Entwicklungsstörungen -  - E-Book

Entwicklungsstörungen E-Book

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Beschreibung

Entwicklungsstörungen zeigen sich in der Regel früh in der Entwicklung eines Menschen und sind lebenslang im Sinne persönlichkeitsstruktureller Merkmale vorhanden, die von leichter Beeinträchtigung bis zu schwerer Behinderung reichen können. Sie liegen allen weiteren biografischen, psychodynamischen und psychobiologischen Prozessen zugrunde. Autismus, ADHS, Tic-Störungen und Intelligenzminderungen sind dabei oft mit einem spezifischen Stärken- und Schwächenprofil verbunden und gehen mit typischen psychosozialen und sozialkommunikativen Problem- und Konfliktkonstellationen einher. Diese wiederum können sekundär zu psychischen Belastungen und Störungen wie Depressionen, Ängsten oder einem mangelnden Selbstwertgefühl führen. In den Diagnosesystemen DSM-5 und ICD-11 wird diesem Faktum erstmalig Rechnung getragen, indem die Entwicklungsstörungen allen anderen psychischen Störungen vorangestellt wurden. Dieses interdisziplinäre Herausgeberwerk schließt eine Lücke, indem es die Thematik erstmals aus der Perspektive der Kinder-, Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik beleuchtet. Das umfassende Werk stellt die verschiedenen Formen in ihrer Entwicklungsgeschichte vor und gibt einen Überblick über wirksame psychotherapeutische, pharmakologische und sozialpsychiatrische Interventionsmöglichkeiten.

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Herausgeberin und Herausgeber

Ludger Tebartz van Elst, Prof. Dr. med.

Stv. Ärztlicher Direktor und Leitender Oberarzt der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Freiburg.

 

Monica Biscaldi-Schäfer, PD Dr. med.

Kommissarisch Leitende Oberärztin, Department für Psychische Erkrankungen, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter, am Universitätsklinikum Freiburg.

 

Claas Lahmann, Univ.-Prof. Dr. med.

Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsklinikum Freiburg.

 

Andreas Riedel, PD Dr. med. Dr. phil.

Leitender Arzt und Stv. Chefarzt, Luzerner Psychiatrie, Ambulante Dienste.

 

Almut Zeeck, Prof. Dr. med.

Leitende Oberärztin an der Klinik für Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie, Department für Psychische Erkrankungen, Universitätsklinikum Freiburg.

Ludger Tebartz van Elst Monica Biscaldi-Schäfer Claas Lahmann Andreas Riedel Almut Zeeck (Hrsg.)

Entwicklungsstörungen

Interdisziplinäre Perspektiven aus der Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalters

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

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1. Auflage 2023

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-034661-1

 

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-034662-8

epub:    ISBN 978-3-17-034663-5

Inhalt

Vorwort

Einleitung

I         Theoretische Grundlagen

1        Die Historie des Konzepts der neuronalen Entwicklungsstörungen

Ludger Tebartz van Elst

1.1      Einleitung

1.2      Entwicklungsstörungen im ICD-9 und aktuellen ICD-10

1.3      Entwicklungsstörungen im DSM-5

1.4      Entwicklungsstörungen im ICD-11

1.5      Zusammenfassung

Literatur

2        Kognitive Entwicklung im Kindes- und Jugendalter

Christoph Klein, Reinhold Rauh

2.1      Einleitung

2.2      Soziale Kognition

2.3      Zusammenfassung

Literatur

3        Entwicklungspsychologie aus der Perspektive psychosomatischer Denktraditionen

Carl Eduard Scheidt, Claas Lahmann, Almut Zeeck

3.1      Einleitung

3.2      Die Bindungstheorie

3.3      Zusammenfassung

Literatur

4        Entwicklungsstörungen und Persönlichkeitsstörungen: Konzeptuelle Gemeinsamkeiten und Differenzen

Ludger Tebartz van Elst

4.1      Einleitung

4.2      Was ist eine Persönlichkeitsstörung?

4.3      Worin unterscheiden sich Entwicklungs- und Persönlichkeitsstörungen?

4.4      Gemeinsamkeiten von Entwicklungs- und Persönlichkeitsstörungen

4.5      Zusammenfassung

Literatur

5        Entwicklungsstörungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie

Monica Biscaldi-Schäfer, Christoph Klein, Reinhold Rauh

5.1      Einleitung

5.2      »Neurodevelopmental disorders« (»Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung«) nach DSM-5 sowie in der ICD-11 im Vergleich zur ICD-10

5.3      Bedeutung der ES für die kindliche Gesundheit

5.4      Zusammenfassung

Literatur

6        Entwicklungsstörungen in der Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie

Ludger Tebartz van Elst, Dieter Ebert, Andreas Riedel

6.1      Einleitung

6.2      Entwicklungsstörungen in der Erwachsenenpsychiatrie

6.3      Entwicklungsstörungen als Basisstörung

6.4      Entwicklungsstörungen in der Psychotherapie

6.5      Bedeutung der Entwicklungsstörungen für die Psychopharmakotherapie

6.6      Zusammenfassung

Literatur

7        Entwicklungsstörungen in der Psychosomatik

Carl Eduard Scheidt, Claas Lahmann, Almut Zeeck

7.1      Unterschiedliche Begriffe von Entwicklung und Entwicklungsstörung in der Psychosomatik

7.2      Neuronale Entwicklungsstörungen und psychosomatische Erkrankungen

7.3      Neuronale Entwicklungsstörungen aus der Perspektive der Entwicklungspsychopathologie

7.4      Zusammenfassung

Literatur

II        Klinische Phänotypen

8        Die Autismus-Spektrum-Störung

Monica Biscaldi-Schäfer, Andreas Riedel, Ludger Tebartz van Elst

8.1      Einleitung

8.2      Autistischer Phänotyp

8.3      Diagnostische Kriterien nach ICD-10

8.4      Subtypisierung nach DSM-5 und ICD-11

8.5      Die Rolle der Kompensationsleistungen: Autismus in der Lebenspanne

8.6      Autismus und Geschlecht

8.7      Zusammenfassung

Literatur

9        Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung

Swantje Matthies, Monica Biscaldi-Schäfer

9.1      Klassifikatorische Einordnung im ICD-10

9.2      ADHS-Subtypen und -Symptomdomänen nach DSM

9.3      Die Neuerungen des DSM-5 und der ICD-11

9.4      Entwicklung der Symptomatik über die Lebensspanne

9.5      Geschlechtsspezifische Unterschiede

9.6      Bedeutung der ADHS als Normvariante und Basisstörung

9.7      Zusammenfassung

Literatur

10      Tic-Störungen und Tourette-Syndrom

Kirsten R. Müller-Vahl

10.1    Einleitung

10.2    Definitionen

10.3    Epidemiologie

10.4    Tics

10.5    Komorbiditäten

10.6    Diagnose und Differenzialdiagnose

10.7    Genetik und epigenetische Faktoren

10.8    Pathogenese

10.9    Therapie

10.10  Behandlung psychiatrischer Komorbiditäten

10.11  Selbsthilfegruppen

10.12  Zusammenfassung

Literatur

11      Entwicklungsstörungen der frühen Kindheit und des Vorschulalters aus pädiatrischer Sicht

Thorsten Langer

11.1    Einleitung

11.2    Interaktionsmodell der frühkindlichen Entwicklung

11.3    Entwicklungsbereiche

11.4    Entwicklungsstörung und Entwicklungsverzögerung

11.5    Mehrdimensionales Diagnostikschema

11.6    Zusammenfassung

Literatur

12      Die Störungen der Sprachentwicklung und die Lernentwicklungsstörungen

Bettina Brehm, Barbara Haack-Dees, Monica Biscaldi-Schäfer

12.1    Einleitung

12.2    Phänotyp der Störungen der Sprachentwicklung

12.3    Phänotyp der Lernentwicklungsstörungen (Lese-Rechtschreibstörung und Rechenstörung)

12.4    Bedeutung der Störungen der Sprachentwicklung und Lernentwicklung für die Lebensspanne und deren Komorbiditäten

12.5    Zusammenfassung und wichtigste Neuerungen in DSM-5 und ICD-11

Literatur

13      Die Störungen der Intelligenzentwicklung

Tanja Sappok

13.1    Einleitung

13.2    Der emotionale Entwicklungsansatz

13.3    Zusammenfassung

Literatur

14      Syndromale Autismus-Spektrum-Störungen

Peter Martin

14.1    Einleitung

14.2    Definierte genetische Syndrome und ASD

14.3    ASD-plus

14.4    Zusammenfassung

Literatur

15      Ist die Zwangsstörung eine Entwicklungsstörung?

Andreas Riedel, Monica Biscaldi-Schäfer, Ludger Tebartz van Elst

15.1    Einleitung – Was ist die Zwangsstörung?

15.2    Gibt es eine abgrenzbare Untergruppe der juvenilen Zwangsstörung?

15.3    Gibt es eine abgrenzbare Untergruppe der »Zwangsstörung mit komorbiden Tics«?

15.4    Welche Beziehung hat die Zwangsstörung zu Autismus und ADHS?

15.5    Zusammenfassung und (vorläufige) Schlussfolgerungen

Literatur

16      Schizophrenie-Spektrum-Störungen

Ludger Tebartz van Elst, Christian Fleischhaker

16.1    Einleitung

16.2    Die Schizophrenie als neuronale Entwicklungsstörung

16.3    Gemeinsamkeiten von Schizophrenien und Entwicklungsstörungen aus klinischer Perspektive

16.4    Gemeinsamkeiten von Schizophrenien und Entwicklungsstörungen aus genetischer Perspektive

16.5    Die Schizophrenie-Spektrum-Störung als Entwicklungsstörung?

16.6    Zusammenfassung

Literatur

III       Ätiologie und Pathogenese der Entwicklungsstörungen

17      Die Nosologie der Entwicklungsstörungen

Ludger Tebartz van Elst, Andreas Riedel

17.1    Einleitung

17.2    Ursachen der Entwicklungsstörungen

17.3    Die Unterscheidung in primäre und sekundäre Entwicklungsstörungen

17.4    Bedeutung für die Praxis

17.5    Zusammenfassung

Literatur

18      Genetik und Epigenetik der Neuronalen Entwicklungsstörungen

Christoph Klein, David Linden

18.1    Einleitung

18.2    Störungen der Intelligenzentwicklung

18.3    Autismus

18.4    ADHS

18.5    Tic-Störungen

18.6    Kopienzahlvariationen

18.7    Komorbiditäten

18.8    Zusammenfassung

Literatur

19      Somatische Ursachen von Entwicklungsstörungen aus neuropädiatrischer Perspektive

Rudolf Korinthenberg

19.1    Einleitung

19.2    Ätiologische Differentialdiagnostik

19.3    Diagnostische Strategie

19.4    Zusammenfassung

Literatur

20      Umwelteinflüsse und Ernährung bei Entwicklungsstörungen

Ulrich Max Schaller

20.1    Einleitung

20.2    Umwelteinflüsse

20.3    Ernährung

20.4    Zusammenfassung

Literatur

21      Systemische Aspekte der Entwicklungsstörungen

Almut Zeeck, Claas Lahmann

21.1    Einleitung

21.2    Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)

21.3    Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)

21.4    Interventionen

21.5    Zusammenfassung

Literatur

22      Neuropsychologische Modelle der Entwicklungsstörungen

Tina Schweizer, Thomas Fangmeier, Reinhold Rauh

22.1    Einleitung

22.2    Autismus-Spektrum-Störung (ASS)

22.3    Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)

22.4    Tic-Störungen

22.5    Teilleistungsstörungen

22.6    Störungen der Intelligenzentwicklung

22.7    Zusammenfassung

Literatur

23      Neurobiologie der Entwicklungsstörungen

Reinhold Rauh, Thomas Fangmeier, Christoph Klein

23.1    Einleitung

23.2    Autismus-Spektrum-Störung (ASS)

23.3    ADHS

23.4    Spezifische Lernstörungen

23.5    Tic-Störungen und Tourette-Syndrom

23.6    Störungen der Intelligenzentwicklung

23.7    Kritische Würdigung

23.8    Zusammenfassung

Literatur

IV      Entwicklungsstörungen als Basisstörung/Basisstruktur in Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik

24      Entwicklungsstörungen als Basisstruktur

Andreas Riedel, Monica Biscaldi-Schäfer, Almut Zeeck

24.1    Einleitung

24.2    Entwicklungsstörungen: Kategorie oder Dimension?

24.3    Bedeutung und Relevanz des Grenzbereichs zwischen Entwicklungsstörung und Normalität

24.4    Zum klinischen Umgang mit den subsyndromalen Varianten von Entwicklungsstörungen

24.5    Zusammenfassung

Literatur

25      Entwicklungsstörungen und Persönlichkeitsstörungen

Andreas Riedel, Almut Zeeck

25.1    Einleitung

25.2    Schwierigkeiten der Empirie

25.3    Beispielhafte Komorbiditäten

25.4    Schlussbemerkungen

25.5    Zusammenfassung

Literatur

26      Entwicklungsstörungen und Essstörungen

Almut Zeeck, Kathrin Nickel

26.1    Einleitung

26.2    Essstörungen

26.3    Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Symptomatik zwischen Entwicklungsstörungen und Essstörungen

26.4    Zusammenhänge zwischen Entwicklungsstörungen und Essstörungen

26.5    Behandlung

26.6    Zusammenfassung

Literatur

27      Entwicklungsstörungen und Angsterkrankungen

Katharina Domschke

27.1    Einleitung

27.2    Epidemiologie

27.3    Diagnostik

27.4    Klinische und psychosoziale Relevanz

27.5    Therapie

27.6    Zusammenfassung

Literatur

28      Entwicklungsstörungen als Grundlage von Suchterkrankungen

Ismene Ditrich, Swantje Matthies

28.1    Einleitung

28.2    ADHS als Grundlage von Suchterkrankungen

28.3    Autismus-Spektrum-Störungen als Grundlage von Suchterkrankungen

28.4    Andere ES als Grundlage von Suchterkrankungen

28.5    Zusammenfassung

Literatur

29      Entwicklungsstörungen als Grundlage von depressiven Störungen

Andreas Riedel

29.1    Einleitung

29.2    Empirische Befunde

29.3    Kausale Verbindungen

29.4    Diagnostische und therapeutische Implikationen

29.5    Zusammenfassung

Literatur

30      Entwicklungsstörungen und Zwangserkrankungen

Andreas Riedel

30.1    Einleitung

30.2    ADHS und Zwangserkrankungen

30.3    Autismus und Zwangserkrankungen

30.4    Gilles-de-la-Tourette-Syndrom und Zwangserkrankungen

30.5    Zusammenfassung

Literatur

31      Entwicklungsstörungen und psychotische Störungen

Ludger Tebartz van Elst

31.1    Einleitung

31.2    Prävalenz von psychotischen Störungen bei den Entwicklungsstörungen

31.3    Prävalenz von Entwicklungsstörungen bei Psychosen

31.4    Diagnostik und Therapie bei komorbiden Entwicklungsstörungen und Psychosen

31.5    Zusammenfassung

Literatur

32      Entwicklungsstörungen und Funktionelle Körperbeschwerden

Claas Lahmann

32.1    Phänomenologie

32.2    Epidemiologie

32.3    Verlauf und Prognose

32.4    Diagnostik und Klassifikation

32.5    Ätiologische Modelle

32.6    Psychosomatisch-psychotherapeutische Behandlung

32.7    Zusammenfassung

Literatur

33      Autismus-Spektrum-Störungen und geschlechtsspezifische Abweichung/Geschlechtsdysphorie

Dieter Ebert

33.1    Störungen der Identität als Kernsymptome bei Autismus und Geschlechtsdysphorie

33.2    Zusammenhang zwischen Autismus und Störungen der Geschlechtsidentität

33.3    Subtypen der Störungen der Geschlechtsidentitäten: Geschlechtsdysphorie plus Autismus und Geschlechtsdysphorie minus Autismus

33.4    Zusammenfassung

Literatur

V        Klinische Diagnostik bei Entwicklungsstörungen

34      Die organische Basisdiagnostik

Ludger Tebartz van Elst

34.1    Einleitung

34.2    Organische Basisdiagnostik bei Störungen der Intelligenzentwicklung (SIE)

34.3    Organische Basisdiagnostik bei Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)

34.4    Organische Basisdiagnostik bei Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)

34.5    Organische Basisdiagnostik bei Tic-Störungen (TS)

34.6    Zusammenfassung

Literatur

35      Neuropsychologische Zusatzdiagnostik

Tina Schweizer, Thomas Fangmeier, Reinhold Rauh

35.1    Einleitung

35.2    Autismus-Spektrum-Störung

35.3    Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung

35.4    Tic-Störungen

35.5    Teilleistungsstörungen

35.6    Störungen der Intelligenzentwicklung

35.7    Zusammenfassung

Literatur

36      Allgemeine entwicklungspsychologische Diagnostik

Bettina Brehm, Reinhold Rauh

36.1    Einleitung

36.2    Allgemeine standardisierte entwicklungspsychologische Diagnostik

36.3    Spezifische entwicklungspsychologische Diagnostik für das Kleinkindalter

36.4    Zusammenfassung und Kritische Würdigung

Literatur

37      Spezifische Diagnostik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

Bettina Brehm, Barbara Haack-Dees, Monica Biscaldi-Schäfer

37.1    Einleitung

37.2    Auswirkungen der neuen Strukturierung nach DSM-5 und ICD-11 auf die Diagnostik

37.3    Differentialdiagnostik versus Komorbidität

37.4    Ausblick

Literatur

38      Spezifische Diagnostik von Entwicklungsstörungen in der Erwachsenenpsychiatrie

Andreas Riedel, Ludger Tebartz van Elst

38.1    Einleitung

38.2    Diagnostik der Autismus-Spektrum-Störung

38.3    Diagnostik der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung im Erwachsenenalter

38.4    Diagnostik von Tic-Störungen und des Gilles-de-la-Tourette-Syndroms im Erwachsenenalter

38.5    Zusammenfassung

Literatur

39      Spezifische Diagnostik von Entwicklungsstörungen in der Psychosomatischen Medizin

Almut Zeeck, Carl Eduard Scheidt, Claas Lahmann

Literatur

40      Problemlagen und diagnostische Herausforderungen über die Lebensspanne

Almut Zeeck, Monica Biscaldi-Schäfer, Andreas Riedel, Ludger Tebartz van Elst

40.1    Einleitung

40.2    Kindheit

40.3    Pubertät und Adoleszenz

40.4    Erwachsenenalter

40.5    Höheres Lebensalter

40.6    Zusammenfassung

Literatur

41      Neuropädiatrische Diagnostik bei Entwicklungsstörungen im Kleinkind- und Vorschulalter

Thorsten Langer

41.1    Einleitung

41.2    Diagnostische Verfahren

41.3    Zusammenfassung

Literatur

42      Therapie organischer Entwicklungsstörungen

Ludger Tebartz van Elst

42.1    Einleitung

42.2    Therapie sekundärer Störungen der Intelligenzentwicklung (SIE)

42.3    Therapie sekundärer Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)

42.4    Therapie sekundärer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS)

42.5    Therapie sekundärer Tic-Störungen (TS)

42.6    Zur Rolle der Off-Label-Therapie

42.7    Die therapeutische Bedeutung des richtigen Krankheitsmodells

42.8    Zusammenfassung

Literatur

43      Therapie von Entwicklungsstörungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie

Monica Biscaldi-Schäfer, Barbara Haack-Dees, Christian Fleischhaker, Bettina Brehm

43.1    Einleitung

43.2    Die Rolle der Psychoedukation

43.3    Balance zwischen Akzeptanz und Veränderung

43.4    Stärken berücksichtigen und Schwächen kompensieren

43.5    Therapie der Entwicklungsstörungen

43.6    Sozio-psychiatrische Maßnahmen

43.7    Zusammenfassung

Literatur

44      Therapie der Entwicklungsstörungen in der Erwachsenenpsychiatrie

Ludger Tebartz van Elst, Andreas Riedel

44.1    Einleitung

44.2    Entwicklungsstörungen als strukturelle Störungen

44.3    Das SPZ-Modell als heuristisches, diagnostisch-therapeutisches Basismodell

44.4    Die Therapie der Kernsymptome

44.5    Die Therapie der psychiatrischen Komorbiditäten

44.6    Das Konzept des Problemverhaltens

44.7    Die therapeutische Rolle der Kommunikation

44.8    Psychotherapeutische Einzeltherapien und Gruppentherapien

44.9    Medikamentöse Therapieoptionen

44.10  Zusammenfassung

Literatur

45      Ausblick: Entwicklungsstörungen als interdisziplinäres Aufgabenfeld zwischen Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kinder-, Jugend- und Erwachsenenalters

VI      Anhang

Autorinnen und Autoren

Stichwortverzeichnis

Vorwort

Die Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung oder kurz Entwicklungsstörungen (Englisch: neurodevelopmental disorders) wurden in den aktuellsten Fassungen der Klassifikationssysteme psychischer Störungen (DSM-5 und ICD-11) allen anderen psychischen Störungen als erste Kategorie vorangestellt. Grund für diese Neuklassifikation ist die Erkenntnis, dass diese Gruppe von Störungen sich zeitlich früh in der Entwicklung eines Individuums (Ontogenese) etablieren und sie lebenslang – im Sinne einer stabilen persönlichkeitsstrukturellen Besonderheit – allen anderen biografischen, psychodynamischen und psychobiologischen Entwicklungen zugrunde liegen. Entwicklungsstörungen können damit als Basisstörungen oder – bei subsyndromalem Schweregrad – als Basisstrukturen für sich daraus entwickelnde sekundäre psychobiologische Symptome und Störungsbilder verstanden werden.

Besonders die großen vier der im DSM-5 definierten Gruppen der Entwicklungsstörungen, die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS; oder auch hyperkinetische Störung nach ICD-10), die Autismus-Spektrum-Störung (ASS), die Tic-Störungen (TS) und die Störungen der Intelligenzentwicklung (SIE), sind dabei oft mit ganz typischen sekundären psychosozialen und sozialkommunikativen Problem- und Konfliktkonstellationen vergesellschaftet, die wiederum die Vulnerabilität für spezifische komorbide Erkrankungen erhöhen.

So müssen etwa Menschen mit Tic-Störungen von Kindheit an Erfahrungen des Beobachtetwerdens, Ausgegrenztwerdens oder auch des Mitleids verarbeiten, was die sich im Lauf des Lebens entwickelnden psychodynamischen Prozesse dann entscheidend präformiert.

Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung erleben sich ebenfalls fast regelhaft als anders, seltsam und defizitär. Nur werden gerade bei hoher technisch-instrumenteller Intelligenz ihre Defizite als solche von Dritten nicht so schnell erkannt: Ihre Besonderheit bleibt verborgen und ihre sensorischen, behavioralen und kommunikativen Schwierigkeiten werden als Arroganz, Rücksichtslosigkeit, Gefühlskälte oder Überheblichkeit fehlgedeutet. Dies führt oft zu Erfahrungen des Mobbings, der Isolation und der Einsamkeit und damit zu einer erhöhten Vulnerabilität für bspw. depressive Erkrankungen oder Angsterkrankungen. Da regelhaft zusätzliche sozialkognitive Defizite vorliegen, wird das Verhalten der Mitmenschen nicht selten als paranoid fehlinterpretiert, was zur Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung prädisponiert.

Schließlich bleiben auch Menschen mit einer ADHS trotz ihrer oft gewinnenden kommunikativen Kompetenzen wegen exekutiver Probleme, Impulsivität und Sprunghaftigkeit in vielen Fällen weit hinter ihren Entwicklungsmöglichkeiten zurück, was nicht selten mit Frustration, hochkonflikthaften Beziehungsmustern, Substanzabhängigkeit und Verhaltenssüchten verbunden ist.

Zu guter Letzt ist es für Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen oft schwer, im kompetitiven Alltag zu bestehen. Sie können nicht mithalten mit der neurokognitiven Leistungsfähigkeit der anderen, was es ihnen deutlich erschwert, ein positives Selbstbild und gutes Selbstwertgefühl aufzubauen. Dass die allgemeine Intelligenz als strukturelles Phänomen dabei mit persönlicher Leistung genauso wenig zu tun hat wie die Körpergröße, auf die man zwar stolz sein kann, die aber dennoch keine Leistung darstellt, ist ihnen selbst dabei meist nicht bewusst. Nicht selten entwickelt sich aus einer solchen schicksalhaften Besonderheit wie bei den anderen großen Entwicklungsstörungen ein Minderwertigkeitsgefühl oder instabiles Selbstwertgefühl, das bei nüchterner Betrachtung unbegründet ist.

Das Vorhandensein der beschriebenen Besonderheiten bei Kindern und Jugendlichen ist darüber hinaus mit weitreichenden Belastungen für die betroffenen Familien verknüpft, was regelmäßig zu systemischem Stress führt, der eine gesunde Entwicklung aller Betroffener in der Familie weiter verkompliziert. In fast schon frappierender Analogie sind zumindest alle vier großen Entwicklungsstörungen mit einer sehr hohen Komorbidität von Persönlichkeitsstörungen, affektiven Störungen und Angsterkrankungen, somatoformen Störungen, Suchterkrankungen aber auch Psychosen verknüpft, was sich in zahlreichen epidemiologischen Studien zeigt.

Aber auch die Entwicklungsstörungen der Sprache und im Erwerb von schulischen Fertigkeiten weisen komplexe Zusammenhänge mit den oben beschriebenen Störungsbildern sowie eine erhebliche Vulnerabilität für das Auftreten von emotionalen Problemen auf. In den neuen Klassifikationen werden diese nicht mehr als »umschriebene« Entwicklungsstörungen bezeichnet, sondern auf einer Ebene mit den »großen« Entwicklungsstörungen gestellt. Untereinander weisen ohnehin alle diese Störungsbilder, die nun im DSM-5 und zukünftig auch in der ICD-11 als mentale und neuronale Entwicklungsstörungen eingestuft werden, eine sehr hohe Komorbidität auf, was wahrscheinlich auf eine sich überlappende Genetik und verwandte Pathomechanismen zurückzuführen ist.

Traditionell werden Entwicklungsstörungen als Thema des Kindes- und Jugendalters begriffen und im Bereich der Erwachsenenpsychiatrie, -psychosomatik und –psychotherapie eher als Randphänomene aufgefasst, wenn nicht gar gänzlich ignoriert. Schon bei etwas genauerer Analyse wird allerdings – wie einleitend dargestellt – deutlich, dass die Entwicklungsstörungen zwangsläufig nicht nur ein Thema des Kinder- und Jugendalters sind. Wegen ihrer hohen Prävalenz und gerade, weil sie als strukturelle, überdauernde Besonderheiten der Psychobiologie Betroffener verstanden werden müssen, sind sie zwangsläufig ein zentrales Thema auch der Erwachsenenpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik.

Diese Erkenntnis liegt der Konzeptidee dieses Buches zugrunde. Das Thema der neuronalen und mentalen Entwicklungsstörungen wird erstmalig in einem interdisziplinären Ansatz aus der Perspektive der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, der Neuropädiatrie, der Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie sowie der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie umfassend und aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet und analysiert. Im Zentrum des Buchprojekts steht dabei eine ausführliche Analyse der großen vier Entwicklungsstörungen Autismus, ADHS, Tic-Störungen und Störungen der Intelligenzentwicklung. Aber auch die spezifischen Lernstörungen und die Sprachentwicklungsstörungen werden mit in den Blick genommen, vor allem in Bezug auf die klassifikatorischen und diagnostischen Veränderungen sowie auf ihre Bedeutung beim Vorliegen komplexer Entwicklungsstörungen bei Kindern.

Alle Entwicklungsstörungen werden dabei in ihrer heterogenen Genese als sekundär kategoriale Phänomene im Sinne echter neuropsychiatrischer Krankheiten, aber auch als primär dimensionale Entitäten im Sinne von Normvarianten vorgestellt, bei denen erst die fehlende Passung zwischen individueller Struktur und sozioökologischem Umfeld die Dysfunktionalität und den Leidensdruck bedingen, die eine Diagnose im Sinne einer psychischen Störung überhaupt möglich machen.

Besonderes Augenmerk liegt dabei nicht nur auf der Verwobenheit von psychobiologisch strukturellen und erlebnisreaktiv psychodynamischen Aspekten in der Lebens- und Entwicklungsgeschichte von Menschen mit ADHS, Autismus, Tic-Störungen, Intelligenzminderungen oder anderen Entwicklungsstörungen, sondern auch auf der Frage nach den psychotherapeutischen, pharmakologischen und sozialpsychiatrischen Interventionsmöglichkeiten.

Wir sind uns bewusst, dass wir mit diesem Buch ein erstes Angebot zu diesem innovativen und für alle Disziplinen der psychischen Fächer relevanten Themenbereich unterbreiten. Gerade in der interdisziplinären Bearbeitung dieses Themenkomplexes haben wir Neuland betreten, und viele Erkenntnisse befinden sich im Werden und werden sich in den kommenden Dekaden sicher weiterentwickeln. Gerade im Hinblick etwa auf den Themenkomplex der Tic-Störungen und Störungen der Intelligenzentwicklung ist der Erfahrungshorizont in vielen der beteiligten Fächer noch sehr begrenzt. Umso wichtiger erscheint es, dass gerade diese Themen hier umfassend aufgegriffen werden, damit auch wissenschaftliche und klinische Leerstellen klar identifiziert und hoffentlich in kommenden Auflagen dieses Buches gefüllt werden können.

Für die Herausgeber

Ludger Tebartz van Elst

Freiburg im Januar 2023

Einleitung

Das Themenfeld der neuronalen und mentalen Entwicklungsstörungen (ES) ist neu im Kanon der großen Klassifikationssysteme psychischer Störungen. Es wurde im Jahr 2013 zunächst im DSM-5 eingeführt und in der 11. Version der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-11), die in diesem Jahr (2022) in Kraft trat, übernommen. Im DSM-5 wurden dabei die großen Störungsbilder der Störungen der Intelligenzentwicklung (SIE), der Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und der Tic-Störungen (TS) gemeinsam mit der ehemaligen Gruppe der Umschriebenen Entwicklungsstörungen aus der ICD-10 wie den Sprachentwicklungsstörungen, den spezifischen Lernstörungen sowie den motorischen Störungen zusammengefasst. Im ICD-11 wurde dies weitgehend übernommen, wobei die Tic-Störungen und deren komplexe Variante, das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom, zwar aufgeführt, nosologisch allerdings als neurologisches Krankheitsbild kodiert werden. Bereits dieses kleine Detail verdeutlicht, dass vieles in diesem neuen Bereich im Sinne einer nosologischen Grundkategorie noch unklar ist – nämlich z. B. die Frage, ob die Tic-Störungen als neurologisches Krankheitsbild oder als psychische Störung verstanden werden sollten. Gleichzeitig macht die Tatsache, dass die Entwicklungsstörungen allen anderen Krankheitsgruppen vorangestellt werden, klar, dass sich hier für die psychiatrischen, psychotherapeutischen und psychosomatischen Fächer ein ganz neues Themenfeld auftut. Die Entwicklungsstörungen wurden lange Zeit als Thema der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, vielleicht noch der Neuropädiatrie, betrachtet. Dass sie auch für die Erwachsenenpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik von zentraler Bedeutung sein könnten, wurde lange nicht gesehen.

Diese Grundannahme wurde in den letzten Dekaden in verschiedenen Wellen erschüttert. Zunächst erlebte das Thema der ADHS und etwa eine Dekade später das der ASS einen enormen Aufschwung in der Erwachsenenpsychiatrie. Die Tic-Störungen scheinen aktuell auf Ebene der großen Kongresse zumindest in der Psychiatrie »anzukommen« und das Themenfeld der Störungen der Intelligenzentwicklung wird wahrscheinlich mit einer weiteren Latenz von einer Dekade folgen. Herrschte ursprünglich für alle großen Themen der Entwicklungsstörungen implizit die Annahme vor, dass sie insbesondere im psychotherapeutischen und psychosomatischen Kontext nicht besonders relevant seien, so wird auch diese Überzeugung in den letzten Jahren zunehmend in Frage gestellt – was erfreulich ist, weil sie nicht zutrifft.

Dennoch wurden Themen wie ADHS und ASS zunächst als separate Störungsbilder betrachtet. Dies findet seinen Ausdruck z. B. darin, dass noch in der ICD-10 nicht beide Diagnosen gleichzeitig gestellt werden konnten. Inzwischen setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass es sich bei den verschiedenen Entwicklungsstörungen um Spektren handelt, die sich wechselseitig durchaus überschneiden können.

Einer großen Offenheit und einem steigenden Interesse an diesem Themenfeld auf der einen Seite nicht nur in der Erwachsenenpsychiatrie, sondern insbesondere auch in den Bereichen der Psychotherapie und Psychosomatik steht auf der anderen Seite aktuell ein großes Defizit an Fachliteratur gegenüber. Diesem Defizit wollen die Autoren dieses Buches mit einem ersten umfassenden Angebot begegnen. Dabei spiegelt die spezifische Themenauswahl durchaus die Geschichte dieser Themen am Universitätsklinikum Freiburg wider. Wurden Themen wie ADHS und ASS schon relativ früh bearbeitet, so traten die TS und SIE erst später hinzu. Während der Themenbereich initial vor allem interdisziplinär von der Kinder- und Jugend- und der Erwachsenenpsychiatrie bearbeitet wurde, so stellte sich im weiteren Verlauf heraus, dass er auch die Psychosomatische Medizin und die Neuropädiatrie betrifft. Inzwischen wird die Thematik im Universitären Zentrum Entwicklungsstörungen (UZES) aus umfassender und interdisziplinärer Perspektive bearbeitet und beforscht. Es soll nicht verschwiegen werden, dass dabei das Themenfeld der SIE erst seit wenigen Jahren überhaupt als relevant identifiziert wurde und somit die Erfahrungen in diesem Bereich weniger umfassend sind als etwa bei den Themen ADHS und ASS – zumindest in den Erwachsenenbereichen.

Das vorliegende Buch fasst die Erkenntnisse und Erfahrungen, die in diesem interdisziplinären Projekt erarbeitet wurden, zusammen und will damit ein erstes umfassendes und interdisziplinäres Informationsangebot zu diesem Themenfeld für ein breites Fachpublikum vorstellen.

Dabei werden in Sektion I zunächst die theoretischen Grundlagen gelegt. Es wird die konzeptuelle Ideengeschichte der Entwicklungsstörungen ebenso vorgestellt wie ein Abriss der typischen kognitiven Entwicklung im Kindes- und Jugendalter. Gerade die große Varianz und auch Dauer der Entwicklung von mentalen Fähigkeiten und Fertigkeiten ist das, was die Gattung Mensch mit am meisten von anderen Tieren unterscheidet. Ebenso wie sich die allgemeine Intelligenz, Aufmerksamkeitsfunktionen, die Wahrnehmungsleistungen, die sozialen Kompetenzen, die Impulskontrolle und Emotionalität in einem dynamischen und interaktionellen Prozess vor allem in den ersten beiden Dekaden eines Menschen entwickeln, kann dies auch für die weit umfassenderen und komplexeren Persönlichkeitseigenschaften beschrieben werden. Und so werden auch konzeptuelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Persönlichkeitsstörungen und Entwicklungsstörungen umfassend beleuchtet. Schließlich werden die fachspezifischen Perspektiven der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (KJPP), der Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie (EPP) und der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie (PSM) auf das Themenfeld der ES entwickelt.

In Sektion II des Buches stehen die klinischen Phänotypen der ES im Vordergrund. Dabei soll ein umfassendes Wissen zu den klinischen Besonderheiten der einzelnen ES vermittelt werden, wobei die großen Entitäten ADHS, ASS, TS, SIE klar im Vordergrund stehen, weil sie auch im klinischen Alltag die größte Rolle spielen. Aber auch die kombinierten ES und spezifischen Lernstörungen werden in jeweils einem eigenen Kapitel bearbeitet. An dieser Stelle wird dem interdisziplinären Konzept des Projekts folgend auch die Perspektive der Neuropädiatrie und Neurologie ergänzt, indem sekundäre und syndromale Varianten der ES umfassend vorgestellt werden. Schließlich wird auch innovativen Fragestellungen nachgegangen – so etwa der Frage, ob Zwangsstörungen oder Schizophrenie-Spektrum-Störungen auch als Entwicklungsstörungen begriffen werden könnten.

Darauf aufbauend wird in Sektion III des Buches der Frage nach der Ursächlichkeit der ES nachgegangen. Dabei wird zunächst die Grundunterscheidung zwischen primären und sekundären Phänotypen eingeführt. Während primär verursachte Phänotypen meist multifaktoriell und multigenetisch verursacht werden und damit gar nicht zwingend als Krankheiten begriffen werden können, ist bei sekundären Varianten einer ES eine (mono- oder oligo-)genetische oder erworbene Kausalität im Sinne einer Erstverursachung (Ätiologie) oder sekundärer pathophysiologischer Besonderheiten (Pathogenese) identifizierbar. Diese unterschiedlichen Ursachenstränge werden dann in mehreren Kapiteln systematisch abgehandelt. Genetische Ursachen werden ebenso beleuchtet wie andere organische Ursachen, Umweltfaktoren oder Giftstoffexposition. Aber auch die Psychodynamik und systemische Aspekte der Entstehungsgeschichte von ES werden umfassend in den Blick genommen. Denn die nicht durchschnittliche mentale Struktur und ungewöhnliche Verhaltens- und Reaktionsweisen betroffener Kinder und Jugendlicher haben natürlich weitreichende Auswirkungen auf die sozialen Systeme, in denen die Betroffenen leben: die Familie, die Kindergarten- und Schulgruppen, Freizeitgruppen, den Arbeitsplatz usw. Hier sind in vielen Fällen typische Reaktionsmuster zu identifizieren, die durch die persönlichkeitsstrukturellen Besonderheiten der verschiedenen ES induziert werden und dann in musterhafter Art und Weise wieder auf die Kinder und Jugendlichen zurückwirken und die weitere Entwicklung beeinflussen. Dabei ist an psychodynamischen Mechanismen wie Unverständnis, Ablehnung, Angst, Ausgrenzung, Aggressivität o. Ä. zu denken. Eine Erkenntnis der und das Wissen um die strukturellen Besonderheiten der ES und der typischen, daraus resultierenden Dynamiken könnten sicher helfen, hier zumindest in einigen Fällen der oft unguten und von Ablehnung und Ausgrenzung geprägten »Psychodynamik des Alltags« zu entkommen. Auch könnte die Erkenntnis zu mehr Gelassenheit und Akzeptanz etwa bei den Eltern führen, die statt eines Fehlverhaltens die schicksalhafte Besonderheit ihres Kindes besser erkennen können und ihm so bei der Aneignung von kreativen Kompensationsstrategien besser helfen können.

Die Sektion IV des Buches stellt wahrscheinlich einen der für die Klinik wichtigsten Abschnitte dar, da hier die typischen Komorbiditäten abgehandelt werden, die in Unkenntnis der ES-Thematik meist das diagnostische und therapeutische Handeln bestimmen. Hier wird zum einen das Konzept der ES als Basisstörung vorgestellt, zum anderen wird auf die häufige Vergesellschaftung der verschiedenen ES mit allgemeinpsychiatrischen Komorbiditäten wie Depressionen, Angsterkrankungen, Sucht, Psychosen, Essstörungen, somatoformen Störungen oder Störungen der sexuellen Identität hingewiesen und diese aus klinischer Perspektive bearbeitet. In Unkenntnis der Besonderheiten der ES erscheinen im klinischen Alltag oft nur diese Komorbiditäten als Diagnosen in den Arztbriefen im Kontext von stationären Aufenthalten in psychiatrischen, psychosomatischen oder rehabilitationsmedizinischen Aufenthalten. Das zeigt, dass diese Strukturdiagnosen in ihrer Bedeutung für die lebensgeschichtlich sich in oft großer Ähnlichkeit entwickelnden Probleme (z. B. Mobbing und Ausgrenzung), Problemverhaltensweisen (z. B. sozialer Rückzug und negatives Selbstbild) und Zustände (z. B. Erschöpfung, Depression, Angsterkrankungen, Somatisierung, Sucht) gar nicht erkannt werden. Nur eine umfassende Einsicht in die Kausalität eines depressiven Zustandes erlaubt es aber, eine ebenso umfassende Therapieplanung zu generieren. Es erstaunt nicht, dass viele der Betroffenen als besonders schwierige und therapieresistente Menschen gelten und sich selbst oft unverstanden fühlen – denn sie sind es meist auch.

In Sektion V steht dann die Diagnostik der ES im Zentrum des Interesses. Zunächst werden die Möglichkeiten und Indikationen einer organischen Basisdiagnostik vorgestellt. Auch die neuropädiatrische Diagnostik im Kleinkind- und Vorschulalter wird abgehandelt, die ja meist auf die klinisch ungemein wichtige Frage nach sekundären Störungsursachen fokussiert. Ausführlich werden dann neuropsychologische und entwicklungspsychologische Untersuchungsmethoden beschrieben, um so für den klinischen Alltag Grundkompetenzen bereitzustellen. Dabei wird ausführlich auf die unterschiedlichen diagnostischen Settings der KJPP, EPP und PSM eingegangen. Denn praktisch kommen je nach diagnostischem und therapeutischem Kontext durchaus unterschiedliche methodische Herangehensweisen zum Einsatz. Schließlich wird auch der Altersaspekt berücksichtigt, da die Besonderheiten der verschiedenen ES sich durchaus anders auswirken – abhängig davon, ob man es mit Kleinkindern, Jugendlichen, Erwachsenen oder Senioren zu tun hat.

In Sektion VI wird abschießend die Therapie der ES thematisiert. Dies wird sicher ein zentrales Interesse vieler Leserinnen und Leser dieses Buches sein. Dabei wird auch auf die pharmakologische Therapie verschiedener Symptombereiche der ES eingegangen. Es ist in diesem Zusammenhang zu betonen, dass es sich bei den ES meist um strukturelle Besonderheiten handelt, die nicht ohne weiteres »wegtherapiert« werden können. Vielmehr steht ganz im Zentrum der grundlegenden therapeutischen Herangehensweise die Erkenntnis der jeweiligen Besonderheiten als schicksalhaftes, strukturelles Phänomen, welches akzeptiert werden sollte und nicht verändert werden muss bzw. kann. Dennoch können in vielen Einzelfällen Medikamente wie Hilfsmittel durchaus nutzbringend eingesetzt werden. So wie die Brille ein Hilfsmittel für die strukturelle Besonderheit der Fehlsichtigkeit darstellt, die als strukturelles und damit unveränderliches Phänomen des eigenen Körpers akzeptiert werden muss, so verhält es sich häufig auch mit Medikamenten bei den Entwicklungsstörungen. So können etwa Stimulantien bei ADHS die Aufmerksamkeitsfunktionen verbessern, ohne dass sie die Aufmerksamkeitsstörung grundsätzlich heilen würden. Ähnlich kann es sich mit Antidopaminergika und dem Phänomen der Reizüberflutung bei autistischen Menschen verhalten. Und so wie eine fehlangepasste Brille dem Weitsichtigen oder Kurzsichtigen nicht hilft, sondern schadet, kann es sich auch mit den eingesetzten Medikamenten bei Menschen mit ADHS, ASS oder TS verhalten. Unabhängig von medikamentösen Therapiemethoden stehen eine Vielzahl oft sehr unterschiedlicher psychotherapeutischer Interventionsmethoden zur Verfügung. Dabei unterscheiden sich wiederum die Methoden und Herangehensweisen der KJPP, EPP und PSM teilweise deutlich. Daher wurden die verschiedenen Ansätze in drei parallelen Kapiteln nebeneinandergestellt, um so eine umfassende Perspektive auf die verschiedenen Hilfsmöglichkeiten zu eröffnen.

Das Buch schließt mit einem Ausblick darauf, wie sich dieses neue Themenfeld in Zukunft entwickeln könnte und sollte. Einiges von dem, was hier vorgestellt wird, muss als »Work in Progress« verstanden werden. Das Thema ist jung und wird durch die prominente Positionierung bei der Neustrukturierung des DSM-5 und ICD-11 sicher wesentliche Impulse erhalten. Die Bedeutung der ES für die EPP und PSM wird gerade erst erkannt, erste spezifische Therapieverfahren werden erprobt. Die Bedeutung der TS und SIE für EPP und PSM sind aktuell noch nicht richtig beurteilbar, da die Themen bislang in diesen Kontexten fast vollständig ausgeblendet wurden. Hier wird sich in den nächsten Jahren und Dekaden also viel tun.

Die Betroffenen mit ES sind jetzt aber schon in den Kliniken, Tageskliniken, Reha-Krankenhäusern, Ambulanzen und Praxen und brauchen Unterstützung, um mit ihren Besonderheiten, den daraus resultierenden Schwierigkeiten sowie den oft sich sekundär entwickelnden Komorbiditäten in Form von Depressionen, Anpassungsstörungen, Angsterkrankungen, Zwangsstörungen, Essstörungen und psychotischen Dekompensationen in Krisensituationen umgehen zu können.

Und die Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten brauchen Rüstzeug, um sich dieser wichtigen Aufgabe zu stellen. Wir hoffen, dass dieses erste Fachbuch in dem Themenfeld einen kleinen Beitrag dazu leisten wird, dass die vielfältigen, unterschiedlichen und häufig sich auch überlappenden Entwicklungsstörungen – auch im Sinne von Basisstrukturen – in ihrer Bedeutung für sich daraus entwickelnde Probleme, Problemverhaltensweisen und Zustände erkannt werden.

Denn dies ist die Voraussetzung dafür, dass Betroffene, aber auch ihre Angehörigen und Freunde – und ebenso das therapeutische Personal – diese strukturellen Besonderheiten als ihr Schicksal mit all seinen Nach- aber auch Vorteilen überhaupt erst begreifen können und nicht als schuldhaftes Fehlverhalten fehldeuten. Und dies ist wiederum eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung eines angemessenen Selbstbildes und darauf aufbauend eines guten Selbstwertgefühls. Denn diese Akzeptanz des eigenen So-Seins und ein sich darauf aufbauendes positives Selbstwertgefühl ist meist Voraussetzung dafür, was Gesundheit in ihrem Kern ausmacht – nämlich nicht die Abwesenheit von Krankheit, Behinderung und Gebrechen, sondern die Fähigkeit, sich seines Lebens zu erfreuen.

Für die Herausgeber

Ludger Tebartz van Elst

Freiburg im Januar 2023

I       Theoretische Grundlagen

1        Die Historie des Konzepts der neuronalen Entwicklungsstörungen

Ludger Tebartz van Elst

1.1      Einleitung

Wenn ein ganzes Buch dem Thema der Entwicklungsstörungen gewidmet wird, sollte zunächst Klarheit darüber gewonnen werden, was die verwendeten Begriffe überhaupt meinen. Was verbirgt sich also hinter dem Begriff der neurodevelopmental disorders (DSM-5, ICD-11) bzw. der Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung (DSM-5, deutsche Übersetzung) respektive neuronalen Entwicklungsstörung (ICD-11)?

Der Begriff der Entwicklung ist offensichtlich ein dynamischer und kein statischer und findet sich in der Wissenschaft etwa im Kontext der Entwicklungsbiologie oder Entwicklungspsychologie.

Grundlegende Überlegungen dazu wurden von dem Mediziner, Biologen und Philosoph Ernst Haeckel (1834–1919) angestellt (Haeckel 1866). Aufbauend auf den neuen Erkenntnissen der Evolutionstheorie von Charles Darwin (1809–1882) wies er darauf hin, dass sich der Entwicklungsbegriff auf die Werdensgeschichte von Lebewesen bezieht. Im weiteren Verlauf bildeten sich für die Entwicklungsgeschichte eines einzelnen Lebewesens von der Eizelle bis zum erwachsenen Individuum der Begriff der Ontogenese heraus und für die entsprechende Entwicklungsgeschichte einer Art über die Zeit der Begriff der Phylogenese. Offensichtlich wohnt den Lebewesen ein körperliches Entwicklungspotential inne. D. h., aus einer befruchteten Eizelle eines Lebewesens kann sich im Laufe des Lebens ein voll ausgereiftes erwachsenes Individuum bilden mit all den typischen Eigenschaften und Fertigkeiten der Art. Heute ist klar, dass ganz wesentliche Aspekte dieses Prozesses durch das Genom des Lebewesens determiniert sind. Ebenso ist aber auch klar, dass Umwelteinflüsse, schicksalhafte Ereignisse und biografische Geschehnisse das Ergebnis dieses Entwicklungsprozesses ganz entscheidend prägen können. Erinnert sei hier nur an die bekannte Tatsache, dass bei Tieren wie Menschen Seherfahrungen gemacht werden müssen, damit sich das zerebrale Sehsystem in seiner typischen Organisation herausbilden kann.

In den Wissenschaften thematisiert die Entwicklungsbiologie die Gesetzmäßigkeiten dieses dynamischen Lebensprozesses aus biologischer, ökologischer, molekularbiologischer oder genetischer Perspektive. Die Entwicklungspsychologie fokussiert primär auf phänomenologische (Wann im Leben entwickeln sich genau welche Eigenschaften und Fertigkeiten auf welche Art und Weise?) oder psychodynamische Aspekte dieses Entwicklungsprozesses (Welche Erlebnisse oder biografischen Besonderheiten haben welche Konsequenzen auf den Entwicklungsprozess?). Bekannte Protagonisten der Entwicklungspsychologie in diesem Sinne sind etwa Sigmund Freud (1856–1939) mit seinem Modell zur psychosexuellen Entwicklung oder Jean Piaget (1896–1980) mit seinem bekannten Modell zur kognitiven Entwicklung von Menschen (sensomotorische Intelligenz, präoperationale Intelligenz, konkret-operationale Intelligenz, formal-operationale Intelligenz).

In der Psychiatrie und Psychologie des frühen 20. Jahrhunderts unterschied z. B. Karl Jaspers (1883–1969) zwischen der Anlage eines Lebewesens und den Wechselwirkungen mit dem Milieu, in dem sich ein Individuum befindet (Jaspers 1948). Unter dem Begriff Anlage verstand er dabei den Anteil der Eigenschaften eines Lebewesens, der in alterstypischer Art und Weise regelhaft in Erscheinung tritt. Heute würde dieser Anlagebegriff sicher meist überwiegend genetisch determiniert verstanden. Die Anlage eines Individuums führt nach Jaspers auch dazu, dass die verschiedenen Lebewesen einer Art auf typische Umwelteinflüsse in ähnlicher Art und Weise reagieren:

»Insbesondere reagiert die Anlage ihrer einen, gleichbleibenden Natur entsprechend auf Erlebnisse. Sie verarbeitet sie in der ihr entsprechenden Weise. Wir können die auf diesem Wege entstehenden Anschauungen, Meinungen, Gefühlswelten verstehen, wie z. B. die Verbitterung, das Querulieren, den Stolz, die Eifersucht.« (Jaspers 1948, zitiert nach Peters 2011)

Störungen der Anlage oder des normalen Entwicklungsprozesses etwa der Persönlichkeitsentwicklung wurden dann im 20. Jahrhundert unter dem starken Einfluss psychoanalytischen Denken meist sehr erlebnisreaktiv bzw. biografisch etabliert vorgestellt. Bereits in Form dieses Denkens findet sich eine gewisse konzeptionelle Nähe zum Konzept der Persönlichkeitsstörungen, die aber der Begrifflichkeit der Zeit folgend damals als neurotische Entwicklungen angesprochen wurden.

Ganz in dieser Tradition müssen die Theorien von Bruno Bettelheim (1903–1990) im Hinblick auf die Entwicklungsstörung Autismus verstanden werden, der die These vertrat, der Autismus sei Folge eines zu emotionsarmen, kühl-distanzierten Erziehungsstils (»Kühlschrankmutterhypothese«; Bettelheim 1989). Möglicherweise lag dieser Hypothese aber nur die an sich korrekte Beobachtung zugrunde, dass Autismus im Sinne einer strukturellen Veranlagung in Familien gehäuft auftritt. Damit weisen die Mütter autistischer Kinder ebenso wie deren Väter natürlich eine höhere Wahrscheinlichkeit auf, selbst autistisch zu sein, was dann eben mit einem nach außen emotionsarm erscheinenden Kommunikationsstil einhergeht. Ob dieser Kommunikationsstil aber tatsächlich ursächlich ist für den autistischen Phänotyp des Kindes, lässt sich damit sicher nicht beweisen.

Diese Beobachtung illustriert, wie sehr das Denken über psychische Strukturen und Dynamiken immer auch in den Zeitgeist der eigenen Gegenwart eingebettet ist. Damit erscheint es auch für unser heutiges Denken geraten, immer wieder zu reflektieren, inwieweit das eigene Denken und Wissen ein Stück weit auch Folge des Zeitgeistes sein könnte und damit zum Wähnen werden könnte.

1.2      Entwicklungsstörungen im ICD-9 und aktuellen ICD-10

In der 9. Version der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (International Classification of Diseases, ICD-9), die von 1976 bis 1992 gültig war, war von Entwicklungsstörungen im engeren Sinne noch nicht die Rede. Allerdings gab es Kategorien wie »Umschriebener Rückstand der Sprech- und Sprachentwicklung« (ICD-9: 315.3), in denen das Entwicklungskonzept bereits auftauchte. Der frühkindliche Autismus (ICD-9: 299.9) fand sich dagegen als ganz eigene Kategorie.

Im ICD-10 wurde dann im Kapitel 8 die Kategorie der Entwicklungsstörungen erstmalig international verbindlich eingeführt. Hierunter wurden Störungen zusammengefasst, die folgende Kriterien erfüllen mussten:

1.  Der Beginn der Symptomatik musste im Kleinkindalter oder Kindesalter liegen;

2.  es mussten Einschränkungen oder Verzögerungen bei der erwarteten Entwicklung von psychomotorischen Leistungen und Fähigkeiten feststellbar sein, die eng mit der Reifung des Zentralnervensystems verbunden sind; und

3.  es musste ein stetiger Verlauf objektivierbar sein, der nicht die typische phasischremittierende oder undulierende Dynamik mit Remissionen und Rezidiven zeigt, wie sie für viele andere psychische Störungen wie die Depressionen typisch ist (WHO 1991).

Qualitativ wurden in diesem Kapitel im Wesentlichen die umschriebenen Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache (F80), der schulischen Fertigkeiten (F81; Lese- und Rechtschreibstörung, Rechenstörung), der motorischen Funktionen und die tiefgreifenden Entwicklungsstörungen in Form der autistischen Syndrome unterschieden. Erwähnt wird an dieser Stelle auch bereits die Hyperkinetische Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien (F84.4), die damit von den Intelligenzminderungen (F7) und den Verhaltens- und emotionalen Störungen mit Beginn in Kindheit und Jugend (F9) abgegrenzt wurde. Letztere wurden in jeweils eigenen Unterkapiteln klassifiziert.

Empirisch wurde für die so zusammengefassten Entwicklungsstörungen darauf hingewiesen, dass Jungen häufiger betroffen sind als Mädchen und eine familiäre Häufung ähnlicher Phänotypen beobachtbar sei. Dies wurde mit der Annahme einer hohen ätiopathogenetischen Bedeutung der Genetik erklärt. Gleichzeitig wurde aber auch betont, dass die Ursächlichkeit der meisten Störungen unklar sei und es auch Untergruppen gebe, die erst nach einer initial unauffälligen Entwicklungsanamnese der betroffenen Kinder aufträten wie z. B. beim Landau-Kleffner-Syndrom oder der desintegrativen Störung des Kindesalters. Diese Beobachtungen wurden als Evidenz dafür interpretiert, dass es keine einheitliche Ursächlichkeit dieser klinischen Bilder gebe, sodass eine einheitliche Kausalität der verschiedenen Entwicklungsstörungen für die gemeinsame Klassifikation nicht vorausgesetzt wurde.

1.3      Entwicklungsstörungen im DSM-5

Eine grundlegende Neuklassifikation ergab sich dann mit der Einführung des DSM-5 2013 (APA 2013, 2015), dessen Entscheidungen die ICD-11 in fast allen wesentlichen Punkten gefolgt ist (WHO 2022). Hier werden die Entwicklungsstörungen erstmalig allen anderen psychischen Störungen im ersten Kapitel vorangestellt und im Englischen zusammengefasst unter dem Begriff der neurodevelopmental disorders geführt. In der deutschen Übersetzung findet sich der etwas komplexere Begriff der neuronalen Entwicklungsstörungen. Unter diesen Überschriften wurden nun die Intelligenzminderungen, die Kommunikationsstörungen, die Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), die spezifischen Lernstörungen, die motorischen Störungen sowie die Restkategorie der anderen Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung zusammengefasst. Dabei gibt es im ICD-11 insofern eine Besonderheit, als dass die Tic-Störungen an dieser Stelle zwar erwähnt werden, eigentlich aber den neurologischen Krankheitsbildern zugeordnet werden.

In diesem Zusammenhang kann als wesentliche Neuerung der klassifikatorischen Grundkonzeption erkannt werden, dass die Störungen der Intelligenzentwicklung (SIE), die ADHS und die Tic-Störungen nun gemeinsam mit den bereits im ICD-10 als Entwicklungsstörungen zusammengefassten Syndrombildern geführt werden. Mag dies den einen oder anderen vielleicht auf den ersten Blick erstaunen, so erscheint diese Neuklassifikation jedoch bei genauerer Überlegung durchaus plausibel. Denn unter dem Begriff der Entwicklungsstörungen werden eben Abweichungen von den erwarteten, altersgemäßen Entwicklungsschritten verstanden, die typischerweise in der ersten Dekade und da häufig bereits in den ersten Lebensjahren erkennbar werden und ihrer Natur nach chronisch sind. Dies trifft natürlich nicht nur für Phänomene wie den Autismus zu, sondern ebenso für die ADHS und in gleicher Art und Weise für die Störungen der Intelligenzentwicklung. Denn auch die prägende Besonderheit eines sehr hohen oder tiefen IQ zeigt sich oft schon in den ersten Lebensjahren eines Menschen und zieht sich dann in analoger Weisen zu den persönlichkeitsstrukturellen Besonderheiten einer ADHS oder eines Autismus wie ein roter Faden durch das Leben Betroffener. Gleiches gilt für die umschriebenen Entwicklungsstörungen einer Dyslexie, Dyskalkulie usw. Und auch Besonderheiten der motorischen Kontrolle wie etwa Tic-Störungen zeigen sich typischerweise bereits in der ersten Lebensdekade der Patienten und ziehen sich dann als behaviorale Disposition wie ein roter Faden durch das Leben.

Wie gut solche strukturellen Stärke-Schwäche-Cluster im Leben kompensiert werden können und wie sehr es gelingt, die typischen, aus den strukturellen Besonderheiten resultierenden Probleme im eigenen Leben in den Griff zu bekommen, steht dagegen auf einem anderen Blatt. So können Menschen mit weit überdurchschnittlicher Intelligenz dennoch grandios scheitern bei der alltäglichen Gestaltung ihres Lebens, was aus dem klinischen, therapeutischen Alltag allzu evident ist. Ebenso können Menschen mit unterdurchschnittlicher Intelligenz dennoch sehr erfolgreich durch ihr Leben gehen. Voraussetzung für die Kompensation der mit den eigenen Schwächen und Stärken vergesellschafteten Lebensrisiken ist dabei oft, dass die Besonderheit des eigenen So-Seins umfassend begriffen wird, eine diesbezügliche Akzeptanz hergestellt werden kann und die Schwächen durch kluge Kompensationsstrategien in ihrer sozialen Relevanz umschifft werden können (Tebartz van Elst 2022).

Die Zusammenfassung der genannten neuronalen und mentalen Entwicklungsstörungen im ersten Kapitel des DSM-5 und ICD-11 erscheint auch deshalb überzeugend, weil rein zeitlich diese entwicklungsbedingten Besonderheiten der Entwicklung allen anderen psychischen Störungen voraus gehen. Sie bilden damit gewissenmaßen den strukturellen Rahmen bzw. die strukturelle Basis vor deren Hintergrund sich das Leben des Menschen zwangsläufig entfalten muss. Ebenso wie der Autismus in seiner vollen syndromalen und in seiner subsyndromalen Variante (»broader autism phenotype«) als Basisstruktur für sich daraus entwickelnde Lebensprobleme verstanden werden kann, ist dies auch für das jeweils eigene Intelligenzniveau, bestehende Teilleistungsstörungen (Dyslexie, Dyskalkulie) oder etwa persönlichkeitsstrukturelle Besonderheiten im Sinne einer ADHS oder von etwaigen Tics der Fall (Tebartz van Elst et al. 2013).

Ein weiterer Grund, der auch biologisch für die Zusammenfassung der genannten Störungsbilder in einem gemeinsamen Kapitel spricht, ist die Tatsache, dass sie untereinander gehäuft vergesellschaftet sind. So finden sich bei Menschen mit Tic-Störungen häufig Symptome im Sinne einer ADHS, autistische Menschen weisen überdurchschnittlich häufig Tics auf, ASS und ADHD treten häufig vergesellschaftet auf und Störungen der Intelligenzentwicklung sind bei allen anderen Entwicklungsstörungen überdurchschnittlich häufig (APA 2013, 2015; Thapar et al. 2017). Auch weisen die Ergebnisse der jüngsten Forschungen darauf hin, dass es sowohl im monogenetischen Bereich (Beispiel: fragiles-X-Syndrom, Klinefelter-Syndrom) als auch im multigenetischen Bereich Überlappungen zwischen den verschiedenen Entwicklungsstörungen gibt (Kiser et al. 2015).

1.4      Entwicklungsstörungen im ICD-11

Die aktuell erst in Ansätzen publizierte ICD-11-Klassifikation (WHO 2022) folgt diesem Grundgerüst weitgehend mit zwei wesentlichen Ausnahmen. Zum einen wird die Kategorie der sekundären Entwicklungsstörungen eingeführt etwa für Fälle, bei denen die Entwicklungsstörung erkennbare Folge einer anderen körperlichen Krankheit ist wie z. B. bei der X-chromosomal-dominanten genetischen Erkrankung des Rett-Syndroms. Darüber hinaus findet sich im ICD-11 abgegrenzt vom Kapitel 6 (»mental, behavioral or neurodevelopmental disorders«) ein eigenes Kapitel für so genannte Entwicklungsanomalien (Kapitel 20: »developmental anomalies«). Damit werden meist genetische Erkrankungen angesprochen, die u. a. auch zu den beschriebenen mentalen Phänotypen im Sinne von neuronalen Entwicklungsstörungen oft in atypischer Präsentation führen können. Beispiele wären das velokardiofaziale Syndrom, das Fragile-X-Syndrom, die tuberöse Sklerose oder das Klinefelter-Syndrom (Tebartz van Elst 2022).

Damit werden klar ursächliche Bezüge in das ansonsten überwiegend deskriptive Klassifikationssystem eingefügt, was aus der vom Autor vertretenden neuropsychiatrischen Perspektive sehr zu begrüßen ist (Tebartz van Elst 2021, 2022).

1.5      Zusammenfassung

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Konzept der Entwicklungsstörungen davon ausgeht, dass einem Lebewesen aus biologischen Gründen eine Entwicklungspotenz innewohnt, die es im Rahmen einer ungestörten Entwicklung in alterstypischer Art und Weise entfaltet. Die biologischen Aspekte dieses dynamischen Entwicklungsprozesses sind Gegenstand der Entwicklungsbiologie. Die Entwicklungspsychologie bearbeitet die phänomenologischen und psychodynamischen Aspekte. Der so definierte dynamische, psychobiologische Entwicklungsprozess wird theoretisch durch verschiedene Variablen beeinflusst. Dies können endogene, dem individuellen Körper unabhängig von seiner biografischen Entwicklung genetisch innewohnende Variablen sein (genetische oder epigenetische Besonderheiten) oder erworbene Faktoren wie spezifische Expositionen gegenüber Umwelteinflüssen, toxischen Substanzen, Infektionen, Verletzungen oder auch biografisch-semantische Expositionen (Lerngeschichte, psychische Traumatisierungen).

In der modernen Psychiatrie und Psychotherapie hat das Konzept der neuronalen und mentalen Entwicklungsstörungen gerade erst Einzug gehalten. Es wird zunehmend in seiner Bedeutung als valide Beschreibung einer individuellen Basisstruktur für das sich auf dieser Grundlage entfaltende Leben erfasst und erkannt. Es hat damit auch eine zentrale Bedeutung für das Verständnis der Genese und Entwicklungsgeschichte aller anderen psychischen Störungen, da diese sich zwingend auf die den Entwicklungsstörungen zugrundeliegenden strukturellen Besonderheiten beziehen und sich aus diesen oft aufgrund typischer Konfliktmuster entwickeln.

Mit der Neuklassifikation der Entwicklungsstörungen als fundamentale Kategorie psychobiologischer Besonderheiten in den internationalen Klassifikationssystemen DSM-5 und ICD-11 wurde gerade erst die Grundlage dafür gelegt, dass die Forschung und klinische Psychiatrie und Psychotherapie sich diesem wichtigen Thema widmen kann.

Literatur

American Psychiatric Association (APA) (2013) Diagnostic and Statistical manual of Mental Disorders 5. Aufl. Washington: American Psychiatric Publishing.

American Psychiatric Association (APA) (2015) Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5. Herausgegeben von Peter Falkai und Hans-Ulrich Wittchen. Göttingen: Hogrefe Verlag.

Bettelheim (1989) Die Geburt des Selbst. The Empty Fortress. Erfolgreiche Therapie autistischer Kinder. Frankfurt a. Main.: Fischer.

Haeckel E (1866) Generelle Morphologie der Organismen. Allgemein Grundzüge der organischen Formenwissenschaft. Zweiter Band: Allgemeine Entwicklungsgeschichte der Organismen. Berlin Verlag Georg Reimer

Jaspers K (1948) Allgemeine Psychopathologie. 5. Aufl. Berlin: Springer Verlag.

Kiser DP, Rivero O, Lesch KP (2015) Annual research review: The (epi)genetics of neurodevelopmental disorders in the era of whole-genome sequencing--unveiling the dark matter. J Child Psychol Psychiatry 56: 278–95.

Peters UH (2011) Lexikon Psychiatrie Psychotherapie Medizinische Psychologie. 6. Aufl. Urban & Fischer. S. 164.

Tebartz van Elst L (2022) Autismus, ADHS und Tics. Zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit. 3. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer Verlag.

Tebartz van Elst L, Pick A, Biscaldi M et al. (2013) High functioning autism spectrum disorder as a basic disorder in adult psychiatry and psychotherapy: psychopathological presentation, clinical relevance and therapeutic concepts. Eur Arch Psychiat Clin Neurosci 263:189–196.

Tebartz van Elst L (2021) Vom Anfang und Ende der Schizophrenie. Eine neuropsychiatrische Perspektive auf das Schizophreniekonzept. 2. Überarbeitete und erweiterte Aufl. Stuttgart: Kohlhammer Verlag.

Thapar A, Cooper M, Rutter M (2017) Neurodevelopmental disorders. Lancet Psychiatry 4:339–346.

Weltgesundheitsorganisation (WHO) (1991) Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien. In: Dilling H, Mombour W, Schmidt MH (Hrsg.) Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10. Bern: Verlag Hans Huber.

Weltgesundheitsorganisation (WHO 2022). International Classification of Diseases. (https://icd.who.int/browse11/l-m/en, Zugriff am 22.09.2022).

2        Kognitive Entwicklung im Kindes- und Jugendalter

Christoph Klein, Reinhold Rauh

2.1      Einleitung

a)  nosologische Gruppe mit Bezug zu

b)  neuronaler Pathophysiologie und

c)  Entwicklung.

Die so ausgewählten Bereiche innerhalb der kognitiven Entwicklung sind

1.  Exekutivfunktionen,

2.  Intelligenz und

3.  Soziale Kognition.

Einer der bedeutendsten Theorien der kognitiven Entwicklung ist die des Schweizer Biologen und Psychologen Jean Piaget (1896–1980). Für Piaget hat der Mensch in allen seinen Entwicklungsstufen das Bedürfnis nach Erkenntnis dessen, was für ihn relevant ist, und treibt daher aktiv seine eigene Entwicklung voran. Dabei ist die kognitive Entwicklung im Kindes- und Jugendalter das Ergebnis zweier Anpassungsprozesse, der Assimilation – also der kognitiven Integration der Sinneswahrnehmungen – und der Akkommodation – also der Differenzierung der Sinneswahrnehmungen. Gemäß Piaget lassen sich vier kognitive Entwicklungsstadien unterscheiden.

•  Im Stadium der sensomotorischen Intelligenz (0–2 Jahre) steht die Entwicklung der sensomotorischen Koordination und der Objektpermanenz im Vordergrund.

•  Im Stadium der präoperationalen Intelligenz (2–7 Jahre) entwickelt sich das Vorstellungs- und Sprechvermögen, und das Kind sieht sich selbst noch als das Zentrum des Geschehens an (Egoismus).

•  Im Stadium der konkret-operationalen Intelligenz (7–11 Jahre) wird die Fähigkeit zu logischem Denken entwickelt, das sich auf reale Sachverhalte bezieht, sowie eine Reihe spezifischer kognitiver Funktionen wie zum Beispiel die Fähigkeit zur Erkenntnis, dass Eigenschaften eines Objektes auch dann konstant sind, wenn das Objekt sein Aussehen verändert (»Invarianz«) oder die Fähigkeit, Objekte nach Merkmalen zu gruppieren (»Klassifikation«).

•  Das letzte und höchste Stadium der kognitiven Entwicklung ist die formal-operatorische Intelligenz (ab 11 Jahre), in welcher der Mensch auch Gedanken zu abstrakten Themen wie dem Gegenstand des Denkens machen kann und nicht nur zu konkreten Dingen. Abstraktes Denken und logisches Schlussfolgern gehören zu den kognitiven Operationen, die in diesem Stadium erworben werden.

Natürlich ist auch eine so bedeutende Theorie wie die Piagets nicht ohne Kritik geblieben; wichtiger im aktuellen Kontext ist jedoch, dass sie auch weiterentwickelt wurde, und zwar von den sogenannten »Neo-Piagetianern«.

Einer der Neo-Piagetianer ist Juan Pascual-Leone, ein Schüler Piagets. Seiner Theorie zufolge lassen sich geistige Inhalte wie Konzepte, Schemata, Symbole sowie die auf diesen ausgeführten Operationen von der mentalen Kapazität unterscheiden, unter welcher Pascual-Leone die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses versteht. Arbeitsgedächtnis ist von Kurzzeitgedächtnis zu unterscheiden, in dem letzteres das kurzfristige Speichern von Informationen meint, ersteres hingegen zusätzlich die Verarbeitung der entsprechenden Information, also das Arbeiten mit den Gedächtnisinhalten (»working with memory«). Während das einfache Wiederholen einer Telefonnummer in der richtigen Reihenfolge lediglich das Speichern derselben voraussetzt, erfordert die Wiederholung der Telefonnummer in umgekehrter Reihenfolge nicht nur deren Speicherung, sondern auch deren Verarbeitung im Sinne der Umkehrung der Reihenfolge.

Am Ansatz Pascual-Leones sind nun folgende Aspekte bemerkenswert. Erstens postuliert er, dass den unterschiedlichen Stadien der kognitiven Entwicklung im Sinne Piagets mindestens teilweise eine Zunahme der Arbeitsgedächtniskapazität zugrunde liegt. Damit werden qualitative Unterschiede in der Informationsverarbeitung auf quantitative Unterschiede zurückgeführt, und zwar im Sinne einer zunehmenden Befähigung zur Verarbeitung komplexerer Informationen. Besteht die Arbeitsgedächtniskapazität im Alter von zwei bis drei Jahren noch in einer einzigen Einheit, ist im Alter von 15 Jahren das Lebensspannen-Plateau von ca. 7±2 Einheiten erreicht (Miller 1956). Zweitens betont Pascual-Leone mit dem Arbeitsgedächtnis und seiner wachsenden Kapazität eine Verarbeitungsressource, welche auch außerhalb der Piagetschen Tradition eine besondere Rolle in der kognitiven Entwicklung im Kindes- und Jugendalter zugeschrieben wird. Die Entwicklung des Arbeitsgedächtnisses verweist zudem auf ein weiteres zentrales Merkmal der kognitiven Entwicklung, auf welche weiter unten noch eingegangen wird, die (psychometrische) Intelligenz.

Ein anderer Vertreter des Neo-Piagetschen Ansatzes ist Andreas Demetriou. Ihm zufolge müssen Verarbeitungspotenziale, bereichsspezifische Denksysteme und Hyperkognitionen unterschieden werden. Unter dem Begriff Verarbeitungspotenziale subsumiert Demetriou nicht nur wie schon Pascual-Leone die Arbeitsgedächtniskapazität, sondern auch die Verarbeitungsgeschwindigkeit und die Verarbeitungskontrolle.

Ein einfaches Maß der Verarbeitungsgeschwindigkeit sind Reaktionszeiten in kognitiv einfachen (nicht-komplexen) Aufgaben. In Laboruntersuchungen lassen sich derartige Reaktion(szeit)en präzise z. B. mit Eyetrackern messen, wenn beispielsweise links oder rechts von einem in der Bildschirmmitte befindlichen Fixationspunkt ein anderer Punkt aufleuchtet, welcher unmittelbar nach Erscheinen anzuschauen ist. Die Latenz dieser Reaktion verringert sich bis in die späte Adoleszenz bzw. das frühe Erwachsenenalter (Fischer et al. 1997; Klein 2001; Klein et al. 2005). Da es sich hierbei um eine sehr einfache Reaktion handelt, kann sie als eine Art Basislinie der kognitiven Entwicklung genommen werden. Bei einer ganz anderen Aufgabe zur Verarbeitungsgeschwindigkeit wird das griechische П (Pi) dargeboten, und zwar variierend mal mit einem auf der linken oder rechten Seite verlängerten Schenkel. Die Aufgabe des Probanden besteht darin, anzugeben, welcher der beiden Schenkel der längere ist. Man wird sich fragen, worin denn die Schwierigkeit dieser Aufgabe bestehen soll. Diese besteht darin, dass kurz (ca. 15-150 ms) nach dem asymmetrischen П eine Maske erscheint, die das Symbol vollständig verdeckt und damit seine Wahrnehmung abrupt beendet. Auch bei dieser Aufgabe zeigen sich deutliche Entwicklungseffekte dergestalt, dass jüngere Probanden längere Präsentationsdauern benötigen als ältere, um mit gleicher Wahrscheinlichkeit die richtige Antwort zu finden.

Ein zweites Bearbeitungspotenzial sind nach Demetriou Kontrollprozesse oder, wie man in der Neuropsychologie sagen würde, Exekutivfunktionen. Dazu gehören unter anderem Inhibition (z. B. die Hemmung eines Handlungsimpulses), Flexibilität (set shifting; also z. B. der schnelle Wechsel von Zuhören und Sprechen) oder Daueraufmerksamkeit (z. B. die Fähigkeit, einem Vortrag über längere Zeit konzentriert zu folgen). Exekutivfunktionen hängen eng mit den Funktionen des (dorsolateralen) Präfrontalcortex (dl-PFC) zusammen, einer neuronalen Struktur, die viel mit dem Arbeitsgedächtnis zu tun hat.

Ein scheinbar einfacher Test exekutiver Funktionen, die neurophysiologisch auch zu einer Aktivierung des dl-PFC führt, ist die Antisakkaden-Aufgabe. Während bei einer Prosakkaden-Aufgabe die Probanden von der Bildschirmmitte aus auf einen links oder rechts aufleuchtenden Punkt schauen sollen, werden bei der Antisakkaden-Aufgabe zwar exakt dieselben Stimuli dargeboten wie in der Prosakkaden-Aufgabe, doch die Aufgabeninstruktion lautet hier, sobald der periphere Reiz auf der einen Seite erscheint, direkt von der Mitte in die spiegelbildlich gegenüberliegende Region zu schauen, also nicht zunächst auf den peripheren Reiz und dann nach gegenüber, sondern direkt auf die gegenüberliegende Position. Es gehört zu den bemerkenswerten Befunden der Augenbewegungsforschung, dass selbst junge, gesunde Erwachsenen in rund zwei von 20 Versuchen in dieser Aufgabe einen Fehler machen und zunächst auf den peripheren Reiz schauen und danach erst auf die gegenüberliegende Position. Bei Kindern im Grundschulalter sind die entsprechenden Fehlerquoten noch deutlich höher, obgleich auch diese in den allermeisten Durchgängen korrigieren und anschließend auf die gegenüberliegende Position schauen, die Aufgabe also durchaus verstanden haben. In unterschiedlichen Studien konnte gezeigt werden, dass die Bestleistung in der Antisakkaden-Aufgabe erst gegen Mitte der dritten Lebensdekade erreicht wird (Klein 2001).

Es stellt sich daher die Frage, was diese scheinbar so einfache Aufgabe so schwierig macht. Zunächst einmal ist klar, dass die Aufgaben-Instruktion im Arbeitsgedächtnis aktiv gehalten werden muss, denn nur so kann eine Sakkade ausgeführt werden, deren Landepunkt nicht physisch definiert ist. Sodann muss die sicherlich biologisch gebahnte Prosakkade auf den peripheren Reiz gehemmt werden, ebenfalls auf der Basis der Aufgabeninstruktion. Und schließlich muss eine motorische Antwort generiert werden, deren Richtung inkompatibel ist mit der sensorischen Stimulationsseite. Man spricht hier von Reiz-Reaktions-Inkompatibilität. Alle diese Komponenten der Antisakkaden-Aufgabe sind dem Bereich der Exekutivfunktionen zugeordnet und erfordern die Mitwirkung des dl-PFC. Da dessen Funktionen zu den letzten gehören, die in der Hirnentwicklung ausreifen, nimmt es daher auch nicht Wunder, dass das Leistungs-Plateau für die Antisakkaden-Aufgabe in der dritten Lebensdekade liegt und als eine Markervariable der kognitiven Entwicklung angesehen werden kann (Klein et al. 2005).

Das dritte Bearbeitungspotenzial nach Demetriou ist wiederum das Arbeitsgedächtnis, bzw. dessen Kapazität. Das Arbeitsgedächtnis ist aber nicht nur per se für die allgemeine kognitive Entwicklung wichtig, es stellt zudem eine Verbindung her zu einem anderen großen Bereich, nämlich der Entwicklung der psychometrischen Intelligenz wie sie über etablierte Testverfahren, die IQ-Tests gemessen wird. In zahlreichen Studien konnte gezeigt werden, dass Arbeitsgedächtnis und Intelligenz hoch korreliert sind, d. h. jemand mit einer großen Arbeitsgedächtniskapazität schneidet im Schnitt auch gut im Intelligenztest ab. Die Arbeitsgedächtniskapazität ist aber nur eines der wichtigen kognitiven Korrelate der psychometrischen Intelligenz; das andere ist die zuvor behandelte Verarbeitungsgeschwindigkeit. Und alle drei Bereiche – Verarbeitungsgeschwindigkeit, Arbeitsgedächtniskapazität und psychometrische Intelligenz – zeigen eine kontinuierliche Verbesserung in Kindheit und Jugend, wobei die Entwicklung in jüngeren Jahren schneller vorangeht als in älteren Jahren.

Was ist aber nun psychometrische Intelligenz? – Ein bekannter Spruch sagt: »Intelligenz ist das, was der Intelligenztest misst.« Dieser Spruch ist schon in formaler Hinsicht falsch, denn ein Konstrukt (Intelligenz) ist immer »weiter« oder »größer« als die konkreten Operationen zu seiner Messung (der Intelligenztest). In anderer Hinsicht hat dieser Spruch aber auch etwas Richtiges und das liegt an dem, was man in der Intelligenzforschung den g-Faktor bzw. den Faktor der Allgemeinen Intelligenz nennt. Schon früh hatte Charles Spearman (1904) erkannt, dass sich inter-individuelle Unterschiede in der Lösung einzelner Intelligenztestaufgaben verallgemeinern lassen (z. B. von einer Aufgabe zur Wahrnehmungsgeschwindigkeit, über eine Aufgabe zum Wortschatz, zu einer Merkaufgabe und einer Rechenaufgabe). Mit anderen Worten: Wer »gut« (oder »schlecht«) in einer dieser Aufgaben abschneidet, tendiert im statistischen Mittel auch dazu in allen anderen Aufgaben »gut« (oder »schlecht«) abzuschneiden. Dies gilt auch für das Abschneiden in den oben erwähnten Aufgaben zur Wahrnehmungsgeschwindigkeit und den Progressiven Matrizen (Carpenter et al. 1990): Wer schnell in einer sehr simplen Aufgabe ist, ist auch gut im Lösen komplexer Probleme. Eine Schlussfolgerung aus diesen gut replizierten Ergebnissen ist nun die Annahme, dass es »etwas« geben muss, das diese Konsistenz inter-individueller Unterschiede über die unterschiedlichsten kognitiven Aufgaben hinweg erklären kann. Das ist die Allgemeine Intelligenz bzw. der g-Faktor. Wenn nun aber alle Herausforderungen des Intellekts im Prinzip dasselbe messen, dann ist in diesem speziellen Sinne Intelligenz auch das, was der Intelligenztest misst.

Die Annahme eines g-Faktors der Intelligenz basiert zwar auf gut replizierten Ergebnissen, ist deswegen aber keinesfalls unumstritten. Im Gegenteil: Im Laufe der Geschichte der Intelligenzforschung gab es immer wieder Positionen, die unterschiedliche Faktoren der Intelligenz oder gar unterschiedliche Intelligenzen mehr oder weniger überzeugend postuliert haben (s. z. B. in  Kap. 23 das Cattell-Horn-Carroll-Modell der Intelligenz). Und zweifelsohne gibt es wichtige kognitive Bereiche, die mit Intelligenztests nicht direkt gemessen werden, beispielsweise die zuvor erwähnten Exekutivfunktionen oder etwas, was Soziale Intelligenz genannt wird. Letzteres hat schon vor über 100 Jahren Edward Thorndike in seiner Unterscheidung in abstract intelligence und social intelligence voneinander unterschieden (Thorndike 1919). Ein bekanntes Bonmot charakterisiert soziale Intelligenz dabei folgendermaßen: »Es gibt Menschen, die können eins und eins nicht zusammenzählen, anderen Menschen aber glaubhaft vermitteln, dass drei eine gute Lösung sein könnte. So jemand verfügt über soziale Intelligenz.« Eng verbunden mit dem Begriff Soziale Intelligenz ist der für die Kinder- und Jugendpsychiatrie wichtige Bereich der sozialen Kognition, auf den wir im Folgenden eingehen.

2.2      Soziale Kognition

Eines der zentralen Themen der kognitiven Entwicklungspsychologie beim Kind stellt die Entwicklung des intuitiven psychologischen Wissens (Theory of Mind; ToM) dar. Unter Theory of Mind versteht man dabei die alltagspsychologischen Konzepte, die es uns erlauben, uns selbst, aber auch anderen mentale Zustände wie Gefühle, Absichten, Überzeugungen, Wissen usw. zuzuschreiben. Premack und Woodruff (1978), die Autoren der bahnbrechenden Arbeit in diesem Bereich, wählten den Begriff Theorie für diese Wissensdomäne, da

1.  mentale Zustände, analog zu theoretischen Konstrukten, nicht direkt beobachtbar sind, sondern erschlossen werden, und da

2.  die Zuschreibung mentaler Zustände Verhaltensvorhersagen und -erklärungen erlaubt.

Was diese Forschungen besonders interessant macht, ist, dass für verschiedene psychiatrische Störungsbilder Defizite im Bereich der ToM festzustellen sind. So wird insbesondere für Autismus von vielen ein ToM-Defizit als kognitive Kernsymptomatik angenommen (Baron-Cohen et al. 1985;  Kap. 23), und ist deswegen auch integraler Bestandteil entsprechender Therapieprogramme (z. B. Paschke-Müller et al. 2017).

Zum Lackmus-Test für eine Theory of Mind haben sich die Aufgaben zur Zuschreibung falscher Überzeugungen (false beliefs; FB) entwickelt (Sodian 2008, S. 183). Diese Aufgaben haben die folgende Struktur:

»Person A (z. B. Max) legt ein Objekt (z. B. Schokolade) an eine bestimmte Stelle L1 (z. B. blauer Schrank). In ihrer Abwesenheit bewegt Person B (z. B. die Mutter) das Objekt an eine andere Stelle L2 (z. B. grüner Schrank).« Die Frage, die dann den Kindern, denen diese Geschichte erzählt wird, gestellt wird, lautet: Wo wird Person A (Max) das Objekt (Schokolade) suchen? Das Hauptergebnis der ersten Arbeit im Bereich der Entwicklungspsychologie (Wimmer und Perner 1983) zeigt, dass Kinder erst ab einem Alter von etwa vier Jahren in der Lage sind, die richtige Antwort zu geben. Dagegen gab keines der jüngeren Kinder die richtige Antwort, was in der Folge zu der etwas vorschnellen Schlussfolgerung Anlass gab, dass sich das Repräsentieren und Erkennen von falschen Überzeugungen im Speziellen, und eine Theory of Mind im Allgemeinen, erst ab einem Alter von vier Jahren entwickelt. Diese Grenze ist in Folge immer wieder infrage gestellt worden. In der Tat zeigte sich in einer Reihe von Untersuchungen, dass Kinder bereits im Alter von drei Jahren und jünger FB-Aufgaben manchmal lösen konnten, wenn die Aufgabenanforderungen gesenkt wurden (Chandler et al. 1989). In einer umfassenden Metaanalyse konnten Wellman, Cross und Watson (2001) jedoch zeigen, dass, obwohl die FB-Performanz bei Kindern ab etwa drei Jahren stetig zunimmt, in keiner Studie für jüngere Kinder die Performanz über Ratewahrscheinlichkeit liegt. Damit sei belegt, dass es tatsächlich einen Entwicklungssprung im Alter von drei bis vier Jahren gebe, der am besten mit der Annahme eines Conceptual Change, also einer tiefgreifenden Veränderung begrifflichen Wissens, zu vereinbaren ist.

Einschränkend muss vermerkt werden, dass die klassischen FB-Aufgaben in sprachlichem Format präsentiert werden und somit ein funktionierendes Sprachsystem, das sich erst einmal entwickeln muss, bereits voraussetzen. In der Folge der Forschungen zu ToM rückten daher mehr und mehr präverbale Formen bzw. Vorläufer der ToM in den Mittelpunkt der Forschung. So wurde festgestellt, dass schon Neugeborene gesichtsähnliche Zeichnungen gegenüber auf dem Kopf stehenden Versionen präferieren (Cassia, Turati & Simion 2004) und auch Fotos von Gesichtern mit geöffneten Augen und einem direkten Blick bevorzugen. D. h. soziale Stimuli weisen schon von Anfang an eine hohe Attraktivität auf. Im Alter von drei bis vier Monaten fängt der Säugling an, in die gleiche Richtung wie ein Erwachsener zu sehen (Brooks und Meltzoff 2005), eine Fertigkeit, die im Alter zwischen zwölf und 15 Monaten immer besser wird, wenn nämlich das Kind erkennt, dass die Aufmerksamkeit des Anderen Hinweise auf dessen Kommunikationsabsichten liefern kann. Die als gemeinsame Aufmerksamkeit