... und Pierre-Alexander Reinbold Die Kunst der Verführung und der Täuschung

Manchmal kommt es anders ...

... als man denkt

Eine Erdenreise, die ist lustig Man trifft neue Engel und kann sie verabscheuen. Oder bewundern. Oder auch gar nichts.

Alex‘ Leben zum Zeitpunkt der Fährenankunft

Ulrikes Leben zum Zeitpunkt der Fährenankunft

Bernhards Leben zum Zeitpunkt der Fährenankunft

Die Ankunft auf der Erde, der Barbesuch und die Nacht Ausdrücklich sind Nichttänzer schlechten Tänzern immer vorzuziehen!

Der erste Morgen auf der Erde ist behaftet mit den Verfehlungen der vergangenen Nacht

Das erste Aufeinanderprallen: Ulrike und Cibelle

Die erste Begegnung: William und Bernhard

Wer gesucht werden muss, will oftmals nicht gefunden werden: Lothar und Pierre-Alexander

Der erste Arbeitstag Das zweite Zusammentreffen: William und Bernhard

Rasche Hilfe und Meinungsverschiedenheiten: Ulrike und Cibelle

Bernhard und William

Lothar ohne Alex

Der erste Feierabend, der erste Krach, die Problembewältigung und - einige Küsse und noch eine Problembewältigung

Neuer Tag, frisches Glück, frische Enttäuschung und - eine Verfolgungsjagd

Noch eine Enttäuschung, ein bedingter Kaufrausch, viele unnütze Fotos und - eine Kaffeetafel

Einsame Nacht, seltsame Nacht, himmlische Nacht

Der Tag der großen Gefühle oder - die Talkshow

Kleine Schwindeleien, Sekt pur und - eine Enttäuschung

Und weiter

Liebe ist eine Sache, mit der viel Schindluder getrieben wird. Außerdem bekommt Lothar keine Talkshow

Unausgereifte Pläne und wilde Rachegefühle

Aus einem missratenen Plan resultieren Folgen, aus denen neue Folgen resultieren können

Kleines Zwischenspiel

Alles drängt dem Showdown entgegen

Alles trifft sich im Restaurant Bella Italia! Ciao Bella! (Kinowerbung)

Epilog

Cibelle, Engel

Die Folgen mit Bedeutung

Vom Korridor her waberte der Geruch von frischem Kaffee in das Büro mit der dunklen Eichentäfelung herein.

Der Richter schnupperte freudig und rieb sich erwartungsfroh die Hände. Kaffee am Morgen vertreibt Müdigkeit und Sorgen, dachte er poetisch und lächelte in sich hinein. Gleich würde Gisela mit dem köstlichen Gebräu das Zimmer betreten, es eilfertig zu ihrem Chef tragen und vielleicht noch einen kleinen Keks auf die Untertasse platziert haben, selbstgebacken selbstverständlich, und dann ...

Ein Räuspern riss ihn aus seinen Gedanken. Vor ihm saß eine ebenso hinreißende wie gelangweilte Delinquentin und begann hingebungsvoll zu gähnen, die zierliche Hand vor den kleinen Rosenmund gefächert.

“Also, Cibelle”, knurrte der Richter und setzte ein strenges Gesicht auf. “Du weißt, warum ich dich zu sprechen wünsche?”

Seine Sekretärin balancierte vorsichtig eine Tasse Kaffee herein, nahm einen großen Schluck und setzte sich dann schmallippig hinter ihre Schreibmaschine. Dann biss sie in den Keks und wischte schließlich die Krümel mit einer schnellen Handbewegung von der Tischplatte.

„Keine Ahnung, lieber Herr Richter”, erwiderte Cibelle treuherzig und klimperte mit den Wimpern. Sie sah entzückend aus und sie wusste es.

Der Richter sah mit begehrlichem Blick zu der Kaffeetasse hin, dann fasste er sich: “Kannst du mir verraten, wo du vor zwei Nächten warst?”

“Ich war mit den Jungs aus.”

“Und weiter?”

“Ich habe ein, zwei ... fünf Gläser Wein getrunken und ein bisschen Karten gespielt.”

Der Richter machte sich schwungvoll eine Notiz und beugte dann seinen mächtigen Oberkörper über den Schreibtisch.

“Ihr habt also ein bisschen Karten gespielt?”

Cibelle nickte unschuldig und spielte am Saum ihres Gewandes.

“Cibelle, schau mir doch mal in die Augen!”

Die Engelin hob den Kopf und riss die kornblumenblauen Augen weit auf: “Ja?”

“Strip-Poker habt ihr gespielt!”, brüllte der Richter und schlug mit der Faust auf den Schreibtisch.

“Das ist gar nicht wahr”, verteidigte sie sich mit zartem Stimmchen.

„Wie schreibt man das?“, fragte Gisela und nahm einen Schluck Kaffee.

“Cibelle! Du schwindelst!”

„Strip mit einem oder zwei P?“, hakte Gisela nach und griff schon nach dem Tipp-Ex.

“Na gut, ich gebe es zu. Aber seit wann ist ein bisschen Poker verboten? Schon seit 1632 ist Glücksspiel erlaubt ...”

Der Richter nickte widerwillig. Zu seinem Missvergnügen war im Himmel fast alles erlaubt. Für irdische Verhältnisse wimmelte es nur so von Sündern und Ausschweifungen.

Es macht meine Arbeit manchmal so sinnlos, dachte er wehleidig, dann fasste er sich: “Strip-Poker ist seit 1994 verboten!“

„Das denken Sie sich doch nur aus.“

Da hatte sie Recht.

„Bist du Richter oder ich?“, bellte er verlegen zurück. „Es gibt noch immer moralische Verfehlungen, die ER nicht gerne sieht!“

“Woher soll man wissen, welche das sind?”

“So etwas weiß man!”

“Wir wollten doch nur ein wenig Spaß ...”

“Den kannst du auch anders haben! Wer hat eigentlich verloren?”

“Wann?”

“Beim Pokern! Wer hat verloren?”

“Ich”, gab Cibelle leise zu. „Jedes Mal. Vermaledeite gezinkte Karten. Beim Strip-Poker betrügen – das ist wahrlich verwerflich!“ Cibelle war ernsthaft empört und verschränkte die Arme vor der Brust. Gisela nickte zustimmend und bot der Engelin mitfühlend einen Kaffee an, den diese tapfer lächelnd ablehnte.

Der Richter benötigte einen Moment, um sich zu sammeln.

Dann sagte er: “Hör zu, Cibelle. Es ist nicht das erste Mal, dass du unmoralisch aufgefallen bist! Nein, widersprich mir nicht! Dein Leben ist voller gezinkter Karten! Nur, weil wir dich nicht immer gleich ansprechen, heißt das noch lange nicht, dass wir es nicht bemerken! Wir haben nachgedacht, wie deine Seele und vor allem dein Schamgefühl geläutert werden könnten und ...”.Der Richter machte eine effektvolle Pause und gab Cibelle die Möglichkeit, ihn hoffnungsvoll anzuschauen. “Wir werden dich auf die Erde schicken!” Er lehnte sich zurück und sah Cibelle fröhlich an.

“Wie bitte?” Sie war erstaunt. “Was soll ich denn auf der Erde?”

“Du wirst eine Weile als Schutzengel arbeiten!”

“Es gibt keine Schutzengel mehr”, gab Cibelle charmant zurück.

“Doch! Wenn wir Engel zur Erde schicken und sagen, sie sollen als Schutzengel arbeiten! Es ist lange nicht mehr vorgekommen, dass Engel nach unten geschickt worden sind, aber ER hätte es ganz gern, so aus Publicity-Gründen und Brauchtumspflege.“

„Aus Publicity-Gründen und Brauchtumspflege?“

Der Richter wurde verlegen: „Nun, das war jetzt mal so ins Unreine gesprochen und eher eine interne Information.“

„Ich bin kein Reklamemädchen, mein Lieber. Nur weil ich früher, in den Goldenen Zwanzigern, als Kabaretttänzerin meinen Lebensunterhalt verdient habe, werde ich mich nicht als Showgirl, Nummerngirl oder Revuehäschen verdingen.

Oder gar als Heimatmuseum. Auch nicht für IHN!“

Der Richter schlug energisch auf den Aktendeckel und sagte dann langsam: „Es kann auch aus Gründen der Läuterung, der Heilung oder zur Förderung der Psyche eines Engels passieren. Paragraf 189, Absatz 3. Bei dir, liebe Cibelle, geschieht es zur Läuterung, Fräulein Beim-Strip-Poker-alle -Sachen-Verliererin!”

Er lächelte amüsiert und blätterte in ihrer Akte. Diesen kurzen Augenblick seiner Unaufmerksamkeit nutzte Cibelle, um sein Telefon zu ergreifen und nach ihm zu werfen. Es zersprang scheppernd an der Wand über seinem Kopf. Fassungslos starrte der Richter Cibelle an, die, mit beiden Händen fest auf den Schreibtisch gestützt, ihn zornig anfunkelte.

“Ich werde nicht auf die Erde gehen”, zischte sie und wischte mit ihrem Unterarm die Schreibgarnitur herunter.

“Cibelle”, rief der Richter erschrocken.

“Nichts da! Ich werde nicht als Schutzengel für irgendeinen Kaputten auf der Erde arbeiten. Ich nicht!”

Der Richter seufzte und blätterte in ihrer Akte. “Du wirst aber müssen! Ansonsten kommt der Fall vor eine höhere Gerichtsbarkeit und die könnten sich durchaus härtere Strafen einfallen lassen!”

“Was könnte es schon Schlimmeres geben?”, höhnte sie wütend.

“Beispielsweise zwei Jahrhunderte keinen Champagnerausschank für dich!”

Die Engelin schrak zusammen. “Das kann ER nicht machen”, rief sie verzweifelt.

Der Richter fand zu seiner alten Form zurück. “ER kann alles, Cibelle”, sicherte er ihr düster zu. Aufgelöst in Selbstmitleid sank sie auf ihren Stuhl und begann, kläglich zu weinen.

Der Richter sah mit feuchten Augen dem Häufchen Unglück beim Naseschnauben zu und sagte dann mitfühlend: “Ich weiß, es ist hart. Besonders, wenn man eine derartig selbstsüchtige Frau ist, wie du es bist ...”

Cibelle nickte heftig mit dem Kopf und murmelte verweint: “Eben!”

“Normalerweise bist du für eine solche Arbeit, die Einfühlungsvermögen und Taktgefühl verlangt, in keiner Weise geeignet ...”

“Nicht wahr?”, barmte Cibelle. “Wie kann man nur so grausam sein und mich zu so etwas zwingen!”

“Cibelle”, sagte der Richter besänftigend und näherte sich ihr, wie man sich einem Minenfeld nähert, “denk‘ doch mal an die schönen Seiten dieser Aufgaben!”

“Ich kann keine erkennen!”

“Denk‘ an den Stolz und die Freude, die man fühlt, wenn man jemandem geholfen hat.”

Das Schluchzen verstärkte sich wieder.

“Oder denk‘ an das Gefühl, das man empfindet, wenn man als Stärkere einen Schwächeren beschützt.”

Die Tränen rannen jetzt unaufhaltsam.

“Oder denk‘ an Chanel”, sagte der Richter verzweifelt. „Leg‘ die Flügel an und denk‘ an Chanel!“

Die Engelin hielt mit dem Gejammer inne und sah auf: “An was soll ich denken?”

“Chanel, Dior, die große Welt der Mode! Du kannst einkaufen gehen, du kannst dich schminken, du kannst ...”

“Ich darf einkaufen gehen? Kleider und Make-up?”, fragte Cibelle interessiert und stoppte den Tränenfluss.

“Ja!”, verkündete der Richter und strahlte sie an. “Du kannst alles machen, was du willst!”

Cibelle saugte an ihrer Unterlippe und dachte nach. “Ich könnte auch zum Friseur gehen”, überlegte sie laut. “Natürlich!”, stimmte er ihr freudig zu.

“Ich habe aber doch gar kein Geld”, stellte Cibelle fest und neue Tränen begannen sich in ihren Augenwinkeln zu sammeln.

“Der Himmel übernimmt alle Kosten”, erklärte der Richter hastig.

“Und wie soll das gehen?”, fragte Cibelle schniefend. “Ich kann doch nicht einfach bei Chanel reingehen und sagen: Hallo, ich nehme das und das Kleid und jenes und die Handtasche und die Ohrringe und alles was da drüben noch hängt und bitte - setzen Sie es dem Himmel auf die Rechnung!”

“Du bekommst selbstverständlich eine Kreditkarte und über die wird alles abgerechnet.”

Cibelles Gesicht begann zu strahlen: “Das ist ja himmlisch! Wann ist es so weit?”

“Heute Abend um acht Uhr geht deine Fähre. Sei bitte pünktlich an der Anlegestelle!”

“Ja, natürlich. Wann bekomme ich die Karte?”

“Auf der Fähre. Du musst auch nichts weiter mitnehmen, du bekommst alles bei der Anreise.” “Fein! Dann bis heute Abend!” Sie erhob sich und eilte hinaus. “Cibelle!”

“Ja?”

“Aber vergiss nicht, du bist auf der Erde, um einen Menschen glücklich zu machen, und nicht nur, um einkaufen zu gehen!”

Ein breites Lächeln zog über ihr Antlitz: “Natürlich, Herr Richter!” Dann huschte sie endgültig davon. Der Richter blickte ihr lächelnd hinterher, dann wandte er sich an seine Sekretärin: “Wissen Sie, Gisela, manchmal ist mein Beruf sehr schwer und ich zweifle an mir und meinen Fähigkeiten. Dann liege ich nächtelang wach und grüble.

Aber manchmal gelingt es mir, den Engeln zu helfen und ihnen ihre Strafe als verdient verständlich zu machen. Das sind die Momente, in denen ich weiß, wofür ich lebe. Früher, als ich auf der Erde diesem metallverarbeitenden Betrieb vorstand und all seine Geschicke dirigierte, da ...”

“Möchten Sie auch eine Tasse Kaffee?”, unterbrach ihn die Sekretärin rasch.

... und Ulrike

Die bedeutenden Folgen einer Überzeugung

Ihren einzigen großen Auftritt hatte Ulrike Zimmermann auf der Entbindungsstation des städtischen Krankenhauses. Die diensthabenden Säuglingsschwestern scharrten sich um das Bettchen und schnurrten ihr zum Wohlgefallen. Sie war körperlich sehr klein geraten, nicht besorgniserregend nach ärztlicher Ansicht, aber äußerst anrührend für die Schwesternschülerinnen.

Ulrikes Mutter lag einen Gang entfernt, froh, einer Tochter das Leben geschenkt zu haben und damit in ihrer Frauengruppe einen Achtungserfolg einheimsen zu können.

Besuchen kam sie niemand. Ihre “verspießerte und in bürgerlicher Kleinkariertheit erstickende” Familie hatte ihr den Rücken zugedreht. Ulrikes Vater (der biologische, wie Sieglinde Zimmermann in künftigen Jahren immer wieder betonen wird) ahnte nichts von seiner Tochter, denn er war nur Mittel zum Zweck gewesen, ein überdurchschnittlich guter Jurastudent, lange vor dem Akt beobachtet und auserwählt worden.

Die maßgebliche Verführung auf der Damentoilette einer studentischen Kneipe war schnell gemeistert, der junge Mann, bis zum Stehkragen voller schalem Bier, gab sein Bestes. Nach Erledigung des unromantischen Unterfangens ließ sie ihn einfach beiseite fallen, er grunzte dankbar und schlief sofort ein. Man fand ihn erst am nächsten Morgen, kurz vor Schließung der Lokalität, mit offener Hose und müde herausbaumelndem Geschlecht. Sein Sperma aber spazierte bereits in einer befruchteten Eizelle über den Campus und in die Vorlesungsräume für angewandte Pädagogik.

Gemächlich wuchs die Eizelle zum Fötus heran und streckte sich nach und nach weitflächiger aus. Sieglinde Zimmermann trauerte ein wenig um die verbrannten BHs, die sie, in Ermangelung eigener, aus der Kommode ihrer Mutter entwendet hatte, denn jetzt wuchsen ihr die Brüste, die sie sich in ihrer Pubertät gewünscht hatte. Wenigstens brachte die Mode weit schwingende Blusen mit sich, mit denen der Babybauch gut zu kaschieren war, denn es steckte noch ein bisschen bürgerliche Eitelkeit in Sieglinde. Und dass die Haare durch die Schwangerschaft weich und glänzend wurden, war ein wirklicher Vorteil in einer Zeit der lang und offen getragenen Haarpracht. Sieglindes Freundinnen waren über die Schwangerschaft begeistert, ihre Eltern nicht.

“Bist du verrückt, dir ein Balg andrehen zu lassen?”, hatte ihr Vater gebrüllt.

“Ach Gott, Sigilein, du bist doch selber noch fast ein Kind”, barmte ihre Mutter.

“Ich bin 28 Jahre alt, Bärbel”, wies Sieglinde sie zurecht. Die Mutter, die noch immer dem ‚Mutti‘ nachtrauerte, drückte sich ein Taschentuch auf die feucht gewordenen Augen.

“Und ich habe es mir nicht andrehen lassen, Albert”, wandte sich Sieglinde ihrem Vater zu.

“Was heißt hier: Albert? Ich bin immer noch dein Vater”, schrie er auf.

“Also gut - Vater”, sie sagte es mit einem ironischen Unterton, “ich habe mir mein Kind nicht andrehen lassen, wie du es so widerlich umschreibst, ich wollte es ganz bewusst!”

“Das wird ja immer besser”, die väterliche Halsschlagader pochte überdeutlich, “du willst also sagen, dass du das wolltest?”

“Ja, Vater, ich wollte dieses Kind. Ich wollte endlich etwas schaffen, was von Bestand ist und was für mich echte Substanz bedeutet. Ich habe dieses ganze Lernen und all diese Prüfungen so satt! Für was soll ich denn lernen, wenn nicht dafür, einen Menschen aufzuziehen und ihm die Grundlagen für ein zufriedenes Leben beizubringen?”

“Und du kennst die Grundlagen, ja?”

“Ja! Frieden, Liebe und Toleranz für die Menschen und ihre unterschiedlichen Lebensauffassungen!”

“Und an die finanzielle Grundlage hast du natürlich auch gedacht?”

“Natürlich! Ich werde das Kind mit meiner monatlichen Unterstützung finanzieren!”

“Die ich dir hiermit streiche!”

“Dann werde ich dich darauf verklagen!”

“Das würdest du nicht tun!”

“Das würde ich tun! Und ich würde es sogar publik machen, dass ein alter Geldsack wie du seiner Tochter die Lebensgrundlage entreißt, weil sie seinen Enkel geboren hat!”

“Obwohl sie schon 28 ist, nichts gelernt hat und den Enkel nur von der Stütze ihrer Eltern ernähren kann!”

“In Afrika gibt es Frauen, die bringen ihre Kinder schon mit 15 zur Welt!”

“Wir sind hier aber nicht in Afrika!”

“Ja, leider! Die Welt wäre vielleicht um einiges besser, wenn wir ohne all dem Konsum und dem Trallala des Geldverdienens leben könnten!”

“Und irgendwann würden wir alle vor Hunger sterben, weil es kein Land mehr gäbe, das für uns spenden würde!”

“Hätten Männer wie du nicht in Afrika ihre Kolonien errichtet, würden die Afrikaner nicht hungern!”

“Vielleicht sollten wir über das Kind reden”, warf die Mutter ein, verängstigt auf ihren Mann und ihre Tochter blickend, die sich wie Kampfhähne gegenüberstanden.

Der Vater brummelte, trat an das Fenster und blickte hinaus.

Seine Frau wollte schon aufatmen, als er die Frage stellte: “Nun gut, wann willst du uns den Vater des Kindes vorstellen?”

Die Mutter wurde enttäuscht.

“Gar nicht”, antwortete ihre Tochter ruhig. “Und wieso nicht? Fürchtet sich der Kerl vor dem Mann, dessen Tochter er entehrt hat?”

“Nein, das denke ich nicht!”

“Oder wagt er es nicht, sich einzugestehen, dass er vorläufig nicht in der Lage sein wird, die Mutter seines Kindes finanziell zu unterstützen und für das Kind aufzukommen?”, lachte der Vater grimmig.

”So wie ich das sehe, wird er niemals für Mutter und Kind aufkommen!”

“Dieser Sauhund”, brüllte der Vater, “erst sich vergehen und dann nicht für den Schaden aufkommen wollen!”

“Albert!”, rief die Mutter entsetzt.

“Sehr einfühlsam, Vater”, meinte Sieglinde kühl. Der Mann kratzte sich verlegen am Hinterkopf: “Tut mir leid, Sigi, ich war nur verärgert ...”

“Du brauchst dich nicht entschuldigen, Vater! Abgesehen davon weiß der Vater nichts von seinem Glück!”

“Ach sooo! Na, dann musst du es ihm aber bald mal sagen!”

“Das habe ich nicht vor! Ich kenne diesen Typen doch kaum!”

“Das ist unmöglich, Sigi! Du bist von ihm schwanger, und du bist ja wohl nicht die Jungfrau Maria, die sich mit einer unbefleckten Empfängnis herausreden könnte ...”

“Albert, jetzt reicht es aber wirklich”, rief die Mutter streng.

“Sieglinde, du musst verzeihen, ich weiß wirklich nicht, was heute in deinen Vater gefahren ist! Jungfrau Maria, so was!”

“Das tangiert mich nicht, Bärbel”, wurde sie von ihrer Tochter beruhigt.

“Außerdem glauben die jungen Leute von heute nicht mehr an Christus, sondern an diesen Backwaren ...”

“Bhagwan”, verbesserte Sieglinde nachsichtig. “Na, eben an den! Aber was wichtiger ist, du wolltest mir die Sache mit dem Vater des Kindes erklären und warum du ihn nicht kennst.”

“Ich kenne ihn schon, aber nur vom Sehen. Er ist Jurastudent, ein ziemlich guter sogar”, der Vater lächelte erfreut, “aber ich habe nur einmal mit ihm geschlafen und da war er besoffen und, offen gestanden, habe ich keine Ahnung, ob er das überhaupt noch weiß!” Sie verstummte und zuckte mit den Achseln.

“Moment, Moment! Du hast mit ihm geschlafen und er weiß es nicht?”

“Nun, wie gesagt, er war ziemlich abgefüllt.”

“Aber morgens, also, als er gegangen ist, da war er doch nüchtern”, flüsterte die Mutter beschwörend.

“Was heißt morgens? Und wieso gegangen? Ich habe ihn ... also, es ist in einer Kneipe passiert und ich bin danach gleich gegangen.”

“In einer Kneipe? Ich habe mich wohl verhört! Ich weiß ja, dass deine Generation sehr freizügig ist und dass ihr alles miteinander teilt und euch gegenseitig zuschaut und alles so‘n Schweinkram, aber in einer Kneipe? Willst du deine Eltern völlig ruinieren?”

“Nein, Vater! Es war ja auch nicht direkt in der Kneipe, wir sind dazu aufs Klo gegangen, auf die Damentoilette!” Ihre Eltern starrten sie entgeistert an. “Ja, ich weiß. Das ist hart für euch! Aber ich habe genug von dieser verlogenen Prüderie und dem ganzen scheiß bourgeoisen Kleingeistertum! Ich bin dafür, dass wir endlich die Wahrheit sagen und uns nicht länger hinter geziertem Gequatsche verstecken! Lasst uns doch einmal alles das sagen, was wir uns sonst nicht zu sagen trauen! Freiheit für das freie Wort!”

Die Starre der Eltern zerbröckelte und der Vater öffnete den Mund. “Also gut”, sagte er tonlos. “Lass‘ uns Klartext reden!”

Sieglinde schaute ihn ganz ausdrucksstark an: “Sehr gut, Albert!”

“Verschwinde aus meinem Haus und lass‘ dich hier nie wieder blicken!”

Ulrike und Sieglinde

Die Folgen schlagen zu

Als ersten schmerzhaften Moment ihrer Abnabelung empfand Sieglinde das Ausbleiben der kleinen Geldgeschenke, die sie nach jedem Wochenendbesuch von ihrer Mutter zugesteckt bekam. Ihr Bauch wurde größer, die Auswahl an passender Kleidung im Schrank schmälerte sich rasant. Ihr Lieblings-T-Shirt mit dem Che-Guevara-Konterfei begann unter den Armen zu kneifen und die schönen Gesichtszüge des Revolutionärs wurden Woche für Woche plastischer und unansehnlicher. Doch es war das einzige Oberteil, das zum Schluss noch passte.

Eines Tages wurde sie an der Universität von einem langen, pickeligen Studenten beiseite genommen und gefragt, ob sie der Sache schaden wolle. Dabei wies er auf ihren Bauch und Che Guevara. Sieglinde verstand und ging.

Beim Verlassen des Instituts sah sie den biologischen Vater ihres Kindes auf dem Gang lachen und mit seinen Kumpels herumalbern. Sie ging ganz dicht an ihnen vorbei und grüßte.

Keiner grüßte zurück, sie starrten ihr nur verwundert hinterher.

Und für so einen trage ich das Kind aus, dachte sie mit dem Aufwallen eines unemanzipierten Hormonschubs.

Der Universität blieb sie ab diesem Tag fern, doch zur Toilette baute Sieglinde eine starke Bindung auf, sie erbrach sich morgens, mittags und abends.

Und sie fühlte sich sehr allein, denn es war niemand da, der ihre Launenhaftigkeit freudig ertrug, niemand, mit dem sie gemeinsam die ersten Strampelbewegungen des Kindes ertasten konnte und niemand, der ihr den Einkauf abnahm und die Flaschen schleppte.

Ihre Freunde hatten sich recht bald zurückgezogen und sangen jetzt ohne sie auf dem Campus für Frieden und Liebe.

Nachts klammerte sie sich an ihr Kuscheltier und dachte über einen geheimen Anruf bei ihrer Mutter nach.

Bald stellte sie fest, dass die Miete für ihr entzückendes Ein-Zimmer-Appartement viel zu hoch war.

Ihr Vermieter, von ihr darauf aufmerksam gemacht, konnte das gar nicht finden. Als sie um eine Mietminderung bat, zeigte er ihr stumm den unterschriebenen Mietvertrag. Er bewies aber Großmut, indem er sie ohne Rücksicht auf die Kündigungsfrist zum nächsten Ersten ausziehen ließ. Eine Güte, hervorgerufen dadurch, dass Sieglinde etwas von `Mutterschutz´ gemurmelt und ihm in ihrer phantasievollen Erzählweise ausgemalt hatte, was eine kleine, spontane Studentendemonstration (Farbbeutel inbegriffen) in dieser Straße seinem Haus antun könnte.

Ihren neuen Unterschlupf fand Sieglinde in einer Wohngemeinschaft, deren Adresse sie vom Schwarzen Brett rupfte.

Sie wurde als Schwangere allen anderen Bewerbern vorgezogen. Die Frauen der Wohngemeinschaft outeten sich bald als Speerspitze einer alternativen Frauengruppe.

“Und wieso alternativ?”, erkundigte sich Sieglinde bei Doris, mit der sie in der Gemeinschaftsküche saß und Tee schlürfte.

“Na, weil wir die Sache mit dem Frau-Sein nicht so streng sehen! Wir sagen, dass es total in Ordnung ist, dass Frauen gebärfähig sind und das auch nutzen. Wir glauben, dass eine Frau nicht unbedingt im Berufsleben ihr Heil suchen muss, sondern auch durch das Gebären von Kindern etwas in dieser Welt verändern kann, einfach, indem sie die Kinder zu einer gleichberechtigten Denkweise hinleiten und ...” “Du, das sehe ich ganz genauso”, unterbrach sie Sieglinde aufgeregt und strich sich über den Bauch. “Kinder sind unsere Zukunft! Auch für den Frieden und so!”

“Und genauso sehen wir das auch. Frauen können nun einmal Kinder kriegen und sollten diese Chance wirklich nutzen! Besonders, wenn die Möglichkeit besteht, die Kinder ohne Vater aufzuziehen!”

“Ich wollte den Vater meines Kindes gar nicht erst kennenlernen“, prahlte Sieglinde.

“Und das ist genau die richtig Einstellung, Sigi! Wozu einen Kerl mitschleppen, wenn man sich auf Frauen verlassen kann!”

“Und es ist ein unheimlich intensives Gefühl, schwanger zu sein”, schwärmte Sieglinde. “Man ist so vereint mit der Natur und man findet zu sich und all diese Sachen. Es ist wirklich inspirierend!”

“Ja, ich weiß ...”

“Ach, du hast auch Kinder?”

“Nein, aber als Frau kann man sich da unheimlich gut hineinversetzen. Es ist etwas vollkommen Elementares und trotzdem so faszinierend!”

“Da hast du Recht. Wenn man schwanger ist, weiß man erst, was es heißt, Frau und Mensch zu sein.”

“Obwohl man seine Erfüllung auch in anderen Dingen finden kann! Ich mache zum Beispiel in diesem Workshop mit, wo wir versuchen, durch Tanzen unser lyrisches Ich zu finden!”

“Das hört sich ja total toll an. Aber für mich als Schwangere ist das wohl nichts, oder?”

“Doch! Du als schwangere Frau stehst doch deinem lyrischen Ich viel näher, du bist doch viel dichter an deinen natürlichen Wurzeln und damit dichter an dir selbst!”

“Meinst du?”

“Aber natürlich. Komm‘ doch einfach mal mit!”

“Aber ich bin jetzt im 9. Monat und ich weiß nicht, ob es so gut für mein Baby ist.”

“Du gehst doch zur Schwangerschaftsgymnastik! Und stärker bewegen wir uns im Workshop auch nicht!”

“Hm.”

“Fein! Glaub‘ mir, du wirst dich danach viel verstandener fühlen!”

“Was zieht man denn da so an?”

“Zieh einfach was aus dem Kleiderschrank! Wir sind da ganz unter uns, wir brauchen uns nicht für irgendwelche Kerle zu kostümieren!”

Sieglinde dachte an Che und dass er nach der letzten Wäsche erfreulicherweise zu einer Übergroße geworden war. Sie lächelte erleichtert, Göttin sei Dank, für diese billigen Textilien.

Ihre Erleichterung schwand sofort, als sie am Donnerstag den Umkleideraum betrat.

“Hallo”, rief sie zaghaft. “Ich bin die Sigi!“

Die Frauen erhoben ihre Köpfe und betrachteten sie interessiert. “Du, die Schwangerschaftsgymnastik ist zwei Häuser weiter”, sagte eine hilfsbereit.

“Das weiß ich! Ich wollte zu dem Workshop, wo ich tänzerisch mein lyrisches Ich finden kann! Ich bin mit der Doris befreundet, übrigens”, setzte sie erklärend hinzu.

“Glaubst du, dass es gut für den Embryo ist?”, fragte eine der Frauen streng und kämmte ihre Haare straff zu einem Dutt.

“Ich gehe ja auch zur Schwangerschaftsgymnastik”, winkte Sieglinde ab.

“Ja, aber was wir hier machen, ist eine Suche auf psychologischer Ebene, wir finden uns und unser lyrisches Ich. Du solltest die Sache nicht unterschätzen! Wer weiß, welche Gefühle freigesetzt werden und ob dein Körper mit dieser massiv auf ihn einströmenden Belastung überhaupt fertig wird?!”

“Ich kann ja aufhören, wenn ich merke, dass es mich zu sehr belastet!”

“Wie du willst, es ist deine Entscheidung! Ich würde es an deiner Stelle nicht tun, aber wenn du meinst ...” Sieglinde zog sich um, während die Frau weitersprach: “Und bitte jammere nachher nicht rum und gib‘ bitte niemandem die Schuld, wenn mit dem Baby etwas nicht stimmt!“

Die Frauen, alle groß und schlank, eilten wie eine Schar Gazellen an ihr vorbei, Doris war nicht unter ihnen.

Sieglinde streifte sich hastig ihre Schlappen über und folgte ihnen schwerfällig.

Die Suchenden hatten in der Turnhalle einen Kreis gebildet, in den sie sich hineinzuschieben versuchte. Bei näherer Beobachtung erkannte sie, wie deplatziert ihr Aussehen in dieser Runde war. Die Frauen trugen alle enge Anzüge, die ihren schmalen Taillen und den kleinen, festen Brüsten die richtige Haltung gaben. An den Beinen waren keine Krampfadern zu sehen und ihre Haare waren streng frisiert.

Sieglinde hoffte, dass niemand bemerkte, wie sehr sie mit ihrem ausgeleierten Shirt, den Trainingshosen und den lässig gebündelten Haaren aus der Masse hervorstach, ein bunter Mehlsack unter stolzen Schwänen. Eine runzlige kleine Frau, deren Körper in weite, wallende Gewänder gehüllt war, betrat den Raum und begrüßte alle in einem singenden Tonfall.

“Mein Name ist Isodora Silbrig und ich begrüße euch!” Alle klatschten.

“Meine Mädchen”, rief sie dann tadelnd, “wie oft habe ich euch gesagt, dass wir hier keinen Jahrmarkt der Eitelkeiten veranstalten, sondern uns nur gut fühlen wollen. In euren knappen Anzügen halte ich das für gänzlich ausgeschlossen, weil sicher die Hälfte von euch den Bauch einzieht! Und das ist der springende Punkt! Wie wollt ihr so ein Gefühl erzeugen, das dem Bauch entsprießt? Seht diese junge Frau und nehmt euch ein Beispiel!” Mit diesen Worten näherte sie sich Sieglinde. “Sie hat sich freigemacht vom Kleidungszwang, sie lässt ihren Bauch frei ...”

“Sie ist auch schwanger”, kam es missgünstig aus der Menge.

“Und sie ist neu bei uns”, freute sich die Leiterin. “Ich weiß nicht, ob es so gut ist, wenn ich hier mitmache”, murmelte Sieglinde unsicher. “Vielleicht schadet es dem Baby ...”

“Aber nein! Das Kind in dir wird dir helfen, dich zu finden und dein wahres Ich zu erkennen, glaube mir!” Sie klatschte in die Hände und rief: “Und jetzt legen wir uns alle auf den Bauch! Außer unsere zukünftige Mama, sie darf sich hinsetzen!”

Der Kreis löste sich auf, und Sieglinde versuchte, sich so elegant wie möglich niederzulassen.

“Heute habe ich einen besonders lyrischen Leckerbissen für euch: Die Kröte von Gertrud Kolmar! Ich werde euch das Gedicht zitieren!” Sie sprach es mit innerer Gefasstheit und lautmalerischer Betonung. Dann sagte sie: “Ich denke, ich muss den Inhalt des Gedichtes nicht für euch interpretieren, das versteht ihr von selbst. Aber ich möchte, dass ihr die letzten zwei Verse im Chor sprecht: Ich bin die Kröte und trage den Edelstein.”

Die Frauen sprachen es nach.

“Lauter”, rief die Leiterin.

Die Frauen riefen es.

“Und jetzt schreit es heraus! Schreit es den Männern dieser Welt ins Gesicht!”

“Ich bin die Kröte und trage den Edelstein”, brüllten die Frauen, doch Sieglinde war sich sicher, dass es keine von ihnen so stark spürte, wie sie selbst es im Augenblick tat.

“Fein, meine Mädchen”, schmunzelte die Leiterin, “und jetzt klopft mit euren Händen den Takt auf den Boden. Ich-bindie-Krö-te-und-tra-ge-den-E-del-stein!”

Die Frauen versanken in ihr Getrommel und Gemurmel, während Sieglinde ein schmerzhaftes Ziehen im Unterleib bemerkte. Es wurde heftiger und sie meldete sich zaghaft. Doch in all der Rhythmik und Ekstase hatte niemand das Taktgefühl, sie zu bemerken. Sie erhob sich und watschelte zum Ausgang.

Die Leiterin erwachte: “Was ist mit dir? Wo willst du hin?”

“Ich fürchte, das Baby kommt gleich”, rief Sieglinde panisch.

“Wie schön”, freute sich die Leiterin und versank in angenehme Schwingungen.

“Kann mich jemand zum Krankenhaus fahren? Bitte!!!”

Isadora schreckte erneut auf und erwiderte ungnädig: “Ja, natürlich! Zieh dir schnell was über, wir treffen uns draußen!”

Die beiden eilten aus dem Raum, während die Frauen auf dem Boden lagen und ihnen nachsahen. “Ich habe ja gleich gesagt, dass es nicht gut für das Baby ist”, bemerkte die eine kühl. “Außerdem ist es wirklich unnötig, sich mit seiner Schwangerschaft derartig aufzuspielen!”

Fünf Stunden später war das Baby da, ein süßes, kleines Mädchen, wie die Leiterin des Workshops lauthals bekundete. Drei Tage nach der Geburt verließ Sieglinde mit ihrer Tochter das Krankenhaus und kehrte in die WG zurück.

Es war ein großer Augenblick für die Frauen, als die Vertreterin einer neuen und zukunftsverändernden Generation ihren Einzug hielt. Mit stoischer Ruhe wurde das nächtliche Geschrei und der mit benutzten Windeln überfüllten Mülleimer ertragen, der kleinen Frau wurden sämtliche Wünsche von den Augen abgelesen und erfüllt.

Als neutraler Beobachter hätte man den Eindruck gewinnen können, dass hier nicht eine streitbare Feministin, sondern eine verwöhnte Prinzessin herangezogen wurde.

Für so viel Aufopferung forderten die Frauen aber ein Mitbestimmungsrecht bei der Namensgebung. Rosa und Alice standen ganz oben auf der Wunschliste, aber der Vorname einer bekannten Journalistin machte schließlich das Rennen.

Sieglinde warf ihr Studium gänzlich hin und suchte sich einen Halbtagsjob in einem der neukonzipierten Kinderläden. Ulrike durfte sie mit zur Arbeit nehmen.

Das Kind war lustig und aufgeweckt, lächelte jeden an und tanzte drollig, sobald aus dem Radio Musik erscholl. Je hartnäckiger die Frauen draußen um ihre Rechte kämpften, umso weicher wurden sie, wenn es um Ulrikes Erziehung ging.

Erfreulicherweise kam die antiautoritäre Erziehung immer mehr in Mode und entschuldigte jede Inkonsequenz.

Leider konnte man Ulrike nicht ewig vorgaukeln, dass die Art Familie, in der sie lebte, die übliche war. Und so geschah es, dass eines Tages, als die Frauenwohngemeinschaft gemütlich in ihrer Gemeinschaftsküche saß und Tee trank, Ulrike hereingesprungen kam und ganz höflich fragte: “Wo ist denn mein Papa?”

Die Frauen schraken zusammen.

“Wie kommst du darauf?”, fragte Doris.

Die Kleine schaute sie an und stemmte die Hände in die Hüften: “Der Andy hat gesagt, jeder hat einen Papa. Ich habe gesagt, ich habe keinen Papa. Er hat gesagt, jeder hat einen Papa, seine Mama hat das auch gesagt. Der Andy hat sogar drei Papas.”

“Der Andy ist das Kind von der Michaela”, flüsterte Heidrun den anderen zu. “Die hat mal was mit dem Rainer gehabt und kurz in dieser Kommune gelebt!”

“Und wieso hat das Kind drei Väter?”, erkundigte sich Franziska leise.

“Na, die wohnt halt mit diesen drei Studenten zusammen, die irgendwas Soziales studieren!” “Wo ist denn jetzt mein Papa?”, begehrte Ulrike Auskunft.

“Rieke!”, rief Sieglinde streng. “Brüll hier nicht so rum!”

“Nun lass‘ mal das Kind”, sagte Doris beschwichtigend. “Es ist doch sein Recht, Bescheid wissen zu wollen! Häschen, dein Papa ist nicht da.”

“Ist er das auf dem Bild?”, fragte das Kind laut.

“Was denn für ein Bild, Ulrike?”, fragte Gesine sanft.

“Na, das Bild in Mamas Zimmer. Das große Bild!”

Die Frauen schauten Sieglinde vorwurfsvoll an, doch diese wehrte ab: “Ich habe kein Bild von ihm.”

“Na, das große Bild an der Wand”, erklärte Ulrike verzweifelt.

Sieglinde atmete auf: “Nein, Rieke, das ist nicht dein Vater, das ist Karl Marx!”

Die Frauen lachten belustigt auf.

“Und mein Papa?” Ulrike begann zu schluchzen. „Dein Papa, Rieke, der ist verreist!”

“Und kommt er bald wieder?”

“Sicher, mein Mäuschen!”

“Na gut”, und das kleine Mädchen schlenderte aus der Küche. “Ich fürchte, Sigi, da hast du jetzt ein echtes Problem”, sagte Heidrun mitfühlend in die Stille. Sieglinde sah das genauso.

Vor allem aber sah sie, dass sie langsam zu erwachsen wurde, um alle ihre Handlungen nach den strengen Vorgaben der Mitbewohnerinnen auszurichten. Sie trank ihren Tee aus und verließ die Küche. Ulrike hatte sich auf ihr Bett geworfen und schlief.

Ihre Mutter setzte sich an den Schreibtisch und dachte nach.

Sie war es leid, eine moderne und selbstständige Frau zu sein, die sich von einer Fünfjährigen nerven lassen musste und trotzdem nie genug Geld hatte, um sich die traumhaft süßen Kleider aus der Boutique an der Ecke leisten zu können. Sie hatte es satt, Ulrikes Erziehung mit den anderen abstimmen zu müssen. Sie war eigentlich der Auffassung, dass ein kleiner Klaps auf den Hintern Ulrike hin und wieder ganz gut tun, und sie nicht gleich in ihrer Entwicklung zu einer selbstbewussten und starken Frau hemmen würde. Sieglinde war eigentlich schon länger der Ansicht, dass die in der Küche sich emanzipieren mussten, weil deren Aussichten ihnen keine andere Möglichkeit ließ, aber sie sah immerhin blendend aus und entstammte einem gutsituierten Elternhaus. Sie fasste einen Entschluss und erhob sich.

“Ich gehe noch mal telefonieren”, rief sie in die Küche.

“Aber Sigi, wir haben doch ein Telefon!”

“Ist ein Auslandsgespräch”, erwiderte Sieglinde knapp und verließ die Wohnung. In der Telefonzelle nahm sie ohne weitere Überlegungen den Hörer ab und rief ihre Eltern an.

“Zimmermann”, meldete sich die weiche Stimme ihre Mutter.

“Mutti, ich bin es, Sieglinde.”

“Sigi! Wie schön! Wo bist du jetzt?”

“Noch in Berlin. Aber ich würde gerne zu euch kommen - wenn es ginge.”

“Natürlich geht das, Kind! Sei doch nicht so verängstigt! Ach du, der Papa wird sich vielleicht freuen, sag ich dir!”

“Ist er mir noch böse?”

“Aber nein, Kind! Das ist doch Schnee von gestern! Wie geht es meinem Enkel?”

“Es ist eine Enkelin, Mutti. Sie heißt Ulrike und ist fünf Jahre alt!”

“Ulrike? Du hast ihr den Namen meiner Mutter gegeben? Wie lieb von dir! Soviel Traditionsbewusstsein hätte der Papa dir bestimmt nicht zugetraut! Oh, warte mal, da kommt er!”

Sieglinde konnte sie rufen hören: “Albert, komm schnell! Sieglinde ist am Telefon! Sie kommt nach Hause”, dann war ihr Vater am Apparat.

“Sieglinde?”

“Ja, Vati!”

“Schön, dass du dich mal meldest, Mädchen! Deine Mutter sagt, du kommst nach Hause?”

“Ja, und ich würde gern ein Weilchen bleiben, wenn es keine Umstände macht!”

“Was redest du von Umständen! Du bist unsere Tochter! Wie geht es meinem Enkel?”

“Es ist eine Enkelin! Sie heißt Ulrike!”

“Ein Mädchen? Schade, dann wird unser Familienname wohl aussterben!”

“Ihr hättet mir ja auch noch einen Bruder zur Seite stellen können”, lachte Sieglinde unter Tränen. “Ich habe das nicht böse gemeint, Sigi. Wann kommst du denn?”

“Ich versuche, so schnell wie möglich hier meine Zelte abzubrechen. Ich rufe euch an, wenn ich ankomme!”

“Gut, gut. Dann bis bald, Sigi!”

“Ja, tschüss, Vati! Gib‘ Mutti einen dicken Kuss von mir!”

Der Vater hatte bereits aufgelegt. Sieglinde wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und ging entschlossen zurück in die Wohnung. Sie trat in die Küche, ließ sich schwer auf den Stuhl fallen, blickte die anderen an und sagte mit trauriger Stimme: “Ich werde euch bald verlassen müssen!” Die Frauen schauten sie erstaunt an. “Ich mache eine Reise nach Indien. Ein alter Freund hat sich bei mir gemeldet und mich gefragt, ob ich ihn begleiten könnte.”

“Wie lange wirst du wegbleiben?”, erkundigte sich Doris.

“Keine Ahnung, Doris”, antwortete Sieglinde, “aber auf alle Fälle wäre es schön, wenn ich so schnell wie möglich mein Zimmer kündigen könnte!”

“Ja, das wird sicher kein Problem sein, Sigi. Wir machen gleich morgen einen Zettel an das Schwarze Brett. Aber wo willst du deine Sachen solange unterstellen?”

“Du, die nehme ich mit!”

“Auch das Bett und den Schrank? Willst du die durch Indien schleppen?”

“Nein. Dieser Freund hat einen Keller, in dem ich den Kram unterstellen kann!”

“Gib‘ mir mal die Adresse, dann werde ich die städtischen Transportunternehmen anklingeln und herausbekommen, wer es am günstigsten macht”, bot Franziska hilfsbereit an. “Das ist lieb von dir, Franzi, aber darum kümmere ich mich selber!”

“Aber du hast doch bestimmt genug zu tun, um dich auf den Trip nach Indien einzurichten! Die ganzen Impfungen und so! Wann fährst du eigentlich?”

“Übermorgen!”

“Na bitte! Da musst du doch noch allerhand erledigen und ich könnte ...”

“Übermorgen fahre ich zu diesem Freund nach Hamburg! Und da kläre ich das mit diesen Impfungen und dem ganzen Rest. Was ich nicht gleich mitnehmen kann, lasse ich nachschicken.”

“Ach, der Freund wohnt in Hamburg! Na, dann ist es natürlich sinnlos, wenn ich die Fuhrunternehmen anrufe”, verstand Franziska.

“Nimmst du Rieke mit nach Indien?”, fragte Heidrun leise.

“Natürlich! Wo soll ich sie denn sonst lassen?”

“Sie könnte bei uns bleiben ...”, murmelte Doris.

“Das ist total nett von euch, aber ich möchte meine Tochter lieber bei mir haben!”

Die Frauen nickten verständnisvoll. “Sie wird uns sehr fehlen”, sagte Doris traurig.

Ulrike, Sieglinde, Oma, Opa

Und die Wahrheit über den Vater.

Sieglinde stand eine Weile gedankenverloren vor dem schmiedeeisernen Tor.

Dann straffte sie sich und drückte es auf. Laut knirschte der Schotter unter ihren Schuhen. Sie hielt Ulrike fest an der Hand und zog das widerstrebende Kind hinter sich her.

“Ich will wieder zu Doris und Franzi”, weinte es laut. “Ulrike, wir sind hier bei Opa und Oma und du wirst ein artiges Kind sein, hast du verstanden!”

“Nein! Ich will zurück zu Doris und Franzi!”

Die beiden hatten bereits die Terrasse erreicht, als Sieglinde in die Hocke ging und Ulrike fest an sich heranzog: “Hör zu, Mäuschen, ich weiß, du willst zurück! Aber wenn dein Papa kommen soll, dann musst du hier mit mir wohnen und immer brav sein! Sonst ist der Papa traurig und du wirst ihn niemals sehen!”

Ulrike schaute sie mit gerunzelter Stirn misstrauisch an: “Weiß mein Papa denn nicht, wo Doris und Franzi wohnen?”

“Nein!”

Sieglinde erhob sich wieder und klingelte. Hinter der Tür hörte man eilige Schritte, dann wurde sie aufgerissen.

“Sigi! Da bist du ja schon! Warum hast du denn nicht angerufen, wir hätten dich vom Bahnhof abgeholt!” Bärbel Zimmermann umarmte ihre Tochter weinend. “Und da ist ja auch die kleine Ulrike! Komm her, du Süße und gib‘ der Oma einen dicken Kuss!”

Das Mädchen legte die Hände auf den Rücken und erwiderte tadelnd: “Ich darf keine fremden Leute küssen, Oma!”

Frau Zimmermann zog die bereits gespitzten Lippen wieder ein und blickte hilfesuchend zu ihrer Tochter.

“Es tut mir leid, Mutti.” Sieglinde warf ihrem Kind einen drohenden Blick zu, “aber wir haben Ulrike eingeschärft, dass sie fremden Menschen immer vorsichtig gegenübertreten soll. Du weißt ja, was für kaputte Leute in einer Großstadt herumlaufen!” Ihre Mutter nickte verständnisvoll, während Sieglinde ihrer Tochter einen kleinen Schubs gab und ihr zuflüsterte: “Du gibst jetzt der Oma einen dicken Kuss oder es knallt!”

Ulrike erwies sich als äußerst bockbeinig und nur das Eintreffen des Großvaters konnte eine Auseinandersetzung verhindern. “Guten Tag, Sieglinde”, sagte er und reichte ihr mit einer abgezirkelten Bewegung die Hand. “Schön, dass du wieder zu Hause bist!”

Seiner Tochter traten die Tränen in die Augen und sie wollte sich mit einer schwungvollen Bewegung in seine Arme werfen, doch seine ausgestreckte Hand verhinderte dies.

“Und du bist wohl Ulrike”, wandte er sich seiner Enkelin zu. Diese steckte den Finger in den Mund, um jegliche Küsserei von vornherein im Keim zu ersticken. Doch ihr Großvater schien auf das Küssen auch nicht besonders versessen zu sein, denn er drehte sich um und ging zurück ins Haus. Die Frauen folgten ihm.

Er forderte die Damen auf, Platz zunehmen und winkte dann dem Dienstmädchen nach Kaffee. “Was möchtest du trinken?”, fragte er Ulrike ernst.

“Limonade”, erwiderte sie kühl. “Es ist recht kalt draußen, Schätzchen”, rief ihre Großmutter.

“Vielleicht wäre eine heiße Schokolade angebrachter, hm?”

Ulrike überlegte, warum man Schokolade erwärmen sollte, wenn man sie auch gut zur Limonade nebenher essen könnte, doch ihr Großvater brummte: “Sie möchte Limonade und sie bekommt Limonade!”

Das Dienstmädchen nickte und verschwand in die Küche, während sich im Salon ungemütliches Schweigen ausbreitete.

“Papa, ich denke ...”, räusperte sich Sieglinde, doch ihr Vater brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. Er wartete, bis das Mädchen serviert und den Raum wieder verlassen hatte, dann erst gab er seiner Tochter die Erlaubnis, weiterzusprechen.

“Also, ich wollte mich nur bedanken, dass ihr uns vorübergehend hier wohnen lasst, Ulrike und mich.”

“Du musst dich doch nicht bedanken, Sigi! Du bist doch schließlich unsere Tochter”, unterbrach sie die Mutter bewegt.

“Deine Mutter hat recht, Sieglinde! Es ist wirklich ...”

“Äks, das ist ja bitter”, brüllte Ulrike und spuckte die Limonade auf den Teppich.

“Ulrike!”, schrie Sieglinde und hob die Hand.

“Nicht!”, rief Bärbel Zimmermann erschrocken. “Die Limonade ist richtig bitter”, klagte Ulrike. “Die ist bestimmt schlecht!”

Albert Zimmermann nahm ihr das Glas aus der Hand und roch daran. “Die ist nicht schlecht”, sagte er kopfschüttelnd. “Das ist Bitter Lemon!”

“Ich werde gleich ein neues Glas holen”, erbot sich die Großmutter.

“Jetzt will ich nichts mehr trinken”, maulte das Kind und verschränkte die Arme vor der Brust.

“Dann bleibst du eben durstig”, beschied ihr der Großvater und wandte sich wieder an seine Tochter: “Wie ich sagte, dein Hiersein stellt kein Problem für deine Mutter und mich dar, solange du dich bemühst, es nicht zu einem werden zu lassen! Sobald es wieder solche hirnrissigen Diskussionen zwischen uns geben sollte, wie es damals der Fall war, kannst du dir ein neues Asyl suchen! Hast du verstanden, Sieglinde?” Diese nickte mit rotem Kopf. “Dann sind wir uns ja einig! Also, herzlich willkommen zu Hause!” Er erhob seine Tasse und trank ihr zu.

Alle nahmen einen Schluck Kaffee, bis auf Ulrike, die laut erklärte, sie habe furchtbar Durst. Ihr wurde gedeutet, in die Küche zu gehen und die Köchin zu bitten, ihr eine Schokolade zu machen. Das kleine Mädchen lief erfreut hinaus.

“Wirst du arbeiten gehen?”, erkundigte sich Herr Zimmermann bei seiner Tochter.

“Natürlich. Gerne. Sobald sich etwas Passendes findet”, antwortete Sieglinde ausweichend.

“Du weißt, es ist nicht notwendig. Wenn du es willst, ist das in Ordnung, aber es wäre besser, du schaust dich in Ruhe nach einem neuen Vater für Ulrike um”, entschied der Vater laut.

Sieglinde nickte einsichtig. Ihre Tochter kehrte gerade heulend in den Salon zurück und beklagte laut, dass sogar die Schokolade hier bitter schmecken würde. Das Gejammer störte die Zukunftsplanerei so nachhaltig, dass man sie auf einen späteren, nie wahrgenommenen Termin verschob.

Am Abend betrat die Mutter Sieglindes Zimmer und fragte besorgt, ob alles zu ihrer Zufriedenheit sei. Die Tochter nickte und erkundigte sich zaghaft: “Papa ist wohl nicht so begeistert, dass ich wieder hier einziehe?”

Ihre Mutter strich ihr über das Haar und erwiderte: “Ich glaube, dein Vater hat gehofft, dass du es wirklich schaffen würdest, nach deinen Vorstellungen zu leben und auf eigenen Beinen zu stehen. Ohne männliche Hilfe.” Sie lächelte traurig und wollte das Zimmer verlassen. Doch dann drehte sie sich noch einmal um und sagte: “Ich jedenfalls habe es gehofft und geglaubt! Gute Nacht!”

“Gute Nacht, Mama”, antwortete Sieglinde und schaute ihrer Mutter betroffen nach.

Um den geschätzten Leser nicht unnötig auf die Folter zu spannen, möchte ich zwei Dinge vorwegnehmen: Ulrikes Papa kam nie von seiner Reise zurück und ihre Mutter fand, trotz unbegrenzter Freizeit, keinen neuen Papa für sie, obgleich beide ihre Hoffnung nie völlig fahren ließen und viel Energie darauf verwendeten.

Sieglinde war bei allen gesellschaftlichen Großveranstaltungen in der Hamburger Umgebung anzutreffen, immer vorteilhaft gekleidet und auffallend engagiert, gleichgültig, welche Krankheit oder welchen Preis es zu feiern galt, und wie kleinlich das Buffet sich gab. Sie traf sogar auf einige ledige Männer, doch ihr Zauber wollte und wollte sich nicht verfangen.

Es war vermutlich zu sehr in ihren Augen zu lesen, dass sich die Ansprüche an Ulrikes neuen Vater in wenigen und kleinen Dingen erschöpften und damit kein ganzer Mann gefordert worden wäre.

So verbrachte die ledige Mutter ihre besten Jahre mit Höhepunkten und Premieren und erreichte ihr Ziel nie. Der einzige positive Aspekt an dem ganzen sinnlosen Aufwand war, dass sie beim Versagen Champagner trinken und Austern schlürfen konnte.

Trotzdem konnte sie für all diese Anstrengungen keinen Dank von ihrem Kind erwarten, das sich im Laufe der Jahre als recht undankbar erwies.

Es hatte sich in den Kopf gesetzt, dass bei beständiger Bravheit eines Tages ihr Vater vor der Tür stehen würde.

Doch als auch nach Jahren der Einserzeugnisse und der heil und weiß gebliebenen Strumpfhosen immer noch niemand an der Haustür klingelte, sie in weit ausgebreiteten Armen auffing und anschließend herumwirbelte, wurde Ulrike ungeduldig.

Eines Freitagabends, ihre Mutter rüstete und bürstete sich zum Ausgehen, spielte sie ein paar Takte auf dem Klavier und fragte dann beiläufig: “Wann in etwa erwartest du meinen Vater?”

Herrje, dachte Sieglinde erschrocken. Sie kommt in die Pubertät.

“Wie kommst du darauf, Schätzchen?”, fragte sie laut und stäubte sich rosa Puder in das angespannte Gesicht.

“Mir ist, als hättest du mal gesagt, dass unser Einzug hier dafür sorgen würde, dass mein Vater mich findet!”

Sieglinde drehte sich zu ihrer Tochter um und legte sich ein ironisches Gesicht zurecht. “Herzchen”, zwitscherte sie belustigt, “wie alt bist du jetzt?”

“Das weißt du doch, knapp 14!”

“Und es ist dir in den neun Jahren nie in den Sinn gekommen, dass dein Papa nichts von uns wissen will?”

“Wie meinst du das?”

“Wie ich es gesagt habe! Dein Vater war nie daran interessiert, dich oder mich als seinem Leben zugehörig zu betrachten, Häschen!” Die Lüge ging ihr erstaunlich glatt von den Lippen.

Ulrike hörte auf zu klimpern und starrte sie an. “Du meinst, er hat dich verlassen?”

“Uns verlassen, Liebes. Fünf Minuten nachdem ich ihm gesagt habe, dass ich mit dir schwanger bin! Trotzdem”, sie setzte ein zärtliches Lächeln auf, wäre ich nie auf die Idee gekommen, dich wegzugeben. Ich wollte dich haben, koste es, was es wolle!”

Ihr Gesicht sprach sofort von Aufopferung und Entbehrungen, von Kälte, Hunger und erlebtem Elend. Ulrike rutschte vom Hocker und lief, ihre Mutter zu umarmen. “Sei bitte vorsichtig, ein Fleck auf dem Kleid könnte sein Ruin sein”, wurde sie gewarnt, doch sie musste ihrer Mutter einfach Abbitte tun. Ihrer Mutter, welche sie im Stillen als eine “Society-Zicke” beschimpft hatte, die nur an sich und ihr Vergnügen dächte, und bei der man sich die Frage stellte, warum sie sich ein Kind angeschafft hatte. Darüber hatte Ulrike, die die meiste Zeit mit ihrer Großmutter oder der Klavierlehrerin verbrachte, oftmals gegrübelt. Und nun stellte sich heraus, dass dieselbe Frau sich derartig für ihr Kind aufgeopfert hatte.

Ulrike ließ die Tränen rinnen und auch Sieglinde wurde von Rührung übermannt. Sie ließ sich auf das Bett sinken und zog Ulrike an sich, ohne an die katastrophalen Folgen für ihr Kleid zu denken. Sie erzählte ihrem Kind von der Zeit, als sie jung, schön und eine Studentin war und für hehre Ziele kämpfte. Förmlich in idealistischen Gedanken verfangen, war sie Ulrikes Vater begegnet und verfallen. Doch dieser trieb nur Allotria mit ihren Gefühlen und war unfähig, sich bei der ersten Wölbung ihres Bauches wie ein echter Mann zu benehmen. Im Schutze der Dunkelheit und Demonstrationen sei er verschwunden und habe sie, die schwache Sieglinde, wehrlos dem fremden, realen Leben ausgeliefert. Sie habe es fast sechs Jahre lang allein gemeistert, bis sie von ihrem Vater angefleht worden war, heimzukommen.

“Und Papa hat sich nie wieder gemeldet?”, schluchzte Ulrike.

“Nein, meine Kleine, nie mehr! So jetzt muss ich aber los, sonst bekomme ich einen Sitzplatz bei lauter alten Weibern!”

“Schönen Abend, Mutti!”

“Danke schön, mein Spätzchen, und denk‘ immer daran, dass ich das alles nur für dich tue!”

Die Mutter rauschte zur Tür hinaus und rief gellend nach ihrer Handtasche und ihrem Mantel.

Ulrike aber legte sich hin, faltete die Hände unter den Kopf und bedachte ihr betrübliches Schicksal. Sie hatte es immer gut gehabt, immer alles bekommen, was sie wollte: Klavierstunden, Reitstunden und Gesangsstunden. Die erste, zweite und neunzehnte Barbie plus Haus und Zubehör. Den kleinen dicken Hund, den sie sich sehnsüchtig einen Sommer lang gewünscht hatte und der dann schließlich unter dem Weihnachtsbaum winselte. Sie wurde geliebt, von ihren Großeltern, der Köchin und ihrer Mutter, die sich eindeutig für sie entschieden hatte. Mühsam nur konnte sie sich noch daran erinnern, wie die Mutter vor Jahren ständig erwähnte, sie wäre eine außergewöhnliche Sprachforscherin geworden, wenn sie nicht ein Kind zur Welt gebracht hätte. Ulrike bekam es so lange aufs Butterbrot geschmiert, bis der Großvater es hörte und seine Tochter freundlich, aber ernst in sein Arbeitszimmer bat. Sieglinde hatte zwei Wochen nicht mehr mit ihrer Tochter gesprochen, doch der Großvater schenkte seiner Enkelin ein eigenes Pony. Danach hatte ihre Mutter nie wieder die verpasste Karriere erwähnt.

Ulrike wälzte sich auf den Bauch und drückte ihr Kinn in die Handflächen. Sie beschloss, keinen Vater nötig zu haben, und käme dieser Mann irgendwann einmal auf die Idee, sie kennenlernen zu wollen, dann würde Ulrike ihm knallhart sagen, dass sie keine Lust dazu habe. Knallhart! So!

Doch das Leben dreht sich weiter

“Hast du alles?”

Ulrike nickte und versuchte den Koffer zu schließen. Ihre Großmutter brachte gelbe Gummistiefel.

“Aber Oma, die brauche ich doch wirklich nicht!”

“Kind, man weiß nie!”

“Oma, ich ziehe nach Berlin und nicht an die Nordsee!”

Die Großmutter drückte sich ein Taschentuch an die Augen und Ulrike biss sich auf die Lippen.

“Ich wünschte, du würdest überhaupt nirgendwo hingehen! Wir haben hier auch eine nette Universität, du musst nicht extra in diese wilde Stadt! Wer weiß, was dir da alles passieren kann!”

Ihre Enkelin seufzte. Zur großen Überraschung ihres Großvaters hatte sie sich entschlossen, Betriebswirtschaft und Ökonomie zu studieren, mit der ausdrücklichen Forderung, es in Berlin tun zu dürfen. Der Alte war in seiner Freude darüber so überwältigt, dass er der Auflage keinerlei Beachtung schenkte und erst als Pferdefuß erkannte, als seine Frau ihn entsetzt darauf hinwies.

“Oma, ich war doch die ganzen Jahre nicht zu Hause!”

“Ja, aber in diesem Internat hat wenigstens jemand auf dich achtgegeben!”

Das war auch so ziemlich genau der Grund, warum Hamburg als Studienort nicht in Frage kam. Ulrike grinste und küsste ihrer Großmutter auf den weißgrauen Scheitel. “Mir wird schon nichts passieren, Oma!”

Als erstes passierte ihr, dass jemand ihr ungebeten das Portemonnaie aus der Reisetasche zog und nicht wieder zurücksteckte. Dann passierte der kleine Unfall im Bahnhofsgeschäft, bei dem Ulrike mit ihrem Rucksack die teuren Spirituosen aus dem Regal fegte und ersetzen musste. Aber was ihr wirklich nicht hätte passieren dürfen, war ihre Mitbewohnerin im Studentenwohnheim.

“Tach, ich bin die Katy! Rauchst du auch?” Ulrike verneinte stumm, doch Katy zeigte sich solidarisch und rauchte die doppelte Menge.

“Was studierste denn?”

“Betriebslehre!”

“Ach, so was Bescheuertes? Das sind doch alles Idioten!”