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Große Erwartungen richten sich an Papst Franziskus. Zum ersten Mal ein Papst aus der Neuen Welt, zum ersten Mal ein Jesuit – und sein Name ist Programm: Jorge Maria Bergoglio war der »Kardinal der Armen« in Argentinien. Die Katholische Kirche wagt mit ihm einen Neuanfang. In seinem profunden Porträt des neuen Papstes analysiert der Journalist und Vatikankenner Jürgen Erbacher nicht nur den 265. Nachfolger des Heiligen Petrus, sondern auch die Lage der Kirche nach dem Rücktritt Benedikts XVI.
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Seitenzahl: 234
Jürgen Erbacher
Papst Franziskus
Aufbruch und Neuanfang.Mit Eindrücken deutschsprachiger Konklave-Kardinäle
Knaur e-books
Wer ist der neue Papst? Was will er im Vatikan und der Kirche erreichen? Warum wurde er gewählt?
Große Erwartungen richten sich auf Papst Franziskus. Zum ersten Mal ein Papst aus der Neuen Welt, zum ersten Mal ein Jesuit – und sein Name ist Programm: Jorge Mario Bergoglio, Erzbischof von Buenos Aires, war der »Kardinal der Armen« in Argentinien. Die Katholische Kirche wagt mit ihm einen Neuanfang. In seinem profunden Porträt des neuen Papstes analysiert der ZDF-Journalist und Vatikankenner Jürgen Erbacher nicht nur den 265. Nachfolger des Heiligen Petrus, sondern auch die Lage der Kirche nach dem Rücktritt Benedikts XVI. Exklusiv und ein Highlight dieses Buchs: Die deutschen Konklave-Kardinäle sprechen über ihre Gedanken bei der Wahl, ihre Erwartungen und Hoffnungen an Papst Franziskus.
Die Überraschung ist perfekt, als der Name des neuen Papstes am 13. März 2013 von der Loggia des Petersdoms verkündet wird: Jorge Mario Bergoglio, Erzbischof von Buenos Aires, ist Papst Franziskus. Ebenso groß ist das Rätselraten über seine Person. Nach dem Amtsverzicht von Benedikt XVI. rangierte er nicht unter den Favoriten. Dafür bedeutet seine Wahl gleich mehrere Premieren: Er ist der erste Papst, der sich nach dem Heiligen aus Assisi benennt, der erste Lateinamerikaner und der erste Jesuit auf dem Stuhl Petri. Von seinen ersten bescheidenen Gesten und Worten an ist klar, dass er dem Papstamt seinen ganz eigenen Stempel aufdrücken wird. Die Zeichen und inhaltlichen Impulse, die er setzt, wecken bei Katholiken, aber auch bei Menschen außerhalb der katholischen Kirche Hoffnungen auf einen Neuanfang.
Hinter dem Vatikan liegen stürmische Jahre: 2009 sorgte die Versöhnungsgeste gegenüber vier Traditionalisten-Bischöfen für Empörung – unter ihnen befand sich ein Holocaustleugner, Richard Williamson. 2010 flammte in Deutschland, dann auch in anderen Ländern, der Missbrauchsskandal auf, der schon seit 2002 die Kirche in den USA gebeutelt hatte. Schließlich offenbarte 2012 die Vatileaks-Affäre schwelende Intrigen, Vetternwirtschaft und Probleme um die Vatikanbank IOR. Die katholische Kirche wirkt wie gelähmt, unfähig zu Reformen, weit weg von den Nöten der Menschen. Doch im Frühjahr 2013 wandelt sich innerhalb weniger Wochen das öffentliche Bild. Mit dem für die Neuzeit beispiellosen Rücktritt Papst Benedikts XVI. und der Wahl Kardinal Jorge Mario Bergoglios scheint es plötzlich so, als atmeten die alten Mauern den Geist der Erneuerung. Heißt es noch vor dem Konklave, die Kardinäle seien so uneins, dass sie lange brauchen würden, um sich auf einen Nachfolger für Benedikt XVI. zu verständigen, so dauert es am Ende kaum mehr als 24 Stunden, bis sie den Mann finden, der für einen Aufbruch steht, der die Kirche aus der Krise führen soll. Ohne den mutigen Schritt Benedikts XVI. wäre dies nicht möglich gewesen. Seine Verdienste um die katholische Kirche geraten angesichts der Euphorie um seinen Nachfolger leicht in Vergessenheit.
Die Kirche verändert mit Franziskus ihr Gesicht. Es fängt mit Kleinigkeiten an, die jedoch sensibel wahrgenommen werden: Franziskus trägt weiter sein silbernes Bischofskreuz und seine schwarzen Straßenschuhe. Noch bevor er die erste Reform anpackt, wirkt sein schlichtes Auftreten wie die Initialzündung zu einer »Selbstreform«. Bischöfe denken über ihre Dienstwagen nach, die Diözese Buffalo diskutiert darüber, wie groß der Wohnsitz ihres Oberhirten sein darf, der Patriarch von Venedig will Teile der Diözesanverwaltung aus einem prächtigen Palast abziehen. Es wird künftig aber mehr um Inhalte gehen. Die Zeit eines höfischen Papstamts ist vorbei. Der Jesuit, der sich Franziskus nennt, sorgt für einen radikalen Stilwechsel. Die Art, wie er sein Amt ausübt, verleiht ihm bei den Menschen große Glaubwürdigkeit. Es ist die Weise, wie er auch in Buenos Aires sein Hirtenamt gelebt hat: nüchtern, einfach und an der Seite der Menschen. Aufgabe der Kirche ist es aus seiner Sicht, das Evangelium zu verkünden, nicht, sich selbst zu feiern. Seine zentrale Botschaft ist die Barmherzigkeit Gottes.
Wie Papst Franziskus die Kirche sieht, wer dieser Papst »vom anderen Ende der Welt« ist, vor welchen Herausforderungen er sowie die katholische Kirche stehen und warum er 2005 im Konklave gegen Joseph Ratzinger unterlegen, 2013 aber für die Mehrheit der Kardinäle der Richtige ist, um die Kirche in die Zukunft zu führen – darum soll es in diesem Buch gehen. Nach einem Rückblick auf das Konklave 2013 steht die Person Jorge Mario Bergoglio im Mittelpunkt, seine Biografie, die schwierige Zeit der Militärdiktatur und seine Vorstellung von einer offenen, missionarischen Kirche im Dialog mit der Welt, mit anderen Konfessionen und Religionen. Papst Franziskus trifft auf Erwartungen bei den Gläubigen und auf Herausforderungen in Gesellschaft und Politik. Auch diese werden kurz angerissen. Wie der Jesuit Jorge Mario Bergoglio sein Amt versteht, drückt er in der Namenswahl aus: Franz von Assisi steht für Armut, Frieden, Bewahrung der Schöpfung und eine radikale Christusnachfolge. Daher geht es in einem eigenen Kapitel um die spirituellen Wurzeln dieses Papstes. Franziskus prägt einen neuen Amtsstil: Dies wird im letzten Kapitel noch einmal vor dem Hintergrund der Veränderungen in der römischen Kurie und im Umgang mit den Bischöfen dargelegt.
115 Kardinäle sind im März 2013 ins Konklave in die Sixtinische Kapelle im Vatikan eingezogen. Sie haben den Mann zum 265. Nachfolger des Apostels Petrus gewählt, der als Papst Franziskus Menschen rund um den Globus beeindruckt. Was die Wahl anbetrifft, sind die Kardinäle zum Schweigen verpflichtet. Es freut mich, dass sechs der 115 bereit waren, für dieses Buch ihre Gedanken und Erfahrungen aufzuschreiben. Es sind individuelle Eindrücke aus der Zeit der Sedisvakanz und der Wahl sowie von der Person des Papstes selbst. Bei allen unterschiedlichen Perspektiven zeigen sie große Gemeinsamkeiten, was die Wahrnehmung der Wochen nach dem Rücktritt Benedikts XVI. anbetrifft. Es sind sechs persönliche Zeugnisse, für die ich den sechs Kardinälen ganz herzlich danke. Ihre je eigenen Beiträge enthalten selbstverständlich auch thematische Überschneidungen; diese unterstreichen jedoch die breite Einigkeit (zumindest der Kardinäle des deutschen Sprachraums) in der Beurteilung der Lage der Kirche und in ihren Prioritäten für das Profil des künftigen Papstes. Die Beiträge finden sich in der Reihenfolge, die dem protokollarischen Rang der Autoren entspricht.
Das Buch stellt Papst Franziskus vor. Das geschieht auf der Grundlage unterschiedlichster Quellen. Neben persönlichen Gesprächen mit Weggefährten und Bekannten sind es seine eigenen Worte und Gesten sowie seine früheren Texte, die Auskunft geben über das Denken und die Spiritualität von Jorge Mario Bergoglio. Wertvolle Einsichten bieten auch die beiden Gesprächsbände, die Bergoglio zum einen mit Rabbiner Abraham Skorka (Titel: Sobre el cielo y la tierra), zum anderen mit den Journalisten Sergio Rubin und Francesca Ambrogetti (Originaltitel: El Jesuita; deutscher Titel: Mein Leben, mein Weg) veröffentlicht hat. Daneben gibt es unzählige Predigttexte und Ansprachen der vergangenen Jahre sowie eine umfangreiche Medienberichterstattung aus den ersten Wochen des Pontifikats. Aus diesem Reichtum schöpft das vorliegende Buch. Etwaige Fehler und Ungenauigkeiten gehen zu Lasten des Autors. Das vorliegende Werk ist einerseits eine Momentaufnahme, denn ein neues Amt verändert immer auch eine Person; so wird es auch bei Franziskus sein. Andererseits zeigen bereits die ersten Wochen, dass der Papst aus Argentinien sich in vielen Punkten treu bleibt. Damit bietet das Buch einen Schlüssel, um Person und Amt von Papst Franziskus zu verstehen. Franziskus ist eine vielschichtige Persönlichkeit, die ein spannendes Pontifikat erwarten lässt. Er steht für Aufbruch und Neuanfang.
Der neue Papst ist gewählt
13. März 2013, 17.45 Uhr. Der Petersplatz hat sich gefüllt. Beim Konklave acht Jahre zuvor stieg um diese Zeit der weiße Rauch auf. Damals war Joseph Ratzinger im vierten Wahlgang zum 264. Nachfolger des Apostels Petrus gewählt worden. Auch jetzt sind viele Römer und Schaulustige am späten Nachmittag zum Vatikan gekommen. Zwar war vor dem Einzug ins Konklave immer wieder zu hören gewesen, dass es dieses Mal länger dauern werde und die Kardinäle wohl zwei oder drei Tage brauchen würden, um sich auf einen Kandidaten zu verständigen. Aber man weiß ja nie. Es regnet. Tausende Regenschirme bedecken den Platz. Der Blick geht immer wieder nach oben zu dem kleinen Schornstein auf dem Dach der Sixtinischen Kapelle. Dank des Vatikanischen Fernsehzentrums CTV können die Menschen auf den vier Großbildschirmen auf dem Petersplatz den Kamin ganz nah beobachten. Doch es tut sich nichts. Als gegen kurz nach 18 Uhr immer noch kein Rauch aufsteigt, ist den Menschen klar, dass auch der vierte Wahlgang erfolglos war. Doch sie bleiben, denn spätestens in einer Stunde muss es ein Rauchsignal geben: schwarz oder weiß. Es ist üblich, dass immer nach zwei Wahlgängen die Stimmzettel verbrannt werden. So war es am Vormittag, als gegen 11.39 Uhr schwarzer Rauch aufstieg und signalisierte, dass die Wahlgänge zwei und drei zu keinem Ergebnis geführt hatten. Am Vorabend, nach dem feierlichen Einzug ins Konklave am 12. März, hatte beim ersten Wahlgang niemand mit einem positiven Ergebnis gerechnet. Daher war der schwarze Rauch um 19.41 Uhr keine Überraschung gewesen.
Doch jetzt? Wird es im fünften Wahlgang gelingen? Der Platz füllt sich weiter. Viele Römer kommen nach Feierabend vorbei, um beiläufig etwas Konklavestimmung mitzuerleben. Drinnen in der Sixtinischen Kapelle werden in diesem Moment die Stimmen des fünften Wahlgangs ausgezählt.
Das passiert nach einem fest vorgeschriebenen Prozedere. Nachdem jeder Kardinal möglichst mit verstellter Schrift den Namen seines Kandidaten auf den vorbereiteten Wahlzettel geschrieben hat, tritt er mit erhobener Hand nach vorne an den Tisch unter dem imposanten Fresko des Jüngsten Gerichts Michelangelos. Quasi Auge in Auge mit dem auferstandenen, richtenden Christus spricht er die Worte: »Ich rufe Christus, der mein Richter sein wird, zum Zeugen an, dass ich den gewählt habe, von dem ich glaube, dass er nach Gottes Willen gewählt werden sollte.« Dann gibt er seinen Zettel in die Urne. Sind alle Stimmen abgegeben, wird überprüft, ob ihre Zahl derjenigen der teilnehmenden Kardinäle entspricht – 115. Erst dann beginnt die Auszählung. Drei durch das Los bestimmte Kardinäle ermitteln das Ergebnis. Der erste nimmt an dem Tisch unter dem Jüngsten Gericht einen Stimmzettel aus der Urne, stellt den darauf verzeichneten Namen fest, gibt ihn an den zweiten weiter, der ebenfalls den Namen einsieht, bevor der dritte diesen dann laut verkündet. Dabei gibt es ein kleines Problem. Die Akustik in der Sixtinischen Kapelle ist nicht die beste. Dazu kommt, dass viele Kardinäle sich in einem fortgeschrittenen Alter befinden und nicht mehr ganz so gut hören. Das Durchschnittsalter im Konklave liegt immerhin bei fast 72 Jahren. Die Mikrofonanlage wollen die Kardinäle aber nicht benutzen. Sie haben Sorge, dass das Übertragungssystem nicht abhörsicher sei und etwas von der geheimen Wahl nach außen dringen könnte. Also beschließen sie, dass einer aus ihren Reihen, der eine kräftige Stimme hat, sich in die Mitte der Sixtina stellen muss, um laut und deutlich den Namen des Gewählten in die Runde zu rufen. So können alle anwesenden Purpurträger auf den Notizzetteln, die sie an ihrem Platz vorgefunden hatten, selbst mitzählen, wer wie viele Stimmen bekommt. Bei der aktuellen Auszählung wird vor allem ein Name immer wieder genannt: Jorge Mario Bergoglio.
Was die Menschen im Regen draußen auf dem Platz nicht mitbekommen: Gegen 18.45 Uhr hören die Zeremoniare und Konklavehelfer, die während der Wahlgänge vor der Sixtinischen Kapelle in der Sala Regia ausharren, einen lang anhaltenden Applaus durch die massive Holztür der Sixtina nach draußen dringen. Es ist der Moment, in dem der Erzbischof von Buenos Aires die Zweidrittelmehrheit von 77 Stimmen erreicht hat. Doch die Auszählung geht weiter. Am Ende hat Jorge Mario Bergoglio weit über 90 Stimmen auf sich vereint; mehr als vor acht Jahren Joseph Ratzinger bei seiner Wahl. Er soll damals 84 Stimmen bekommen haben. Kurz vor 19 Uhr sind alle Stimmen ausgezählt. Eigentlich ist es nun die Aufgabe des Dekans des Kardinalskollegiums, den Kandidaten mit den meisten Stimmen zu fragen, ob er die Wahl annimmt. Doch Angelo Kardinal Sodano ist nicht im Konklave dabei, da er die Altersgrenze überschritten hat. So leitet der ranghöchste der unter 80-jährigen Purpurträger die Wahl: Kardinal Giovanni Battista Re. Er tritt zu Kardinal Bergoglio, der auf der linken Seite der Sixtinischen Kapelle in der zweiten Reihe seinen Platz hat, und fragt ihn, ob er die Wahl annehme.
Der 76-Jährige antwortet: »Ich bin ein großer Sünder und vertraue auf die Barmherzigkeit und Geduld Gottes. Unter Schmerzen nehme ich an.« Erneut brandet Applaus in der Sixtinischen Kapelle auf. Dann die Frage Res an den neuen Papst nach seinem Namen. Bergoglio antwortet, er wolle sich Franziskus nennen – in Erinnerung und zu Ehren des heiligen Franz von Assisi.
Viele Kardinäle schauen sich fragend und überrascht an. Der indische Kardinal Oswald Gracias, der Bergoglio fast genau gegenübersitzt, erinnert sich, dass Kardinal William Levada vor ihm sich umdreht und nachfragt, wie denn der Name des neuen Papstes nun genau sei. Teils wegen der Verständnisprobleme, teils wegen der großen Überraschung angesichts der Namenswahl geht ein Raunen durch die Sixtinische Kapelle. Vielen Anwesenden ist sofort klar, dass mit diesem Amtsnamen ein Programm verbunden ist, das die Kirche verändern würde. Während der dienstjüngste der Kardinaldiakone, James M. Harvey, die Türen der Sixtina öffnet, um die Zeremoniare sowie die Helfer zum Verbrennen der Stimmzettel hereinzulassen, begibt sich der neue Papst Franziskus in den »Raum der Tränen« neben der Sixtina. Dort liegen weiße Soutanen und die roten Schuhe in verschiedenen Größen bereit, ebenso der rote Schulterumhang, die Mozzetta mit Hermelineinfassung, ein goldenes Brustkreuz und eine Stola.
Draußen auf dem Petersplatz bricht Jubel aus. Um 19.06 Uhr steigt Rauch aus dem Kamin der Sixtinischen Kapelle auf. Schnell ist klar: Er ist weiß. Dieses Mal hat sich der Vatikan gut vorbereitet, um wirklich klare Rauchsignale zu senden. Feuerwerker stellten dafür Kartuschen mit speziellen Chemikalien her. Der schwarze Rauch wird mit einer Mischung aus Kaliumperchlorat, Anthracen und Schwefel erzeugt, der weiße mit einem Zusatz aus Kaliumchlorat, Laktose und Kiefernharz. Eine Kartusche hat eine Brenndauer von rund sieben Minuten. In der Sixtina sind eigens zwei Öfen installiert: einer zur Erzeugung des Rauchs und einer zum Verbrennen der Wahlunterlagen. Dazu gehören neben den Stimmzetteln auch alle persönlichen Notizen der Kardinäle. Der schwarze Rauch am ersten Abend war dieses Mal so stark, dass sich einige Journalisten Sorgen um die Kardinäle und die Fresken in der Sixtinischen Kapelle machten. Vatikansprecher Federico Lombardi versicherte aber, von den Kartuschen gehe keine Gefahr für die Gesundheit der Kardinäle und die Fresken aus.
Kurz nach dem Rauch am Mittwochabend fangen auch die Glocken von Sankt Peter an zu läuten – ein untrügliches Zeichen, dass die Wahl erfolgt ist. »Habemus Papam« rufen sich die Menschen begeistert zu. Der 265. Nachfolger des Apostels Petrus ist gewählt. Fernsehsender rund um die Welt unterbrechen ihr Programm. Überall von den Dächern rings um den Petersplatz wird nun live gesendet. In Rom verbreitet sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Aus allen Richtungen kommen die Massen auf den Petersplatz geströmt. Die große Prachtstraße Via della Conciliazione, die von der Engelsburg am Tiber über mehrere hundert Meter zum Vatikan hinaufführt, wird kurzerhand zur Fußgängerzone. Die Menschen blicken gespannt zur Mittelloggia des Petersdoms hinauf. Dort hatte schon am Vortag die vatikanische Feuerwehr mit ihrem Leiterwagen den schweren roten Samtvorhang angebracht, durch den in wenigen Minuten der neue Papst schreiten wird. Bei jeder kleinsten Bewegung des Vorhangs brandet Applaus auf. Doch die Menschen werden auf eine lange Geduldsprobe gestellt. Der Kardinalprotodiakon, der die freudige Nachricht überbringen wird, lässt über eine Stunde auf sich warten.
Um 19.10 Uhr kehrt Franziskus aus dem »Raum der Tränen« in die Sixtinische Kapelle zurück. Dort warten die Kardinäle auf ihn. Und er sorgt sofort für Aufsehen: Der neue Papst trägt einen schlichten weißen Talar. Die rote Mozzetta hat er nicht angelegt, ebenso wenig die roten Schuhe und das goldene Brustkreuz. Der Stellvertreter Christi erscheint in schwarzen Straßenschuhen und mit dem schlichten silbernen Bischofskreuz. Er steht, setzt sich nicht auf den mittlerweile bereitgestellten Thron. Als Erstes geht er auf den nigerianischen Kardinal Anthony Olubunmi Okogie zu, der im Rollstuhl sitzt. Eine herzliche Umarmung. Das hat wenig mit dem Akt der Huldigung zu tun, den die Kardinäle laut Protokoll dem neuen Kirchenoberhaupt leisten müssen. Was sich mit der Namensgebung angedeutet hat, erfährt in den ersten Minuten des Pontifikats seine Konkretisierung. Franziskus pflegt einen brüderlichen Umgang mit den Kardinälen. Nachdem alle 114 Kardinäle einzeln zu ihm vorgetreten waren, kommen noch einige weitere Mitarbeiter, um dem neuen Papst ihren Gehorsam zu versprechen, darunter der päpstliche Zeremonienmeister Guido Marini, der Präfekt des Päpstlichen Hauses, Erzbischof Georg Gänswein, und der Chef der Päpstlichen Schweizergarde, Daniel Anrig.
Spontanen Applaus gibt es, als Franziskus dem Sekretär des Konklaves, Erzbischof Lorenzo Baldisseri, seinen roten Pileolus aufsetzt. Einer der Zeremoniare hatte Franziskus gesagt, dass es eine alte Tradition sei, den frei gewordenen Platz im Kardinalskollegium so wieder zu besetzen. Zuletzt hatte das Johannes XXIII. gemacht. Er setzte dem Sekretär des Konklaves Alberto Di Iorio seinen Pileolus auf. Di Iorio wurde dann beim ersten Konsistorium unter Johannes XXIII. am 15. Dezember 1958 Kardinal. Im Falle von Baldisseri bedeutet es ebenso nicht, dass er bereits Kardinal ist; aber er kann sicher sein, dass er bei der nächsten Runde von Kardinalsernennungen dabei sein wird. Baldisseri war mit dem roten Pileolus später auf der Loggia des Petersdoms zu sehen. Franziskus sagte zu ihm scherzend: »Du bist ein halber Kardinal.« Mittlerweile ist allerdings unklar, wie alt diese Tradition wirklich ist. Der italienische Vatikan-Experte Sandro Magister fand heraus, dass bei den neun Papstwahlen seit 1903 nur Johannes XXIII. bei seiner Wahl 1958 diesen »Ritus« vollzog. In den anderen Fällen wurden die Sekretäre des Konklaves zwar oft auch kurze Zeit später zu Kardinälen ernannt, aber sie bekamen nicht schon zum Ende des Konklaves den roten Pileolus aufgesetzt.
Während die Menschen auf dem Petersplatz noch immer warten, ruft Papst Franziskus den Kardinalvikar von Rom, Agostino Vallini, und den Franziskaner, Claudio Kardinal Hummes, an seine Seite. Sie sollen ihn auf die Loggia bei seinem ersten Auftritt begleiten. Auf dem Weg dorthin macht Franziskus kurz halt in der Cappella Paolina. Von dort waren gut 26 Stunden vorher die Kardinäle feierlich ins Konklave eingezogen. Am Morgen des 13. März 2013 hatten sie dort alle gemeinsam die heilige Messe gefeiert, bevor sie mit dem Wählen begonnen hatten. Hier in der Cappella Paolina hatte der Zeremonienmeister einen Thron und eine Kniebank vorne im Mittelgang aufstellen lassen, damit der neue Papst vor dem Allerheiligsten beten konnte. Franziskus zieht es jedoch vor, in der letzten Reihe zu knien und dort zu beten. Erneut muss Zeremonienmeister Guido Marini erfahren, dass der neue Pontifex seine eigenen Wege geht. Schon im »Raum der Tränen« hatte er die vorbereiteten Angebote des Chef-Liturgen dreimal zurückgewiesen: die roten Schuhe, das goldene Brustkreuz und die Mozzetta. Später wurde kolportiert, Franziskus habe dabei gesagt: »Der Karneval ist vorbei, das Zeug können Sie selber tragen, Monsignore.« Der Vatikan-Spezialist Andrea Tornielli hält das für eine Legende – und in der Tat passt es nicht zu Bergoglio, sein Gegenüber derart vor den Kopf zu stoßen. Aber die Geschichte, auch wenn erfunden, zeigt, welches Image der neue Papst schon wenige Stunden nach Amtsantritt hatte.
Mittlerweile ist es nach 20 Uhr. Rund 150000 Menschen haben sich auf dem Petersplatz versammelt. Vom Künder der frohen Botschaft, geschweige denn vom neuen Papst, noch immer keine Spur. Franziskus hat eine wichtige Sache zu erledigen, bevor er sich der Weltöffentlichkeit zeigt. Er telefoniert mit seinem Vorgänger. Benedikt XVI. weilt seit seinem Amtsverzicht am 28. Februar 2013 in der Päpstlichen Sommerresidenz in Castel Gandolfo. Dort hat er über das Fernsehen die Ereignisse der letzten Tage verfolgt. Es muss ein denkwürdiges Gespräch gewesen sein, der emeritierte Papst spricht mit seinem Nachfolger. Und als ob das nicht schon spektakulär genug wäre: Benedikt XVI. spricht mit seinem größten Konkurrenten aus dem Konklave 2005. Der, der damals nach ihm die meisten Stimmen hatte, ist nun sein Nachfolger – Jorge Mario Bergoglio, der Erzbischof von Buenos Aires.
Der 13. März 2013 ist der neunte Todestag des Wiener Kardinals Franz König. Er war es, der im Konklave vom Oktober 1978 in einer festgefahrenen Situation das Interesse der Papstwähler auf den jungen Kardinal Karol Wojtyla lenkte und so den Weg ebnete für den ersten Nichtitaliener auf dem Stuhl Petri seit Jahrhunderten. König war mitverantwortlich, dass das Papstamt die Grenzen Italiens überstieg; sollte an seinem Todestag etwa eine weitere Grenze überwunden werden, die Grenze Europas? Endlich bewegt sich der Vorhang. Um 20.15 Uhr tritt Kardinalprotodiakon Jean Louis Tauran auf die Mittelloggia des Petersdoms. In den Tagen davor hatte es Spekulationen darüber gegeben, ob der französische Kurienkardinal auf diesen Auftritt wegen seiner Parkinsonerkrankung verzichten würde. Doch der 69-Jährige tritt selbstbewusst vor die Menge auf dem Petersplatz und die Millionen Fernsehzuschauer in aller Welt. Stolz verkündet er die freudige Nachricht: »Habemus Papam!« Grenzenloser Jubel auf dem Petersplatz. Dann nennt Tauran den Namen: »Georgium Marium, Sanctae Romanae Ecclesiae cardinalem, Bergoglio.«
Kurze Stille auf dem Petersplatz: Bergoglio? Wer ist das, fragen sich viele. Es ist keiner der Namen, die im Vorfeld so heiß gehandelt wurden: Marc Ouellet, Angelo Scola, Odilo Scherer. Der Überraschungsmoment erinnert an die Wahl Karol Wojtylas 1978, mit dessen Namen nicht einmal viele Kommentatoren etwas anfangen konnten. Doch jetzt ist es nur wie das Atemholen zu neuem Jubel. Ein Fahnenmeer wogt, die Weltkirche ist versammelt. Rechtzeitig hat es aufgehört zu regnen. Und um 20.22 Uhr tritt der neue Papst auf die Loggia. Still steht er da, die Hände hängen an seiner Seite herunter. Er atmet schwer. »Fratelli e sorelle, buena sera«, sagt er zur Begrüßung, fast ein bisschen schüchtern. »Brüder und Schwestern! Guten Abend!« Jubel, das Eis ist gebrochen. »Ihr wisst, es war die Aufgabe des Konklaves, Rom einen Bischof zu geben. Es scheint, meine Mitbrüder, die Kardinäle, sind fast bis ans Ende der Welt gegangen, um ihn zu holen. … Aber wir sind hier. … Ich danke euch für diesen Empfang. Die Diözese Rom hat nun seinen Bischof. Danke. Zunächst möchte ich ein Gebet sprechen für unseren emeritierten Bischof Benedikt XVI. Beten wir alle gemeinsam für ihn, dass der Herr ihn segne und die Mutter Gottes ihn beschütze.«
Franziskus hat die Menge bereits fest im Griff. 150000 beten gemeinsam ein Vaterunser und ein Ave-Maria für Benedikt XVI. »Und jetzt beginnen wir diesen Weg – Bischof und Volk –, den Weg der Kirche von Rom, die den Vorsitz in der Liebe führt gegenüber allen Kirchen; einen Weg der Brüderlichkeit, der Liebe, des gegenseitigen Vertrauens. Beten wir immer füreinander. Beten wir für die ganze Welt, damit ein großes Miteinander herrsche. Ich wünsche euch, dass dieser Weg als Kirche, den wir heute beginnen und bei dem mir mein Kardinalvikar, der hier anwesend ist, helfen wird, fruchtbar sei für die Evangelisierung dieser schönen Stadt. Und nun möchte ich den Segen erteilen, aber zuvor bitte ich euch um einen Gefallen. Ehe der Bischof das Volk segnet, bitte ich euch, den Herrn anzurufen, dass er mich segne: das Gebet des Volkes, das um den Segen für seinen Bischof bittet. In Stille wollen wir euer Gebet für mich halten.« Dann das Unerhörte: Der neue Papst verneigt sich tief vor den Gläubigen. Stille legt sich über den Platz. Menschen falten die Hände, schließen die Augen; Fremde beten gemeinsam für den Papst, der jetzt »ihr« Papst ist und der in seiner ersten Handlung und mit einer schlichten, leisen Bitte sein Volk hinter sich versammelt und sich von ihm tragen lässt. Es ist ein Schlüsselmoment wie 2005, als Benedikt XVI. sich mit seinen ersten Worten vor Papst Johannes Paul II. verneigte, dem Millionen wenige Tage zuvor die letzte Ehre erwiesen hatten. Benedikt XVI. sagte damals: »Nach einem großen Papst Johannes Paul II. haben die Herrn Kardinäle mich gewählt, einen einfachen und bescheidenen Arbeiter im Weinberg des Herrn.« Die Verneigung vor Johannes Paul II. im Jahr 2005 und die Verneigung vor dem Volk 2013 sind wichtige Gesten, die das Verhältnis von Papst und Gläubigen bestimmen. Eben noch der frenetische Jubel, jetzt das stille Gebet für den Papst. »Jetzt werde ich euch und der ganzen Welt, allen Männern und Frauen guten Willens, den Segen erteilen.« Franziskus legt die Stola um und spricht den feierlichen Segen Urbi et Orbi, der Stadt und dem Erdkreis. Danach fügt er noch hinzu: »Brüder und Schwestern, ich verabschiede mich von euch. Vielen Dank für den Empfang. Betet für mich und bis bald! Wir sehen uns bald: Morgen möchte ich die Muttergottes aufsuchen und sie bitten, ganz Rom zu beschützen. Gute Nacht und angenehme Ruhe.« Franziskus steht noch einige Momente auf der Loggia, dann tritt er hinter den Vorhang zurück. Er begibt sich mit den Kardinälen ins Gästehaus Santa Marta, wo ein gemeinsames Abendessen auf dem Programm steht. Später auf Twitter verbreitete Schnappschüsse zeigen ihn mit den anderen Kardinälen im Minibus. Beim Abendessen wie auch an den folgenden Tagen bewegt sich Franziskus im Speisesaal und im Haus mit der gleichen Ungezwungenheit wie vor seiner Wahl, als sei er weiterhin ein Bischof unter Bischöfen.
Wie es zur Wahl von Kardinal Bergoglio zum Papst kam
Sensation! Überraschung! Das waren die wohl am meisten gebrauchten Worte, um die Entscheidung der Kardinäle zu charakterisieren. Mit der Wahl Jorge Mario Bergoglios ist den Purpurträgern ein echter Coup gelungen, da sind sich die Beobachter schnell einig. Unmittelbar nach dem ersten Auftritt von Franziskus beginnen die Analysen der Wahl. Wie konnte es dazu kommen, dass gerade der Erzbischof von Buenos Aires der neue Papst wurde? Im Konklave 2005 hatte er die Chance auf das Papstamt verpasst; mit seinen inzwischen 76 Jahren schien er im Vorfeld vielen zu alt und zu geschwächt; schließlich hatte Benedikt XVI. dieses Amt gerade aufgegeben, weil nach seinen Worten »die Kraft des Körpers und des Geistes« nicht mehr ausreichte, um das Schiff der Kirche zu führen. Warum Bergoglio? Was war geschehen in den letzten Tagen und Wochen der Sedisvakanz?
Rückblick: Es ist der 11. Februar 2013. Kurz vor 12 Uhr geht die Eilmeldung um die Welt. Papst Benedikt XVI. hatte im Rahmen eines Konsistoriums, dem Treffen der in Rom anwesenden Kardinäle, zur Promulgation einiger Selig- und Heiligsprechungsdekrete überraschend angekündigt, dass er zum 28. Februar 20 Uhr auf sein Amt als Bischof von Rom, Oberhaupt der katholischen Kirche und Stellvertreter Christi, verzichten werde. Wenige Stunden später beginnen die Spekulationen um die möglichen Nachfolger. Der Name des Erzbischofs von Buenos Aires, Jorge Mario Bergoglio, ist von Anfang an mit dabei. Allerdings werden ihm aufgrund seines Alters wenig Chancen eingeräumt. So bleibt der Argentinier zwar bis zum Beginn des Konklaves immer auf vielen »Papabile«-Listen, doch meist auf den hinteren Plätzen. Als Grund wird sein Scheitern im Konklave 2005 angeführt.
Damals wurde schon in den Tagen vor dem Tod Johannes Pauls II. am 2. April 2005 über Nachfolger spekuliert. Viele sahen den langjährigen engen Weggefährten Joseph Kardinal Ratzinger als klaren Favoriten. Manche sahen die Zeit aber auch reif für einen nichteuropäischen Kandidaten. Schon damals lebte der Großteil der Katholiken weltweit außerhalb Europas; der Trend setzte sich fort – inzwischen sind es 76 Prozent. 2005 machten sich einige Hoffnungen auf einen Papst aus einem Land des Südens. Gehandelt wurde unter anderem der Nigerianer Francis Arinze, langjähriger Leiter der Vatikan-Behörde für Gottesdienst und Sakramente. Der damals 72-Jährige erklärte aber kurz vor der Wahl, dass die Zeit noch nicht reif sei für einen schwarzen Papst. Also vielleicht doch aus Südamerika? Unter den Namen, die 2005 von dort gehandelt wurden, befinden sich drei, die auch 2013 eine wichtige Rolle spielen sollten: Kardinal Claudio Hummes, damals 70 Jahre alt und Erzbischof von São Paulo in Brasilien, Kardinal Oscar Rodriguez Maradiaga, damals 62 und Erzbischof von Tegucigalpa in Honduras, sowie Kardinal Jorge Mario Bergoglio, damals 68 und Erzbischof von Buenos Aires in Argentinien.
In den Tagen vor dem Einzug der Kardinäle ins Konklave 2005 dominiert vor allem ein Name die Zeitungen und Gespräche in Rom: Joseph Kardinal Ratzinger. Er hat über zwei Jahrzehnte das theologische Profil des Pontifikats Papst Johannes Pauls II