Entscheidungsassistenz und Einwilligungsfähigkeit bei Demenz - Matthé Scholten - E-Book

Entscheidungsassistenz und Einwilligungsfähigkeit bei Demenz E-Book

Matthé Scholten

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Beschreibung

Menschen mit Demenz haben das Recht zu entscheiden, ob sie eine medizinische Maßnahme in Anspruch nehmen oder an Demenzforschung teilnehmen möchten. Im Verlauf einer Demenz können Betroffene jedoch ihre Fähigkeit verlieren, komplexe Entscheidungen zu treffen. Man spricht in solchen Fällen von Einwilligungsunfähigkeit. Dieses Manual liefert praxisorientierte Handreichungen dafür, wie die Einwilligungsfähigkeit von Menschen mit Demenz in der klinischen Versorgung und Forschung beurteilt und wie sie mithilfe von Entscheidungsassistenz ggf. wieder hergestellt werden kann. Das Manual konkretisiert die S2k-Leitlinie "Einwilligung von Menschen mit Demenz in medizinische Maßnahmen" und macht die Leitlinienempfehlungen für die Praxis anwendbar. Erstmals in vollständiger deutscher Übersetzung enthalten sind auch die international anerkannten Instrumente zur Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit MacCAT-T und MacCAT-CR.

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Contents

Cover

Titelei

Online-Zusatzmaterial

1 Einleitung

1.1 Problemlage und Zielsetzung

1.2 Normative Anforderungen

Das Recht auf Selbstbestimmung

Das Recht auf Gleichbehandlung

Rechtliche Vorgaben und ethische Richtlinien für die Aufklärung

1.3 Warum ein Manual?

1.4 Einwilligungsfähigkeit

1.5 Entscheidungsassistenz

1.6 Entscheidungsassistenz und Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit kombinieren

1.7 Inhalt des Manuals

Teil I Inhalt

2 Methoden der Entscheidungsassistenz

2.1 Prozess der Entscheidungsassistenz

2.2 Kontextgestaltung

Grundeinstellung: Personenzentrierte Haltung der Entscheidungsassistentinnen

Ambiente und Raumgestaltung

2.3 Was ist beeinträchtigt?

2.4 Planung der Assistenz

Informationsverständnis erleichtern

Gedächtnis stützen

Krankheits- und Behandlungseinsicht ermöglichen

Urteilsvermögen fördern

Kommunizieren der Entscheidung erleichtern

2.5 Reflexion der Entscheidungsassistenz-Maßnahmen

3 Vorbereitung auf die Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit

3.1 In welchen Fällen sollte die Einwilligungsfähigkeit beurteilt werden?

Grundsätzliche Annahme der Einwilligungsfähigkeit

Gründe für die Beurteilung von Einwilligungsfähigkeit

3.2 Wer sollte die Einwilligungsfähigkeit beurteilen?

3.3 Überprüfung der Notwendigkeit einer Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit

3.4 Vorbereitung des Gesprächs zur Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit

Die Entscheidungssituation verstehen

Die Patientin verstehen

4 Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit

4.1 Gespräch zur Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit

Eröffnung des Gesprächs

Kern des Gesprächs

Abschluss des Gesprächs

4.2 Kriterien der Einwilligungsfähigkeit und deren Beurteilung

Informationsverständnis

Krankheits- und Behandlungseinsicht

Urteilsvermögen

Kommunizieren einer Entscheidung

4.3 Gesamtbeurteilung

Dokumentation der Beurteilung

5 Häufige Fehlerquellen bei der Beurteilung von Einwilligungsfähigkeit

5.1 Häufige Fehlerquellen

Medizinische und psychiatrische Diagnosen

Inhalt der Entscheidung

Bedeutung einer Beurteilung einer Patientin als nicht einwilligungsfähig

Rechtlicher Status

Beurteilende Person

5.2 Erläuterung der Fehlerquellen

Fehlschlüsse aufgrund medizinischer oder psychiatrischer Diagnosen

Fehlschlüsse aufgrund des Inhalts der Therapieentscheidung der Patientin

Fehlschlüsse aufgrund der Beurteilung einer Patientin als nicht einwilligungsfähig

Fehlschlüsse aufgrund des rechtlichen Status der Patientin

Missverständnis über die erforderliche Expertise der beurteilenden Person

6 Einwilligungsfähigkeit in der klinischen Forschung

6.1 Unterschiede zwischen Behandlungs- und Forschungskontext

6.2 Eigennützige, gruppennützige und fremdnützige Forschung

6.3 Klinische Forschung mit Menschen mit Demenz: ethische Richtlinien

Einwilligungsfähige Personen

Nicht einwilligungsfähige Personen

6.4 Die Kriterien der Einwilligungsfähigkeit im Forschungskontext

Informationsverständnis

Einsichtsfähigkeit

Urteilsvermögen

Kommunizieren einer Entscheidung

Teil II MacCAT-T und MacCAT-CR

MacArthur Competence Assessment Tool for Treatment (MacCAT-‍T)

Einleitung

1 Vorbereitung

2 Interview

3 Auswertung

4 Interpretation

MacArthur Competence Assessment Tool for Clinical Research (MacCAT-CR)

Einleitung

1 Anpassung des MacCAT-CR

2 Interview

3 Bewertung

4 MacCAT-CR Beispielinterview

Teil III Bögen für das MacCAT-T und MacCAT-CR

MacCAT-T Protokollbogen

Informationsverständnis – Erkrankung

Krankheitseinsicht

Informationsverständnis – Behandlung

Informationsverständnis – Nutzen und Risiken

Behandlungseinsicht

Alternative Behandlungsoptionen

Erste Entscheidung und Urteilsvermögen

Persönliche Folgen ableiten

Endgültige Entscheidung

Logische Konsistenz der Entscheidung

MacCAT-T Bewertungsbogen

MacCAT-T Protokollbogen Alternative Behandlungsoptionen

Verstehen der Behandlung

Informationsverständnis – Nutzen und Risiken

MacCAT-CR Protokollbogen

Teil IV Verzeichnisse

Literaturverzeichnis

Autorinnen und Autoren

Stichwortverzeichnis

Autorin und Autor

© Foto: Jan Boeve/De Balie

Dr. phil. Matthé ScholtenDr. Matthé Scholten ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin der Ruhr-Universität Bochum. Er ist Mitglied des Editorial Boards der Zeitschrift BMC Medical Ethics und der Ethik-Kommission der Ärztekammer Westfalen-Lippe. Er war Mitglied der Arbeitsgruppe Ethik von Alzheimer Europe und der Experten- und Autorengruppe für die AMWF-Leitlinie »Einwilligung von Menschen mit Demenz in medizinische Maßnahmen«. Seine Forschungsschwerpunkte sind Einwilligungsfähigkeit, Entscheidungsassistenz und gesundheitliche Vorausplanung. Für seine wissenschaftliche Leistungen wurde er mehrfach ausgezeichnet (u.a. DGPPN-Preis für Philosophie und Ethik in der Psychiatrie und Psychotherapie 2020 und 2023).

© Stefan Schott/snapschott

Prof. Dr. rer. nat. Julia HaberstrohProf. Dr. Julia Haberstroh ist Professorin für Psychologische Alternsforschung am Department Psychologie sowie Prodekanin für Forschung und wissenschaftlichen Nachwuchs der Lebenswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Siegen. Sie ist Associate Editor des Journal of Gerontopsychology & Geriatric Psychiatry, hat die 2020 erschienene AWMF-Leitlinie »Einwilligung von Menschen mit Demenz in medizinische Maßnahmen« (zusammen mit Prof. Dr. Johannes Pantel, Goethe-Universität Frankfurt) koordiniert und ist Autorin von Fachbüchern, Buchkapiteln und internationalen sowie nationalen Zeitschriftenartikeln vorwiegend im Themenbereich Demenz. Sie ist zudem als approbierte Psychologische Psychotherapeutin tätig. Für ihre Leistungen in der interdisziplinären Alternsforschung wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet (u.a. Margret-und-Paul-Baltes-Preis 2016).

Matthé ScholtenJulia Haberstroh

Entscheidungsassistenz und Einwilligungsfähigkeit bei Demenz

Ein Manual für die klinische Praxis und Forschung

Unter Mitarbeit von Esther Braun, Jakov Gather, Astrid Gieselmann, Johannes Pantel,Jochen Vollmann und Theresa Wied

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

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1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-038716-4

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-038717-1epub: ISBN 978-3-17-038718-8

Online-Zusatzmaterial

Als Online-Zusatzmaterial stehen Ihnen folgende Dateien zum Download bereit:

»MacCAT-T Protokollbogen«

»MacCAT-T Bewertungsbogen«

»MacCAT-T Protokollbogen Alternative Behandlungsoptionen«

»MacCAT-CR Protokollbogen«

Wichtige Informationen sowie den Link, unter dem die Zusatzmaterialien verfügbar sind, finden Sie in am Anfang von ▸ Teil II.

1 Einleitung

Matthé Scholten und Julia Haberstroh

1.1 Problemlage und Zielsetzung

Aufgrund der steigenden Lebenserwartung und des demografischen Wandels wird das medizinische Versorgungssystem in den kommenden Jahrzehnten mit einer wachsenden Zahl an Menschen mit Demenz konfrontiert. Menschen mit Demenz sind häufig multimorbide und begegnen daher immer neuen Entscheidungen über medizinische Maßnahmen (Attems et al. 2006). Neben Entscheidungen über medizinische Maßnahmen sind ebenso Entscheidungen über die Teilnahme an Demenzforschungsprojekten zu treffen.

Ziel dieses Manuals ist es, Angehörigen der Gesundheitsberufe einen konkreten Handlungsleitfaden zur Verfügung zu stellen, mit Hilfe dessen sie Menschen mit Demenz bei Entscheidungen über medizinische, pflegerische und Forschungsmaßnahmen unterstützen und deren Selbstbestimmung sichern können. Dazu bietet das Manual praxisbezogene Empfehlungen zur Umsetzung von Entscheidungsassistenz und Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit von Menschen mit Demenz.

Einwilligungsfähigkeit ist eine zentrale Voraussetzung einer informierten Einwilligung und beschreibt die Fähigkeit einer Person, die für eine Entscheidung wesentlichen Aufklärungsinformationen in Grundzügen zu verstehen und aufgrund der eigenen Wertvorstellungen und Überzeugungen eine Entscheidung zu treffen. Entscheidungsassistenz umfasst alle Maßnahmen, die darauf abzielen, die Aufklärung besser an die kognitiven Einschränkungen und Ressourcen der individuellen Person anzupassen und auf diese Weise ihre Einwilligungsfähigkeit zu fördern.

Ein wichtiger Schritt in der Implementierung von Entscheidungsassistenz und strukturierter Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit wurde mit der Erstellung der AWMF-S2k-Leitlinie »Einwilligung von Menschen mit Demenz in medizinische Maßnahmen« unternommen (DGGG et al. 2020). Diese Leitlinie wurde von der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG), der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) herausgegeben. Die Empfehlungen der Leitlinie sollen in diesem Manual für die Versorgungs- und Forschungspraxis aufbereitet werden, damit sie von Angehörigen der Gesundheitsberufe umgesetzt werden können.

Das Manual richtet sich somit an Angehörige von Gesundheitsberufen, insbesondere an Ärztinnen1, Psychologinnen, Pflegekräfte und Wissenschaftlerinnen, an deren Forschung Menschen mit Demenz teilnehmen.

1.2 Normative Anforderungen

An die Aufklärung von Menschen mit Demenz im Behandlungs- und Forschungskontext werden ethische und rechtliche Anforderungen gestellt. Im Folgenden sollen diese normativen Anforderungen kurz skizziert werden.

Das Recht auf Selbstbestimmung

In einer freien und durch Wertepluralismus gekennzeichneten Gesellschaft hat das Recht auf Selbstbestimmung einen hohen Stellenwert. Dieses Recht kommt im zweiten Artikel des Grundgesetzes in der Form des Persönlichkeitsrechts zum Ausdruck. Im medizinischen Kontext hat das Selbstbestimmungsrecht eine besonders prägnante Bedeutung, weil bei medizinischen Entscheidungen meistens auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit zum Tragen kommt, das ebenfalls im zweiten Artikel des Grundgesetzes zum Ausdruck gebracht wird.

Die informierte Einwilligung(informed consent) konkretisiert in der medizinischen Praxis das Recht auf Selbstbestimmung. Ziel der informierten Einwilligung ist es, Patientinnen in die Position zu versetzen, auf Basis der eigenen Wertvorstellungen und Überzeugungen Entscheidungen über medizinische Maßnahmen zu treffen. Dem Konzept der informierten Einwilligung folgend, dürfen Ärztinnen keine medizinische Maßnahme durchführen, ohne zuvor die Patientinnen über Nutzen und Risiken der empfohlenen Behandlung sowie weitere verfügbare Therapieoptionen aufzuklären und ihre Einwilligung in die geplante Maßnahme einzuholen. Die Erforderlichkeit der Einwilligung nach Aufklärung ist in der Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen (Bundesärztekammer 2021) und im Patientenrechtegesetz festgelegt worden (§ 630d-e BGB). Gemäß deutschem Strafrecht erfüllt die Durchführung eines medizinischen Eingriffs ohne Einwilligung den Tatbestand einer Körperverletzung im Sinne § 223 des Strafgesetzbuches – und zwar auch dann, wenn der Eingriff ansonsten leitliniengerecht und nach professionellen Standards durchgeführt wurde.

Das Selbstbestimmungsrecht ist nicht darauf beschränkt, dass Patientinnen in eine von der Ärztin vorgeschlagene Behandlung einwilligen bzw. diese ablehnen können, sondern fordert zusätzlich den Einbezug der Patientin in die Entscheidungsfindung im Hinblick auf die geeignete Behandlung. Die aktive Beteiligung der Patientin am Entscheidungsprozess wird in der Regel als gemeinsame Entscheidungsfindung (shared decision-making) bezeichnet. Nach der Idee der gemeinsamen Entscheidungsfindung sollten Entscheidungen über medizinische Maßnahmen im Rahmen eines kommunikativen Austausches zwischen Ärztin und Patientin stattfinden. Die Ärztin hat in diesem Austausch aufgrund ihrer medizinischen Expertise die Aufgabe, die Patientin über die verfügbaren Behandlungsoptionen und deren Nutzen und Risiken aufzuklären. Die Patientin kann Nachfragen stellen, die dargebotenen Informationen aufgrund der eigenen Wertvorstellungen und Überzeugungen bewerten und sich schließlich für eine der zur Verfügung stehenden medizinischen Maßnahmen oder gegen eine medizinische Behandlung entscheiden. Eine gemeinsame Entscheidungsfindung, in Bezug auf medizinische Maßnahmen, wird auch im Patientenrechtegesetz gefordert (§ 630c BGB).

Das Recht auf Gleichbehandlung

Neben dem Recht auf Selbstbestimmung hat auch die Gleichbehandlung von Menschen gesellschaftlich einen hohen Stellenwert. Im Grundgesetz wird das Recht auf Gleichbehandlung im dritten Artikel fixiert. In den letzten Jahren wurden gesellschaftliche Debatten über Gleichbehandlung vermehrt durch das Bewusstsein geprägt, dass die Sicherstellung von gleichen Rechten bislang nicht ausreicht, um die tatsächliche Gleichbehandlung von Menschen zu gewährleisten. Denn durch gesellschaftliche oder persönliche Umstände ist nicht jede Person gleichermaßen in der Position, diese Rechte wahrzunehmen. Neben der Sicherstellung von gleichen Rechten fordert Gleichbehandlung daher auch das Treffen sogenannter »angemessener Vorkehrungen« (reasonable accomodation). Das Treffen angemessener Vorkehrungen besteht in der Beseitigung gesellschaftlicher Hindernisse, die Personen an der vollumfänglichen Wahrnehmung ihrer Rechte hindern. In diesem Zusammenhang sind beispielsweise barrierefreie Gebäudezugänge für Menschen mit körperlichen Behinderungen oder Blindenschrift und Gebärdensprache für Menschen mit sinnlichen Behinderungen zu nennen.

Gleiches gilt für das Patientenselbstbestimmungsrecht. Die Sicherstellung des Rechtes, in die medizinische Entscheidungsfindung einbezogen zu werden und eine informierte Einwilligung erteilen bzw. verweigern zu können, gewährleistet noch nicht die Gleichbehandlung von Menschen. Denn nicht alle Menschen sind gleichermaßen in der Lage, sich am medizinischen Entscheidungsprozess zu beteiligen und auf Basis der eigenen Wertvorstellungen und Überzeugungen eine Therapieentscheidung zu treffen. Menschen mit Demenz erleben aufgrund ihrer kognitiven Einschränkungen und der hohen kognitiven Anforderungen des Aufklärungsgesprächs oft Hindernisse bei der Ausübung ihres Rechts auf Selbstbestimmung.

Entscheidungsassistenz stellt eine Form der angemessenen Vorkehrung im Kontext des medizinischen Aufklärungsgesprächs dar. Die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer hat Entscheidungsassistenz definiert als »Verfahren, die eingesetzt werden können, um die Selbstbestimmung von Patienten zu fördern, die durch innere oder äußere Faktoren in der Verwirklichung des ihnen zukommenden Rechts auf Selbstbestimmung im Zusammenhang mit ärztlichen Behandlungen eingeschränkt sind« (2016, S. A1). Genauso wie Menschen mit körperlichen Behinderungen oder Sinnesbehinderungen mittels barrierefreier Gebäudezugänge, Blindenschrift oder Gebärdensprache bei der Ausübung ihrer Rechte unterstützt werden können, so können Menschen mit Demenz mit Hilfe geeigneter Maßnahmen der Entscheidungsassistenz bei der Ausübung des Patientenselbstbestimmungsrechts unterstützt werden (Scholten et al. 2022).

Rechtliche Vorgaben und ethische Richtlinien für die Aufklärung

Die Forderung der Implementierung von Entscheidungsassistenz als angemessene Maßnahme zur Ermöglichung der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts hat mittlerweile auch rechtlich Gestalt angenommen. Im zweiten Absatz des Artikels 12 der internationalen Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) wird anerkannt, dass »Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen gleichberechtigt mit anderen Rechts- und Handlungsfähigkeit genießen.« Damit wird unter anderem auf die Wahrnehmung des Patientenselbstbestimmungsrechts verwiesen. Im dritten Absatz des Artikels 12 wird diese Anerkennung der Gleichberechtigung konkretisiert: »Die Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen Zugang zu der Unterstützung zu verschaffen, die sie bei der Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit gegebenenfalls benötigen.« Deutschland hat die UN-BRK in 2009 vorbehaltslos ratifiziert; damit hat die Konvention den Rang eines einfachen Bundesgesetzes (Henking und Scholten 2023; Scholten et al. 2022).

Im Einklang mit der UN-BRK betont auch die Anfang 2023 in Kraft getretene Reform des Betreuungsrechts die Priorität der Entscheidungsassistenz vor der Stellvertretung. Nach dem reformierten Betreuungsrecht darf eine Betreuerin nur bestellt werden, wenn eine Betreuung wirklich erforderlich ist (§ 1814 Abs.3 BGB). Insbesondere darf keine Betreuerin bestellt werden, wenn die Person durch Unterstützung dazu befähigt werden kann, ihre Angelegenheiten selbst zu besorgen (§ 1814 Abs.3 Nr.2 BGB). Wenn eine Betreuerin bestellt worden ist, darf sie nur dann stellvertretend für die betreute Person entscheiden, wenn dies wirklich erforderlich ist (§ 1821 Abs.1 BGB). Im Kontext von medizinischen Maßnahmen darf die Betreuerin insbesondere nur dann stellvertretend für die Patientin eine Einwilligung erteilen, wenn die Patientin in Bezug auf die anstehende Therapieentscheidung nicht einwilligungsfähig ist (§ 630d Abs.1 S.2 BGB). Des Weiteren ist es die Pflicht der Betreuerin, die betreute Person so zu unterstützen, dass sie »ihr Leben nach ihren Wünschen gestalten kann« (§ 1821 Abs.2 BGB).

Nicht nur Betreuerinnen, sondern auch Ärztinnen sind dazu verpflichtet, Patientinnen im Aufklärungsgespräch und bei der Entscheidungsfindung in Bezug auf medizinische Maßnahmen aktiv zu unterstützen. Nach dem Patientenrechtegesetz muss die Aufklärung »für den Patienten verständlich sein« (§ 630e Abs.2 Nr.3 BGB) und somit an die kognitiven Einschränkungen und Ressourcen der individuellen Patientin angepasst werden. Wenn eine Patientin in Bezug auf die Therapieentscheidung als nicht einwilligungsfähig eingestuft worden ist, können Ärztinnen die Einwilligung der rechtlichen Betreuerin einholen (§ 630d Abs.1 S.2), nachdem sie diese angemessen aufgeklärt haben (§ 630e Abs.4). Das Einholen der Einwilligung über die rechtliche Betreuerin ist begründungsbedürftig (§ 630 h Abs.2 BGB), was eine sorgfältige Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit erforderlich macht. Überdies muss auch in Fällen einer stellvertretenden Entscheidungsfindung die Patientin in den Aufklärungsprozess einbezogen werden. Die behandelnde Ärztin hat dabei der Patientin die Aufklärungsinformationen »entsprechend ihres Verständnisses zu erläutern« (§ 630e Abs.5 BGB).

Die Pflicht zum Einholen der Einwilligung nach einer Aufklärung ist, wie oben bereits erwähnt, auch Bestandteil der Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen. In § 8 der Berufsordnung heißt es: »Zur Behandlung bedürfen Ärztinnen und Ärzte der Einwilligung der Patientin oder des Patienten. Der Einwilligung hat grundsätzlich die erforderliche Aufklärung im persönlichen Gespräch vorauszugehen« (Bundesärztekammer 2021). Die anfangs erwähnte Leitlinie »Einwilligung von Menschen mit Demenz in medizinische Maßnahmen« fordert überdies bei der Aufklärung von Menschen mit Demenz eine an die kognitive Leistungsfähigkeit der Person angepasste Informationsvermittlung, die Bereitstellung von Maßnahmen der Entscheidungsassistenz sowie eine Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit anhand fester Kriterien (DGGG et al. 2020).

Auch im Bereich der Forschung mit Menschen spielt die Praxis der informierten Einwilligung eine zentrale Rolle. Nach der vom Weltärztebund verabschiedeten Deklaration von Helsinki müssen Forscherinnen die Einwilligung von potenziellen Studienteilnehmerinnen einholen (Art. 25), nachdem die potenziellen Studienteilnehmerinnen u. a. über die Ziele, Methoden und den erwarteten Nutzen und die Risiken der Studie sowie über Geldquellen und mögliche Interessenkonflikte der Forscherinnen aufgeklärt worden sind (Art. 26). Diese Forderung der Einwilligung nach Aufklärung ist ebenfalls in der Verordnung Nr. 536/2014 der Europäischen Union über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln (EU-Verordnung) und im Deutschen Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln (Arzneimittelgesetz – AMG) festgehalten (Art. 1b-c und Art. 29 Abs.1 – 2 EU-Verordnung; Art. 40b AMG). Die Deklaration von Helsinki verweist in Artikel 26 zudem auf die Notwendigkeit der Bereitstellung von geeigneten Maßnahmen der Entscheidungsassistenz: »Besondere Beachtung soll dem spezifischen Informationsbedarf der individuellen potenziellen Versuchspersonen sowie den für die Informationsvermittlung verwendeten Methoden geschenkt werden.« Auch diese Forderung findet sich in der EU-Verordnung (Art. 29 Abs.4). Die Richtlinien des Rats für Internationale Organisationen der medizinischen Wissenschaft (CIOMS) präzisiert diese Forderung: »Für die Verfahren der informierten Einwilligung müssen ausreichend Zeit und Mittel zur Verfügung gestellt werden« und »Forscher sollten evidenzbasierte Methoden für die Vermittlung von Informationen verwenden, um Informationsverständnis sicherzustellen« (CIOMS 2016, S. 34).

1.3 Warum ein Manual?

Aufklärung, Entscheidungsassistenz und Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit werden im Versorgungs- und Forschungsalltag von Angehörigen der Gesundheitsberufe geleistet. Weder die Bereitstellung von Entscheidungsassistenz noch die Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit haben jedoch bislang Eingang in die gängigen Curricula gefunden. Es wird hier also ein hoher Bedarf an Aus-‍, Fort- und Weiterbildung für Angehörige der Gesundheitsberufe gesehen (Haberstroh und Müller 2017).

Bezüglich der Qualität der Aufklärung und der Beurteilung von Einwilligungsfähigkeit besteht Verbesserungspotenzial. Empirische Daten zur Qualität der Aufklärung im Kontext einer Forschungsteilnahme zeigen zum Beispiel, dass die Qualität der Aufklärung oft nicht ausreichend ist, um ein adäquates Informationsverständnis herzustellen (Mandava et al. 2012; Tam et al. 2015). Ferner gibt es empirische Evidenz dafür, dass Angehörige der Gesundheitsberufe die Einwilligungsfähigkeit von Patientinnen oft falsch einschätzen und nicht nach den richtigen Kriterien beurteilen (Ganzini et al. 2003; Marson et al. 1997; Raymont et al. 2004; Whyte et al. 2004). Ein psychiatrisches Konsil zur Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit anzuregen, ist nur unter bestimmten Bedingungen hilfreich, denn ohne spezifische Schulung in der Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit wenden auch Psychiaterinnen oft die falschen Kriterien an (Markson et al. 1994). Besonders bei der Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit von Menschen mit Mild Cognitive Impairment (MCI) und leichter bis mittelschwerer Demenz bestehen Unsicherheiten unter Angehörigen der Gesundheitsberufe, da die Einwilligungsfähigkeit von Patientinnen in diesen Patientengruppen oft fraglich ist und gegebenenfalls durch Entscheidungsassistenz hergestellt werden kann (Haberstroh und Müller 2017; Wied et al. 2019).

Eine mangelhafte Aufklärung oder fehlende Entscheidungsassistenz kann zu einer Unterschätzung der Einwilligungsfähigkeit der Patientin führen. Eine Patientin wird in solchen Fällen fälschlicherweise als nicht einwilligungsfähig eingestuft, obwohl sie bei einer adäquaten Aufklärung und Bereitstellung von Entscheidungsassistenz eigentlich einwilligungsfähig in Bezug auf die anstehende Therapieentscheidung wäre. Eine mangelhafte Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit kann hingegen zwei entgegengesetzte Folgen haben: Es besteht einerseits die Möglichkeit, die Einwilligungsfähigkeit der Patientin zu unterschätzen, andererseits ist auch eine Überschätzung der Einwilligungsfähigkeit möglich. In beiden Fällen werden Patientenrechte verletzt. Im Fall der Unterschätzung wird der Patientin ihr Selbstbestimmungsrecht unberechtigterweise abgesprochen, wohingegen sie im Falle der Überschätzung nicht angemessen vor möglichen gesundheitlichen Schäden geschützt wird.

Empirische Studien konnten jedoch auch zeigen, dass schon eine kurze Schulung von Angehörigen der Gesundheitsberufe die Qualität deren Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit substanziell verbessern kann (Marson et al. 2000; Cairns et al. 2005; Raymont et al. 2007). Auch eine Schulung in der Bereitstellung von Entscheidungsassistenz oder die Anwendung von einfachen Instrumenten der Entscheidungsassistenz kann die Qualität der Aufklärung und das hergestellte Informationsverständnis bei Menschen mit Demenz verbessern (Flory et al. 2004; Nishimura et al. 2013; Poth et al. 2023).

1.4 Einwilligungsfähigkeit

In diesem Manual setzen wir das sogenannte »fähigkeitsbasierte« Konzept der Einwilligungsfähigkeit, insbesondere das von Thomas Grisso und Paul Appelbaum entwickelte 4-Fähigkeiten-Modell, voraus (Grisso und Appelbaum 1998a). Auch die Empfehlungen der Leitlinie »Einwilligung von Menschen mit Demenz in medizinische Maßnahmen« bauen auf diesem Modell auf (DGGG et al. 2020). Nach dem 4-Fähigkeiten-Modell (▸ Abb. 1.1) setzt sich die Einwilligungsfähigkeit aus den folgenden vier Fähigkeiten zusammen:

1.

Informationsverständnis: die Fähigkeit, die wesentlichen Aufklärungsinformationen in Grundzügen zu verstehen

2.

Krankheits- und Behandlungseinsicht: die Fähigkeit, den eigenen Gesundheitszustand und die Möglichkeiten der Behandlung realistisch einzuschätzen

3.

Urteilsvermögen: die Fähigkeit, die möglichen Folgen der verschiedenen Behandlungsoptionen auf Basis der eigenen persönlichen Werthaltungen und Überzeugungen zu bewerten und gegeneinander abzuwägen

4.

Eine Entscheidung kommunizieren: die Fähigkeit, eine eindeutige Therapieentscheidung kommunizieren zu können

Abb. 1.1:Kriterien der Einwilligungsfähigkeit

Im Kontext von Entscheidungen über Forschungsteilnahme finden die gleichen Kriterien Anwendung, lediglich das zweite Kriterium (appreciation) in leicht veränderter Form. Im Rahmen von Entscheidungen über Forschungsteilnahme wird die Krankheits- und Behandlungseinsicht durch die Einsichtsfähigkeit ersetzt. Diese beschreibt die Fähigkeit, Informationen über eine Studienteilnahme oder Nicht-Teilnahme auf die eigene Situation zu beziehen und deren Bedeutung für die eigene Situation einzuschätzen.

Während die vier Fähigkeiten graduell sind und bei einer Person in einer bestimmten Situation in höherem oder geringerem Ausmaß gegeben sein können, ist Einwilligungsfähigkeit