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"Die von ihrer materiellen und politischen Last befreite Kirche kann sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein ... Um so mehr ist es wieder an der Zeit, die wahre Entweltlichung zu finden, die Weltlichkeit der Kirche beherzt abzulegen." Diese These von Papst Benedikt XVI., vorgetragen in seiner Freiburger Rede während seines Deutschlandbesuchs, hat Fragen, Irritationen und Kontroversen hervorgerufen. Was hat der Papst gemeint? Wie soll das Verhältnis von Kirche und Staat in Deutschland gestaltet werden? Soll die Kirche auf Privilegien verzichten und, wenn ja, auf welche? In diesem Band nehmen Theologen, Politiker, Verbandsvertreter und Journalisten Stellung, analysieren die Diskussion und führen diese fort.
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Seitenzahl: 322
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THEOLOGIE KONTROVERS ›‹
Entweltlichung der Kirche?
Die Freiburger Rede des Papstes
Herausgegeben von Jürgen Erbacher
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Finken&Bumiller, Stuttgart
Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,
KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart
ISBN (E-Book): 978-3-451-34600-2
ISBN (Buch): 978-3-451-30577-1
Vorwort
Jürgen Erbacher
Freiburger Rede von Papst Benedikt XVI.
In der Welt, aber nicht von der Welt
Erzbischof Robert Zollitsch
Kirche – in der Welt, nicht von der Welt
Walter Kardinal Kasper
Konsequent Kirche in der Welt sein
Alois Glück
Für eine diakonische Kirche mitten unter den Menschen
Peter Neher
In der Welt, nicht von der Welt. Das Kirchenbild der Freiburger Rede Papst Benedikts XVI. im Licht des Neuen Testaments
Thomas Söding
Entweltlichung. Ein Blick in das Frühwerk Joseph Ratzingers
Jürgen Erbacher
Entweltlichung – ein sperriger Begriff, ein herausfordernder Appell. Sozialethische Anmerkungen zur Konzerthausrede des Papstes
Ursula Nothelle-Wildfeuer
Auf Distanz gehen!? Zur Identität der Kirche in der Welt von heute
Hans-Joachim Höhn
Entweltlichung. Anmerkungen zur Freiburger Rede von Papst Benedikt XVI.
Franz-Xaver Kaufmann
Päpstlicher Kirchenkurs. Die Option der elitären Minorisierung
Michael N. Ebertz
Entweltlichung? Die Freiburger Rede Papst Benedikts XVI. mit Theodor W. Adorno gegengelesen
Magnus Striet
Die totale Redlichkeit. Ein theologisch-rhetorischer Seitenblick auf die Freiburger Konzerthausrede Benedikts XVI.
Gregor Maria Hoff
Die Weltverantwortung der Kirche
Wolfgang Thierse
Gesellschaft braucht Orientierung. Ein Plädoyer für eine engagierte Kirche
Hermann Kues
Nicht ohne Welt, in der Welt!
Winfried Kretschmann
Entweltlichung als Überlebensstrategie
Stefan Ruppert und Martin Valchanov
Kontext und Horizont der Freiburger Konzerthausrede des Papstes
Ludwig Ring-Eifel
Als hätte er an die Kirche in Frankreich gedacht. Die Freiburger Konzerthausrede aus französischer Sicht
Klaus Nientiedt
Die Freiburger Rede Papst Benedikts XVI. aus der Sicht des deutschen Staatskirchenrechts
Stefan Muckel
Grundlinien der Kirchenfinanzierung in Deutschland: Kirchensteuer und sogenannte Staatsleistungen
Ansgar Hense
Die Autoren
Gäbe es ein „Wort des Jahres“ im Bereich Theologie und Kirche, „Entweltlichung“ hätte für 2011 sicher beste Chancen zum Sieg gehabt. Seit der Rede Papst Benedikts XVI. im Freiburger Konzerthaus am 25.September 2011 ist der Begriff in Deutschlands Kirche und Theologie in aller Munde. Die „Freiburger Rede“ war der fulminante Abschluss des viertägigen Besuchs Benedikts in seinem Heimatland. Die Reise stand unter dem Motto „Wo Gott ist, da ist Zukunft“. Benedikt XVI. lotete in seinen Ansprachen in Berlin, Erfurt und Freiburg das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen, zwischen Religion und Politik sowie schließlich – beim letzten großen Auftritt – zwischen Kirche und Welt aus. Seitdem wird heiß darüber diskutiert, was unter „Entweltlichung“ zu verstehen und wie überhaupt die „Freiburger Rede“ als Ganze zu deuten ist. Der Papst spricht von „Enteignung von Kirchengütern“ und der „Streichung von Privilegien“. Er spricht sich für eine Erneuerung der Kirche aus, will, dass sie wieder missionarischer wird. Er fordert, die Weltlichkeit der Kirche abzulegen, damit sie offen für die Anliegen der Welt sein könne. Das klingt paradox und löst viele Fragen aus; nicht nur bei den rund 1.500Zuhörern im Freiburger Konzerthaus. Seitdem wird in kirchlichen Gremien von den Pfarrgemeinden bis zum Zentralkomitee der deutschen Katholiken, in den Theologischen Fakultäten sowie in Zeitungen und Zeitschriften nach Antworten gesucht, welche Konsequenzen aus den Worten des Papstes zu ziehen sind. In ersten Reaktionen wurde darüber spekuliert, ob der Papst das Staat-Kirche-Verhältnis in Deutschland radikal umgestaltet sehen möchte, bis hin zur Abschaffung der Kirchensteuer. Ein solcher Deutungsansatz aber greift zu kurz. Benedikt XVI. setzt viel grundsätzlicher an. Er stellt seine Vision von der Erneuerung der Kirche vor. Doch was bedeutet das konkret?
Der vorliegende Sammelband möchte Antworten geben; er bietet Deutungsversuche der Freiburger Rede. Dabei kommen Vertreter aus Kirche, Politik und Theologie zu Wort. Aus ihrer je eigenen Perspektive erschließen sie den Vortrag des Papstes, zeigen Probleme auf, die sie sehen. Es sind „Praktiker“ vertreten wie die Präsidenten des Deutschen Caritasverbands, Peter Neher, und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Alois Glück; aus dem Bereich der Theologie der Exeget Thomas Söding und die Fundamentaltheologen Magnus Striet und Gregor Maria Hoff sowie die Sozialethikerin Ursula Nothelle-Wildfeuer und der Religionsphilosoph Hans-Joachim Höhn. Aus eher soziologischer Perspektive blicken Franz-Xaver Kaufmann und Michael N.Ebertz auf die Papstrede. Wie die Worte an der Schnittstelle von Glaube, Kirche und Politik bewertet werden, zeigen Hermann Kues (CDU), Wolfgang Thierse (SPD), Stefan Ruppert (FDP) und Baden-Württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bündnis90/Die Grünen). Dem komplexen Thema des Staat-Kirche-Verhältnisses in Verbindung mit der Rede des Papstes nehmen sich Stefan Muckel und Ansgar Hense an. Ludwig Ring-Eifel ordnet die Konzerthausrede in die Gesamtchoreografie der Reise ein und Klaus Nientiedt blickt nach Frankreich auf der Suche nach dem „idealen“ Verhältnis von Staat und Kirche. Zudem soll ein Blick in das „Früh-Werk“ des Professor Ratzinger helfen, die Forderung nach Entweltlichung besser zu verstehen. Denn bereits in den 1960er Jahren hatte der Papst erstmals seine Gedanken zum Thema formuliert. Den Auftakt macht der „Gastgeber“ der Freiburger Rede, Erzbischof Robert Zollitsch. Kardinal Walter Kasper deutet die Worte aus römischer Perspektive.
Mittlerweile gibt es verschiedene Varianten der Papstrede im Freiburger Konzerthaus, die sich allerdings nur in Nuancen unterscheiden. Den Artikeln liegt die Version zugrunde, die von der Deutschen Bischofskonferenz in ihrer Dokumentation der Reden, Predigten und Grußworte der Reise veröffentlicht wurde. In den einzelnen Beiträgen sind die Zitate aus der Rede nicht noch einmal eigens mit einem Quellenverweis versehen.
Die Initiative zu dem vorliegenden Werk kam von Stephan Weber, Lektor beim Verlag Herder. Dafür vielen Dank. Ein besonderer Dank gilt aber der Autorin und den Autoren für die Bereitschaft, trotz knapper Zeit an dem Buch mitzuwirken. In ihren Texten erklären, kommentieren und provozieren sie, um die Diskussion über die Freiburger Rede voranzubringen.
Mainz, im Januar 2012
Jürgen Erbacher
25.September 2011
Konzerthaus, Freiburg1
Verehrter Herr Bundespräsident,
Herr Ministerpräsident,
Herr Oberbürgermeister,
Verehrte Damen und Herrn,
Liebe Mitbrüder im Bischofs- und Priesteramt!
Ich freue mich über diese Begegnung mit Ihnen, die Sie sich in vielfältiger Weise für die Kirche und für das Gemeinwesen engagieren. Dies gibt mir eine willkommene Gelegenheit, Ihnen hier persönlich für Ihren Einsatz und Ihr Zeugnis als „kraftvolle Boten des Glaubens an die zu erhoffenden Dinge“ (Lumen Gentium, 35) ganz herzlich zu danken: So nennt das II.Vatikanische Konzil Menschen, die wie Sie sich um Gegenwart und Zukunft aus dem Glauben mühen. In Ihrem Arbeitsumfeld treten Sie bereitwillig für Ihren Glauben und für die Kirche ein, was – wie wir wissen – in der heutigen Zeit wahrhaftig nicht immer leicht ist.
Seit Jahrzehnten erleben wir einen Rückgang der religiösen Praxis, stellen wir eine zunehmende Distanzierung beträchtlicher Teile der Getauften vom kirchlichen Leben fest. Es kommt die Frage auf: Muss die Kirche sich nicht ändern? Muss sie sich nicht in ihren Ämtern und Strukturen der Gegenwart anpassen, um die suchenden und zweifelnden Menschen von heute zu erreichen?
Die selige Mutter Teresa wurde einmal gefragt, was sich ihrer Meinung nach als erstes in der Kirche ändern müsse. Ihre Antwort war: Sie und ich!
An dieser kleinen Episode wird uns zweierlei deutlich. Einmal will die Ordensfrau dem Gesprächspartner sagen: Kirche sind nicht nur die anderen, nicht nur die Hierarchie, der Papst und die Bischöfe; Kirche sind wir alle, wir, die Getauften. Zum anderen geht sie tatsächlich davon aus: ja, es gibt Anlass zur Änderung. Es ist Änderungsbedarf vorhanden. Jeder Christ und die Gemeinschaft der Gläubigen als Ganzes sind zur stetigen Änderung aufgerufen.
Wie soll diese Änderung konkret aussehen? Geht es um eine Erneuerung, wie sie etwa ein Hausbesitzer durch die Renovierung oder den neuen Anstrich seines Anwesens durchführt? Oder geht es hier um eine Korrektur, um wieder auf Kurs zu kommen sowie schneller und geradliniger einen Weg zurückzulegen? Sicher spielen diese und andere Aspekte eine Rolle, und hier kann nicht von alledem die Rede sein. Aber was das grundlegende Motiv der Änderung betrifft, so ist es die apostolische Sendung der Jünger und der Kirche selbst.
Dieser ihrer Sendung muss die Kirche sich nämlich immer neu vergewissern. Die drei synoptischen Evangelien lassen verschiedene Aspekte des Sendungsauftrags aufleuchten: Die Sendung gründet zunächst in der persönlichen Erfahrung: „Ihr seid meine Zeugen“ (Lk 24,48); sie kommt zum Ausdruck in Beziehungen: „Macht alle Menschen zu meinen Jüngern“ (Mt 28,19); und sie gibt eine universelle Botschaft weiter: „Verkündet das Evangelium allen Geschöpfen“ (Mk 16,15). Durch die Ansprüche und Sachzwänge der Welt aber wird dies Zeugnis immer wieder verdunkelt, werden die Beziehungen entfremdet und wird die Botschaft relativiert. Wenn nun die Kirche, wie Papst Paul VI. sagt, „danach trachtet, sich selbst nach dem Typus, den Christus ihr vor Augen stellt, zu bilden, dann wird sie sich von der menschlichen Umgebung tief unterscheiden, in der sie doch lebt oder der sie sich nähert“ (Enzyklika Ecclesiam Suam, 60). Um ihre Sendung zu verwirklichen, wird sie auch immer wieder Distanz zu ihrer Umgebung nehmen müssen, sich gewissermaßen „ent-weltlichen“.
Die Sendung der Kirche kommt ja vom Geheimnis des Dreieinigen Gottes her, dem Geheimnis seiner schöpferischen Liebe. Und die Liebe ist nicht nur irgendwie in Gott, er selbst ist sie, ist vom Wesen her die Liebe. Und die göttliche Liebe will nicht nur für sich sein, sie will sich ihrem Wesen nach verströmen. Sie ist in der Menschwerdung und Hingabe des Sohnes Gottes in besonderer Weise auf die Menschheit, auf uns zugekommen, und zwar so, dass Christus, der Sohn Gottes, gleichsam aus dem Rahmen seines Gottseins herausgetreten ist, Fleisch angenommen hat, Mensch geworden ist, nicht nur, um die Welt in ihrer Weltlichkeit zu bestätigen und ihr Gefährte zu sein, der sie so lässt, wie sie ist, sondern um sie zu verwandeln. Zum Christusgeschehen gehört das Unfassbare, dass es – wie die Kirchenväter sagen – ein sacrum commercium, einen Tausch zwischen Gott und den Menschen gibt. Die Väter legen es so aus: Wir haben Gott nichts zu geben, wir haben ihm nur unsere Sünde hinzuhalten. Und er nimmt sie an und macht sie sich zu eigen, gibt uns dafür sich selbst und seine Herrlichkeit. Ein wahrhaft ungleicher Tausch, der sich im Leben und Leiden Christi vollzieht. Er wird Sünder, nimmt die Sünde auf sich, das Unsrige nimmt er an und gibt uns das Seinige. Aber im Weiterdenken und Weiterleben im Glauben ist dann doch deutlich geworden, dass wir ihm nicht nur Sünde geben, sondern dass er uns ermächtigt hat, von innen her die Kraft gibt, ihm auch Positives zu geben: unsere Liebe – ihm die Menschheit im positiven Sinn zu geben. Natürlich, es ist klar, dass nur Dank der Großmut Gottes der Mensch, der Bettler, der den göttlichen Reichtum empfängt, doch auch Gott etwas geben kann; dass Gott uns das Geschenk erträglich macht, indem er uns fähig macht, auch für ihn Schenkende zu werden.
Die Kirche verdankt sich ganz diesem ungleichen Tausch. Sie hat nichts aus Eigenem gegenüber dem, der sie gestiftet hat, so dass sie sagen könnte: Dies haben wir großartig gemacht! Ihr Sinn besteht darin, Werkzeug der Erlösung zu sein, sich von Gott her mit seinem Wort durchdringen zu lassen und die Welt in die Einheit der Liebe mit Gott hineinzutragen. Die Kirche taucht ein in die Hinwendung des Erlösers zu den Menschen. Sie ist, wo sie wahrhaft sie selber ist, immer in Bewegung, muss sich fortwährend in den Dienst der Sendung stellen, die sie vom Herrn empfangen hat. Und deshalb muss sie sich immer neu den Sorgen der Welt öffnen, zu der sie ja selber gehört, sich ihnen ausliefern, um den heiligen Tausch, der mit der Menschwerdung begonnen hat, weiterzuführen und gegenwärtig zu machen.
In der geschichtlichen Ausformung der Kirche zeigt sich jedoch auch eine gegenläufige Tendenz, dass die Kirche zufrieden wird mit sich selbst, sich in dieser Welt einrichtet, selbstgenügsam ist und sich den Maßstäben der Welt angleicht. Sie gibt nicht selten Organisation und Institutionalisierung größeres Gewicht als ihrer Berufung zu der Offenheit auf Gott hin, zur Öffnung der Welt auf den Anderen hin.
Um ihrem eigentlichen Auftrag zu genügen, muss die Kirche immer wieder die Anstrengung unternehmen, sich von dieser ihrer Verweltlichung zu lösen und wieder offen auf Gott hin zu werden. Sie folgt damit den Worten Jesu: „Sie sind nicht von der Welt, wie auch ich nicht von der Welt bin“ (Joh 17,16), und gerade so gibt er sich der Welt. Die Geschichte kommt der Kirche in gewisser Weise durch die verschiedenen Epochen der Säkularisierung zur Hilfe, die zu ihrer Läuterung und inneren Reform wesentlich beigetragen haben.
Die Säkularisierungen – sei es die Enteignung von Kirchengütern, sei es die Streichung von Privilegien oder ähnliches – bedeuteten nämlich jedes Mal eine tiefgreifende Entweltlichung der Kirche, die sich dabei gleichsam ihres weltlichen Reichtums entblößt und wieder ganz ihre weltliche Armut annimmt. Damit teilt sie das Schicksal des Stammes Levi, der nach dem Bericht des Alten Testamentes als einziger Stamm in Israel kein eigenes Erbland besaß, sondern allein Gott selbst, sein Wort und seine Zeichen als seinen Losanteil gezogen hatte. Mit ihm teilte sie in jenen geschichtlichen Momenten den Anspruch einer Armut, die sich zur Welt geöffnet hat, um sich von ihren materiellen Bindungen zu lösen, und so wurde auch ihr missionarisches Handeln wieder glaubhaft.
Die geschichtlichen Beispiele zeigen: Das missionarische Zeugnis der entweltlichten Kirche tritt klarer zutage. Die von materiellen und politischen Lasten und Privilegien befreite Kirche kann sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein. Sie kann ihre Berufung zum Dienst der Anbetung Gottes und zum Dienst des Nächsten wieder unbefangener leben. Die missionarische Pflicht, die über der christlichen Anbetung liegt und die ihre Struktur bestimmen sollte, wird deutlicher sichtbar. Sie öffnet sich der Welt, nicht um die Menschen für eine Institution mit eigenen Machtansprüchen zu gewinnen, sondern um sie zu sich selbst zu führen, indem sie zu dem führt, von dem jeder Mensch mit Augustinus sagen kann: Er ist mir innerlicher als ich mir selbst (vgl. Conf. 3, 6, 11). Er, der unendlich über mir ist, ist doch so in mir, dass er meine wahre Innerlichkeit ist. Durch diese Art der Öffnung der Kirche zur Welt wird damit auch vorgezeichnet, in welcher Form sich die Weltoffenheit des einzelnen Christen wirksam und angemessen vollziehen kann.
Es geht hier nicht darum, eine neue Taktik zu finden, um der Kirche wieder Geltung zu verschaffen. Vielmehr gilt es, jede bloße Taktik abzulegen und nach der totalen Redlichkeit zu suchen, die nichts von der Wahrheit unseres Heute ausklammert oder verdrängt, sondern ganz im Heute den Glauben vollzieht, eben dadurch dass sie ihn ganz in der Nüchternheit des Heute lebt, ihn ganz zu sich selbst bringt, indem sie das von ihm abstreift, was nur scheinbar Glaube, in Wahrheit aber Konvention und Gewohnheit ist.
Sagen wir es noch einmal anders: Der christliche Glaube ist für den Menschen allezeit – und nicht erst in der unsrigen – ein Skandal. Dass der ewige Gott sich um uns Menschen kümmern, uns kennen soll, dass der Unfassbare zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort fassbar geworden sein soll, dass der Unsterbliche am Kreuz gelitten haben und gestorben sein soll, dass uns Sterblichen Auferstehung und Ewiges Leben verheißen ist – das zu glauben ist für die Menschen allemal eine Zumutung.
Dieser Skandal, der unaufhebbar ist, wenn man nicht das Christentum selbst aufheben will, ist leider gerade in jüngster Zeit überdeckt worden von den anderen schmerzlichen Skandalen der Verkünder des Glaubens. Gefährlich wird es, wenn diese Skandale an die Stelle des primären skandalon des Kreuzes treten und ihn dadurch unzugänglich machen, also den eigentlichen christlichen Anspruch hinter der Unbotmäßigkeit seiner Boten verdecken.
Um so mehr ist es wieder an der Zeit, die wahre Entweltlichung zu finden, die Weltlichkeit der Kirche beherzt abzulegen. Das heißt natürlich nicht, sich aus der Welt zurückzuziehen, sondern das Gegenteil. Eine vom Weltlichen entlastete Kirche vermag gerade auch im sozial-karitativen Bereich den Menschen, den Leidenden wie ihren Helfern, die besondere Lebenskraft des christlichen Glaubens zu vermitteln. „Der Liebesdienst ist für die Kirche nicht eine Art Wohlfahrtsaktivität, die man auch anderen überlassen könnte, sondern er gehört zu ihrem Wesen, ist unverzichtbarer Wesensausdruck ihrer selbst“ (Enzyklika Deus caritas est, 25). Allerdings haben sich auch die karitativen Werke der Kirche immer neu dem Anspruch einer angemessenen Entweltlichung zu stellen, sollen ihr nicht angesichts der zunehmenden Entkirchlichung ihre Wurzeln vertrocknen. Nur die tiefe Beziehung zu Gott ermöglicht eine vollwertige Zuwendung zum Mitmenschen, so wie ohne Zuwendung zum Nächsten die Beziehung zu Gott verkümmert.
Offensein für die Anliegen der Welt heißt demnach für die entweltlichte Kirche, die Herrschaft der Liebe Gottes nach dem Evangelium durch Wort und Tat hier und heute zu bezeugen, und dieser Auftrag weist zudem über die gegenwärtige Welt hinaus; denn das gegenwärtige Leben schließt die Verbundenheit mit dem Ewigen Leben ein. Leben wir als einzelne und als Gemeinschaft der Kirche die Einfachheit einer großen Liebe, die auf der Welt das Einfachste und das Schwerste zugleich ist, weil es nicht mehr und nicht weniger verlangt, als sich selbst zu verschenken.
Liebe Freunde! Es bleibt mir, den Segen Gottes und die Kraft des Heiligen Geistes für uns alle zu erbitten, dass wir in unserem jeweiligen Wirkungsbereich immer wieder neu Gottes Liebe und sein Erbarmen erkennen und bezeugen können. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!
Anmerkungen
Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.): Apostolische Reise Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. nach Berlin, Erfurt und Freiburg. Predigten, Ansprachen und Grußworte. (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr.189) Bonn 2011, 145–151.In diesem Dokumentationsband finden sich auch alle übrigen offiziellen Ansprachen des Papstes sowie die offiziellen Reden und Grußworte der Repräsentanten der Organisationen, mit denen sich Benedikt XVI. während seines Deutschlandbesuchs getroffen hat und die in dem vorliegenden Sammelband zitiert werden.
Erzbischof Robert Zollitsch
Von den vielen Impulsen, die Papst Benedikt durch seine Predigten und Ansprachen während seiner Apostolischen Reise nach Deutschland 2011 gab, entfalten seine Überlegungen im Freiburger Konzerthaus eine besonders nachhaltige Wirkung. Dabei geht es dem Heiligen Vater sehr grundlegend um die Sendung der Kirche und damit auch um ihre Existenz in der Welt, in der sie lebt, und um ihre Aufgabe in der Welt und für sie. Dieser Sendung hat die Kirche sich immer neu zu vergewissern. „Die göttliche Liebe will nicht nur für sich sein, sie will sich ihrem Wesen nach verströmen.“ So hat der Sohn Gottes Fleisch angenommen, ist Mensch geworden, um zum einen, „die Welt in ihrer Weltlichkeit zu bestätigen und ihr Gefährte zu sein“, und zum anderen, „um sie zu verwandeln.“ Papst Benedikt greift dabei einen Gedanken der Kirchenväter auf, die von einem sacrum commercium, einem Tausch zwischen Gott und den Menschen sprechen. So besteht einerseits eine geradezu staunenerregende Bindung zwischen Gott und der Welt, und damit ein Auftrag der Kirche für die Welt und in ihr. Andererseits unterscheidet sich die Kirche, die „danach trachtet, sich selbst nach dem Typus, den Christus ihr vor Augen stellt, zu bilden“, tief von ihrer menschlichen Umgebung, „in der sie lebt oder der sie sich nähert.“ Da die Kirche zwar in der Welt lebt, aber nicht von der Welt ist (vgl. Joh 18,36), wird sie um ihrer Sendung willen „auch immer wieder Distanz zu ihrer Umgebung nehmen müssen, sich gewissermaßen ‚ent-weltlichen‘.“
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