Engelssturm - Samael - Heather Killough-Walden - E-Book

Engelssturm - Samael E-Book

Heather Killough-Walden

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Beschreibung

Uriel, Gabriel, Azrael und Michael haben ihre Sternenengel und damit ihr Glück gefunden, aber niemand weiß, dass der Schöpfer noch einen fünften Sternenengel geschaffen hatte – eine Gefährtin für Samael, den Verstoßenen, den Gefallenen. Doch sie ist seit Jahrtausenden spurlos verschwunden, und Samael verzehrt sich mit jeder Faser seines dunklen Herzens nach ihr. Als er der charmanten Angel begegnet, glaubt er, in ihr seine wahre Liebe erkannt zu haben. Aber so leicht lässt sich Angel nicht erobern, und für die beiden beginnt ein stürmischer Tanz aus Magie und Verführung ...

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HEATHER KILLOUGH-WALDEN

ENGELS-

STURM

SAMAEL

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Einst wurden vier weibliche Engel geschaffen, um den Erzengeln in Liebe und Treue zur Seite zu stehen – Sternenengel. Die Folge davon waren Neid, Missgunst und Eifersucht in den himmlischen Gefilden. Um die Zwietracht zwischen den Engeln zu beenden, schickte der Schöpfer die Sternenengel zur Erde, woraufhin die vier Erzengel beschlossen, vom Himmel herabzusteigen, um ihre Geliebten zurückzuholen. Jahrtausende der Suche blieben jedoch erfolglos – bis jetzt: Uriel, Gabriel, Azrael und Michael haben ihre Sternenengel und damit ihr Glück bereits gefunden. Was niemand ahnt, ist, dass der Schöpfer noch einen fünften Sternenengel geschaffen hat. Eine Gefährtin für Samael, den Gefallenen, den Anführer der Engelsrebellion. Samael glaubt, in der wunderschönen Angel seine wahre Liebe gefunden zu haben, aber sie entzieht sich ihm immer wieder aufs Neue. Denn obwohl sich auch Angel wie magisch zu Samael hingezogen fühlt, fürchtet sie, dass ihre Liebe schlimme Folgen haben könnte – schließlich hat Samael eine dunkle Seite. Als Angel plötzlich in Gefahr gerät, scheint der gefallene Engel jedoch ihre letzte Rettung zu sein …

Die Engelssturm-Serie:

Erster Roman: Uriel

Zweiter Roman: Gabriel

Dritter Roman: Azrael

Vierter Roman: Michael

Fünfter Roman: Samael

Die Autorin

Heather Killough-Walden wurde in Kalifornien geboren. Sie studierte Jura, Religionswissenschaften und Archäologie und bereiste die Welt, bevor sie beschloss, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Texas.

Weitere Informationen zu Autorin und Werk erhalten Sie unter:

www.killough-walden.com

www.heyne-fantastisch.de

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Titel der amerikanischen Originalausgabe: SAMAELDeutsche Übersetzung von Sabine Schilasky
Copyright © 2015 by Heather Killough-WaldenCopyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenCovergestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Motivs von shutterstock/InnervisionArtRedaktion: Uta DahnkeSatz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
ISBN: 978-3-641-16533-8V002
www.heyne.de

»Du schreckst zurück, doch ich hole dich trotzdem.«

Aha: Take On Me

Vor langer Zeit versammelte der Alte Mann seine vier liebsten Erzengel, Michael, Gabriel, Uriel und Azrael. Er zeigte auf vier Sterne am Himmel, die heller leuchteten als alleanderen. Er wollte sie für ihre Loyalität belohnen und hatte Seelengefährtinnen für sie geschaffen. Vier perfekte weibliche Wesen – Sternenengel.

Doch bevor die Erzengel sich mit ihren Gefährtinnen vereinen konnten, verschwanden die vier Sternenengel. Sie wurden in alle Winde zerstreut, jenseits ihrer Gefilde und unerreichbar. Die Erzengel trafen die Entscheidung, ihre eigene Welt zu verlassen, auf die Erde zu kommen und ihre Gefährtinnen zu suchen.

Über zweitausend Jahre haben die Erzengel seither gesucht. Und sie waren mit ihrer Suche nicht allein.

Denn sie sind nicht die Einzigen, die ihre Gefilde verlassen haben und auf der Erde wandeln, um die Sternenengel ausfindig zu machen. Jemand ist ihnen gefolgt …

Prolog

Kevin blieb nur kurz stehen, um die Schilder mit der Aufschrift »Nur Barzahlung« und »Toiletten ausschließlich für Gäste« an der Glastür der N Western Avenue 4357 in Chicago zu lesen. Es war kurz nach drei Uhr morgens, und natürlich hatte das Diner geöffnet. Anscheinend gab es drinnen ein Telefon, und eine riesige Tafel, die eine ganze Wand einnahm, pries den am Knochen geräucherten Schinken an.

Auf den war Kevin jedoch nicht aus.

Sein Blick wanderte weiter, und seine grünen Augen passten sich an die Lichtverhältnisse an. Drinnen saßen zwei Pärchen und eine Gruppe von fünf Teenagern. Die Paare wirkten wie typische Durchreisende: zerknautscht, gerötete Augen, zerzaustes Haar. Sie waren sauber, nur haftete ihnen dieser Geruch von Stunden im Wagen, viel Kaugummi und jeder Menge Auspuffgasen an.

Die Teenager hingegen …

Kevin senkte den Kopf. Seine Sicht wurde schärfer, die Farbe seiner Augen wechselte von Grün zu Gelb, dann zu Orange und schließlich zu Rot. Er sah sehr genau hin – und lauschte. Drei Jungen, zwei Mädchen. Sie redeten nicht miteinander, doch sprachen ihre Körper Bände. Wippende Beine, Hände, die durch verschwitztes Haar fuhren, Blicke, die hin und her huschten, und Kehlen, die nervös arbeiteten. All das waren Hinweise, wahrhaft verräterische Spätfolgen des vorangegangenen Abends. Ihre Herzen schlugen furchtbar rastlos, stark, schmerzlich und voller verzweifeltem Leben, kämpften darum durchzuhalten, waren aber vollends überlastet.

Dem Geruch nach tippte Kevin auf Meth. Irgendwo in dem Mix nahm er auch Kokain und eine Unmenge starken Alkohols wahr. Aber das spielte keine Rolle, denn nichts davon hätte irgendeine Wirkung auf ihn.

Alles, was er wollte – was er brauchte –, war ein pochendes Herz. Und die Tatsache, dass es schlug wie verrückt, als gäbe es kein Morgen, war sogar noch besser.

Kevin blickte sich über die Schulter zu den sich bewegenden Schatten hinter ihm auf der Straße um. Blitze zuckten über den Himmel. Chicago war in Aufruhr, und das schon, seit Michael und seine Schlampe zusammengefunden hatten. Aber dies hier war nicht der »Höhepunkt«.

Noch nicht. Vielmehr sollten er, Kevin, und die anderen eben diesen »Höhepunkt« verhindern, indem sie den letzten Sternenengel ausschalteten. Wer auch immer das sein mochte.

Doch dazu später. Jetzt erst mal … hatte Kevin Hunger. Und er spürte, dass seine Brüder gleichfalls hungrig waren. Sie schlichen sich näher heran, an ihn und das Diner, kamen aus den Schatten hervor, als wären sie sich nicht sicher. Sie alle machten gerade eine bedeutende Entwicklung durch. Und plötzlich fühlten sie sich genauso zu diesem essbaren Schmerzstiller hingezogen wie er.

Wie immer führte er sie an. Er zog die Tür auf und betrat das Lokal.

Drinnen war es relativ ruhig. Der Donner und der Verkehrslärm von draußen wurden von der Glasfront gedämpft. Aber der Frieden würde nicht lange anhalten, da sich immer mehr Adarianer hinter Abraxos einfanden. Schon brachen die Unterhaltungen in dem Diner ab. Auf einmal waren alle Blicke auf die Neuankömmlinge gerichtet.

Kevin wunderte es nicht. Was für einen Auftritt sie hinlegten!

Es hatte mal eine Zeit gegeben, eine Ewigkeit war das her, da hatte Kevin auf diesen anderen Namen gehört. Er hatte ihn voller Stolz getragen … genauso stolz, wie er seine Flügel gezeigt hatte. Damals war er gut aussehend gewesen, und er hatte es gewusst. Diejenigen, die ihm gefolgt waren, als er die Engelsrevolte angezettelt hatte, waren genauso schön gewesen. Das waren die Engel ja von je her. Und je mächtiger sie waren, desto überwältigender war ihre Schönheit.

Äußerlich waren sie bis heute nicht so viel anders als damals. Sie hatten ihre Flügel nicht mehr, ihre Haut war ein wenig blasser, und in ihren Augen mochte wohl eher Feuer lodern, als dass sie von Licht erfüllt gewesen wären, aber ihre Mimik spiegelte nach wie vor alle denkbaren Emotionen, und ihre Blicke zeugten von ihren Erinnerungen. Jeder Einzelne von ihnen hatte getötet und war getötet worden, und die meisten kannten auch Verrat, und das war noch schlimmer.

Aber sie waren immer noch schön. Sehr schön.

Es war bloß inzwischen eine unheimliche Schönheit.

Die Kellnerin hinter dem Tresen sah sie misstrauisch an und trat einen halben Schritt zurück. Ihre Hände wanderten zu der Tasche in ihrer Schürze, wo Kevin die Umrisse eines Mobiltelefons ausmachen konnte. Gute Reflexe, dachte er, beachtete sie jedoch nicht weiter, denn trotz ihrer Angst schlug ihr Herz zu langsam.

Das Paar am Ende des Diners auf den Vinyl-Barhockern am Tresen wandte sich jetzt ganz zu ihnen um. Die erschöpften Gesichter nahmen einen ängstlichen Ausdruck an, den Kevin nur allzu gut kannte. Auch die beiden beachtete er nicht weiter.

Er hätte gewettet, dass schon sieben der ehemaligen Adarianer im Diner waren, als er den Tisch mit den Nachtschwärmern erreichte. Die fünf Jugendlichen erstarrten, trotz aller drogenbedingten Zappeligkeit, auf ihren Plätzen, und glotzten ihn an. Leider hatte der Junge, der Kevin am nächsten saß, von allen am wenigsten genommen. Durch seine Herzkammern pumpte nicht annähernd so viel Blut wie durch die desjenigen neben ihm und erst recht nicht so viel wie durch ihr Herz.

Das Mädchen neben ihm hatte blondes Haar mit blauen Strähnen und entschieden zu viel Eyeliner aufgetragen, der die Haut um ihre Augen ungesund wirken ließ und das Blau ihrer Iris verschluckte. Was sollte das eigentlich immer mit diesem dicken Eyeliner? Der sah nie gut aus – also, wie kamen die Mädchen darauf, dass er es tat? Aber egal. Am Ende würde der Bestatter ihn ohnehin abwischen, damit sie für ihre trauernden Eltern wieder wie eine Jugendliche aussah. Post mortem würde sie wieder den Anschein einer Unschuld besitzen, die sie im Leben längst verloren hatte. Kevin vermutete, dass das wohl der Lichtstreif am Horizont war.

Er beugte sich vor, stützte sich mit einem Arm auf den Tisch und sah sie direkt an.

Der Junge neben ihm schluckte.

Und dann ging alles ganz schnell. Kevin rammte die freie Hand in den Brustkorb des Mädchens. Knochen knirschten unter seiner Faust, und feuchte Wärme empfing seine suchenden Finger, während um ihn herum die Hölle losbrach. Die Kellnerin stieß einen gellenden Schrei aus, und einige der Gäste versuchten zu fliehen.

Doch nun machten sich auch die anderen Adarianer über ihre Nahrung her. Unnatürliche Geräusche erfüllten das Diner. Jemand brüllte etwas von Armageddon; ein anderer hielt sie für Zombies. Kevin beachtete all das nicht. Er hatte das Herz des Mädchens gefunden. Es war kräftig und pumpte, und er war ausgehungert.

Also hob er es an seine Lippen und nahm einen Bissen. Er spürte das Leben zwischen seinen Zähnen, als das Fleisch riss, und der Lebenssaft ergoss sich auf seine Zunge. Das hatte er schon so lange nicht mehr geschmeckt.

1

Gewitter tobten über Chicago. Zuweilen folgten die Blitze nachts so dicht aufeinander, dass der Himmel regelrecht grün wirkte. Es lag mehr Elektrizität in der Luft, als durch die Leitungen floss, um Wohnungen zu beleuchten, Klimaanlagen in Gang zu halten und Mikrowellen funktionieren zu lassen. Die Leute wandten sich ihren Radio- und Fernsehgeräten zu, damit die ihnen die eigenartige Wetterentwicklung erklärten, doch die fielen auch immer wieder aus, und sendeten sie mal, hatten die Wetterkanäle ebenfalls keine Erklärung.

Der Himmel war schlichtweg zornig. Sogar nachts türmten sich die Wolken auf. Sie wirbelten über der Stadt und schienen permanent Schlimmeres, Katastrophales anzukündigen. Den Beginn eines Tornados oder das Auge eines Hurrikans – das war es, was die Menschen sahen, wenn sie auf der Straße stehen blieben und nach oben blickten.

Und so sah es auch rund um den Bahnsteig von Washington/Wells aus, auf dem sich ein einsamer Afroamerikaner wiederholt gegen eine Telefonzelle warf, bis die gesamte Metallkonstruktion ächzend zur Seite kippte und krachend auf dem Boden landete. Der Mann geriet ebenfalls aus dem Gleichgewicht, fiel hinterher, kam auf die Knie hoch und betrachtete das geborstene Glas, als handelte es sich um einen sterbenden Freund. Was er vor sich hinmurmelte, war nicht nur ohnehin unverständlich, sondern wurde zusätzlich von dem über Chicagos Hochbahngleisen grollenden Donner übertönt, der eher an scheppernde Mülltonnen erinnerte.

Den Mann hätte auch an einem gewöhnlichen Tag niemand beachtet; er gehörte hierher. Und jetzt wartete keiner auf dem Bahnsteig, denn um diese nächtliche Stunde fuhr die Bahn nicht mehr von dieser Station aus, weshalb alles verlassen war. Es gab nur den Mann, die umgekippte Telefonzelle – und die beiden Männer, die ganz in der Nähe, aber außer Sichtweite kämpften.

Einer von ihnen trug ausnahmsweise eine Jeans und ein hellgraues, langärmeliges Thermo-T-Shirt, das sich eng an seine wohlgeformten Muskeln schmiegte, die sonst unter anthrazitgrauen Maßanzügen verborgen waren. Sein Haar war weißblond und streifte seine Schultern wie feine Federn. Seine Augen waren von einem unruhigen dunklen Grau, das den aufgewühlten Himmel spiegelte.

Der andere Mann war ähnlich gekleidet, nur dass sowohl sein T-Shirt als auch sein Haar pechschwarz waren. Seine Augen waren von einer außergewöhnlichen Grün-Grau-Mischung, wie ein Jadestein, durch den Stahl geschossen worden war.

Der Mann in dem Thermo-Shirt war allgemein bekannt als Samuel Lambent, seines Zeichens Medienmogul und zufällig Inhaber jener Sender, deren Meteorologen das ungewöhnliche Wetter auf die Erderwärmung schoben. Im Moment jedoch war er Samael.

Insgeheim auch der Gefallene genannt.

Sein Kontrahent war Hesperos, König der Incubi.

»Wo. Ist. Sie.« Es war keine Frage mehr, so wie beim ersten Mal, als er diese Worte ausgesprochen hatte. Okay, es war das einzige Mal gewesen, dass er es gefragt hatte. Samael war kein Mann, der sich unnötig wiederholte. Hesperos wusste, wen er suchte, wen Sam meinte und was Sam wollte. Doch hatte er nicht vor, es ihm zu verraten.

Sam kassierte zwei Fausthiebe vor die Brust und stolperte rückwärts, wobei er Hesperos aus seinem Würgegriff entließ. Der drehte sich, wendig, wie er war, und traf Samael mit einem Round-House-Kick so heftig am Kinn, dass Sam zur Seite geschleudert wurde. Doch er fing sich genauso schnell wieder und nutzte den Schwung, um seinem Gegner einen Fausthieb gegen das Kinn zu verpassen. Auge um Auge.

»Selbst wenn ich es wüsste, würde ich es dir nicht sagen«, keuchte Hesperos, bevor er seine Schulter gegen Sams Brust rammte und sie beide erneut zu Boden gingen.

Normalerweise hätte Sam einen guten Kampf genossen. Erst kürzlich hatte er einen mit Detective Michael Salvatore vom NYPD gehabt. Michael war einst ein Krieger – einer der Erzengel, die vor etwa zweitausend Jahren auf die Erde geschickt worden waren. Ab und zu war ein anständiges Workout nett, um sich in Form zu halten und ein bisschen Dampf abzulassen.

Jetzt aber war Sam nicht hier, weil er Dampf ablassen wollte. Er versuchte auch nicht, irgendetwas zu beweisen, und erst recht brauchte er kein Workout.

Was er brauchte, war Angel. Und Hesperos wusste, wo sie war. Das war der einzige Grund, weshalb Sam ihn noch nicht umgebracht hatte.

Na ja, fast der einzige Grund.

Ein anderer war, dass er Hesperos eigentlich nicht töten wollte. Die Incubi brauchten einen König, und sie hatten noch nie einen besseren gehabt als den gegenwärtigen. Hesperos hatte klare Moralvorstellungen, gab eindeutige ethische Standards vor und war der mit Abstand stärkste und erfahrenste von ihnen. Keiner konnte erahnen, was geschehen würde, sollte Sam ihn von seinem Thron stoßen.

So verblüffend das sein mochte: Es war Sam nicht egal. Das passierte ihm in jüngster Zeit immer häufiger. Dass ihm Dinge nicht gleichgültig waren. Lieber ließ er sich auf ein Handgemenge mit Hesperos ein, als dass er riskierte, die großen Geschütze aufzufahren und so womöglich Menschen zu gefährden oder ihre Häuser zum Einsturz zu bringen. Diese vormals unbekannte Sorge war störend, und Sam hatte keinen Schimmer, woher sie rührte. Sie war einfach da.

Ein anderer Punkt war, dass sich Hesperos als schwierig erwies. Er war der Inbegriff eines Kriegers, hatte vor Jahrtausenden ganze Armeen in die Schlacht geführt, und wenn Sam ehrlich sein sollte, war der Ausgang dieses Kampfes ein bisschen weniger klar, als er angenommen hatte. Der Kerl war stark. Sam hatte ihn unterschätzt. Selbst wenn Sam beschlossen hätte, harte Bandagen anzulegen, hätten vermutlich sowohl er selbst als auch seine Umgebung gewaltig Schaden genommen. Verheerend und unerklärlich. Vielleicht sogar irreparabel.

Die beiden Männer rollten über den Boden, hielten sich gegenseitig im Würgegriff, bis sie über die blaue Linie des Bahnsteigs gerieten und hinunter ins Gleisbett fielen. Sam landete auf den Schienen, Hesperos auf ihm.

Der von den gebrochenen Knochen herrührende Schmerz hätte einen Menschen überwältigt. Sam hingegen nahm ihn kaum wahr. Er hatte durch den Sturz nichts an Kampfkraft eingebüßt. Was er allmählich jedoch durchaus verlor, war die Geduld. Er spürte eine ständige geistige Anspannung. Es fühlte sich an, als wäre er innerlich in zwei Hälften gespalten, und die Hälfte, die er tatsächlich brauchte, würde ihm entgleiten. Egal wie schnell er ihr nachsetzte, egal wie sehr er sie jagte – sie entwischte ihm immer wieder.

Natürlich tat sie das.

Schließlich war sie in alldem genauso gut wie er … denn sie war von Anfang an ein Teil von ihm gewesen. Jetzt begriff Samael erst, was es bedeutete, seelenverwandt zu sein. Im Guten wie im Schlechten. Hesperos war nicht der Einzige, den er in letzter Zeit unterschätzt hatte. Angel stellte ihn nicht minder auf die Probe. Ihn und seinen Verstand.

Mit zusammengebissenen Zähnen und neuerlich von Wut erfüllt, zog Sam beide Beine an, knallte seinem Gegner die Knie vor die Brust und stieß den König der Incubi von sich, sodass dieser ein ganzes Stück weiter entfernt auf den Gleisen aufschlug. Sam jedoch wartete nicht ab, bis er Hesperos landen hörte, sondern sprang sofort auf und rannte ihm nach.

Hesperos rappelte sich fast ebenso schnell wieder auf, und die beiden krachten mit solcher Wucht gegeneinander, dass die von ihnen ausgehende Druckwelle die rissigen Fliesen aus den nächstgelegenen Wänden des Bahnhofs platzen ließ.

Irgendwo auf dem Bahnsteig über ihnen knirschten die Scherben jetzt unter Stiefelsohlen.

Sam hatte die Neuankömmlinge bereits wahrgenommen. Er konnte alles fühlen, was sich näherte oder entfernte, vor allem jene, die nicht ganz normal waren. Niemand überraschte ihn, niemals. Lediglich Lilith hatte es gelegentlich geschafft. Wenn er müde oder gedankenversunken aus den Fenstern seines Büros im fünfundsechzigsten Stock des ehemaligen Sears Tower sah, konnte es vorkommen, dass er sie erst bemerkte, wenn sie hinter ihm in der Tür stand.

Aber so erging es ihm ausschließlich mit ihr. Diese polternden Idioten, die sich jetzt auf den Bahnsteig über ihnen befanden, konnte er riechen. Sie rochen nach Tod. Und es war nicht der eklige Gestank von überfahrenen Tieren, über denen Bussarde kreisten, sondern ein weitaus üblerer Tod. Sie rochen wie tote Seelen.

Sam und Hesperos wichen auseinander und unterbrachen ihren Kampf. Auch Hesperos konnte die Neuankömmlinge spüren. Incubi erkannten das Schöne – wie auch das Hässliche – in einer Person. Und diese Typen verkörperten das pure Hässliche.

In dem Moment schienen beide Männer zu einem gemeinsamen Entschluss zu kommen. Sie ließen voneinander ab und richteten sich zu ihrer vollen Größe auf. Die Fäuste geballt, sahen sie einander an und vereinbarten stumm, ihren Kampf später fortzusetzen.

Dann drehten sie sich gleichzeitig um, sprangen auf den Bahnsteig und gingen mit der ganzen Kraft ihrer vereinten Magie auf die Adarianer los.

Über ihnen zuckten unzählige Blitze, und irgendwo in der Stadt war plötzlich wieder ein Bereich ohne Strom. Chicago war zu einem lebendigen Spiegelbild des entfesselten Zorns des Gefallenen geworden.

2

Max blickte von seinem Schreibtisch auf, als er hörte, dass sich jemand seiner Bürotür näherte. Allerdings blinzelte er mehrmals und nahm hastig die Brille ab, kaum dass er sah, wer es war. »Lilith!«, flüsterte er erschrocken und erhob sich so schnell, dass sein Stuhl hinter ihm umkippte. Sie dürfte nicht hier sein. Sein Büro befand sich im Herrenhaus, und einzig die Erzengel, die Sternenengel und er selbst sollten imstande sein, sich in den Korridoren dieses Hauses zu bewegen.

Doch sein erster Schreck verflog schnell. Er löste sich mit einem Blick in ihr Gesicht, in ihre Augen und auf das kleine Lächeln auf, das ihre vollen Lippen umspielte. Natürlich konnte sie das einsetzen. Er hätte es wissen müssen.

»Hallo Max«, begrüßte sie ihn sanft. Dann wurde ihr Lächeln angestrengt. »Leider bringe ich unerfreuliche Neuigkeiten.« Wie gewohnt war sie angezogen wie eine Bibliothekarin: schmaler Wollrock, schwarze Pumps, eine Seidenbluse, deren oberste Knöpfe geöffnet waren, und eine zarte Kette, die Max’ Blick immer wieder zu ihrem Hals lockte. Ihr schwarzes Haar hatte sie zu einem lockeren Knoten hochgesteckt, sodass einzelne Strähnen ihr schönes Gesicht umrahmten. An einer langen Goldkette baumelte eine Lesebrille, die sie momentan nicht brauchte. Ihre Augen waren von der Finsternis des Weltalls und genauso geheimnisvoll.

»Bitte«, sagte Max, um bessere Manieren bemüht, ging um den Schreibtisch herum und strich seine Kleidung glatt. »Komm rein, und setz dich.« Er wies auf die Sitzmöbel in dem Zimmer, das ihm das Herrenhaus mitsamt den hohen Eichenregalen voller Bücher und einigen großen, komfortablen Sesseln, in denen man sie gemütlich lesen konnte, geschaffen hatte.

Lilith lächelte vornehm und kam ins Büro, wo sie sich für den Stuhl vor Max’ Schreibtisch entschied. Sie setzte sich und schlug elegant die langen Beine übereinander. Max lehnte sich an den Schreibtisch; er blieb lieber stehen, um ihr näher zu sein. Das wollte er immer.

»Wie geht es dir?«, fragte er. Für die meisten war das nur eine Floskel, die sie so dahinsagten, um höflich zu sein, die Zeit zu füllen und sich freundlich zu geben. Keiner wollte wirklich wissen, wie es dem anderen ging. Max hingegen interessierte Liliths Befinden sehr wohl. Auch daran würde sich nie etwas ändern.

Ihr Lächeln wurde wärmer. »Mir geht es gut. Aber allen anderen?« Sie lachte leise. »Das steht auf einem ganz anderen Blatt.« Max wartete stumm, da dies offensichtlich die Einleitung zu dem war, was sie ihm berichten wollte.

»Wie du zweifellos schon gehört hast, ist Samael auf der Suche nach jemandem. Einige eurer Sternenengel denken, dass es sich um eine Frau namens Angel handeln könnte. Ihr solltet auch erfahren, dass seine Wut darüber, sie nicht finden zu können, zu heftigen Gewittern über Chicago und einem Großteil der Umgebung führt. Trotzdem ist es äußerst wichtig, dass er sie nicht findet. Noch nicht.« Max hätte gern nach dem Grund gefragt, kannte Lilith aber zu gut. Sie war ein wahrer Quell geheimen Wissens. Vor all den Jahrtausenden war sie als Erste auf die Erde gekommen. Sie verfügte über ein Wissen, von dem andere nur träumen konnten, und Max war klar, dass sie nie mehr verraten würde, als sie für nötig hielt. Also fragte er nicht. Außerdem hatte er bereits eine vage Vermutung.

Er nickte und schwieg.

»Gregori ist sich dessen genauso bewusst wie ich, fürchte ich. Mit dem einzigen Unterschied, dass er bereit ist, zu extremen Mitteln zu greifen, um sie getrennt zu halten«, erklärte Lilith. »Mit anderen Worten: Er ist fest entschlossen, Angel zu finden und sie um jeden Preis zu vernichten.«

»Also wünschst du, dass wir sie vor ihm finden und sie beschützen.«

Lilith lächelte. »Falls das überhaupt möglich ist, wärt ihr diejenigen, die das könnten.«

Max nahm es gelassen. Dies war nicht sein erstes Rodeo.

»Allerdings bringe ich noch mehr Neuigkeiten«, fuhr Lilith fort. »Abraxos und die anderen Adarianer wurden von Gregori unter seine Fittiche genommen.«

Max nickte abermals. Leider war ihm diese Tatsache auch schon bekannt. Die Erzengel hatten es bei der Schlacht in Michaels Apartment mit einigen Adarianern zu tun bekommen, als sein Sternenengel sich die Flügel verdiente. In jener Nacht war eine Menge passiert. In gewisser Weise war es ein Wendepunkt gewesen.

»Sicher weißt du auch schon, dass die Adarianer eine … gewisse Verwandlung durchgemacht haben.«

»Ich weiß, dass Abraxos vor nicht allzu langer Zeit zum Vampir wurde, ebenso wie einige der anderen. Und mir ist bekannt, dass sie sich gegenseitig zu Vampiren machen und dass Gregori auf Abraxos traf, nachdem der von seinen Brüdern ermordet worden war«, erwiderte Max. Er stieß sich vom Schreibtisch ab und ging zu einer Bar auf der anderen Seite des Raumes. Dann blickte er sich über die Schulter zu Lilith um. »Darf ich dir etwas zu trinken anbieten?«

Liliths Lächeln wurde zu einem Grinsen. »Eine Flasche Welch’s Grape Soda.«

Max schüttelte den Kopf. Er hatte geahnt, dass sie um etwas Seltsames und wahrscheinlich Altmodisches bitten würde. Da sich das Herrenhaus um seine Bewohner kümmerte, wie Lilith wusste, war ihr natürlich klar, dass es hier alles geben würde, wonach sie verlangte. Und nun erschien also eine Flasche Welch’s Grape Soda im Kühlfach der Bar. Max nahm ein Glas, füllte Eiswürfel aus dem Behälter hinein, der nie leer wurde und dessen Inhalt nie schmolz, und brachte ihr das Glas und die Flasche.

Lilith nahm beides entgegen, stellte das Glas beiseite und trank direkt aus der Flasche. Ihr Grinsen wurde breiter, als sie sich mit einem Nicken bedankte und sich ein wenig zurücklehnte, wobei sie die Flasche in der Hand behielt. »Abraxos’ Mörder versteckten sich anschließend. Aber Gregori konnte sie aufspüren.« Sie seufzte, trank noch einen Schluck und blickte über den Flaschenrand hinweg ins Leere. Plötzlich schien sie sich in ihren Gedanken zu verlieren, bis sie sagte: »Nun sind alle zwölf Adarianer auf die eine oder andere Art getötet, wieder zum Leben erweckt worden und unter Gregoris Kontrolle.«

»Wenn du sagst, dass sie wieder zum Leben erweckt wurden … ist es das, worüber du eigentlich mit mir sprechen willst, nicht wahr?«

Sie nickte stumm. »Max, sie verändern sich auf furchtbare Weise. Es gibt entsprechende Berichte. Wie ich hörte, greifen sie Sterbliche an und …« Sie stockte und sah ihm in die Augen. »Sie essen Menschenherzen.«

»Armageddon, so nennen es die Leute.« Max lehnte am Kamin im Wohnzimmer des Herrenhauses, wo sie gewöhnlich zusammenkamen. Dieser Kamin schien der Mittelpunkt vieler dieser Treffen zu sein. Könnte Feuer reden, was würde es mit seinem Fauchen nicht alles erzählen …

Die Erzengel und ihre Sternenengel saßen oder standen im Zimmer verteilt, und alle hatten aufmerksam zugehört. Uriel sprach als Erster, nachdem Max ihnen berichtet hatte, was Lilith ihm mitgeteilt hatte.

»Unerklärliche Wetterphänomene und Leute, die sich wie Zombies benehmen. Ich verstehe, warum manche zu dem Schluss kommen, dass die Welt untergeht.«

»Weil sie alle wie du sind. Sie verbringen viel zu viel Zeit in Hollywoods Scheinwelten«, sagte Michael mit einem vorwurfsvollen Kopfschütteln. Seine Miene verriet jedoch, dass er sich bloß über seinen Bruder lustig machte.

»Wenigstens steht er auf der anderen Seite der Kamera«, verteidigte ihn Eleanore, sein Sternenengel. »Er ist derjenige, der täuscht, nicht der, der sich täuschen lässt.«

»Leider ist an den gegenwärtigen Vorkommnissen nichts vorgetäuscht«, sagte Max leise. »Ich fürchte, das Blut und die Toten sind diesmal ziemlich real. Zudem scheinen sich die meteorologischen Störungen auszuweiten. Auch aus Regionen außerhalb von Chicago werden eigenartige Wetterphänomene gemeldet.«

»Also haben die Leute in der Gegend wahrscheinlich Angst, dass sich auch diese Zombie-Geschichte ausbreitet«, sagte Eleanore.

Alle überdachten die Neuigkeiten schweigend.

Da spürte Max es. Es war wie der Beginn einer Panikattacke, dieses plötzliche Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Dass etwas geschehen würde. Etwas Übles.

Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, vielleicht die anderen zu warnen, doch noch ehe er einen Ton herausbrachte, setzte das Grollen ein.

Max war schon länger dabei und konnte einige Erfahrung als Hüter vorweisen. Als der Boden im Herrenhaus zu beben begann, erinnerte er sich sofort an das, was er vor über hundert Jahren in San Francisco erlebt hatte.

»Ein Erdbeben?«, fragte Sophie Bryce leise. Unwillkürlich wanderten ihre Hände zu den gepolsterten Armlehnen ihres Sessels.

Ihr Gefährte, der Erzengel Azrael, stellte sich hinter sie – ganz der beschützende Schatten.

»Das ist nicht möglich«, sagte Gabriel, setzte seine Bierflasche ab und spreizte die Beine, als wüsste er instinktiv, dass das Rumoren schlimmer werden würde.

Was es auch wurde.

Innerhalb von Sekunden tat sich ein Riss in dem Marmor unten am Kamin auf, neben dem Max stand. Er trat einige Schritte zurück und hielt sich an der Couch fest, auf der Eleanore und Juliette saßen. Mit großen Augen beobachtete er, wie der Riss geradewegs in den Kamin schoss und einen knisternden Funkenregen auslöste. Er breitete sich weiter aus, an der Rückwand des Kamins hinauf, sprang auf die obere Einfassung über und verlief dann über das Sims nach oben.

Dort endete er. Einen Augenblick später klaffte der Riss weiter auf, und das Herrenhaus gab ein eigenartiges Ächzen von sich. So ein Geräusch hatte Max noch nie gehört. Es war, als würde das Haus leben und vor Schmerz aufstöhnen.

»Was zur Hölle …«

Gabriels verwirrter, ängstlicher Ausruf drückte aus, was sich in den Gesichtern aller spiegelte. Doch kein Einziger von ihnen wusste, was er tun sollte. Sie blieben, wo sie waren, und hielten sich fest, wo sie gerade saßen oder standen. Schließlich hörte das Grollen auf, doch der Riss, der sich im Kamin des Herrenhauses gebildet hatte, blieb.

Wie eine Erinnerung.

Oder eine Warnung.

»Jemand hat entdeckt, wie er ins Herrenhaus kommt, oder?«, fragte Sophie. So zögerlich ihre Stimme auch klang, wohnte ihren Worten doch kein Zweifel inne. Sie wusste, was ihnen allen klar war. Ins Herrenhaus war eingebrochen worden. Die Frage war nur, von wem? Samael?

Wollte er so dringend hier hereinkommen, hätte er es schon vor Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden versucht. Nein, dies hier war jemand anders. Oder etwas anderes.

»Es ist Gregori«, sagte Azrael ruhig.

»Hier ist es nicht mehr sicher«, pflichtete Max ihm bei. Und das war etwas, wovon er niemals gedacht hätte, dass er es über das Herrenhaus würde sagen müssen. Wohin sollten sie jetzt?

»Vielleicht haben sie recht«, sagte Eleanore. »Vielleicht ist es wirklich das Ende der Welt.«

3

Er erwachte schweißgebadet aus dem Traum, die Laken um ihn herum in Fetzen gerissen. Wieder mal war er dem Schlaf und dessen endlosen Qualen zum Opfer gefallen. Jeder Albtraum war übler als der vorherige, geprägt von noch größerer … Angst. Anders ließ sich das, was er träumte, nicht beschreiben.

Letztlich waren seine Träume nichts als eine Mischung aus Finsternis und Unsicherheit. Immer war er von einer stickigen, ekligen Schwärze umfangen, die ihn niederdrückte und ihm den Atem raubte, während ihn ein Echo fernen Gelächters und ein schwacher Regengeruch quälten – ähnlich seinem eigenen und doch anders. Weil es ihr Gelächter war.

Wenn er sich endlich befreit hatte und aufwachte, fand er sein Zimmer jedes Mal verwüstet und … einen Teil von sich verändert, und zwar grundlegend verändert.

Er war ungeduldiger und wütender, und jeden Morgen heuerte er mehr Leute für die Suche nach ihr an und jagte verbissener nach ihr, als er je in seinem Leben gejagt hatte. Doch das war bloß ein Teil der Veränderung.

Der andere war physischer Natur und von einer Art, wie er ihn nicht mehr durchgemacht hatte, seit er vor etwa zweitausend Jahren erstmals auf die Erde gekommen war. Er hatte diesen Teil von sich sorgfältig verborgen und ihn in all der Zeit kein einziges Mal gezeigt. Nicht einmal, als er es mit den lästigen Erzengeln und ihren Sternenengeln zu tun bekam. Nicht mal, als er es mit den Adarianern und irgendwelchen neuen Monstern aufnahm, die Gregori anscheinend unter seine Fittiche genommen oder direkt aus den Tiefen der Hölle hervorgebracht hatte.

Er hielt ihn geheim, nicht gewillt, irgendwen diese Seite von sich sehen zu lassen. Also zwang er ihn im Moment des Aufwachens zurück in die Schatten seines Seins, kämpfte sich aus seinem verwüsteten Bett und machte sich wieder an die Arbeit.

Heute Morgen jedoch war es um ein Vielfaches schwieriger als gestern, und da war es um ein Vielfaches schwerer gewesen als am Morgen zuvor. Er fühlte sich, als hätte jemand sowohl seine Nerven als auch seine Geduld mit einer Käsereibe bearbeitet.

Am Himmel über Chicago hallte seine Verzweiflung nach, spiegelte sich seine Erschöpfung in tief hängenden, dunklen Wolken und seine Furcht und sein Zorn in zuckenden Blitzen und Hagelschauern, die Blitzableiter und Bedachungen bis aufs Äußerste forderten. Gelegentlich trieb der Wind die wirbelnden Wolken gegen Sams Fenster, und Regen peitschte gegen die Scheiben, sodass alles dahinter verschwamm. Irgendwie passend.

Da war ein Geräusch hinter ihm, das aus dem Flur vor seinem Büro kam.

Er drehte sich nicht um. »Irgendwas Neues?« Seine Frage klang angespannt, und sein Blick war in die Ferne gerichtet, auf einen Punkt über dem Lake Michigan, während seine Finger das Whiskyglas in seiner rechten Hand umklammerten.

»Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Du siehst furchtbar aus, Sam.«

Samael runzelte die Stirn und wandte sich vom Fenster ab. Sie hatte es schon wieder getan. Er hatte gehört, dass jemand gekommen war, jedoch angenommen, dass es Jason war, sein Assistent, den er kurz zuvor ausgesandt hatte. Er hatte nicht erwartet, Lilith in seiner Tür zu sehen.

Sie war schön wie eh und je, sittsam in ihrem Bleistiftrock und mit der Brille. Letztere hatte ihn schon immer verwirrt. Warum sollte jemand wie Lilith, die so offensichtlich kein Mensch war, eine Brille tragen? Gefragt hatte er sie nie.

Nun, als er sie anstarrte, wurde ihm bewusst, dass es eine Menge Dinge gab, die er während seiner Zeit auf der Erde nicht getan hatte. Gut zweitausend Jahre. Da sollte man meinen, dass man so ziemlich alles schaffte. Aber nein. Tatsache war, dass, egal wie viel Zeit man bekam, es einfach immer einige Dinge gab, die zu tun einem nicht in den Sinn kam.

»Gewiss willst du mir sagen, dass die Adarianer noch schlimmer aussehen«, fuhr sie fort, während sie das Büro im fünfundsechzigsten Stock des ehemaligen Sears Tower betrat und zu ihm ans Fenster kam.

»Ein Gentleman prahlt nicht«, erwiderte er müde und wandte sich wieder dem wässrigen Nichts jenseits von Stadt und Gewitter zu. »Aber ja.«

Ihm war klar, dass ihn seine letzte Auseinandersetzung mit den Adarianern und Hesperos besonders ausgelaugt hatte. Beinahe war es, als schickte Gregori ihm die Adarianer einzig zu dem Zweck, ihn langsam fertigzumachen. Einen anderen Grund konnte es nicht geben, denn er war stärker als sie alle zusammen. Das musste Gregori wissen. Also warum sollte er ihm diese Bestien wieder und wieder auf den Hals hetzen, wenn nicht, um ihn ganz allmählich physisch zu vernichten?

Die Träume machten es um nichts besser. Während des letzten Blitzes hatte er für einen kurzen Moment sein Spiegelbild im Fenster gesehen. Zurzeit gingen die Aktienkurse seiner Firmen durch die Decke, vor allem nach den jüngsten Medienberichten über die Wetterphänomene. Es hatte einiges für sich, wenn man sowohl die Nachrichten machte als auch von ihnen profitierte. Sollte er jetzt jedoch vor eine Kamera treten, so ausgezehrt, wie er aussah, könnte sich die Öffentlichkeit fragen, ob er krank war. Wahrscheinlich würden seine Aktien dann in den Sinkflug gehen, und das wäre nicht gut. Schließlich finanzierte er mit dem Geld die Suche nach ihr.

»Übrigens …«, begann Lilith ruhig und beiläufig, so wie sie jedes ernste Gespräch eröffnete. »Manche Leute sagen, dass man mehr Fliegen mit Honig fängt als mit Essig.«

»Ich bin nicht hinter einer Fliege her. Fliegen sind nervig und lästig. Wenn sie kommen, greife ich zur Fliegenklatsche.« Es war komisch, aber bei der Erwähnung von Fliegen und Fliegenklatschen dachte er unweigerlich an die Adarianer. »Nein.« Er trank einen Schluck aus seinem Glas und biss die Zähne zusammen, als die Flüssigkeit in seiner Kehle brannte. »Ich bin hinter einem Kolibri her.«

Lilith drehte sich zu ihm, und ihre Züge wurden weicher, während ihre Augen interessiert aufblitzten. Sam hatte keine Ahnung, warum er das gesagt hatte. Warum er Angel mit einem Kolibri verglich. Es war ihm einfach so herausgerutscht.

»Ich habe kürzlich eine Karte bekommen«, erwiderte Lilith, »und auf der stand unter anderem, dass Kolibris außerhalb der Zeit schweben. Eine reizende Karte. Aus Papyrus, glaube ich.«

Außerhalb der Zeit schwebend … Die Flügelbewegungen der Kolibris schienen sich tatsächlich der Wahrnehmung zu entziehen. Vor seinem geistigen Auge sah Sam einen Vogel so farbig wie Edelsteine, dessen unfassbar schnelle Flügelbewegungen zu einem Farbschleier verschwammen. Als wären sie gar nicht da.

Unsichtbare Flügel.

Sam schluckte und blickte in sein Glas, während er es nachdenklich schwenkte. »Ich schätze, die Karte war von Max.«

Lilith lächelte. »Eifersucht steht einem Gentleman auch nicht zu Gesicht.«

Das wiederum brachte ihn zum Lächeln. Sie wusste verdammt gut, dass er nicht eifersüchtig war. Er hasste den Hüter bloß. Dennoch linderte ihr Necken seinen Schmerz irgendwie. Es war seltsam, wie sie das konnte. Typisch Frau. Frauen hatten eine ganz eigene Art, den männlichen Verstand zu verwirren. Es war unbegreiflich, dieses Talent, die Seele zu beruhigen und Unruhe zu dämpfen. Eine magische Kraft.

Doch einen Moment später schwand sein Lächeln. Ihm fiel auf einmal ein, dass sie einen Grund haben musste, zu ihm zu kommen. Den hatte sie immer.

Und genauso unvermittelt wurde ihm bewusst, welcher das war.

Er ließ sein Glas sinken. Sein Blick wurde klar, er straffte sich, und jeder einzelne seiner angegriffenen Nerven meldete sich erneut. »Du weißt, wo sie ist.«

Natürlich wusste sie es. Diese verfluchte Frau wusste alles.

Lilith reckte ihr Kinn, holte tief Luft und atmete dann mit einem Seufzen aus. »Ich kann dir dies hier geben.« Sie zog ein kleines gefaltetes Blatt unter ihrer Bluse hervor, zweifellos aus ihrem BH, da sie es dort nirgends sonst gehabt haben könnte, und hielt es ihm hin. »Doch das nur, weil du nicht der Einzige bist, der nach deinem Kolibri sucht. Ehrlich gesagt und trotz allem denke ich, dass sie bei dir sicherer wäre.«

Sam ließ seinen Drink kurzerhand verschwinden, nahm Lilith den Zettel ab und faltete ihn auseinander. Bis er zu Ende gelesen hatte, war Lilith bereits wieder an der Tür.

Dort blieb sie stehen und blickte sich zu ihm um. »Aber denk bitte an das, was ich dir über Fliegen und Honig gesagt habe, Sam. Wie es der Zufall will, mögen Kolibris ihn auch.«

4

Nebel küsste Azraels Wimpern und kräuselte die Spitzen seines langen schwarzen Haars, und die Luft war leicht salzig. Zugleich hing ihm der Geruch des Blutes noch in der Nase. Er hatte sein Opfer längst vernichtet und hinter sich gelassen, unten am Ende von Pier 19, der um diese nächtliche Stunde einsam und verlassen dalag. Alles, was von dem frauenverachtenden Schuft übrig geblieben war, war Asche, die von der einsetzenden Flut weggespült werden würde. Doch wie immer verfolgte der Geruch des Blutes Azrael noch. Er war da, in seiner Nase, in seiner Kehle, lag ihm auf der Zunge und haftete an seinem Gaumen.

Azrael musste sich nicht mehr von seinen Opfern nähren, wenn er es nicht wollte. Er hatte Sophie …

Bei dem Gedanken an sie blieb er abrupt stehen und schloss die Augen. Sie umfing ihn gleich einer Decke aus weißem Licht, warm und sauber, und für einen kurzen Moment konnte er ihr Lachen hören und fühlen, wie ihr seidiges Haar seine Wange streifte.

Er lächelte. Dann öffnete er die Augen wieder und ging weiter.

Nein, er musste sich nicht mehr vom Abschaum der Welt nähren, doch es gab zu viele solcher Leute. Zu viel Böses. Und Azrael war mehr als fähig, zumindest einen winzigen Teil von ihnen auszulöschen. Das schuldete er den anderen Menschen. Es war nicht leicht, sterblich zu sein. Von der Geburt bis zum Tod bedeutete es nichts als Schmerzen, Verlust und dazwischen Angst. Das Letzte, was sie brauchten, war ein Superheld, der nichts zur Verbesserung der Welt beitrug, obwohl er es durchaus gekonnt hätte.

Az machte sich durch die Schatten auf den Weg zum Embarcadero und ging zielsicher auf den ersten Wagen zu, den er dort am Straßenrand geparkt sah. Es war nicht sein Auto, aber er brauchte sowieso nur die Tür. In den Schatten konnte er sich bewegen, wohin er wollte, doch nur eine Tür brachte ihn zurück ins Herrenhaus.

Das Herrenhaus mochte Risse bekommen und von Beben erschüttert werden, doch fürs Erste blieb es sein einziges Zuhause – seines und Sophies. Sie war jetzt dort, und wie immer konnte er es kaum erwarten, zu ihr zurückzukehren.

»Azrael.«

Az blieb stehen, und eine Reihe von Emotionen stellten sich nacheinander bei ihm ein. Zunächst war da Verwunderung. Dies war das erste Mal, dass es jemandem gelungen war, sich an ihn ranzuschleichen, seit … tja, er konnte sich eigentlich nicht erinnern, dass es schon mal vorgekommen war. Das zweite Gefühl war Furcht. Und das war ungewöhnlich für ihn. Aber er erkannte die Stimme. Sie ließ ihn an Eis denken und daran, wie Sophie in einem Palast aus Eis gefangen war, in einem Gletscher inmitten frostigen Nichts.

»Gregori.«

Sehr langsam drehte er sich um. Er spürte bereits, wie die Flammen seiner Macht seine Augen erhitzten.

Gregori nickte höflich und blieb in seinem maßgeschneiderten weißen Anzug auf Abstand, umrahmt von der dunklen Bucht hinter ihm. Alcatraz wurde jenseits von ihm erahnbar, als der einsame Lichtkegel des Leuchtfeuers vorbeihuschte. Azrael fiel alles wieder ein, was Gregori getan hatte, vor allem da draußen auf der Insel.

»Ich bin mir bewusst, welch unwillkommener Gast ich im Moment bin. Trotzdem habe ich aus einem bestimmten Grund entschieden, lieber mit dir als mit einem deiner Brüder zu reden. Ich glaube, du bist eher imstande, das große Ganze zu sehen, Azrael.«

»Und welches große Ganze wäre das, das ich deiner Meinung nach sehen könnte, Gregori?«, fragte Azrael ruhig. »Eines, in dem die menschliche Art wiederbelebten, Herzen verschlingenden Adarianern zum Opfer fällt? Oder eines, in dem Drachen, Gargoyles, Werwölfe und sogar Vampire eine Armee unter deinem Befehl bilden und jedwedes sonstige Leben auslöschen?« Jeder Nerv in seinem starken Körper knisterte vor Magie, was ihm äußerlich nicht anzumerken war. Aber sicher war sie auch nichts im Vergleich zu den verborgenen Kräften, die in dem Mann wenige Schritte von ihm entfernt brodelten.

»Samael hat einen Sternenengel.« Anscheinend hatte Gregori beschlossen, alles zu ignorieren, was Az gerade gesagt hatte. Etwas anderes hatte Azrael auch nicht erwartet.

»Das ist mir bekannt.«

Gregori hob staunend eine Braue.

»Im Schatten verbreiten sich Nachrichten schnell«, erklärte Az.

Gregori schien einen Moment zu überlegen, dann nickte er. »Es ist dringend geboten, dass er sich nicht mit ihr vereint. Denn sobald er es täte, käme es zum Höhepunkt.«

»Ach ja«, sagte Azrael und hob den Kopf nur eine Nuance. »Der Höhepunkt.« In letzter Zeit hörte er sehr viel davon. Und zugleich hatte er nach wie vor keinen Schimmer, was zur Hölle das sein sollte.

»Du hast keine Ahnung, was das ist, oder?«

Beinahe hätte Azrael gelacht. Aber eben nur beinah. Denn es war ziemlich gut möglich, dass Gregori diese Information direkt Azraels Gedanken entnommen hatte. Was gar nicht gut wäre. Nein, es könnte sogar Entsetzliches bedeuten.

Ohne Azraels Bestätigung abzuwarten, die eindeutig nicht nötig war, drehte Gregori sich ein wenig, entfernte sich ein paar Schritte und verschränkte die Hände auf dem Rücken. Seine Haltung strahlte Gelassenheit und Selbstbewusstsein aus. »Alles, was du weißt, alles, was du tust, und alles, was du dir für diese Welt erhoffst, wäre verloren. Man wird dich in die Gefilde der Engel zurückholen, und jede Chance, die du einst gehabt haben magst, alles zu ändern, was deiner Ansicht nach für die Menschen und die Tiere der Erde schlecht ist, wird mit dir verschwinden.«

Er blieb stehen und wandte sich wieder Azrael zu.

»Und das ist erst der Anfang. Der Riss in Raum und Zeit, der erforderlich ist, um so überirdische Wesen wie dich und deine Brüder aus diesem Reich zu entfernen, wird den Planeten verwüsten und die Menschen, an denen dir inzwischen so viel liegt, in völliges Chaos stürzen. Wer weiß, wie viele von ihnen dadurch sterben werden?« Er hielt inne und schien sich an etwas zu erinnern. »Ach, stimmt ja, du wirst es wissen. Denn kehrst du erst ins Reich der Engel zurück, Azrael, wirst du wieder zum Todesengel. Daher fürchte ich, dass du dir nur allzu bewusst sein wirst, wie viel Leid über die Erde gekommen ist.«

Er wartete kurz, als wollte er seine Worte auf Azrael wirken lassen, und dann fuhr er fort wie eine Dampflok auf einem Einbahngleis in die Hölle: »Und was ist mit Sophie Bryce und den anderen Sternenengeln? Was wird mit ihnen geschehen? Bist du gewillt, darauf zu zählen, dass bei alldem auf ihr Wohlergehen geachtet wird? Kam dir der Alte Mann jemals wie ein derart großzügiger Herrscher vor? Hat er die Angehörigen des weiblichen Geschlechts jemals so behandelt, wie du es für fair hältst? Denk dran, was er Lilith vor all den Jahren antat … Frauen und ihre Wünsche – sei es Unabhängigkeit, sei es Freiheit von Unterdrückung oder auch nur das Recht, bei dem zu bleiben, den sie lieben – waren noch nie seine größte Sorge, nicht wahr?«

In der Nähe tutete ein Nebelhorn, und eine dicke weiße Wolke, die draußen über dem Wasser gelauert hatte, bewegte sich landeinwärts. Der Wind drehte, und Azrael nahm den metallischen Geschmack von Blut in seinem Mund wahr.

»Also tu dir selbst einen Gefallen, Azrael. Wie auch immer deine Meinung über mich lauten mag, denk zumindest über das nach, was ich dir erzählt habe. Im Grunde deines Herzens weißt du, dass es wahr ist. Und Samael wird nichts unversucht lassen, um seine Gefährtin zu bekommen.« Er schüttelte den Kopf. »Absolut nichts.«

Für einen Moment trat Stille ein. Sie sahen einander weiterhin in die Augen – Feuer und Eis –, und ein Schwarm Möwen stieg kreischend von einem der Piers in die Nacht auf.

»Welchen Gewinn ziehst du aus Samaels Scheitern?«, fragte Az. Es war klar, dass Gregori sich einen feuchten Kehricht um die Erde und ihre Bewohner scherte. Was also bewog ihn dazu, Az all das zu erzählen?

»Ich habe meine Gründe.«

»Rache.« Az konnte Gregoris Rachegelüste jetzt ganz deutlich spüren.

Gregori lächelte und nickte knapp. »Exakt«, sagte er. »Die Wahrheit ist, dass sich der Alte Mann nicht in den Gefilden der Engel befindet, Azrael.«

Az runzelte die Stirn. Wie bitte?

»Ah. Wie ich sehe, konnte ich dich doch noch überraschen. Nein, der Alte verließ die Gefilde der Engel zusammen mit dir, ob du es glaubst oder nicht. Er ist hier auf der Erde. Solange es nicht zum Höhepunkt kommt, wird er das auch bleiben. Und ich habe noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen.«

»Aber du kannst ihn nicht finden«, mutmaßte Az.

Gregori wirkte auf einmal aufgebracht und abgelenkt. Er brach den Blickkontakt zu Azrael ab und wandte sich der Bucht zu, als könnte er dort etwas sehen, was Az nicht wahrzunehmen vermochte. »Er ist schwer zu fassen.« Nun löste er die Hände hinter seinem Rücken und verschränkte die Arme vor der Brust, sodass der Anzug über seinen Muskeln spannte. »Allerdings fange ich gerade erst an zu suchen. Mit ausreichend Zeit …«

Azrael hatte genug gehört. Er wusste, wann sich ein Abgang anbot, und war so klug, den Augenblick zu nutzen. Es würde ihn nicht zum Herrenhaus bringen, aber wenigstens weg von hier, also trat er in den nächsten Schatten, den eine Straßenlaterne schuf, und ließ den Mann in Weiß allein auf San Franciscos Embarcadero zurück.

5

Angel hatte den Wagen gewählt, weil er praktisch schon unsichtbar war. Der Tarnzauber, mit dem sie ihn versah, war, bildlich gesprochen, nur noch die farblose Glasur auf einem ohnehin unscheinbaren Kuchen. Durch seine graubraune Farbe war er bereits schwer zu bemerken, wenn er unmittelbar vor ihr stand. Noch dazu war es ein Van, der sich unauffällig in die Umgebung einfügte. Er trug keinerlei Schriftzug, keinerlei Werbung, keine Aufkleber, die auf eine christliche Gesinnung verwiesen, auf besondere akademische Leistungen, eine bestimmte Sportmannschaft oder irgendeinen Politiker. Der Wagen war einfach … ein Van. Und als solcher angenehm geräumig.

Samael besaß die Fähigkeit, sich, wie Trekkies es nennen würden, von einem Ort zum anderen zu »teleportieren«. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund war das eine der vielen Fähigkeiten, die er den anderen aus den Gefilden der Engel voraushatte. Und der Zufall wollte es, dass sie diese Fähigkeit ebenfalls besaß. Allerdings wusste sie auch, dass so ziemlich das Erste, wonach er suchen würde, ein Hinweis auf die dazu notwendige Magie oder eine Spur derselben wäre. Also konnte sie die nicht nutzen.