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In 'Engelhart Ratgeber' von Jakob Wassermann handelt es sich um einen Roman, der das Leben des Protagonisten Engelhart Ratgeber, einem erfolgreichen Bankier, porträtiert. Der Roman zeichnet sich durch Wassermanns unverwechselbaren literarischen Stil aus, der von einer tiefen psychologischen Analyse der Charaktere und der Gesellschaft geprägt ist. Mit genauer Beobachtungsgabe und einer ausgefeilten Sprache wird die Geschichte von Engelhart Ratgeber erzählt, der zwischen Gier und Moral hin und her gerissen wird. Wassermanns Werk zeigt die turbulenten Zeiten des frühen 20. Jahrhunderts in Deutschland und wirft gleichzeitig zeitlose Fragen über Moral und Ethik auf.
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Inhaltsverzeichnis
Engelharts erste Kindheitserinnerung knüpfte sich an eine Feuersbrunst. Die Mutter saß am offenen Fenster, und der Knabe spielte zu ihren Füßen in der Nähe eines Kochtopfes, in dessen Innern sich Überreste von Pflaumenmus befanden. Da wurde Frau Ratgeber durch einen Aufschrei von der Gasse veranlaßt, zum Fenster hinauszuschauen. Neugierig kletterte Engelhart auf einen Stuhl, beugte sich über das Sims und sah, von der Mutter beim Ärmel festgehalten, eine ragende Feuersäule, die fern aus der Tiefe der Straße emporschoß. Nachdem er das Schauspiel mit erstaunten Blicken betrachtet, kehrte er wieder zum Fußboden zurück und benutzte die anderswo hingelenkte Aufmerksamkeit der Mutter, um aus dem Pflaumentopf ein paar Fingerspitzen voll zu naschen.
Am folgenden Tag um die Dämmerungszeit nahm er ein kleines Spielhäuschen, begab sich damit und mit Zündhölzern versehen in den abgelegensten Winkel des Hofes, scharrte einen Sandhügel zusammen, trug Späne herbei und machte im Innern seines Gebäudes Feuer an. Die Flammen schlugen jäh aus dem kleinen Tor heraus, die durch rote Farbenflecke angedeuteten Fensterchen begannen zu zerfließen, der ganze Hof lag in lichterlohem Schein. Bald kamen Leute gelaufen, die den Miniaturbrand löschten und den Knaben verprügelten.
Im Erdgeschoß des Hauses befand sich eine Gastwirtschaft. Jede Nacht drang der Zecher Lärm herauf, nicht selten kam es zu einer Schlägerei, und ein Gestochener brüllte die schlafenden Bewohner wach. Schlimmer war für Engelhart das allwöchentliche Schweineschlachten. Das Todesgeschrei schnitt ihm furchtbar durch die Brust, seine Phantasie war damit belastet, sein Denken wurde verdunkelt, und wenn das Tier unter dem letzten Messerstich ersterbend wimmerte, schlich Engelhart totenbleich in die Kleiderkammer, riß eine Schranktür auf und steckte den Kopf zwischen die hängenden Gewänder. Es war ein Glück, daß seine Eltern, kurz nachdem er fünf Jahre alt geworden war, in die nahegelegene Theatergasse verzogen.
In jenem Sommer heiratete die jüngste von Frau Ratgebers Schwestern. Da die Hochzeit in Karlstadt stattfand, einem uralten Örtchen am Main, reisten Herr und Frau Ratgeber dorthin und nahmen Engelhart mit, während die beiden kleineren Geschwister, die dreijährige Gerda und der kaum ein Jahr alte Abel, unter der Obhut einer treuen Magd zu Hause blieben. Es war ein düster bewölkter Tag. Der Knabe blickte mit dankbarem Gefühl auf den Vater, der, kaum daß die Fahrt begonnen hatte, ein gebratenes Huhn aus der Reisetasche nahm und mit dem ihm eignen seltsam verlegenen Schmunzeln verzehrte. Frau Agathe saß versonnen da, bisweilen warf sie einen flüchtigen Blick auf die Landschaft hinaus.
Das Hotel, in dem sie zu später Nacht ankamen, war ein früheres Kloster und hatte weitgewölbte Räume. Engelhart wurde in ein entlegenes Gemach geführt, wo vier Betten standen. Im blassen Kerzenlicht sah er mit verschlafenen Augen drei Mädchengestalten, und man erklärte ihm, daß es seine Cousinen aus Gunzenhausen seien. Die Mädchen flüsterten und lachten, endlich trat die jüngste, die schon im Hemde war, vor ihn hin und sagte, es schicke sich nicht, daß Knaben bei den Mädchen schliefen. Er kroch in einen Mauerwinkel, um sich in Eile zu entkleiden, dann setzte sich Frau Ratgeber zu ihm an den Bettrand, es wurde noch eine Weile hin und her gesprochen, Engelhart sah einen haarumwallten Mädchenkopf, der sich über die Schulter seiner Mutter beugte, und, schon auf der Schwelle des Schlummers taumelnd, starrte er noch einmal in das übermütige Gesicht seiner jüngsten Vetterin.
Am andern Tag war die Hochzeit. Während der Trauung hörte man die Braut weinen, es schien, als ahne sie ihr trauriges Schicksal voraus, während der Bräutigam, Herr Peter Salomon Curius, selbstbewußt und höhnisch lächelnd um sich blickte. Die Sache war die, daß es kein Geschöpf auf Gottes Erdboden gab, dem er sich nicht überlegen gefühlt hätte.
Als das Hochzeitsmahl zu Ende war, wurde Engelhart mit den andern Kindern ins Freie geschickt. Es war ein lieblicher Garten hinter dem Haus, voll Apfel- und Kirschenbäumen. In dem dumpfen Trieb aufzufallen, sonderte sich Engelhart von der Gesellschaft ab und schritt in einer den Erwachsenen abgelauschten Gangart in der Tiefe des Gartens hin und her. Was ihm unbewußt dabei vorgeschwebt hatte, geschah; die jüngste Cousine folgte ihm, stellte sich ihm gegenüber und blitzte ihn mit dunkeln Augen schweigend an. Nach einer Weile fragte Engelhart um ihren Namen, den er wohl schon einige Male gehört, aber nicht eigentlich begriffen hatte. Sie hieß Esmeralda, nach der Frau des Onkels Michael in Wien, und man rief sie Esmee. Dieser Umstand erweckte von neuem Engelharts prickelnde Eifersucht, und er fing an, prahlerische Reden zu führen. Der Lügengeist kam über ihn, zum Schluß stand er seinem wahnvollen Gerede machtlos gegenüber, und Esmee, die ihn verwundert angestarrt hatte, lief spöttisch lachend davon.
Um diese Zeit faßten seine Eltern den Beschluß, ihn, obwohl er zum pflichtmäßigen Schulbesuch noch ein Jahr Zeit hatte, in eine Vorbereitungsklasse zu schicken, die ein alter Lehrer namens Herschkamm leitete. Herr Ratgeber, der große Stücke auf Engelharts Begabung hielt und große Erwartungen von seiner Zukunft hegte, war ungeduldig, ihn in den Kreis des Lebens eintreten, von der Quelle des Wissens trinken zu sehen. Er dachte an seine eigne entbehrungs- und mühevolle Jugend. Noch in den ersten Jahren seiner Ehe liebte er gehaltvolle Gespräche und gute Bücher und bewahrte eine schwärmerische Achtung für alles, was ihm geistig versagt und durch äußerliche Umstände vorenthalten blieb.
Nun war der alte Herschkamm ein seltsam gewählter Pförtner an den Toren der Bildung, ein dicker kleiner Greis mit dem Wesen eines betrunkenen Kobolds. Er hielt sich beständig für überlistet und tanzte in Anfällen grenzenloser Wut von einem Ende der winzigen Schulstube zum andern; dabei hielt er einen langen Flederwisch in der Hand, mit dem er ein geisterhaftes Geräusch machte, er spie und gurgelte, stampfte, klopfte, brüllte, und alles etwa um ein harmloses Wort. Das Schauspiel füllte Engelharts Herz mit Bangigkeit, doch bald war er daran gewöhnt und heckte mit den andern freche Streiche aus. Ein beliebtes Vergnügen war es, daß während des Unterrichts und während der kurzsichtige Herschkamm seine Figuren an die Tafel malte, einer um den andern seinen Platz verließ und sich zur Türe hinausstahl, so daß schließlich nur noch zwei oder drei lautlos grinsend dasaßen. Dann begann das Tanzen und Fauchen, der Flederwisch wurde hervorgezogen, der Alte sauste hinaus und trieb die Schar vor sich her wie ein bellender Hund das gackernde Geflügel. Das Wunderbare war, daß dieses wütigtolle Männchen sonst in jeder Beziehung ein sanftes, ja demütiges Benehmen zeigte. Er lebte mit einer uralten Schwester, und oftmals, an Sonntagen und schönen Sommerabenden, sah man die beiden Arm in Arm friedlich und den Bekannten zulächelnd durch die Alleen am Bahnhof trippeln.
Der Weg nach Herschkamms Schule führte Engelhart am städtischen Waisenhaus vorüber, und täglich sah er die Waisenknaben, schwarz gekleidet, mit schwarzen Mützen und bleichen Gesichtern in Hof und Garten wandeln, ein auffallendes Gegenbild zu der Ungebundenheit und dem rohen Übermut seiner Kameraden. Bisweilen begegnete er ihnen, wenn sie in langem Zug durch die Straßen gingen; ihr leiser Gang, ihr murmelndes Sprechen, ihr scheues Auge bedrückten und erschreckten ihn, oft sah er im Traum den langen Zug vorüberziehen, schwarz und bleich wie Kadetten des Todes.
Zu solchen Bildern gesellten sich Erzählungen und Märchen. Ratgebers hatten seit Jahren eine Magd namens Ketti, und von dieser wurde Engelhart sehr geliebt. Sie stammte aus Heilbronn und hatte neben fränkischer Herbheit auch das Gemüthafte und Phantasievolle, das dem schwäbischen Wesen eignet. Um die Dämmerungsstunde, am liebsten im Winter und späten Herbst, wenn die Arbeit getan war und die Küche vom Glanz der geputzten Geschirre strahlte, nahm sie den Knaben bei der Hand, kauerte mit ihm zum Ofen, und während sie aus Holzscheiten Spreißel riß und die Stücke behutsam vor sich hinlegte, erzählte sie ihre Geschichten. Es war gut, daß in der Person der Magd das Volk zu ihm redete und seine vielfache, zu Sage und Gedicht verwebte Not und Lust, aber es war schlimm, daß ihm auf andre Weise die Wirklichkeit entrückt ward und daß er sich selber zum Gegenstand phantastischer Vorstellungen machte. Er schuf sich den Wahn, daß er ein Kind von königlicher Abkunft sei, daß ihm der Thron vorenthalten werden solle und daß Abenteuer gefährlicher Art ihn einst auf dem Weg seiner Sendung erwarteten. Es kam so weit, daß er der Eltern in mitleidiger Herablassung gedachte und den Geschwistern durch einen beziehungsvollen Hochmut unleidlich wurde. Jedes Geringfügige gewann einen besonderen Glanz, schon allein das bloße Hinrollen von Tag und Nacht, und Sinnloses erhielt tiefen Sinn. Frau Ratgeber hatte einen Verwandten in der Stadt, einen alten Sonderling namens Zederholz, man nannte ihn kurzweg Vetter Zederholz. Er kam oft an Sonntagen zu Besuch, wobei er sich der Mutter gegenüber mit veralteter Galanterie gebärdete; Engelhart aber reichte er jedesmal mit einer leichten Verbeugung die Hand und sagte mit dem Ausdruck feierlicher Hochachtung, wobei er den Zeigefinger hob: »Engelhart ist eine Kapazität.« Obwohl der Knabe nicht wußte, was das Wort zu bedeuten habe, legte er es in der für seine Einbildung günstigsten Weise aus und schmückte sich damit.
Seine Mutter konnte den Hirngespinsten wenig entgegensetzen, denn ihre zurückhaltende und geschehenlassende Natur war überhaupt nicht geeignet, gegen so bestimmte und absurde Neigungen anzukämpfen. Frau Agathe verkehrte selten mit andern Frauen, sie war viel allein und wurde von schlimmen Ahnungen geplagt. Sie hatte etwas Fernhaltendes für Menschen, sei es durch ihre Schönheit – man nannte sie die schönste Frau von Franken –, sei es durch eine angeborene Traurigkeit des Herzens. Herr Ratgeber konnte sich nur in seinen Ausruhestunden lebhafter des Sohnes annehmen. Er war über den größten Teil des Jahres auf Reisen, die Mühseligkeit der Geschäfte stumpfte ihn ab. Er war noch immer von ungeheuern Hoffnungen für die Zukunft erfüllt, obwohl ihm nichts Rechtes gelingen wollte. Er war immer voll von Plänen, Pläne und Entwürfe besaßen eine außerordentliche Macht über sein Gemüt, aber etwas verkettete, verstrickte ihn, er blieb im Kleinen stecken und kam nicht vom Pfennig los. Der beständig sich erneuernde Kummer darüber trug dazu bei, die Stimmung zwischen ihm und seinem Weibe zu verdunkeln, der Ehrgeiz hielt ihn ab, sich mit völliger Offenheit zu geben, und jenes edlere, der gröbsten Notdurft abgewandte Dasein, von dem sie beide vielleicht geträumt, blieb eben ein Traum. Frau Agathe ließ sich nichts merken, alles Leiden preßte sie in ihr dämmerndes Innere zurück, nur bisweilen, etwa in einem Brief an ihre Geschwister, brach es wie ein fahler Blitz hervor, gegen ihren Willen und sie selbst erschreckend.
Inhaltsverzeichnis
Noch war der Knabe im Schlaf, im tiefen Schlaf des Unbewußtseins, und höchstens ein Traum ließ ihn Leben ahnen. Spiel war ihm alles, Spieltrieb erfüllte ihn ganz. Abends, wenn er schon im Bette war, die Mutter saß bei der Lampe und nähte, spielte er mit Stahlfedern, gebrauchten Zündhölzern und einigen Bleisoldaten folgendes Spiel. Er hielt die Knie unter dem Deckkissen so gespreizt, daß dieses allerlei Erhöhungen, Falten und Mulden bildete, und darin sah er ein unheimlich zerklüftetes Gebirge mit finsteren Schluchten und schroffen Gipfeln. Die Söldnerscharen begingen die Höhen und Tiefen und kämpften mit Zwergen und wilden Tieren; vom gespensterhaften Schein der Lampe bestrahlt, schwebten Feen über das Bettgebirge, und den Schluß bildete ein gewaltiges Erdbeben, die Geister und Soldaten flehten um Gnade, aber Engelhart war gesonnen, die Rolle des Weltenschöpfers folgerichtig zu vollenden, mitleidlos fielen seine Knie nieder, und das malerische Felsenland ward zur öden Ebene, Weltennacht brach ein. Oft ermahnte die Mutter zum Schlaf, oder Ketti kam und warf eine moralische Bemerkung hin, während sie mit der Herrin die Ausgaben verrechnete. Bevor Frau Agathe in ihr Schlafzimmer ging, pflegte sie eine Weile zu ruhen und zu denken, ihr Kopf mit der hohen Haarkrone beugte sich herab und ein Seufzer war das Ende ihres Sinnens. Woran mochte sie denken? An ihre Einsamkeit? An den frühen Tod?
Bald wurde an Engelhart eine übergroße Begehrlichkeit bemerkbar, und er glaubte nur in die Welt gesetzt zu sein, um ihre Schätze an seine Brust zu drücken, liebend oder hassend. Wo hätte er auch Grenzen finden sollen? Das Auge ist unersättlich. Einmal hing er seine Lust an eine Orange. Orangen waren teuer, man konnte sie nur beim Konditor haben, aber Engelhart wußte Rat. Er ging um jene Zeit schon in die öffentliche Schule und erhielt jeden Morgen von der Mutter drei Pfennige zum Vesperbrot. Er berechnete, daß er siebenmal kein Brot kaufen dürfe, um in den Besitz der Orange zu gelangen. Das Geld versteckte er in einem heimlichen Winkel, und als die Frist verstrichen war, schlich er aufgeregt und eilig zum Konditor. Es gab ein vielfaches Geklapper, als er seine Kupfermünzen auf den Steintisch legte. Nun geschah es, daß plötzlich sein Vater vor ihm stand, als er den Laden verließ. Herr Ratgeber sagte nichts und Engelhart auch nichts; jeder merkte an des andern Schweigen, wie die Sache stand. Herr Ratgeber löste die mühsam erworbene Frucht aus der umklammernden Hand des Knaben; vom Hause gegenüber sah der Major Friedlein zu, der Tag für Tag von morgens bis abends aus dem Fenster lehnte, eine lange Pfeife rauchte und in seinem pechschwarzen Bart aussah finster wie das Gewissen der ganzen Stadt. Zuhause gab es ein scharfes Verhör und Vorwürfe, auch von der Mutter. Das wäre in Ordnung gewesen, aber von seiner Orange bekam er nichts mehr zu sehen, und es ritzte ihn wie ein giftiger Stachel das Gefühl erlittener Ungerechtigkeit.
Kurz danach war Weihnachten, und Engelhart begab sich mit Bruder und Schwester auf die Christbaumbesuche. Da sie Juden waren, hatten sie keinen Baum zu Hause, aber mitten unter protestantischen Christen lebend, blitzte die fremde Festtagslust in ihre öden Zimmer, und Sehnsucht trieb sie fort. Wie Bettelkinder gingen sie von Tür zu Tür, wurden überall wohl aufgenommen und mit Lebkuchen und Nüssen beschenkt. Am liebsten verweilte Engelhart dann bei Webers unten im Haus. Da waren zwei Schwestern, Thekla und Selma. Sie waren Waisen und wohnten allein bei der Großmutter. Die Mutter hatte sie unehelichen Standes geboren und hatte ein abenteuerndes Leben durch Selbstmord geendet. Die alte Frau Weber war wunderlich; sie war sehr dick und haßte die Menschen. Daß sie Engelhart und seine Geschwister an den Weihnachtstagen zu sich lud, geschah aus einer Vorliebe, die sie für Frau Ratgeber hegte. Aber sie ließ nicht alle drei zu gleicher Zeit ein; eins mußte nach dem andern kommen und durfte nicht länger als eine Stunde bleiben. In den Zimmern hatte alles ein geheimnisvolles Aussehen. Die Schwestern spielten still vor sich hin, die Großmutter saß auf einem erhöhten Tritt beim Fenster und las in einem dicken Buch, auf dem Weihnachtsbaum strahlten die Kerzenflammen wie zuckende Sternchen.
Thekla war ein robustes Geschöpf, das den ganzen Tag arbeitete, kochte, Wasser schleppte und die Böden fegte. Die sechsjährige Selma war dagegen zart und fein. Stirn, Wangen und Hände waren weiß an ihr, auch die Haare waren beinahe weiß. Ihr Anblick erschreckte Engelhart. Ähnliches spürte er in der Nacht, wenn er aufwachend die Ruhe der Welt bis ins Herz empfand und hinaushorchend in ihrer Grenzenlosigkeit sich nie zurechtzufinden fürchtete. Einmal kam er an einem Winternachmittag von der Schule zurück und fand niemand daheim. Er läutete mehrmals, die Glocke schrillte wie Gebell durchs Haus, schließlich schritt er langsam besinnend die Treppe hinab, und da er das Gatter bei Webers offen stehen sah, ging er hinein, um zu fragen, wo seine Leute seien. Er hatte Hunger. Er öffnete die Türe der fremden Wohnung und sah nun Selma nackt vor einem Badetrog stehen; ihre Kleider, von Schnee und Schmutz bedeckt, lagen daneben. Engelhart war erstaunt und ergriffen; das Menschenbild gefiel ihm, Selma wandte ihm das Gesicht zu, ihre Augen blickten träg und mißmutig, plötzlich lief sie unhörbar ins Nebenzimmer. Die alte Frau Weber drehte sich auf ihrem Stuhl beim Fenster um, und als sie das demütig bestürzte Gesicht des Knaben gewahrte, lachte sie mit tiefen männlichen Tönen.
Als es Frühling wurde, durfte Engelhart an Sonntagnachmittagen mit seinem Vater nach Altenberg gehen, einem kleinen Dorf zwischen Nürnberg und Kadolzburg, wo Herrn Ratgebers Vater wohnte. Der alte Ratgeber war Seiler, und oft schaute Engelhart zu, wenn der Greis im steingepflasterten Hof tappend, auf und ab schreitend, seine Stricke drehte. Auf ihm lasteten die Zeit und die Sorge sichtbar. Er war gewöhnlich still und müde, aber ein höherer Glanz ging von ihm aus, wenn er von seiner Gesellen- und Wanderzeit erzählte. Er hatte die Welt gesehen und sprach mit scheuer Verehrung davon. »Als ich im Jahr dreißig nach Wien kam,« sagte er und berichtete, bei welchem Tor er eingezogen und durch welche Straßen er gegangen war. Er meinte, damals sei das Leben noch lebenswert gewesen. ›Im Jahre dreißig,‹ dachte Engelhart; er wußte nicht, daß achtzehnhundertdreißig gemeint sei, und er sah im Großvater eine Figur von mythisch gotthaftem Alter.
Bisweilen war auch der Bruder des Herrn Ratgeber anwesend. Die beiden Brüder hatten gemeinschaftlich das Geschäft in der Stadt, aber sie waren feindselig gegeneinander gestimmt. Herrn Ratgebers Bruder Hermann war ein Mann, der nichts in der Welt liebte außer seine eigne Person, die aber gründlich. Er pflegte mit selbstzufriedenem Schmunzeln von seiner Geschicklichkeit im Sparen zu sprechen, von seiner trockenen Geschäftspraxis; für die geistig überschauende Art des älteren Bruders hatte er kein Verständnis, er bezeichnete diese Art als phantastisch und ging insgeheim mit dem Plane um, die Firma ganz an sich zu bringen. Er hatte den siebziger Krieg als Trompeter mitgemacht; es war auch in seiner Stimme etwas Trompeterhaftes, aber wenn er schwieg, sah er schlau und schläfrig aus.
Einmal erzählte Frau Agathe auch von ihren verstorbenen Eltern. Es war an einem schönen Tag im Mai, und Engelhart ging mit der Mutter über die Wiesen jenseits der Maxbrücke gegen die Wolfschlucht. Dort setzten sie sich unter einem Kastanienbaum nieder, Frau Ratgeber nahm ihre Handarbeit, und dann begann sie kameradschaftlich mit dem Knaben zu sprechen; seine Fragen führten auf den Weg ihrer eignen Gedanken.
Ihr Vater war ein weitgewanderter gebildeter Mann von lebhaftem Geist gewesen. Er hatte an der Rhone, in Marseille, in der Lombardei und in Zürich gearbeitet, und als er mit nicht geringen Ersparnissen in seine unterfränkische Heimat zurückkehrte, kaufte er vier Webstühle, nahm vier Gesellen ins Haus und machte sich in kurzer Zeit als Verfertiger solider Ware unter den Abnehmern bekannt. Bald dachte er daran, sich zu verheiraten. Auf der Heimreise hatte er in Uhlfeld bei Fürth ein überaus schönes Mädchen aus vornehmer Judenfamilie kennen gelernt, und er hielt um ihre Hand an. Nun war es üblich, nicht nur daß der Mann im Haus der Braut einen Besuch abstattete, sondern daß auch das Mädchen ins Haus des Bräutigams kam, und zwar allein. Daher machte sich die schöne Uhlfelderin auf und marschierte drei Tage lang zu Fuß, da eine Postfahrt zu viel Geld gekostet hätte, nach Sommerhausen am Main. Wenn ihr das Gehen in den Stiefeln beschwerlich wurde, zog sie diese aus und stopfte sie in das Bündel auf ihrem Rücken. Der Bräutigam kam ihr bis Ochsenfurt entgegen.
Die Weberei nahm einen guten Aufschwung, die Familie geriet in Wohlstand und konnte einen Weinberg, ein Stück Ackerland und einen Gemüsegarten erwerben. Dazu brachte Herr David Herz einige Verbesserungen an den Webstühlen an. Aber mit einem Male kamen die Maschinenwebstühle auf und Tausende der kleinen Webermeister gingen rasch zugrunde. David Herz wartete nicht das letzte Ende ab; er schickte die Gesellen fort, ließ die Stühle auf den Speicher bringen und eröffnete einen Tuchladen. Weil aber keine Käufer kamen, mußte man mit den Waren über Land gehen, doch war es nach damaligem Gesetz den Juden verboten, zu hausieren, und das Gesetz mußte umgangen werden, wenn anders die Familie vor Hunger bewahrt werden sollte. Nach und nach waren zehn Kinder auf die Welt gekommen, die ältesten halfen schon, sie mußten bei Nacht und Nebel mit dem Warenbündel auf Schleichwegen in die Dörfer wandern, und die Gendarmen mußten mit kostbarem Geld bestochen werden. Aber es wurde noch schlechter, Mißernten kamen, politische Finsternis hielt die Regsamkeit des Landes und der Gewerbe in Fesseln, Emilie, die älteste, sollte vorteilhaft heiraten, aber das sogenannte Matrikelgesetz erschwerte auf die grausamste Weise die Ehe der Juden. Sechs Kinder starben innerhalb dreier Jahre hinweg, darauf folgte die Mutter, erschöpft an Leib und Seele, und der Vater war ebenfalls vernichtet durch die Zeiten. Ihn hatte das Handwerk betrogen, die Erde gab ihm keine Frucht, er verlor den Glauben an Gott und Menschheit und starb, noch nicht fünfzig Jahre alt.
Engelhart ward betrübt von der Erzählung. Das Ereignisvolle daran, Tod, Krankheit, Armut, prägte sich ihm unvergeßlich ein. Als er mit der Mutter nach Hause wanderte, begann schon der Mond in die silberne Abenddämmerung zu blicken. Frau Agathe nahm den Knaben an der Hand und sie schritten schweigsam dahin. Engelhart begriff plötzlich, daß seine Mutter nicht glücklich war.
In einer der folgenden Nächte erwachte Engelhart und merkte, daß fremde Leute in den Zimmern waren, Leute mit einem ängstlichen und geschäftigen Wesen. In dem Raum, wo Engelhart lag, blieb das Licht brennen; bald kam einer und schraubte es höher, bald ein andrer und drehte es tiefer, sie flüsterten, sie lächelten, und da sich der Knabe schlafend stellte, achteten sie nicht ihrer Worte, und er fing ein paar Wendungen auf, die ihm zu denken gaben. Da hörte er aus dem Zimmer der Mutter ein Stöhnen, das ihm durch Mark und Bein ging. Er richtete sich auf, sah sich allein und lauschte. Die erschütternden Töne wiederholten sich. Er sprang aus dem Bett, schlüpfte mit Eile in die Kleider und wollte zur Mutter. Aber eine unbezwingliche Scheu hielt ihn zurück, Ahnung nicht, Halbahnung vielleicht. Er lief in die Küche. Ketti saß am Herd; ihr rannen Tränen über die Backen, doch trank sie mit ziemlicher Seelenruhe eine Schale aufgewärmten Kaffees. Sie begehrte auf, als sie des Knaben ansichtig wurde, er entwischte ihr und begab sich in den Hof, setzte sich, in der Nachtkühle schauernd, auf die Hühnersteige und schlief dort unversehens ein. Er schlief über eine Stunde, das Krähen des Hahns weckte ihn, da ging er ins Haus zurück und begegnete auf der Treppe der Tante Iduna Hopf, einer Verwandten des Herrn Ratgeber. Sie war groß und hager, ein riesenhafter grüner Schal hing um ihre Schultern, mit strengem Erstaunen betrachtete sie den Knaben und sagte endlich mit zweideutigem Lächeln und unehrlicher Kameraderie in ihrer hellen Stimme: »Nun, Engelhart, der Storch ist zu euch gekommen und hat ein Brüderchen gebracht. Hast du ihn nicht klappern gehört?«
Engelhart senkte den Kopf und erwiderte: »Nein, ich habe die Mutter weinen gehört.«
Es malte sich in seinem Bewußtsein dies: nicht, daß ein Kind gebracht, sondern daß es geboren worden sei. Eine tote Buch- oder Zeitungswendung wurde in seinem Geiste flammend lebendig. Am andern Tag ging er zu Fräulein Frühwald, die mit Ratgebers auf demselben Flur wohnte. Fräulein Frühwald war eine Person, die immer Neuigkeiten wissen wollte. Das einzige Zimmer, das sie innehatte, war voll von Sägespänen, denn sie verdiente ihren Unterhalt damit, daß sie Blechkapseln glänzend machte. Während sie Engelhart in ein Gespräch zu verwickeln versuchte, schlug dieser ein umfängliches Buch auf, das auf dem Tische lag. Es war die Bibel, Altes und Neues Testament. Er blätterte unschlüssig umher, da fiel sein Blick auf die Stelle: Gideon aber hatte siebzig Söhne, die alle aus seiner Lende entsprossen waren, denn er hatte viele Weiber. »Was ist das, eine Lende?« fragte er das unablässig redende Fräulein. Sie antwortete, eine Lende sei ein Stück Fleisch. »Auch beim Menschen ein Stück Fleisch?« fragte er.
»Gewiß,« rief sie lachend und schlug sich auf die Hüfte, »hier.«
Er kam nun öfter zu Fräulein Frühwald, die für jede Gesellschaft dankbar war, setzte sich an den Tisch und las in der Bibel. Doch erwuchs ihm wenig Verstand daraus, obwohl er das Fabelmäßige leicht begriff. Die erwachten Zweifel über Geburt und Geborenwerden fanden Nahrung, doch keine Lösung; Unverstehbares mischte sich mit der geahnten Natur, die er auch in seinem Innern beben und wachsen fühlte. Eines aber riß sein Gemüt hin, vielleicht weil es mit Worten nicht ausgedrückt war, nämlich das Landschaftliche: die Finsternis des Anfangs, das Paradies mit seinem Frieden, die Wasserflut und die um den Berg Ararat neu sich hebende Welt, der Turmbau im babylonischen Land, der Brand der sündhaften Städte und das Meer über ihnen. Mit andern Augen als bisher trat er unter den freien Himmel; es war ihm derselbe Himmel, der jene Länder und Zeiten überwölbt hatte, und wie eine Stirn die Erinnerung des Gelebten aufbewahrt, glaubte er im Firmament das Andenken jener gewaltigen Ereignisse vergraben.
Als er zum erstenmal wieder die Mutter sehen durfte, vermochte er kein Wort über die Lippen zu bringen. Stumm blieb er am Bette stehen, als sie mit der alten klaren Stimme einige belanglose Fragen stellte. Zuerst wunderte sich Frau Agathe, dann schalt sie, noch halb gutmütig, dann wandte sie sich unwillig, ja verletzt von ihm ab. Als Herr Ratgeber nach Hause kam, berichtete sie über die Verstocktheit des Knaben. Herr Ratgeber glaubte, daß Engelhart irgendetwas auf dem Gewissen habe, er nahm ihn bei der Hand, führte ihn beiseite und fing ebenfalls an zu fragen. Die aufgerissenen Augen und das unbewegliche Stillehalten des Knaben bestärkten seinen Verdacht, er wurde zornig und schlug Engelhart mit Heftigkeit ins Gesicht. Die unbegreifliche Tat entpreßte dem Gezüchtigten Tränen, es schien ihm, als ob die Unbill alles Maß übersteige, es erfaßte ihn auf einmal ein Gefühl von Liebe für etwas Unsichtbares, Unnennbares, das außerhalb der Welt lag, in der er sich bewegte.
Zwei Tage lang durfte er nicht zur Mutter. Am dritten entschloß er sich, ohne Erlaubnis an ihr Bett zu kommen, um sie zu versöhnen. Doch sie hatte Besuch. Der alte Ratgeber aus Altenberg war da und außerdem dessen Vater, der also Engelharts Urahn war, ein Mann von sechsundneunzig Jahren. Er lebte in Rot am Sand, zwei Stunden hinter Nürnberg. Ein zottiger Bart von rötlichweißer Farbe schloß das ungemein große, rote, zerwühlte, volle Gesicht wie in einen Rahmen. Als er Engelhart gewahrte, hielt er die Hand wie einen Schirm vor die dicken Brauen und stierte mit den scheu versteckten Augen auf ihn wie auf etwas Weitentferntes, Winziges, gleich als ob er zeigen wolle, daß achtundachtzig Jahre zwischen ihm und diesem Kinde lägen. Er griff in die Manteltasche und reichte mit der zitronengelben Hand Engelhart zwei halbverschimmelte Schokoladestückchen. Seit dreißig Jahren war er nicht in der Stadt gewesen, und nicht etwa die Liebe zu seinem Geschlecht hatte ihn angetrieben, sondern die bloße Neugierde zu sehen, was die Zeiten gebracht hätten. Der andre Alte verhielt sich gleichmütig, der Besuch des Vaters war ihm, dem Siebzigjährigen, eine Last. Frau Agathe blickte mit stiller Verwunderung auf die beiden Greise, von denen keiner um die Nähe des Grabes zu wissen schien.
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Mitte Juli mußte Herr Ratgeber eine Reise antreten, die ihn für einige Monate von seiner Familie trennte. Frau Agathe beschloß, diese Zeit auf dem Lande zuzubringen und mit den Kindern ihre Schwester Emilie Wahrmann in Gunzenhausen zu besuchen. Ihr Leib, ihr Geist bedurften der Ruhe. Die Tage vor der Fahrt vergingen mit vielfacher Arbeit. Noch in der letzten Stunde war sie beschäftigt, die Polstermöbel zu überziehen, die Läden herabzulassen, Kampfer zu streuen; dann stand sie ermüdet auf der Schwelle, ihre Gestalt hob sich schmal aus dem Dämmer des verdunkelten Raumes, sie war blaß von dem überstandenen Wochenbett, die Stirn, für eine Frauenstirn ungewöhnlich hoch, war an den Schläfen wie Marmor von blauen Adern durchzogen, ihre Augen hatten einen doppelten Blick, den nach außen für die Gegenstände, und den ruhigen, warmen süßen Blick nach innen für das Unbekannte.
Die Familie Wahrmann bewohnte ein einstöckiges Haus an der Straße, die vom Tor des Blasturms aus gegen den Wald führte und wenige hundert Meter weiter schon Landstraße wurde. Auf jeder Seite standen etwa ein Dutzend solcher Häuser von ganz gleicher Bauart, und zwischen je zweien war ein kleiner Garten oder Hof. Frau Agathe fand bei der Schwester, was sie vom Leben innig wünschte: Sorglosigkeit. Die Erinnerung an ihre Mädchentage erwachte; hier hatte sie, nachdem der Vater gestorben war, bis zu ihrer Verheiratung gelebt; hier hatte sie manche Nacht durchtanzt, hier hatte sie Herr Ratgeber zum erstenmal erblickt. Nun war sie wieder da, von liebreicher Gastfreundschaft gehegt, und vier Kinder mit ihr als Zeugen der verflossenen Jahre. Ihre gehobene Stimmung wirkte wie ein seelenvolles Leuchten auf die Gemüter der andern Hausbewohner.
Engelhart vertrug sich gut mit den Cousinen. Helene, die älteste, liebte es, ihn zu necken. Nicht seine Gedanken waren vor ihrem Spott sicher. Sie war selten schlecht gelaunt, sie entdeckte mit Scharfblick an jedem Menschen die komische Seite und jeder bot ihr daher unerschöpflichen Stoff zum Lachen. Sie hatte aber auch Respekt für geistige Dinge, für gute Bücher, es war nichts Kleinstädtisches in ihr. Ganz anders Jettchen, die zweite. Sie war eine trübe Träumerin, stets von Unzufriedenheit und zielloser Eifersucht erfüllt. Sie neigte schon als Kind zu einer halb schwärmerischen, halb gottmeisternden Frömmigkeit, und da sie nicht hübsch war, sprach sie gern mit Verachtung von dem eiteln Wesen schöner Mädchen. Die jüngste nun, Esmee, hatte etwas Teuflisches für Engelhart; er fürchtete sie, wenn sie an den Sommerabenden auf der Straße wandelten und sich das Mädchen lächelnd an ihn drängte, ihren Arm in den seinen schob und beim Sprechen ihr Gesicht so nahe wie möglich an das seine brachte. Sie war immer von einem einzigen Zustand vollkommen beherrscht, von Wildheit oder Angst, Müdigkeit oder Begierde. An Regentagen gebärdete sie sich oft, als wolle sie vor Ungeduld die Mauern niederreißen, und im Wald pflegte sie mit schmetternder Stimme zu singen:
»In den Garten wollen wir gehn, Wo die schönen Rosen stehn, Stehn der Rosen gar zu viel, Brech’ ich mir eine, wo ich will.«
Am Anfang des Waldes stand ein Wirtshaus, kurzweg die »Höhe« genannt, und an Sonntagen pilgerte das halbe Städtchen hinauf. Engelhart fand sich dann unbehaglich in dem Menschentrubel, und er schlich davon. Er hatte einen Lieblingsplatz im Wald unter einer alten Eiche; nahebei war ein Ruinenstein der römischen Mauer. So saß er einmal und lauschte auf die Tanzmusik, die von der »Höhe« herüberklang. Da legten sich zwei kleine Hände über seine Augen und eine zarte Stimme wisperte: »Wer bin ich?« Eigensinnig schwieg er still, und als sich Esmee schmollend an seine Seite setzte, herrschte er sie an: »Warum bist du mir denn nachgelaufen?« Sie antwortete nichts, sondern schüttelte heftig ihr lose hängendes Haar. Er verfiel wieder in sein verstocktes Schweigen. Es flogen Glühwürmer auf, hinter dem Weg schimmerte es goldgelb vom Mond, aus dem Westen brummte dumpf der Donner. Plötzlich sprang Esmee auf, packte blitzschnell mit beiden Händen Engelharts Kopf und biß ihn ins Ohr. Er schrie, sie lief davon, ihr Lachen vermischte sich mit dem Rascheln der Zweige, Engelhart eilte ihr nach. Als er in den Wirtsgarten kam, hatten sich die Gäste schon in den Saal geflüchtet, da es zu tröpfeln anfing. Esmee stand auf der obersten Stufe der Terrasse. Sie hatte einen Zipfel ihres Taschentuchs zwischen den Zähnen und riß daran, während sie in den Saal blickte, die Augen in unheimlicher Wildheit funkelnd.
Engelhart trat, mit der Hand das schmerzende Ohr bedeckend, in den Saal und gewahrte unter den ersten Paaren, die sich zum Walzer anschickten, seine Mutter und den Premierleutnant Siderlich. Er erstaunte über ihr Aussehen, über ihre roten Wangen und glänzenden Augen. Ihre Bewegungen hatten etwas Fräuleinhaftes, wenn sie dankte, den Kopf zur Schulter neigte, den Fuß zum Tanz vorsetzte.
Der Premierleutnant Siderlich lag schon seit zehn Jahren mit einer Halbkompagnie im Ort, man sagte, daß es eine ewige Strafversetzung sei. Er wohnte bei Wahrmanns zur Miete, doch gingen diese mit dem Plan um, ihm zu kündigen, da er in der letzten Zeit oft betrunken war. Das gewöhnliche Volk nannte ihn wegen seiner außergewöhnlichen Länge und Magerkeit den Lattenhanni. Er verkehrte mit niemand, hatte weder Kameraden noch Freunde und empfing oder schrieb nie einen Brief. Jeden Abend um acht Uhr ging er ins Gasthaus zur Post und verzehrte dort sein kärgliches Nachtessen. Wenn er fertig war und neben seinem Tisch bekam etwa ein andrer Gast zu essen, so beugte er sich gegen dessen Teller herüber und sagte, mit der Zunge schnalzend, gierig und überrascht: »Ah, das ist aber ein schöner Braten, so einen Braten bekomme ich nie,« oder: »Das ist aber ein kolossaler Fisch, so einen bekomme ich nie.« Hierauf rief er die Kellnerin oder den Wirt und fragte mit trauriger Stimme: »Warum bekomme ich nie eine so große Portion wie der Herr Expeditor?«
»Aber ich bitte, Herr Premier,« sagte der Wirt, »es ist ganz genau dasselbe Stück.«
Beim nächtlichen Nachhausegehen nahm er sich auf der Straße sehr zusammen, kaum hatte er jedoch die Haustüre bei Wahrmanns aufgesperrt, so stimmte er einen greulich unmelodischen Gesang an und stolperte geräuschvoll die Stiege empor.
Seit Frau Ratgeber im Hause weilte, betrank er sich nicht mehr und verwendete größere Sorgfalt als bisher auf seinen Anzug. Am Morgen nach dem kleinen Tanzfest schickte er seinen Burschen mit einem Strauß von Rosen und einer Visitenkarte, auf deren Rückseite in sorgfältig gemalten Buchstaben zu lesen stand:
Schönheit besiegt ein jedes Herz Und sei es auch so hart wie Erz.
Bald danach hörte man ihn mit klirrendem Wehrgehänge die Stiege herabpoltern, er machte im Frühstückszimmer seine Aufwartung, aber seine Haltung verlor an Sicherheit, als die Kinder, durch sein wunderliches Grimassenschneiden belustigt, kichernd entflohen.
Es nahte die Zeit der Reife, das Obst auf den Bäumen wurde schwer. Täglich wanderten die Kinder in die Beeren. Spät nachmittags zog die belebte Schar heimwärts, die Mütter kamen ihnen auf der Landstraße entgegen und freuten sich der reichen Ausbeute. An einem schönen Septembertag brachen beide Familien morgens um fünf Uhr auf und fuhren nach Pappenheim, wo sie von Bekannten zur Obstlese eingeladen waren. Engelhart, sich von den Seinen mit Absicht entfernend, schritt durch den riesengroßen Garten, der über mehrere Hügel hingebreitet war, und sah ein Schloß, das den Gipfel eines Berges krönte. Es wurde ihm feurig zu Sinn, als er wieder zu den andern zurückkehrte, stieß er ein Jubelgeschrei aus. Doch diese waren ebenfalls in Glückseligkeit gefangen, Frau Agathe schritt mit stillem Lächeln umher und deutete manchmal auf den Himmel, der so strahlend war, als ob ein blaues Feuer ihn erfüllte. Dann sank die Sonne, Engelhart hatte ein schneidendes Gefühl von Schmerz, es tönte eine Stimme: jetzt ist es genug der Freuden.
Wenige Tage später mußten sie nach Hause reisen, Herr Ratgeber war früher, als er gedacht, zurückgekehrt. Kisten und Koffer wurden gepackt, und gegen Abend setzte sich die ganze Karawane nach dem Bahnhof in Bewegung. Erst dort begriff Engelhart, daß es sich um Scheiden und Trennung handle. Wie im Schlaf küßte er die Mädchen, später durchzuckte es ihn, daß er Esmees Mund feucht auf dem seinen gefühlt. Der Zug rasselte davon, die Nacht brach ein, fremde Leute saßen im Coupé, Ketti hielt den Säugling im Arm, Gerda und Abel schlummerten aneinandergelehnt. Auch Frau Agathe schien müde, ihr Blick war in die Dunkelheit hinaus gerichtet, die Hände lagen still im Schoß. Engelhart schaute sie an und seine Lippen murmelten wie von selber Esmees Verse und zerhackten sie mit dem Takt der Eisenbahnräder:
»In den Garten wollen wir gehn, Wo die schönen Rosen stehn, Stehn der Rosen gar zu viel, Brech’ ich mir eine, wo ich will.«