Entwicklungsstufen des werdenden Menschen - Helmut Eller - E-Book

Entwicklungsstufen des werdenden Menschen E-Book

Helmut Eller

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Beschreibung

In dieser umfassenden Darstellung zeichnet der Waldorflehrer Helmut Eller anschaulich den Entwicklungsweg des Kindes und Jugendlichen in seinen einzelnen Phasen nach. An vielen Beispielen erläutert er typische seelische und physiologische Phänomene und beleuchtet ihre zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten. Auf dieser Basis wird auch die Pädagogik der Waldorfschule für die verschiedenen Lebensalter und Klassenstufen verständlich.

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Helmut Eller

Entwicklungsstufen

des werdenden Menschen

Zur Menschenkunde der Waldorfpädagogik

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Der Beginn des Erdenlebens

Vorgeburtliche Aspekte und Schwangerschaft

Die Geburt

Das erste Jahrsiebt

Das erste Lebensjahr: sich aufrichten und gehen lernen

Das zweite Lebensjahr: sprechen lernen

Sprachentwicklung im ersten Lebensjahr

Sprachentwicklung im zweiten Lebensjahr

Das dritte Lebensjahr: denken lernen

Ich-Entwicklung

Gedächtnisbildung und Denkentwicklung

Erster Rückblick und Ausblick

Das dritte bis fünfte Lebensjahr

Die Trotzphase

Die mittlere Phase und die weitere Sprachentwicklung

Rhythmus und rhythmisches System

Pädagogik und Alltag im Waldorfkindergarten

Das kindliche Spiel und die Entfaltung der Fantasiekräfte

Das fünfte bis siebte Lebensjahr

Das Fragealter

Wodurch lernen Kinder eigentlich das Denken?

Bildhaftes Denken

Veränderungen beim Spielen

Frühkindliches Zeichnen

Zweiter Rückblick

Erster Exkurs in die Menschenkunde Rudolf Steiners

Was ist Dreigliederung?

Drei Systeme

Zweiter Exkurs in die Menschenkunde. Die Schulreife

Die Wesensglieder

Schulreife und Schulfähigkeit

Das zweite Jahrsiebt

Das siebte bis zehnte Lebensjahr

Die erste Schulstunde – ein Meisterstück des Schulgründers

Menschenkundlicher Vorblick auf das erste Drittel des zweiten Jahrsiebts

Hauptunterricht – Epochenunterricht – Klassenlehrer – Stundenplan

Formenzeichnen – Schreiben und erstes Lesen – Rechnen

Erzählungen lauschen – Sprachen erlernen – Künste ausüben

Handarbeit – Spielturnen – Religion

Eurythmie

Pädagogik und die vier Temperamente

Zehntes bis zwölftes Lebensjahr

Der «Rubikon»

Wie antwortet der Lehrplan der Waldorfschule auf den Umbruch?

Das zwölfte bis vierzehnte Lebensjahr

Wie antwortet der Lehrplan? Ein Blick in die Epochenfächer

Dritter Rückblick

Dritter Exkurs und die Erdenreife

Körperliche Veränderungen

Die seelischen Veränderungen

Das dritte Jahrsiebt

Das vierzehnte bis siebzehnte Lebensjahr

Wie antwortet der Lehrplan auf die Alterssituation?

Das siebzehnte bis neunzehnte Lebensjahr

Altersentsprechender Unterricht

Das neunzehnte bis einundzwanzigste Lebensjahr

Der Unterricht als Antwort auf die Entwicklungssituation

Rückblick und Ausblick auf das weitere Leben

Rückblick aus Elternsicht auf die Schulzeit ihrer Kinder

Ausblick

Und was kommt danach?

Ausklang

Anmerkungen

Vorwort

Das vorliegende Buch hat ein Thema zum Inhalt, über das ich bis vor ein paar Jahren immer wieder in Vortragsform vor den Eltern in verschiedenen Waldorfschulen sprechen durfte. Damals gab es rund um Hamburg Initiativen zur Gründung einer neuen Waldorfschule, und dort kam dieses Thema gerade recht, weil es einen großen Überblick über die ganze Schulzeit gibt. Im Anschluss an meine Darstellungen wurde ich häufiger gefragt, wo man all das nachlesen könnte. Ich blieb die Antwort schuldig, deutete aber manchmal schmunzelnd an, dass ich es vielleicht in einem Buch einmal aufschreiben würde.

Nachdem ich inzwischen Bücher über die Arbeit des Klassenlehrers und über die vier Temperamente veröffentlichen durfte,1 machte mir der Verlag im Zusammenhang mit dem jährlichen Weihnachtsgruß mehrmals Mut, ein drittes Buch zu wagen. Das habe ich hiermit getan.

Es soll einen Überblick über alle Entwicklungsstufen des Kindes und Jugendlichen von der Geburt bis zum einundzwanzigsten Lebensjahr geben – bis zu dem Augenblick, in dem wir im Vollbesitz unserer Ich-Kräfte sind. Im Zusammenhang damit versuche ich zu zeigen, wie die Unterrichtsinhalte der Waldorfpädagogik und ihr Lehrplan darauf ausgerichtet sind.

Während des Schreibens wurde immer deutlicher, dass wir zu einem tieferen Verständnis der Phänomene die geisteswissenschaftlichen Grundlagen Rudolf Steiners, die Anthroposophie und seine «pädagogische Menschenkunde», d. h. eine pädagogische Anthropologie, benötigen. Da ich diese beim Leser nicht voraussetzen kann, sind meine Ausführungen zugleich eine Einführung in diese Thematik. Mittlerweile besteht die Waldorfpädagogik mehr als einhundert Jahre, ihre Früchte sind allgemein bekannt und wirken auf viele Menschen anziehend. Wir dürfen es daher auch wagen, hier einige ihrer Grundlagen im Zusammenhang mit der Entwicklung des Kindes und Jugendlichen darzustellen.

Vergleichen wir einmal die Waldorfpädagogik mit einem reifen Obstbaum, der aus Wurzel, Stamm und Krone mit Blättern und Früchten besteht. In der Öffentlichkeit weiß man von den Früchten, die bekanntlich einige genießen, andere bestaunen, wieder andere ablehnen, weil sie anderes Obst bevorzugen. Wurzel und Stamm sind zwar lebensnotwendig und unentbehrlich, finden aber im Allgemeinen beim Betrachten eines Obstbaumes kaum Beachtung. Wenn wir uns der Waldorfpädagogik zuwenden, ist die «Menschenkunde», die Anthropologie, dem Stamm vergleichbar, und die Geisteswissenschaft oder Anthroposophie entspricht den Wurzeln unter der Erde. Ohne diese könnte auch die Waldorfpädagogik nicht leben, der «Baum» müsste verdorren.

Ich bin dem Verlag sehr dankbar, besonders dem Verleger Jean-Claude Lin für die wiederholte Anregung zum Schreiben und dem Lektor Martin Lintz, der ein drittes Mal alles so bearbeitet hat, dass es gedruckt werden kann. In Hamburg war es wieder mein Freund Rolf Speckner, der alle Texte gründlich durcharbeitete und mir wertvolle Anregungen gab. Gemeinsam veranstalten wir seit Jahren Einführungskurse in die Anthroposophie. Auch meiner lieben Frau Cynthia habe ich herzlich zu danken. Sie hat mir alle meine Texte vorgelesen, unmögliche Formulierungen kritisch angemerkt und immer wieder viel Mut gemacht weiterzuschreiben.

Ich hoffe, dass das Buch dazu beiträgt, Kinder und Jugendliche aus innerer Begeisterung heraus erziehen und unterrichten zu können.

Hamburg, im Mai 2020

Helmut Eller

Einleitung

Über einzelne Phasen oder auch größere Abschnitte der Entwicklung des Kindes wurde schon so viel geschrieben, dass es vermessen erscheinen mag zu meinen, alles das reiche nicht aus. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass eine ausführliche Gesamtbetrachtung aller Entwicklungsstufen bisher nicht vorgenommen wurde. Das Gleiche gilt für eine menschenkundliche und anthroposophische Darstellung, ergänzt durch die Antworten des Waldorflehrplans mit all seinen Unterrichtsfächern auf die Entwicklungssituation der Heranwachsenden: Wie ausführlich und gründlich auch all diese Lebensabschnitte in dieser Hinsicht erarbeitet und beschrieben worden sind, steht doch eine umfassende Schilderung noch aus. Eine solche Beschreibung möchte ich im vorliegenden Buch versuchen.

Sofort stellte sich mir auch die Frage, wo ich sinnvollerweise mit der Darstellung beginnen sollte. Da ich beabsichtigte, die Phänomene der einzelnen Entwicklungsphasen möglichst anschaulich zu schildern und sie dann im Sinne von Rudolf Steiners pädagogischer Menschenkunde und Geisteswissenschaft (Anthroposophie) verständlich zu machen, konnte ich nicht erst bei der Geburt des Kindes anfangen. Da von einer Präexistenz des Menschen auszugehen ist, war es sinnvoll, ja sogar notwendig, mit dem Vorgeburtlichen zu beginnen.

Das Wesen des Kindes, das wir als eine unsterbliche und autonome Persönlichkeit auffassen wollen, ergreift aktiv seine Leiblichkeit und macht sie sich in der Kindheit und Jugend schrittweise zu eigen. Dies geschieht in größeren und kleineren Rhythmen, die ineinanderschwingen. Wir werden als einen größeren Rhythmus die ersten drei Jahrsiebte betrachten, also insgesamt einundzwanzig Jahre, und innerhalb eines jeden Jahrsiebts einen kleineren, einen Dreierrhythmus, der uns dreimal als ein «Dreischritt» begegnen wird.

Von Anfang an möchte ich betonen, dass jeder Mensch diese Phasen ganz individuell durchläuft. Die einen haben es etwas eiliger oder neigen zu viel schnelleren Rhythmen, die anderen haben es weniger eilig, lassen sich viel Zeit und gehen durch diese Rhythmen etwas verzögert oder sogar auffallend langsam. In den eingefügten schematischen Zeichnungen zu diesen Phasen wählen wir einen mittleren Wert, sodass sich in der Entwicklung bis zum einundzwanzigsten Lebensjahr drei gleich große Abschnitte ergeben – und sich innerhalb dieser drei Jahrsiebte wiederum drei gleich große Bögen ergeben; mathematisch genau beträgt ein solcher Bogen dann zweieindrittel Jahre. Wir werden sehen, dass mit diesen größeren und kleineren Abschnitten tatsächlich biografische Veränderungen und Einschnitte verbunden sind; allerdings variiert die genaue Dauer und Abfolge dieser Rhythmen in der Entwicklung jedes einzelnen Kindes und Jugendlichen vielfältig. Es wird sich zeigen, dass innerhalb der ersten einundzwanzig Jahre der menschlichen Entwicklung die Entfaltung unserer drei Seelenkräfte, Wollen, Fühlen und Denken, mit diesem Rhythmus, dem Dreierrhythmus, in enger Beziehung steht. In den ersten drei Lebensjahren verbinden wir uns durch hohe Eigenaktivität schrittweise mit diesen drei Kräften, die von da an immer von uns weiterentwickelt werden, am Anfang aber wie ein Urbild für unser weiteres Leben erscheinen.

Im ersten Kapitel wenden wir uns der Tatsache zu, dass einige schwangere Mütter (und auch werdende Väter) bereits vor der Geburt oder sogar vor der Schwangerschaft mit dem Wesen ihres Kindes geistig kommunizieren. Neu ist, dass sie heute den Mut haben, darüber zu sprechen, und dass sie nicht ausgelacht werden.

Seit über einhundert Jahren ist uns durch die Forschungen und Darstellungen Rudolf Steiners bekannt, dass die Individualität eines jeden Kindes seine Eltern schon vor der Geburt kennt, sie innig liebt und zu ihnen hinstrebt, um von ihnen ins Leben geleitet zu werden. Wenn wir allein diese wenigen Gedanken ernst nehmen, spüren wir, dass das für alle weiteren Betrachtungen Folgen hat. Es entstehen konsequenterweise eine Fülle von Fragen, von denen einige wenige hier genannt seien: Wer ist die Persönlichkeit, die da zu ihren Eltern, Geschwistern und Verwandten hinstrebt? Kennen sie sich von früher, aus einem vorigen Leben? Welche Lebensziele hat dann das Kind dieses Mal, wie möchte es sich verwirklichen? Welche Aufgaben stellen sich für uns Erzieher, für uns Lehrer und für den Unterricht in der Schule? Es ergeben sich weitreichende Konsequenzen für den Umgang mit den Kindern; es tauchen die Fragen nach Schicksal und Wiedergeburt auf; es stellt sich die Frage nach dem Sinn des Lebens. Wenn wir am Ende eines Lebens in das «Buch des Lebens» ein neues Blatt einfügen, wird es uns sicherlich interessieren, ob es uns gelungen ist, uns wenigstens ein Stück weiter zu vervollkommnen.

Auf diese umfangreichen Lebensfragen wollen wir wenigstens ansatzweise eingehen, wenn wir nach den Entwicklungsschritten in der Kindheit und Jugend noch einen Blick auf den gesamten Lebenslauf werfen und auch diesen als den ganz großen «Entwicklungsschritt» betrachten. Abschließend wollen wir eine Brücke bauen vom Ende unseres Lebens, vom «Nachtodlichen» hin zum «Vorgeburtlichen», das wir am Anfang dieses Buches in den Blick genommen haben; auf diese Weise schließt sich der Kreis. Denn es ist doch berechtigt zu fragen, was nach dem Tod mit all dem geschieht, was wir uns im Leben an Fähigkeiten erworben, mit Fleiß und hoher Aktivität, vielleicht unter größter Mühsal und Leid abgerungen haben. Dass auch das Gegenteil der Fall sein kann, gehört zur Freiheit des Menschen und wird sicherlich auch eine Rolle spielen, wenn sich der Kreis wieder schließt.

Methodisch wollen wir so vorgehen, dass wir zunächst die ins Auge fallenden Merkmale einer jeden Phase betrachten und dabei auch die jeweiligen charakteristischen Veränderungen anschauen. Nach jedem Dreischritt blicken wir zurück, um das Wesentliche des dargestellten Jahrsiebts mit seinen Entwicklungsschritten zusammenzufassen und diese daraufhin menschenkundlich und geisteswissenschaftlich zu beleuchten und zu verstehen.

Mit jedem dieser Schritte ergibt sich im vorschulischen Bereich die Frage, wie die Erzieherinnen ihn altersgemäß und sinnvoll begleiten können. In der Schule wird bei jeder Phase und den zu ihr gehörenden Schuljahren zu fragen sein, wie der Lehrplan, die Unterrichtsinhalte und die Methodik innig zusammengehören. Fasst man jede einzelne Phase der Kindesentwicklung wie eine Frage auf, so gibt der Waldorflehrplan die treffende Antwort darauf; man kann ihn, zusammen mit der gesamten Unterrichtsmethodik, wie eine Art Kunstwerk auffassen.

Nicht selten wird heute angenommen oder eingewendet, der Lehrplan der Waldorfschule sei doch inzwischen veraltet; schließlich habe Rudolf Steiner ihn schon vor etwa hundert Jahren entwickelt. Aber diese Annahme oder dieser Einwand trifft in dieser Form nicht zu. Tatsächlich wurden von Waldorfpädagogen in den letzten Jahren und Jahrzehnten alle Unterrichtsfächer intensiv in den Blick genommen, veraltete Themen gestrichen, andere ergänzt, erweitert oder ganz neue aufgenommen. Die inzwischen 700 Seiten umfassende, von Tobias Richter herausgegebene Darstellung Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele – vom Lehrplan der Waldorfschule wurde 2016 erneut von einem Team überarbeitet und aktualisiert;2 und dieser Aktualisierungsprozess geschieht fortlaufend. Deshalb habe ich mich bemüht, sämtliche Fächer, die ich beschreibe, damit abzugleichen. Ich freue mich, dass mir das Buch Entwicklungsaufgaben und Kompetenzen. Zum Bildungsplan der Waldorfschule von den drei Kollegen Wenzel M. Götte, Peter Löbell und Klaus-Michael Maurer mit seiner umfangreichen, gründlichen Lehrplanüberarbeitung rechtzeitig für meine die Oberstufe betreffenden Ausarbeitungen in die Hände kam und ich es durcharbeiten und einbeziehen konnte.3 Das gilt auch für die Zusammenfassung der Unterrichtsinhalte in der Unter- und Mittelstufe, die Claus-Peter Röh und Robert Thomas unter dem Titel Unterricht gestalten – im 1. bis 8. Schuljahr der Waldorf-/Rudolf Steiner-Schulen herausgegeben haben.4

Der Beginn des Erdenlebens

Vorgeburtliche Aspekte und Schwangerschaft

1986 wurde in Deutschland ein bemerkenswertes Buch veröffentlicht: Gespräche mit Ungeborenen.5 Die Autoren, Dietrich Bauer, Max Hoffmeister und Harmut Görg, hatten jahrelang versucht, Mütter zu finden, die vor oder während der Schwangerschaft bereits eine intime Beziehung zu ihrem künftigen Kind hatten. Diese Beziehungen und die damit verbundenen Erlebnisse waren unterschiedlichster Art. Viele der Mütter hatten bisher nicht den Mut gehabt, darüber zu sprechen, um nicht ausgelacht oder gar verspottet zu werden. Es fiel manchen von ihnen auch schwer, selbst daran zu glauben, dass solche von ihnen erlebten und empfundenen Dinge möglich sein sollen. Bevor wir uns diesen Darstellungen zuwenden, erscheint es mir wichtig und sinnvoll zu sein, dass wir versuchen, alle Vorurteile auf die Seite zu schieben und uns zugleich völlig ungewohnten Gedanken gegenüber zu öffnen. Es kommt auch nicht darauf an, das Geschilderte einfach zu glauben. Sollte es uns aber gelingen, die Berichte der Mütter zu akzeptieren oder wenigstens für möglich zu halten, werden wir uns konsequenterweise an den Gedanken heranwagen müssen, dass das künftige Kind bereits vor der Schwangerschaft als ein Wesen existiert.

Die Erlebnisse der Mütter und vereinzelter Väter mit ihrem Kind, das sich noch in einem vorgeburtlichen Bereich befindet, sind unterschiedlichster Art. In den meisten Fällen sind es Träume, durch die sich die Kinder ankündigen und nachts, aber auch tagsüber als sogenannte Wachträume, auftreten können. Mitunter sind die Mütter noch gar nicht schwanger, sehen jedoch oder hören bereits den neuen Erdenbürger. Einige träumen den Namen oder hören, wie das Kind mit ihnen spricht, andere haben schon ein Bild vor Augen, wie es aussehen wird. Eine Mutter nimmt sogar wahr, dass jedes ihrer Kinder von einem Engel begleitet wird, und schließlich fanden die Autoren sogar Familien, bei denen die Kinder mit ihren Worten von wiederholten Erdenleben zu erzählen wissen.

Wir zitieren hier einige Passagen aus dem Buch und bringen zunächst Beispiele für prophetische Traumerlebnisse während der Schwangerschaft. (Die Namen der Mütter wurden nicht veröffentlicht, lediglich durch einen Buchstaben gekennzeichnet.)

Frau B.: «Als ich mit meiner Tochter im fünften Monat schwanger war, hatte ich in der Nacht einen Traum, der sich mir stark eingeprägt hat. Ich sah ein Embryo-Gesicht mit großen, offenen Augen. Ganz zarter Flaum wuchs auf seinem Kopf und auf der Haut des Gesichtchens. Es schaute mich an, mit einem unendlich tiefen, friedvollen Blick. Es schien fast zu lächeln, und ohne dass es die Lippen bewegte, fühlte ich es zu mir sprechen. Es gab mir zu verstehen, dass es sich auf mich freute, dass es sich freute, geboren zu werden und in meinen Armen zu liegen. Lange sah dies ungeborene Kind mich an, seine Augen waren voller Liebe. Dann drehte es den Kopf von mir weg, und ich begriff, es war müde und ich sollte es nicht länger stören. Dieser Traum war so lebendig und eindrucksvoll, dass ich ihn nie vergessen werde. – Als meine Tochter geboren war und, wenige Tage alt, in meinen Armen lag, öffnete sie ihre Augen und sah mich an. Es war derselbe Blick, dieselben Augen, die mich damals im Traum angesehen hatten. Unendlich tiefe, weise Augen. Für einen Moment wiederholte sich dasselbe Erlebnis, das ich vorher im Traum hatte.»6

Wir dürfen davon ausgehen, dass das Kind mit der Mutter durch tiefste Liebe verbunden ist.

Eine Frau R. träumte im siebten Monat der ersten Schwangerschaft von der Geburt. Sie sah sich im Krankenhaus liegen, und da kam ein kleiner blonder, blauäugiger Junge auf sie zugelaufen, gab ihr die Hand und sagte: «So, da bin ich.» Seinen Namen wusste sie schon seit dem dritten Monat. Als der Junge ein Jahr und sieben Monate alt war, sah er so aus, wie sie ihn im Traum gesehen hatte.

War es im ersten Beispiel ein im Voraus geträumter Blick, so ist es im zweiten die ganze Gestalt, die sich der Mutter im Traum zeigt. In beiden Fällen sind es nächtliche Träume. Es gibt aber auch die Möglichkeit, tagsüber für ganz kurze Augenblicke zu träumen. Man kann solche Momente «Wachträume» nennen: Es sind für Augenblicke aufleuchtende Bilder. Hier ein Beispiel einer Mutter, die bereits zwei Kinder hat.

Frau P. schilderte, dass sich ihr drittes und später ihr viertes Kind folgendermaßen ankündigten: Sie deckte den Tisch, die beiden Großen saßen daran, und plötzlich saß noch ein drittes Kind dabei. Sie sah es ganz deutlich, allerdings nur für einen Augenblick. Als dieses dritte Kind später im Kinderwagen saß und sie mit ihren dreien auf dem Spielplatz war, «sah» sie plötzlich ihr drittes Kind außerhalb des Kinderwagens, größer geworden, mit den anderen herumlaufen – und: ihr künftiges viertes Kind, das hinterherlief! Die beiden sahen sich sehr ähnlich. Frau P. betonte, dass es kein Traum gewesen sei, sondern dass es am hellen Tag wie ein kurzes Aufblitzen geschah, beim vierten Kind etwa ein halbes Jahr vor der Konzeption.

Frau R. wachte nachts im dritten Monat ihrer zweiten Schwangerschaft plötzlich auf und sah zu ihrem Mann hinüber. Da lag auf ihm ein Baby, groß und rund, mit offenen Augen und einer Nase wie der Großvater. Vor Schreck schloss sie schnell wieder ihre Augen und wagte sie nicht mehr zu öffnen.

In Berlin hatte Herr C. folgendes Erlebnis, noch bevor er seine Frau kennenlernte: Er schildert, dass er wohl im November oder Dezember den sehr arbeitsreichen Tag mit einem erholsamen Spaziergang durch stille nächtliche Straßen unter sternklarem Himmel ausklingen ließ. Mit einem Mal erfüllte ihn eine starke Ahnung, dass aus den kosmischen Weiten, für die der Sternenhimmel äußerer Abglanz in der Sinnenwelt ist, das Wesen eines Kindes zu ihm unterwegs sei. Dies war für ihn umso bemerkenswerter, als in dieser Zeit noch nichts darauf hindeutete, dass er in absehbarer Zeit verheiratet sein würde.

Das Buch berichtet auch, wie Eltern in Träumen vorauserlebten, dass die Kinder, die erwartet werden, nicht bleiben können. In einigen Träumen sind es Blumen, die der Mutter das Kindeswesen ankündigen. Aber im Bild des Verblühens ist schon angedeutet, dass die Kinder nicht hierbleiben, sondern zurückkehren werden in die Welt, aus der sie kommen. Der Schmerz der Eltern wird durch die Erinnerung an den Traum nicht geringer, doch kann er sich wandeln und die Einsicht in die Notwendigkeit eines solchen Geschehens bringen.

Frau E. berichtet, dass sie bei der sechsten Schwangerschaft im Traum ein Waldstück mit Buschwindröschen vor sich sah, die ihre Blätter verloren. Ihr Töchterchen war nicht lebensfähig und starb einen Tag nach dem notwendigen Kaiserschnitt.

Frau W. erzählt von einem Traum während der Schwangerschaft, in dem ihr Kind viel zu dünn angezogen ist. Beim Wickeln muss sie feststellen, dass es ganz kalt ist. Sie merkt, dass sie unachtsam ist, und da fällt ihr das Kind vom Wickeltisch. Beim Aufwachen wird ihr deutlich, dass der Traum ihr bezeugt, dass sie sich nicht genügend für das Kind interessiert. Bald darauf hat sie einen Abgang und macht sich daraufhin Vorwürfe über ihre mangelnde Bereitschaft für das Kind.

Etliche Eltern berichten, dass sie den Namen ihres künftigen Kindes im Aufwacherlebnis erfahren haben. In einem Fall wird der Mutter der Name zugerufen. Frau E. träumt von ihrem zweiten Sohn und will ihm in diesem Traum den Namen geben. Sie will ihn Daniel nennen, aber sie hört in diesem Augenblick eine gewaltige Stimme, die aus düsteren Wolken kommt und ihr zuruft, dass sie ihn nicht Daniel, sondern David nennen soll. Auf diesen Namen wird er dann später auch getauft.

In einem weiteren Bericht ist es ein Mann, der den Namen träumt. Herr S. hat das folgende Traumerlebnis, als seine Frau im vierten oder fünften Monat schwanger ist: Er sieht sich in der unmittelbaren Nähe einer Gruppe von mehreren Kindern stehen, als ein Kind auf ihn zugelaufen kommt. Er hört eine innere Stimme, die ihm sagt, dass dies Nathalie sei, die zu ihnen kommen werde. Tatsächlich bekommt seine Frau dann ein Mädchen.

Im Folgenden wird deutlich der Engel wahrgenommen, der das Kindeswesen bringt und der Mutter den Namen des Kindes nennt. Es ist sinnvoll, die Schilderung hier wörtlich wiederzugeben. Frau K. erzählt: «Es war in einem Dorf in der Nähe von B., dort lebte eine Bauersfrau, und diese kam oft, um Rat zu erfragen, zu meiner Mutter, die in dem Ort als Lehrerin tätig war. Einmal kam sie ganz aufgeregt und sagte: ‹Fräulein, was sagen Sie denn jetzt dazu? Ich war beim Herrn Pfarrer und sagte ihm, dass ich nun noch einmal ein Kind bekomme, einen Knaben. Da sagte der Herr Pfarrer, das könnte ich doch noch nicht wissen, da das Kind doch noch nicht da sei. Nun sagte ich: Herr Pfarrer, ich hab den Engel von meinem kleinen Buben gesehen und der sagte, er solle Max heißen. Darauf der Herr Pfarrer: Nun, gute Frau, das bilden Sie sich doch nur ein, es gibt doch keine Engel, die man sehen kann. Darauf sagte ich: Herr Pfarrer, das können Sie nicht sagen, ich habe immer die Engel meiner Kinder gesehen, und die gleichen sich auch nicht. Jeder sieht etwas anders aus, aber schön sind sie alle. Sie, Herr Pfarrer, haben halt noch keinen Engel gesehen.› Nun fragte sie meine Mutter, was sie denn dazu sage. Meine Mutter beruhigte die Frau und meinte: ‹Natürlich, wenn Sie die Engel sehen, so stimmt es wohl, und seien Sie froh darüber, aber es ist nicht so selbstverständlich, dass alle Leute die Engel sehen!› Ich aber, als kleines Mädchen, hätte gar zu gern mit der Frau gehen mögen, um auch die Engel zu sehen.»7

Es gibt in dem Buch auch Hinweise auf vorgeburtliche Erlebnisse und vergangene Erdenleben. Eine Frau berichtet von ihrem vierjährigen Sohn, der ihr eines Tages sagte, er habe, bevor er geboren wurde, auf dem Dach gesessen und auf sie heruntergeschaut. Herr O. schildert, wie seine dreijährige Tochter Justina «nachmittags, während eines Gewitters in ihrem Bett wie tanzend, in einem aufgeregten, sehr stark emotionalen Zustand, freudevoll, folgende Sätze – kindlich grammatikalisch nicht ganz richtig – ausgesprochen hatte: ‹Ich bin einmal gestorben und habe mich gemacht!› (tanzend, freudevoll) ‹Ich werde einmal sterben, aber ich mache mich wieder!› ‹Wenn ich sterben werde, werde ich zum bunten Schmetterling, zum Bällchen!› ‹Ich habe schon einmal gelebt, ich war gestorben.›»8

Ein Dreijähriger im Gespräch mit seiner Mutter:«‹Mami, wenn ich groß bin, da wirst du wieder klein, gell? Und wie du klein warst, da war ich groß, und weil ich ein Junge bin, darum war ich dein Vater. Fehlt uns bloß noch eine Mutter … Und wie ich klein war und weil ich ein Junge bin, darum bitte ich dich, meine liebe Mami zu werden.›»9 Auf ungewöhnlich bildhafte Weise kann sich eine Schwangerschaft ankündigen, wie das folgende Beispiel zeigt: Einer der Autoren berichtet, eine Frau habe geträumt, dass sie nachts zum unermesslichen Himmelsgewölbe aufblickte. Alsbald sei ihr eine sternähnliche leuchtende Kugel erschienen, die schnell und in spiraligen Kurven zu ihr herabkam. Sie breitete die Arme aus, um sie zu empfangen, als sich plötzlich die Lichtkugel verwandelte und ein kleines Kind in ihren Armen lag. Wenig später wurde die Frau schwanger.

All diese so unterschiedlichen Darstellungen sind ein Hinweis darauf, dass es sich nicht um subjektive, bloß eingebildete Erlebnisse handelt, sondern um reale; die Autoren haben bei ihrer Auswahl auch nur ihnen glaubwürdig erscheinende Erzählungen aufgenommen.

Nehmen wir diese Darstellungen ernst, bedeutet das konsequenterweise: Das Wesen eines Kindes muss bereits vor der Geburt existent sein, ohne eine körperliche Leiblichkeit. Da wir es nicht mit physischen Augen sehen können, müssen wir uns vorstellen, dass es in irgendeiner geistigen Form vorhanden ist und durch einen Erdenleib, den die Eltern dem Kind schenken, später sichtbar werden wird. Auch scheinen die Beziehungen des Kindes zu seinen Eltern etwas anderes zu sein als ein Zufall. Manchen Müttern oder Vätern wird sogar vom herankommenden Kind der Name im Traum verraten. Nehmen wir die obige Erzählung eines Kindes ernst, das vom Wiedergeborenwerden spricht, müssen wir uns obendrein fragen, in welcher Form der Mensch von einem Leben zum nächsten existiert. Das müsste dann ja ebenfalls ein geistiger Zustand sein. Was in dem köstlichen Bericht einer Bäuerin geschildert wird – dass sie den jeweiligen Engel ihrer Kinder geistig geschaut hat und dem Pfarrer freundlich erklärt, er zweifle an der Existenz solcher Wesen, weil er sie selbst nicht schauen könne –, findet ebenfalls durch Rudolf Steiners Forschungen eine Bestätigung. Sie ergeben, dass jeder Mensch von einem Erdenleben zum nächsten von «seinem» persönlichen Engel geführt wird und die Führung auch in diesem Leben fortsetzt. Der Engel kennt den ganzen Lebensplan und auch unsere früheren Erdenleben. Demzufolge sind wir in der geistigen Welt vor der Geburt nicht allein, aber auch während unseres gesamten Erdenlebens nicht!

Rudolf Steiner, der in der Lage war, das Geistige im Menschen, in den Naturreichen, in der Erde wie im Kosmos zu «schauen», und auch deren innere Zusammenhänge geistig zu erkennen, hat in seiner Geisteswissenschaft oder Anthroposophie (= «Weisheit vom Menschen») schon vor über einhundert Jahren in vielen Vorträgen und Büchern seine Forschungen über das Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt geschildert und veröffentlicht.10 In zahlreichen Darstellungen und unter verschiedensten Aspekten hat er herausgearbeitet, dass jeder Mensch ein einmaliges Individuum ist, das im nachtodlichen Leben in einer geistigen Welt das vergangene Leben aufarbeitet, lange in ihr verweilt und sich mithilfe geistiger Wesen, die über dem Menschen stehen (sogenannte «Hierarchien»), auf ein neues Leben mit neuen Zielen sowie alten und auch neuen zwischenmenschlichen Beziehungen vorbereitet.

Greifen wir aus der Fülle von Gedanken, die die Anthroposophie zu dem Wesen und der Bedeutung des Menschen und zu seinem Erdenantritt zu sagen hat, wenigstens einige heraus, dann wird deutlich, wie wenig diese Aspekte von der Allgemeinheit bisher aufgenommen wurden und welche Aufgaben sich stellen, sie ins praktische Leben einzuführen.

Geisteswissenschaftlich gesehen hat jedes Kind vor der Geburt zu seinen Eltern tatsächlich eine Beziehung; ja, es wählt sie sogar aus; es kennt sie aus einem früheren Leben; es liebt die Mutter vorgeburtlich so sehr, dass dadurch in ihr die Liebe zu diesem Kind erwacht, ständig größer, tiefer und schließlich zur echten «Mutterliebe» wird. Zu den Geschwistern, die vorher geboren wurden oder später nachfolgen werden, hat es ebenfalls eine Beziehung, ist einverstanden mit der Reihenfolge des Geborenwerdens, hat freilich auch eine Beziehung zu den weiteren Verwandten, zu dem ganzen Vererbungsstrom, in den es sich hineinbegeben wird. Durch Vater und Mutter kommen zwei sehr verschiedene Vererbungsströme der geliebten Eltern zusammen. Dem Kind wird eine Leiblichkeit geschenkt, die es so gewollt hat, wie gerade diese Eltern sie ihm geben können. In diesen Körper will es eintauchen und möchte ihn im Laufe des Lebens zu etwas ganz Eigenem machen.

Betrachten wir vor dem dargestellten Hintergrund die Schwangerschaft. In dem zitierten Buch Gespräche mit Ungeborenen heißt es: «Vom Anfang der Schwangerschaft an gehen mit dem Organismus der Frau starke Veränderungen vor sich. Schwangere Frauen bekommen einen besonders schönen, harmonischen Gesichtsausdruck. Sie erscheinen uns wie von einem Himmlischen berührt, und so ist es ja auch.»11 Eine eindrucksvolle Beobachtung, über die man sich nur freuen kann!

Ein großes Vertrauen bringt also das werdende Kind seinen geliebten Eltern von vornherein entgegen. Es beruht darauf, dass das Kind voller innerer Hingabe und Liebe ist. Wie gut wäre es, wenn alle Eltern das wüssten, sich vorstellen und für möglich halten könnten! Wir dürfen davon ausgehen, dass das Wesen des Kindes, das wir auch «die Persönlichkeit» oder «das Ich des Kindes» nennen können, seine Eltern und die bereits vor ihm angelangten Geschwister geistig umgibt und von nun an unsichtbar immer bei ihnen ist.

Wie kann sich eine werdende Mutter in der Schwangerschaft ihrem erwarteten Kind gegenüber sinnvoll verhalten, wenn sie die hier dargestellten Gedanken ernst zu nehmen vermag? Einige der in dem Buch zitierten Mütter haben ganz ungeniert mit dem Kind gesprochen, haben ihm erzählt, wo sie sind, was sie gerade tun, was sie noch alles vorhaben, wie sehr sie sich auf das große Ereignis freuen, wie dankbar sie sind, dass gerade dieses Kind zu ihnen kommen will. Man kann dem Kind auch etwas versprechen und vieles mehr, was einem auf dem Herzen liegt. Wir ahnen, wie bedeutsam es auch für das werdende Kind sein muss, wenn die Mutter auf bestmögliche Gesundheit achtet, eine gewisse innere Ruhe findet und um Ausgeglichenheit bemüht ist.

Verfolgt man konsequent den hier dargestellten Gedankengang, öffnet sich auch die Möglichkeit, den Abbruch einer Schwangerschaft anders zu beurteilen. Die Individualität des Kindes verbindet sich nach Rudolf Steiners Angaben bis zum Ende der dritten Schwangerschaftswoche mit der heranwachsenden Leiblichkeit. Daraus können wir folgern, dass durch einen Abbruch nach diesem Zeitpunkt einem Menschen-Ich, das sich zu dem auserwählten Menschenpaar hingezogen fühlt, der Weg zu einer Verkörperung abgeschnitten wird.12 Die Mütter, die einen Abbruch der Schwangerschaft erleben mussten, hatten beispielsweise in einem Traum von verwelkenden Blumen vorausahnen können, dass sich das Kind schmerzlich zurückziehen wird.

Wie dankbar dürfen Eltern und Kind sein, wenn die Mutter eine harmonische Schwangerschaft erlebt und die gesamte Entwicklung harmonisch verläuft! Sie sollten es wie ein Geschenk auffassen. Mitunter aber sieht es ganz anders aus. Es können ja im Laufe der Schwangerschaft Probleme aller Art auftreten – sei es, dass die Mutter sehr krank wird oder einen Unfall hat oder zwischenmenschliche Schwierigkeiten zu seelischen Belastungen führen, ein Sterbefall eintritt usw. Es sind Schicksalsschläge, die wir nicht umgehen können, mit denen wir fertig werden müssen! Wir ahnen, dass diese Dinge auf die Entwicklung des Kindes Einfluss nehmen können, wissen aber, dass wir nichts zu ändern vermögen, und sollten daher auf keinen Fall uns ängstigen, verzagen oder gar verzweifeln.

Das Kind, das sich auf dem Weg zur Erde befindet, ahnt zunächst seine Zukunft und wird sich in das gemeinsame Schicksal mit seinen Verwandten eingliedern, wird sein Schicksal auf sich nehmen wollen und es auf seine Weise tragen. Tritt Unvorhergesehenes ein, fängt die Kunst des Lebens an! Es wäre zwar schön, wenn vieles ideal zuginge, aber die Ideale können wir immer nur mit besten Kräften anstreben, werden sie aber nie ganz erreichen – wenn es wirklich große Ideale sind.

Mehr und mehr nähern wir uns dem Augenblick der Geburt. Der Arzt hat den Termin genau vorausberechnet, kann heute auch schon sehr früh den Eltern sagen, ob es ein Junge oder ein Mädchen sein wird. Dennoch: die Geburtsstunde müssen wir eigentlich abwarten. Rudolf Steiner verdanken wir den Hinweis, dass das Kind die Geburt selbst einleitet, die Wehen der Mutter bewirkt und somit den Weg zur Erde antritt. Und wie steht es mit dem Horoskop? Spielen die Konstellationen am Himmel eine Rolle oder nicht? Manche Menschen verstehen bis ins kleinste Detail ein Horoskop zu lesen und zu deuten. Geisteswissenschaftlich gesehen will der Mensch dann geboren werden, wenn sich am Himmel die Konstellation einstellt, die er benötigt, um seine Aufgaben, die er sich vorgenommen hat, erledigen zu können.

Kurz vor der Geburt – das wussten bereits die Griechen zu schildern – darf der Mensch einen Blick auf seinen gesamten Lebenslauf werfen. Skizzenhaft können wir uns das vorstellen, was der Mensch in diesem Augenblick geistig schaut. Es sind Ziele, bedeutende Lebens- und Schicksalssituationen, die sich bildhaft vor den geistigen Blick stellen; man schaut voraus, welchen Menschen man wiederbegegnen wird, welche man neu kennenlernt; wann Freude und Leid, wann Widerstände sich in den Weg stellen werden und wann fröhliche und schwierige Situationen auftreten, die es zu meistern gilt. Was wir alle in diesem Augenblick erleben, wird nicht dem Gedächtnis einverleibt, sondern darüber breitet sich der Schleier des Vergessens. Die Griechen sprachen davon, dass die Seelen, um wiedergeboren zu werden, Wasser aus dem Fluss der Unterwelt, der «Lethe», trinken mussten, um das Erlebte vergessen zu können. Durch das Vergessen-Können gehen wir unbefangen auf alles zu, dürfen uns frei fühlen und aus uns heraus entscheiden und handeln.

Die Geburt

Die Länge der Schwangerschaft steht im Zusammenhang mit einem Mondrhythmus, und zwar mit dem ungefähr 28 Tage dauernden «siderischen Rhythmus», der auch bei der Regel der Frau eine große Rolle spielt. Gegenüber dem uns geläufigen Monatsrhythmus von 30 oder 31 Tagen und der bekannten Ausnahme im Februar beträgt die Länge des sogenannten «Mondmonats» ungefähr 28 Tage. Die Geburt des neuen Erdenbürgers kann im Allgemeinen nach zehn Mondmonaten – von der letzten Regel an gerechnet – erwartet werden, doch verschiebt sich der tatsächliche Geburtstermin oft individuell nach vorn wie nach hinten.

Die Wesenheit des Kindes, begleitet von den höheren Wesen, mit denen es bisher in der geistigen Welt zusammen war, hat diesen Zeitpunkt gewählt und möchte, wie erwähnt, dann die irdische Welt betreten, wenn am Himmel die Sonne, der Mond und die Planeten so stehen, wie es seinen geistigen Absichten entspricht; diese kündigen sich im Horoskop an oder spiegeln sich in ihm wider. Wir können also sagen: Unser Geburtshoroskop ist die von uns und unseren geistigen, göttlichen Begleitern gewählte Zeigerstellung der Weltenuhr für den Antritt unseres Erdenweges. Wir werden also nicht fremdbestimmt, sondern haben vor der Geburt unter Anleitung der geistigen Schicksalsmächte an der Auswahl unseres Geburtszeitpunktes mitgewirkt. Folglich ist es unser eigenes Schicksal; aber manchmal wollen wir diese Tatsache nicht wahrhaben, weil es uns schwerfällt, mit dem Leben fertig zu werden. Dann kann es eine große Hilfe sein, wenn wir lernen, die Schwierigkeiten zu akzeptieren, sie anzupacken und dabei dem «Herrn unseres Schicksals», der uns nie verlässt, volles Vertrauen zu schenken. Es gibt übrigens ein geistiges Gesetz, das lautet: Es wird keinem Menschen mehr zugemutet oder auferlegt, als er bewältigen kann.

Nicht alle Kinder kommen pünktlich, manche haben es eilig und kommen früher, andere lassen sich Zeit und erscheinen deutlich nach dem errechneten Datum. Viele Kinder treten den Weg ohne große Hilfe an, andere benötigen umfangreiche Hilfe, und manche lassen sich holen. Die Zahl der Geburten per Kaiserschnitt hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Nicht alle davon sind medizinisch notwendig und wären durchaus vermeidbar; der tiefergehende Aspekt einer «selbstbestimmten» Geburt, bei der die geistige Individualität des Kindes den Zeitpunkt seines Erscheinens selbst auswählen darf, wird bei einer Entscheidung für oder gegen Kaiserschnitt in der Regel leider nicht mit einbezogen.

Zu den Kindern, die es sehr eilig haben und scheinbar kaum abwarten können, in die Welt zu kommen, zählt meine eigene Tochter. Sie kündigte durch ungefähr um 14 Uhr einsetzende Wehen an, dass es bald so weit sein sollte, und als ich die Hebamme anrief und ihr den derzeitigen Zustand meiner Frau schilderte, meinte sie genau zu wissen, dass es noch lange dauern werde. Ja, sie habe genügend Zeit, um 18 Uhr noch zu ihrem Nähkurs zu gehen, und war sich sicher, dass ich die Rufnummer von dort nicht bräuchte. (Das war 1962, lange bevor es Handys gab.) Aber wie gut, dass ich darauf bestanden hatte, die Telefonnummer zu bekommen! Ich musste die Hebamme dort anrufen, sie war gerade bei ihrem Kurs angekommen und hatte noch nicht einmal Nadel und Faden ausgepackt. Sie erschrak, als ich den derzeitigen Stand mitteilte, und sagte nur: «Ich komme! Stellen Sie schnell einen Kessel mit Wasser auf den Herd und lassen Sie es heiß werden!» Sie raste mit ihrem nicht gerade sehr schnellen Auto, einer «Ente», los und traf eine Viertelstunde vor der Geburt ein! Dabei hatte sie keineswegs leichtsinnig handeln wollen: Aus Erfahrung wusste sie, dass in Hamburg die Babys gern mit dem «auflaufenden Wasser», also mit der Flut, zur Welt kommen, und wenn dieser Zeitpunkt verstrichen ist, kann man gewöhnlich etwa einen halben Tag warten, bis die nächste Flut eintritt. Sie schaute also immer in den sogenannten Tidenkalender. Die Tatsache, dass Ebbe und Flut häufig bei der Geburt der Hamburger Babys eine Rolle spielen, bestätigte uns auch eine weitere Hebamme. Dankbar blicke ich darauf zurück, dass ich bei der Geburt dabei sein durfte.

Ebenso wie die Wehen nur kurze Zeit dauerten, war auch der anschließende Geburtsvorgang unserer Tochter von sehr kurzer Dauer. Sie hatte es eilig – welch eindrucksvolle Geste! Interessanterweise hat sich in all den weiteren Jahren immer wieder gezeigt, dass sie es sehr eilig hat, dass sie energisch, tatkräftig und mutig vorangeht, alles zielstrebig anpackt. Kurz gesagt: Wie sie die Welt betreten hat, spiegelte sich später in ihrer Lebensweise wider! Eine interessante Beobachtung, über die es nachzudenken gilt: War dies bei meiner Tochter eine Ausnahme oder sollte die Art und Weise, wie ein Kind zur Welt kommt, zugleich eine charakteristische Aussage über sein Wesen sein?

Andere haben es hingegen gar nicht eilig, sondern lassen sich vor der Geburt Zeit, eventuell sogar so viel, dass sie geholt werden müssen. Auch bei etlichen dieser Kinder können wir in ihrem weiteren Lebenslauf beobachten, dass sich das Motiv der Geburt in so manchen ihrer Verhaltensweisen widerspiegelt. So lassen sich etwa beim Geburtsgeschehen bereits erste Andeutungen vom hauptsächlichen Temperament des Kindes beobachten – in dem Sinne, wie ich es in meinem Buch über die vier Temperamente dargestellt habe.13

Wir können fragen, wie es zu den Wehen kommt, und finden eine Antwort in der neueren Forschung, die besagt, dass der Beginn der Wehen vom Kind selbst ausgeht, und zwar durch Hormone. Das Kind gibt also das Zeichen zur bevorstehenden Geburt. Mutter und Kind sind bis zum entscheidenden Augenblick eine Einheit, und man kann in dem, was nun zu geschehen hat, eine «existenzielle Krisensituation» sehen. Das Kindeswesen, das mit der geliebten Mutter neun Monate eins war, muss sich von ihr trennen, ihr Schmerzen bereiten, sich durch den Geburtskanal zwängen und anschließend die so lebenswichtigen Funktionen wie Atmung und Blutkreislauf selbst übernehmen. Mit dem ersten Schrei setzt das eigene Atmen ein, und dann beginnen die weiteren Veränderungen. Der Schrei, der ja ein Akt des Ausatmens ist, setzt voraus, dass vorher die Luft in die Lungen eingeströmt sein muss, die Lungenflügel damit gefüllt, sie gleichsam aufgeblasen hat und nun der erlösende Atemzug, das Ausatmen, aus eigener Kraft zu leisten ist – als Schrei. Während eines Seminars machte mich eine Mutter darauf aufmerksam, dass all ihre Kinder nicht geschrien, sondern ganz unmerklich ausgeatmet hätten. Das haben mir inzwischen auch andere Menschen bestätigt. Anstatt «Schrei» könnte man auch «Ruf» sagen, denn das Wort «schreien» hat einen etwas unschönen Beigeschmack. Das Kind lässt uns wissen, dass es da ist, gibt uns Kunde von seinem Eintritt ins äußere Dasein durch diesen Ruf.

Von nun an atmet das Kind durch die eigene Lunge ein und aus. Auch Herz und eigener Blutkreislauf beginnen ihre Aufgaben zu übernehmen, nachdem durch Abtrennen der Nabelschnur zur Mutter die Verbindung endgültig unterbrochen ist. Das Kind atmet jetzt die gleiche Erdenluft wie wir alle, wird dadurch zum Erdenbürger. Bisher wurde es über die Nabelschnur von der Mutter ernährt, und auch alle Ausscheidungen fanden auf diesem Wege statt. Welch ein gewaltiger Umbruch hat in so wenigen Minuten zu geschehen und welch große Herausforderung bedeutet es für ein Wesen, das gerade diese neue Welt betritt! Aus einem Wasserwesen wird ein Luftwesen.

Wilhelm zur Linden macht auf etwas aufmerksam, das uns noch mehr staunen lässt, welch großartige Veränderungen in dem Neugeborenen vorgehen müssen, um den Lebensweg antreten zu können: «Was wir bis jetzt schilderten, waren die mehr äußerlichen Geschehnisse; nun aber erfolgen noch weitere gewaltige Umstellungen und Veränderungen im Innern des kindlichen Körpers, die darauf hinweisen, wie grundlegend anders die Lebensbedingungen vor der Geburt im Vergleich mit den jetzigen waren. Der erste Atemzug der Lunge hat zunächst eine erhebliche Umleitung des Blutkreislaufes bewirkt. Bisher strömte das Blut zwar auch durch den kindlichen Körper und trug die von der Mutter durch die Nabelschnur einfließende Nahrung an alle seine Organe heran, aber der Blutstrom umging die Lunge, die ja bis dahin noch nicht entfaltet und tätig war. Jetzt kommt der Lungenkreislauf in Gang, die Zwischenwand zwischen dem rechten und dem linken Herzen schließt sich, und das Blut erfrischt sich in der Lunge durch die Atemluft und strömt dann durch den ganzen Körper weiter. Wie der Blasebalg des Schmiedes das Feuer, so facht das mit Sauerstoff beladene Blut die ganzen Lebensprozesse an. Dadurch erst beginnt im Organismus das selbstständige Leben und Wachsen.»14

Betrachten wir noch einmal unter einem anderen Gesichtspunkt den Augenblick, in dem das Kind das Licht der Welt erblickt und noch an der Nabelschnur hängt. Muss dies für das Kind nicht ein gewisses Schockerlebnis sein, an das oft gar nicht gedacht wird? Das Baby durfte ja bisher monatelang in wohliger, gleichbleibender Wärme leben, liebevoll umhüllt von all den mütterlichen Organen, die mitgeholfen haben, diesen Leib aufzubauen und durchzugestalten! Es kannte nur die Temperatur von 36 – 37 °C und muss nun nach dem Geburtsvorgang zum ersten Mal mit der Raumtemperatur, die bei Weitem nicht an die vorherige Temperatur heranreicht, vorliebnehmen. Das kommt gewissermaßen einem Kälteschock gleich. Zwar wird ihm von der Mutter eine schützende Wärmehülle geschenkt, die man Käseschmiere (auch Fruchtschmiere, medizinisch: Vernix caseosa) zu nennen pflegt, doch kommt es auf die Geburtshelfer an, wie sie diese weiße Hülle einschätzen und sie dementsprechend behandeln, ob sie sie schneller als nötig beim Baden abwaschen wollen oder sie dem Kind erst einmal auf der Haut – wenigstens teilweise – belassen. Es muss das Kunststück vollbracht werden, so schnell wie möglich dafür zu sorgen, dass das Neugeborene eine neue Wärmehülle bekommt. Welch wohliges Gefühl für das Kind, wenn es möglichst bald danach gewogen, gemessen, gebadet, gehegt und gepflegt, in Windeln gewickelt und in warmer und weicher Kleidung in den Armen der geliebten Mutter an ihrer Brust die für es zubereitete Milch saugen darf!

Kann man schon darüber staunen, was das Kind in den wenigen Augenblicken alles gelernt und aus eigener Kraft bewirkt hat, so ist doch in diesem Augenblick erstaunlich, dass das Kind sich im Nu die Fähigkeit «aneignet», saugen zu können. Forschungen haben ergeben, dass der Saugreflex im selben Augenblick einsetzt, wenn die kleinen Händchen liebevoll die Brust der Mutter berühren und zugleich die Lippen die Brustwarzen umfassen. Wie sollte man auch einem Kind mit Worten erklären können, wie es das Saugen zu bewerkstelligen hat?! Die notwendige Aktivität führt freilich auch zur Ermüdung, sodass unser neuer Erdenbürger baldmöglichst den erholsamen Schlaf braucht und schließlich in sein warmes Bettchen darf.

Hin und wieder hört man davon, dass junge Mütter, die sich während der Schwangerschaft nicht auf ihr zu erwartendes Kind freuen konnten und es in dieser Zeit am liebsten gleich nach der Geburt weggeben wollten, ganz verwandelt sind, wenn sie nach dem Geburtsvorgang ihr Kind in die Arme gelegt bekommen. Es erwacht plötzlich die Mutterliebe – wie eine Antwort auf die Liebe, mit der das Kind sich vorgeburtlich nach ihr sehnte.

Natürlich ist es auch für die Väter eine ganz wichtige, elementare Erfahrung, bei der Geburt dabei zu sein; heute ist das in unserer Gesellschaft ja zum Glück die Regel. Und auch für Mutter und Kind ist es bedeutsam, wenn der Vater am ganzen Geschehen regen Anteil nehmen kann.

Das erste Jahrsiebt

Das erste Lebensjahr: sich aufrichten und gehen lernen

Es kann uns erstaunen, dass das Kind von Geburt an drei besonders wichtige, zum Teil lebensnotwendige Fähigkeiten beherrscht: eine, die sich vor allem im Bereich des Kopfes abspielt – das Saugen –, eine weitere, die in erster Linie mit dem Rumpf zu tun hat – das Atmen –, und eine Fähigkeit, die sich in den Gliedmaßen zeigt – das Strampeln. Auf Saugen und Atmen haben wir bereits einen Blick geworfen. Dem Saugen geht als allererstes eigenes Tun das Atmen voraus. Fragen wir eine Mutter, die vielleicht sogar mehrere Kinder zur Welt gebracht hat, ob ein Kind zuerst ein- oder ausgeatmet hat, wird sie oft antworten, nicht sicher zu sein. Die Lungen dürfen ja im Mutterleib noch nicht aufgebläht sein und den Oberkörper während der Geburt vergrößern. In unsere fünf Lungenflügel also strömt, ja presst sich die Außenluft unmittelbar nach dem Verlassen der mütterlichen Hülle hinein, füllt sie bis zum Äußersten mit Luft, und nun hat die Ausatmung zu erfolgen: unsere erste eigene Tat! Dies geschieht mit einem kräftigen «Schrei», den wir, wie erwähnt, auch einen «Ruf» nennen können. Das Kind ruft uns zu, dass es da ist! Zugleich lässt es die eingeatmete Luft nach außen entströmen. Von dem Moment an atmen wir ein ganzes Leben lang, ohne darauf achten zu müssen, und im Augenblick des Todes ist das Letzte, was wir vollziehen, ein Ausatmen – zugleich ein Aushauchen unserer Seele. Die dritte Tätigkeit ist schließlich das Strampeln mit den Gliedmaßen, es ist unsere gesamte Beweglichkeit, die damit zusammenhängt.

Wie wir noch sehen werden, hängt unser ganzes Leben sehr stark von diesen drei Fähigkeiten ab. Ohne das Atmen sind wir gar nicht lebensfähig. Wenn wir den Prozess des Einsaugens nicht beherrschen, sind wir nur bedingt in der Lage, das Leben zu meistern. Auch die Bewegungsfähigkeit unserer Gliedmaßen ist entscheidend für das weitere Leben; allerdings gibt es, wenn wir uns nicht oder nur bedingt bewegen können, dennoch durch die Hilfe anderer Menschen viele Möglichkeiten, ein sehr sinnvolles Leben zu führen.

Betrachten wir zunächst das ganze erste Lebensjahr unter dem Gesichtspunkt, wie sich das Kind in einem Dreischritt aus eigener Kraft und eigenem Antrieb aufrichten lernt und welche Fähigkeiten es sich zugleich aneignet. Anschließend sehen wir uns die einzelnen Abschnitte noch unter weiteren Gesichtspunkten an.

Anfangs ist das Neugeborene ein überwiegend schlafendes Wesen, also ganz der Horizontalen hingegeben. Im Laufe der ersten drei Monate beginnt es sich allmählich die Senkrechte zu erobern, sich mehr und mehr die aufrechte Haltung anzueignen – ein außerordentlicher Willensprozess. Ob es auf dem Rücken oder dem Bauch liegt, immer wieder möchte es seinen Kopf heben, auch wenn es sich unter Umständen sehr anstrengen muss. Die Anstrengung ist nur von kurzer Dauer, dann plumpst das Köpfchen wieder ins Kissen zurück. In demselben Zeitraum, in dem sich das Kind um diesen ersten Schritt des Aufrichtens bemüht, können wir beobachten, wie es sich die Fähigkeit des bewussten Blickens erwirbt. Bis dahin hat es zwar immer wieder die Augen geöffnet und dabei das Köpfchen in verschiedene Richtungen gedreht, aber zu dem, was wir «blicken» nennen, war es noch nicht in der Lage.

Wenn auch jedes Kind seinem individuellen Entwicklungsrhythmus folgt, lässt sich doch ein allgemeiner Rhythmus danebenstellen, den bereits der englische Psychologe William Stern entdeckte15 und der trotz der gegenwärtigen Beschleunigungstendenzen ein immer noch gültiges Entwicklungsgesetz darstellt und berechtigte Anhaltspunkte bietet. Für diesen ersten Akt des Sich-Aufrichtens und – in Verbindung damit stehend – des Blickens können wir etwa ein Vierteljahr ansetzen. Wir wissen natürlich, dass es Kinder gibt, die es eiliger haben, aber auch solche, die alle Schritte langsamer vollziehen.

Während eines zweiten Vierteljahres versucht das Kind, sich weiter aufzurichten und während dieser Zeit auch das Sitzen anzueignen. Welch freudiges Ereignis, wenn es ihm zum ersten Mal aus eigener Kraft heraus gelingt, sich am Geländer oder Stuhl hochzuziehen und im Sitzen die Welt zu betrachten! Die Augen erblicken ein schönes Spielzeug, die Hände wollen danach greifen – aber siehe da: Das Ergreifen muss auch erlernt und immer wieder geübt werden. In diesem zweiten Zeitraum lernt das Kind, Blick und Griff zu koordinieren.

Hierzu ein Beispiel: Meine Tochter lag in jener Zeit in der Wiege, und ich wunderte mich darüber, wie lange sie ständig die Arme senkrecht hochhielt, sind doch wir Erwachsene daran gewöhnt, dass in solcher Position unsere Arme sehr schnell müde werden. Die Arme wedelten hin und her, wie Pflanzen im Wind, und sie versuchte, immer wieder mit ihren Augen diesen Bewegungen zu folgen. Gelang es ihr, gab sie vergnügte Geräusche von sich, quengelte aber immer wieder, wenn die Augen nicht schnell genug den Gegenstand erblicken konnten, den die Hände ergriffen hatten.

Man kann sagen: Das Kind, der «Säugling», ist in dieser Phase auch zu einem «Sitzling» und zu einem «Greifling» geworden. Dabei hat sich das Kind aus eigener Willensanstrengung ein Oben–Unten und ein Rechts–Links als Raumkoordinaten erworben.

Etwa im Zeitraum des dritten Vierteljahres wird der Drang, sich aufzurichten, zusehends stärker. Die inneren Willenskräfte drängen dazu, die Senkrechte zu erobern. Wo ein Geländer, ein Stuhl oder Tisch so nahe ist, dass man dort anfassen kann, greifen die kleinen Hände danach, und das Kind versucht, sich hochzuziehen und auf die eigenen Beine zu stellen. Immer wieder wird geübt. Welch ein Glücksgefühl überkommt das Kind, wenn es ihm schließlich gelingt! Bei den meisten ist das gegen Ende jenes Zeitraums, nach etwa neun bis zehn Monaten, der Fall. Das Bedürfnis, sich aufzurichten, kündigt sich bei vielen Kindern schon früh an, und dass der Wille zu dieser Aufrichte tief verankert ist, zeigt sich andeutungsweise schon dann, wenn sich, bald nach Beginn des Lebens, das Neugeborene beim sogenannten Schreitreflex in die Senkrechte stemmt und die Beine bewegt. Stellt man das Kind vor sich auf den Wickeltisch, gewissermaßen auf die Beine – wobei die Füße nur schwach den Tisch berühren –, kann es reflexartig Schreitbewegungen ausführen und sich für einen Augenblick in die Höhe stemmen. Was später nach entsprechender Übung aus eigenen Kräften zur selbst errungenen Fähigkeit wird, ist hier bereits durch einen Reflex angelegt, der nach etwa drei Monaten verschwindet. Die Beine können allerdings diese Aufgabe erst erfüllen, wenn sie in dem erwähnten dritten Abschnitt, nach etwa neun bis zehn Monaten, zu kräftigen «Säulen» werden; sie vermögen dann das Kind durch das ganze Leben zu tragen.

Bis zu diesem Zeitpunkt hat das Kind mit aller Kraft das «Oben–Unten» und das «Rechts–Links» errungen, und nun fehlt noch die dritte Raumkoordinate, das «Hinten–Vorn», der Wille, sich in den Raum hineinzubegeben. Der innere Drang ist da, auch wenn die Beine das Tragen des kleinen Körpers noch nicht leisten können. Aber das Kind weiß sich zu helfen! Weiterhin übt es immer wieder das Stehen. Um dann woandershin zu kommen, verlässt es die errungene Senkrechte, geht runter auf den Boden und bemüht sich, auf den Knien krabbelnd, dem Bauch robbend, dem Hosenboden rutschend, auch kriechend und rollend, sein Ziel zu erreichen.

Wieder vergeht einige Zeit, in der das Kind beim Aufrichten und Stehen immer sicherer wird. Es lernt nun auch die Beine zum Gehen zu gebrauchen, und mit großem Eifer und rechter Freude übt es das, wobei es sich zunächst an Stühlen, Tischen, Schränken, Wänden festhält und sich an ihnen entlang fortbewegt oder besonders gern die Hand der Mutter anfasst und sich dort am sichersten fühlt. Im Allgemeinen gegen Ende des ersten Jahres – auch wenn der Zeitpunkt individuell ganz verschieden ist – kommt der große Tag, an dem es gelingt, sich vom sicheren Halt zu lösen und ohne Hilfe auf das Gegenüber zuzugehen. Haben es die Kinder bei ihrem ersten selbstständigen Gehen geschafft, dort, bei einer anderen Person, anzukommen, jauchzen sie vor Freude und sind überglücklich. Welch ein Erlebnis für eine Mutter, wenn ihr Kind mit den ersten Schritten des Lebens gerade auf sie zuläuft und ihr beglückt in die Arme fällt!

Die Willenskräfte unseres Neugeborenen haben bewirkt, dass ohne jede moderne Gehhilfe in Form von Geräten, die das Umfallen verhindern sollen, die Aufrichte erlangt und danach aus eigener Anstrengung das Gehen erlernt wurde. Ist das Kind hier und da einmal «hingeplumpst» und hat vermutlich auch dabei geweint, so hat dieses Wesen, das bisher in einer anderen Welt leben durfte, wichtige irdische Erfahrungen machen dürfen, die zum Ergreifen des irdischen Leibes dazugehören und aus denen es etwas lernen kann.

Nach der Geburt meiner Tochter wohnte in unserem Nachbarhaus eine Familie mit einem etwa gleichaltrigen Kind, das nach dem Gehenlernen besonders gern im Garten die dort vorhandenen Stufen hinunterstieg – aus Freude an diesem Tun und an dem inneren Erlebnis, das ihm dabei zuteilwurde. Die Mutter blieb auf der Terrasse stehen, verfolgte mit ihren Blicken ängstlich jeden Schritt und rief dem Kind immer wieder zu – fast auf jeder Stufe: «Pass auf, dass du nicht fällst!»

Nun, das Kind fiel recht oft hin – und ganz gewiss gerade wegen der ständigen Ermahnungen, die es immer mehr verunsichern mussten. Vertrauen in die Persönlichkeit dieses Kindes und sein so interessantes Bedürfnis, die Stufen des Gartens selbstständig bewältigen zu lernen, wäre hier hilfreich und notwendig gewesen.

Immer wieder wird hervorgehoben, dass der Mensch in den ersten drei Jahren mehr lernt als irgendwann später im Leben. Welcher Fähigkeit verdankt er in dieser Zeit die so bewundernswerte Möglichkeit des Lernens? Der Fähigkeit der Nachahmung – und der Tatsache, dass das kleine Kind durch das Vorbild der Erwachsenen und größeren Geschwister lernt. «Vorbild und Nachahmung» sind die ersten Zauberworte für die Pädagogik. Was wir Erwachsene vorleben, machen uns die Kinder nach. Voller Hingabe ahmen sie die Eltern nach, schlüpfen innerlich in sie hinein und ergreifen von innen jegliche Art von physischer, seelischer und geistiger Bewegung. Das werden sie ungefähr sieben und einige sogar neun Jahre lang tun. Nicht selten kommt es vor, dass sich an der Gehweise eines Kindes die besondere, manchmal eigentümliche Gangart der Mutter oder des Vaters zeigt, die es sich offensichtlich abgeschaut und aneignet hat, vielleicht sogar lange beibehält.

Jedes Kind braucht in seiner Umgebung Menschen, um das Sich-Aufrichten und das Gehen erlernen zu können. Es gibt tragische Beispiele, an denen uns dies deutlich werden kann:16 In Singapur wurden in den Dreißigerjahren zwei Kinder im Wald entdeckt, die nach ihrer Geburt in der Wildnis ausgesetzt worden waren und von Wölfen gefunden, gesäugt und aufgezogen wurden. Als man sie fand, liefen sie auf allen vieren, konnten sich nicht aufrichten und auch nicht sprechen. Sie waren so flink wie ihre Vorbilder, die Wölfe, und liefen schneller auf ihren Armen und Beinen, als wir es im Wettlauf tun könnten. Alle Geräusche, die an ihr Ohr gedrungen waren, also auch das Heulen der Wölfe, Zwitschern und Schreien der Urwaldvögel, Grunzen, Knurren, Jaulen und Brüllen der anderen Tiere, konnten sie einwandfrei nachmachen, ja es waren ihre einzigen Verständigungszeichen. Man nahm sie mit, brachte sie unter Menschen und machte interessante Erfahrungen, die uns an dieser Stelle zum Verständnis hilfreich sein können. Nach einiger Zeit versuchten sie beide, sich aufzurichten, konnten es aber nicht bis zu einer Senkrechten bringen, da ihre Wirbelsäule, die anfangs lediglich verknorpelt und daher biegsam ist, inzwischen der bisherigen, horizontalen Körperhaltung entsprechend verknöchert war. Eines der Kinder verstarb bald darauf, und über das andere Kind werden wir Weiteres erfahren, wenn wir auf das Sprechenlernen blicken.

Inzwischen hat man etliche Kinder aufgefunden, die ausgesetzt und von Tieren aufgezogen wurden: Außer von Wölfen waren es vor allem Bären und Füchse, die Säuglinge wohlbehütet aufnahmen, säugten und gedeihen ließen. All diese Kinder fanden nur in begrenztem Maße innere Aufrichtekräfte und lernten dementsprechend nur eingeschränkt das Gehen, Sprechen und Denken, die drei grundlegenden Fähigkeiten des Menschen. Und sie lernten diese Fähigkeiten erst, nachdem sie es geschafft hatten, sich am menschlichen Vorbild zu orientieren.

Fassen wir die bisher betrachteten Entwicklungsschritte zusammen: Im Kopf, im Rumpf und in den Gliedmaßen bringen wir vor allem drei lebenswichtige Fähigkeiten mit – das Saugen, das Atmen und das Bewegen (Strampeln). Im Laufe des ersten Jahres lernen wir uns in der Gegenwart von Menschen aufzurichten, beginnen dabei mit dem Kopf, ergreifen dann den Rumpf und schließlich die Beine, die zu Säulen werden und uns tragen. Es gleicht einem Akt des Sich-Durchstreckens von oben nach unten. Während dieses Dreischritts erwerben wir uns in jedem der drei Bereiche eine neue Fähigkeit, im Kopf das Blicken, im Rumpf das Greifen der Hände, in den Beinen das Gehen. Dafür werden in der Heilpädagogik oft auch die drei prägnanten Begriffe verwendet: Blick – Griff – Schritt.

Wir haben noch nicht die anderen Reflexe außer dem Saug- und dem Greifreflex erwähnt, urtümliche Bewegungsabläufe, die das Kind von Geburt an beherrscht und vom Arzt bald nach der Geburt überprüft werden. Es ist ein gutes Zeichen, wenn es möglichst alle angeborenen Reflexbewegungen ausführen kann. Lassen wir an dieser Stelle die Mediziner Wolfgang Goebel und Michaela Glöckler zu Wort kommen, die diese ärztlichen Untersuchungen beschreiben: «Berührt man die Wangen des Kindes mit dem Finger, so dreht sich das Köpfchen nach dem Reiz und versucht an ihm zu saugen. Lässt man die Fußsohlen eine Unterlage oder eine Wand berühren, so streckt es den weiter vorn liegenden Fuß von sich weg und beugt den hinteren, sodass nach Wiederholung auf der anderen Seite der Eindruck eines Schreitens entsteht. Legt man seine Finger in die Hand des Kindes, so schließt sich die Faust darum und kann nicht loslassen. Lässt man das Kind im Warmen nackt auf einer Unterlage liegen, so macht es abwechselnde Strampelbewegungen und ausfahrende Bewegungen, die zunächst keine sinnvolle Zuordnung gestatten. Schaut man genauer hin, so erscheinen im Bewegungsspiel Rudimente des Vierfüßlerganges. Erst etwa mit zweieinhalb Monaten beginnen die meisten dieser angeborenen Reflexe zu verschwinden. Das Kind fängt jetzt von sich aus an, die Faust zu schließen, zu saugen, den Kopf zu heben, es hört auf, automatisch zu schreiten, es strampelt weiterhin abwechselnd, die ausfahrenden Bewegungen verschwinden jedoch. Der Verlust der angeborenen Leistungen bedeutet einen wesentlichen Schritt zur Vermenschlichung. Denn das Tier hat die Möglichkeit, aus dem Schreitreflex heraus bald nach der Geburt das Laufen zu lernen. Ein Füllen kann bereits zwei Stunden nach der Geburt mit der Herde mithalten. Der Mensch ist als Säugling noch im Aufbau seines Gehirnes und übrigen Leibes tätig und unterzieht sich einem mühevollen Aufrichte- und Lauflernvorgang. Von daher erklärt sich auch, dass ein zu langes Verweilen der angeborenen Reflexmuster eine Entwicklungsstörung kennzeichnet und der Arzt aufgerufen ist, diese so früh wie möglich zu erkennen.»17

Man könnte von einer Grundausstattung sprechen, die uns die Natur für den Beginn mit auf den Weg gibt. Das Kind arbeitet von nun an unbewusst daran, durch eigene Bewegungsabläufe diese Reflexe zu überlagern, um so mehr und mehr die Herrschaft über den eigenen Leib zu gewinnen. Es sind gleichsam geschenkte Reaktionsverhalten für den Anfang des Lebens, die interessanterweise nach einiger Zeit verschwinden – in dem Maße, wie sich das Kind aus eigener Anstrengung ergreifen lernt, angefangen beim Heben und Drehen des Köpfchens, über den Rumpf mit den beweglichen Armen und greifenden Händen bis in die tragenden Beine und beweglichen Füße. Schließlich hat es die sogenannte motorische Herrschaft über den Körper erlangt. Eine erstaunliche Tat! Beim Krabbeln, Robben, Wälzen, Rollen erübt es dann weitere umfangreiche Bewegungsabläufe.

All diese Bewegungsabläufe muss jedes Kind erlernen, handhabt es aber auf ganz individuelle Weise. Die eine Bewegungsart wird vielleicht sehr langsam und gründlich erübt, eine andere recht schnell oder lediglich flüchtig durchgemacht. Hier zeigt sich, wie das Wesen eines Kindes darum ringt, sich mit der Schwerkraft auseinanderzusetzen und auf seine ihm eigene Weise Einzug in den irdischen Leib zu halten, darin das Gleichgewicht gegenüber den Kräften des Umkreises zu finden und zu halten. Dies können wir als ein erstes Freiheitserlebnis anschauen.

Ist nicht die Entfaltung von Eigenaktivität, das Lernenwollen, der Wille, immer selbstständiger zu werden, das tiefste Bedürfnis des Neuankömmlings? Ist es ihm nicht in der ersten Zeit des Lebens ein ständiges Anliegen, tatkräftig seinen Körper von innen zu ergreifen, um ihn immer geschickter beherrschen zu können? Viele moderne Forschungen fördern Ergebnisse zutage, die zum Umdenken auffordern und deutlich machen, dass das kleine Kind in keiner Weise als passives Wesen angesehen werden kann.

Aber betrachten wir weitere Fähigkeiten, die es im ersten Lebensjahr zu erlernen gilt. Das Kind muss aus eigener Kraft lernen, seine Sinne zu betätigen. Wenn es mit seinen Händchen bald nach der Geburt die Brust der Mutter berührt, beginnt es zugleich, seinen Tastsinn zu gebrauchen, und durch das Wickeln lernt es, die Grenzen seines Leibes und die wohlige Wärme durch seinen Wärmesinn zu empfinden. Dabei lernt es den Duft von Mutter und Vater kennen, und es genießt die Muttermilch; sein Geruchssinn wie auch sein Geschmackssinn werden angeregt. Diese Sinne wird das kleine Kind in den nächsten Monaten und Jahren ständig aktiver und bewusster betätigen. Es nimmt aber auch sein inneres Wohlempfinden oder auch sein Unwohlsein wahr. Gewöhnlich spricht man immer noch von lediglich fünf Sinnen, obwohl die moderne Wissenschaft inzwischen weitere Sinne beschrieben hat. Rudolf Steiner hat in seinen geisteswissenschaftlichen Forschungen insgesamt zwölf Sinne entdeckt und ausführlich dargestellt.18 So nimmt das Kind etwa durch seinen Lebenssinn sein leibliches Befinden wahr und durch den Eigenbewegungssinn die eigenen Bewegungen. Wenn es sich später aufzurichten beginnt, lernt es seinen Gleichgewichtssinn zu betätigen.

Vier Sinne sind es, durch die das Kind aktiv seine Leiblichkeit wahrzunehmen lernt, die sogenannten «Leibessinne» (Tast-, Lebens-, Eigenbewegungs- und Gleichgewichtssinn). Durch Geruchs- und Geschmackssinn verbindet es sich seelisch – zunächst unbewusst – mit der Umwelt. Sehsinn und Wärmesinn gehören ebenfalls zu dieser zweiten Gruppe. Es sind die sogenannten «Seelensinne». Der Gehörsinn mit drei weiteren (Sprachsinn, Ichsinn und Gedankensinn) zählt zu den «Geistesssinnen», die wir an passender Stelle besprechen werden.