Equinox - Jörg Juretzka - E-Book

Equinox E-Book

Jörg Juretzka

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  • Herausgeber: Unionsverlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Privatdetektiv Kristof Kryszinski muss schon auf der Flucht vor der albanischen Drogenmafia sein, um freiwillig den geliebten Ruhrpott zu verlassen und auf dem Luxusliner Equinox anzuheuern. Zwischen den Reichen und Schönen an Bord geben Kryszinski und sein Kumpel Jochen die Borddetektive, ein Job, der die beiden erst einmal so richtig in Feierlaune versetzt. Doch kurz nach dem Auslaufen ist Schluss mit lustig. Der Erste Steward wird enthauptet aufgefunden. Und er wird nicht die einzige Leiche an Bord der Equinox bleiben.

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Seitenzahl: 355

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Über dieses Buch

Privatdetektiv Kristof Kryszinski flüchtet aus dem geliebten Ruhrpott und heuert auf dem Luxusliner Equinox an. Zusammen mit seinem Kumpel Jochen gibt er den Borddetektiv. Schon kurz nach dem Auslaufen sind sie gefordert: Der Erste Steward wird enthauptet aufgefunden. Und er wird nicht die einzige Leiche an Bord der Equinox bleiben.

Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.

Jörg Juretzka (*1955) ist gelernter Zimmermann und baute Blockhütten in Kanada, bevor er sich aufs Schreiben konzentrierte. Sein Krimidebüt Prickel erschien 1998. Für seine Romane wurde er dreimal mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet, 2022 erhielt er für Nomade den Glauser-Preis.

Zur Webseite von Jörg Juretzka.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

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Jörg Juretzka

Equinox

Kriminalroman

Kristof Kryszinski ermittelt (Der fünfte Fall)

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 1 Dokument

Die Erstausgabe erschien 2003 im Ullstein Verlag, Berlin.

© Jörg Juretzka 2015

© by Unionsverlag, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Daniela Pelazza

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30866-4

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

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Version vom 24.06.2024, 02:17h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

EQUINOX

1 – Also, Doktor, was würden Sie sagen?« Ohne eine …2 – Schwer zu sagen, wem die sattere Fahne voranflatterte …3 – 70 % Vol. Ja! Und keines weniger …4 – Ja«, sagte ich. »Ja. Ja, ja, ja.« Ich …5 – Mit aufgenommener Fahrt stabilisierte sich das Schiff rasch …6 – Willkommen im Team«, ächzte Gazella7 – Los, Jochen«, forderte ich lebhaft, »erzähl mir noch …8 – Amok. Ich ging vor wie ein Amokläufer …

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Sämtliche Figuren dieses Romans sind frei erfunden.

1

Also, Doktor, was würden Sie sagen?« Ohne eine Miene zu verziehen, drehte Kapitän Zouteboom den an den Haaren gehaltenen Kopf des Ersten Stewards ein wenig hin und her und schluckte verstohlen, versunken in den mehr als gewöhnungsbedürftigen Anblick. Trotz der straffenden Wirkung des Zugs an der Frisur hingen Kinn und Lider schlaff herunter, die Haut war den Umständen entsprechend fahl, und Sehnen, Muskeln, Adern, Nerven, Teile von Rückgrat, Speise- und Luftröhre baumelten heraus, wo der Kopf bis vor Kurzem mit dem Rest des Stewardkörpers verbunden gewesen war.

»Eindeutig Selbstmord«, konstatierte Bordarzt Köthensieker, beide Daumen in den Gürtel der weißen Hose gehakt, wippte auf Gummisohlen bequem vor und zurück und sog an seiner ausgegangenen Pfeife.

Eindeutig was?

Ich äußerte etwas wie »Wa-Wa-Wa-?«, durchwirkt mit mehr als nur einem Hauch von Zweifel an dieser Diagnose. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie von einem Suizid durch Kopfabhacken gehört. Von keinem erfolgreichen zumindest. Sicher, mit einer Guillotine ginge es, theoretisch, doch davon war hier, am Fundort, zu Füßen des labyrinthischen Gewirrs aus Röhren, Leitungen und stählernen Treppen, das das Innere des Kreuzfahrtriesen zugänglich machte, weit und breit nichts zu sehen. Dafür eine Menge Blut. In allen Tönen, von verschmiertem Rosa bis hin zu diesem Beinahe-Schwarz, wo es sich zu dickeren Pfützen sammelte und zu stocken begann. Das meiste sicherlich auf dem Boden, rings um den kopflosen Leichnam, doch auch an die hellgelb lackierten Wände war einiges gespritzt und über die polierte Edelstahl-Konstruktion des Treppenaufgangs, von wo es wieder auf den in Dunkelgrau gehaltenen Boden troff. Selbstmord. Das konnte der Doktor nicht ernst meinen.

Ein kurzes Schweigen entstand, akzentuiert vom durchdringenden Wummern der beiden riesigen Diesel nur ein oder zwei Schotts entfernt und vom rhythmischen, konvulsivischen Gurgeln, mit dem sich der Erste Borddetektiv der Equinox in eine etwas weiter entfernte Ecke erbrach.

»Wa-Wa-Wa-?«, wiederholte ich, meines Zeichens Zweiter Detektiv und bemüht, wenn auch ohne rechten Erfolg, mich zusammenzureißen und meiner Skepsis Ausdruck zu verschaffen. Da packte mich Antonov am Arm. Antonov, auch genannt »Das Rote Quadrat«. Ein Spitzname, zusammengesetzt aus der Farbe seiner Körperbehaarung und dem Gerücht, seine Größe in Zentimetern entspreche exakt seinem Gewicht in Kilo. Antonov war Chef der Security an Bord und somit unser direkter Vorgesetzter.

»Hör zu, was der Doktor zu sagen hat«, raunte er eindringlich und drückte meinen Arm, als ob er Saft daraus pressen wollte.

»Ein langer, dünner Draht«, sagte der Doktor aufgeräumt, »irgendwo da oben befestigt«, und er nahm extra die Pfeife aus dem Mundwinkel, um mit ihrem S-förmig gebogenen Stiel die zehn Etagen technischen Wirrwarrs hochzudeuten, »am unteren Ende zu einer Schlinge verzwirbelt, diese um den Hals gelegt, von hoch oben heruntergesprungen und ›Zapp!‹«

Die abrupte Geste, mit der er das ›Zapp!‹ begleitete, rang dem Ersten Detektiv in seiner Ecke einen weiteren Schwall ab. Hat einen empfindlichen Magen, der Jochen Fuchs. Immer schon gehabt. Schon in der Schule brauchte man ihn nur auf ein paar weiche Spaghetti in der Mitte seines gerade angebissenen Leberwurstbrötchens aufmerksam zu machen und – Hua!, Bluärrks!, Bröckelhusten meterweit.

»Nun, da das geklärt wäre«, meinte Kapitän Zouteboom und setzte ohne eine weitere Frage den Kopf auf einer der Stahlgitter-Treppenstufen ab, »und wenn die Herren Antonov, Fuchs und Kryszinski nichts einzuwenden haben, wovon ich ausgehe«, fügte er mit einigem Nachdruck hinzu, ehe ich auch nur den Mund aufmachen konnte, »ordne ich, auch um unsere Passagiere nicht zu beunruhigen, eine unzeremonielle Seebestattung in den frühen Morgenstunden an.« Und sich die Hände mit einem blütenweißen Taschentuch abwischend machte er sich, dicht gefolgt vom Doktor und meinem fassungslosen Blick, eilig an den Aufstieg, zurück ins immerwährende Sommerlicht des Nordens.

Ein Mann seiner Besatzung war tot, doch das hatte niemanden zu beunruhigen, am allerwenigsten die zahlenden Gäste. Der in Südafrika geborene Kapitän zur See wusste Schwerpunkte zu setzen. Und einen geschmeidigen Kurs zu steuern.

»Ihr habt den Käptn gehört«, betonte Antonov. »Und damit eines klar ist«, wandte er sich an mich und zerrte ein bisschen an der Front meiner Uniform herum, was mir mindestens so auf den Keks geht wie dieses ewige Am Arm-Packen, »in Anwesenheit der Schiffsleitung bin ich es, und ich allein, der die ›Wa-Wa-Was‹ beisteuert. Kapiert?« Damit ließ er von mir ab, sah bohrend zu Jochen und wieder zu mir, seufzte und begann seinerseits, seine geschätzte Quadratsumme von fünfundzwanzigtausendsechshundert die ächzende Stahlkonstruktion hinaufzuwuchten.

»Jochen«, fragte ich nach einer Weile leise, »verstehst du, was hier abgeht?«

»Antonov«, spuckte Jochen, der in letzter Zeit schon mal gedanklich abschweifte, vor allem, wenn er ein paar Gläser intus hatte, »Fuchs«, spuckte er, wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab und richtete sich mühsam zu voller Höhe auf, »und Kryszinski.« Er spuckte noch mal. »Weißt du, wie wir uns anhören?«, fragte er anklagend. »Wir hören uns an wie ein sozialistisches Joint Venture. Wie eine gescheiterte Mission. ›Antonov, Fuchs und Kryszinski bei Nordmeer-Expedition verschollen.‹ So hören wir uns an.« Und er winkte mir, ihm die Treppe hoch zu folgen, während ich mir noch rasch mit den Fingerknöcheln dreimal seitlich gegen den Schädel klopfte. Ist gut gegen herbeigeredetes Unglück. Sagt man.

Bier. Ich blieb bei Bier. Jochen, den es, wie so viele gute Männer vor ihm, als Folge einer in die Hose gegangenen Liebesgeschichte zur christlichen Seefahrt verschlagen hatte, war da experimentierfreudiger, probierte seinen Kummer jeden Tag mit etwas anderem abzutöten. Rotwein, Gin, Wermut, Magenbitter, Eierlikör. Heute mit, wie es schien, exotisch betitelten Cocktails von schillernder Farbenpracht und überbordender Dekoration. Heather, die grotesk übergewichtige texanische Millionenerbin ihm gegenüber, tat es ihm gleich, und so nach und nach steckten die beiden auch die zwei Berliner an, die mit uns am Tisch saßen und nur auf eine Gelegenheit warteten, sich gehörig einen einzuschütten, um in ihre üblichen, lautstark vorgetragenen Ehestreitereien zu verfallen. Ein schriller Schrei und das Klirren einer zu Boden gegangenen Tablettladung Gläser deutete an, dass es der »Läufige Leopold«, ein zahnloser, im Rollstuhl hockender Kunsthändler aus München, mal wieder geschafft hatte, einer Kellnerin in den Schritt zu greifen. »Die blaue Stunde«, wie es die Bordzeitung liebevoll umschrieb, zog mit Macht herauf.

Der Kellner kam und stellte ungefragt ein Beck’s vor mich hin, bevor er an die anderen hohe Gläser verteilte, aus denen – wofür auch immer – schrillbunte Schirmchen ragten und von deren Rändern gekringelte Schalen von Südfrüchten baumelten wie Kartoffelschalen aus übervollen Treteimern.

»Auf die Kompetenz der Medizin«, rief Jochen, hob sein Glas und versuchte, gleichzeitig mir und der Texanerin vielsagend zuzuzwinkern, was eine schwer zu beschreibende Gesichtsakrobatik ergab, aber ich hatte andere Sorgen.

Also, da war tatsächlich ein Draht gewesen. Oben, in dem durch Laufgitter so unbehaglich transparenten, weit über zwanzig Meter hohen Treppenhaus des Maschinentrakts. Ein Draht mit Schlaufe. Genau so, wie es der Doktor gewusst hatte. Außer mir war anscheinend niemand auf die Idee gekommen, dieses Selbstmordinstrument näher zu untersuchen, und mich hatte selbst das Blut an der Schlaufe nicht von meiner Skepsis heilen können. Es hätte in dem Moment, in dem es ›Zapp‹ gemacht hat, noch flüssig gewesen sein müssen, das Blut. Oder nicht?

Nachdenklich setzte ich die Flasche an und musste feststellen, dass sie schon wieder leer war. An diese Nulldreier-Fläschchen werde ich mich wohl nie gewöhnen.

Das Blut an der Drahtschlaufe war aber schon halb geronnen, als es irgendjemand darangeschmiert hatte. So sah es zumindest für mich aus. All das machte mir zu schaffen. Und noch etwas: Wir waren auf das eingeschwenkt, was mein Berufskollege die ›Zouteboom-Köthensieker’sche Linie‹ getauft hat. Nicht ganz freiwillig eingeschwenkt, muss man dabei sagen – ich mit meinen eine Selbstmord-These wenig untermauernden Beobachtungen ganz bestimmt nicht –, doch eingeschwenkt nichtsdestotrotz.

Der »tragische Todesfall, wahrscheinlich als Folge privater Probleme« war vom Kapitän selber in der Mannschaftsmesse bekannt gemacht worden, und anschließend hatten Jochen und ich ihn noch mal beiseitegenommen. Vor allem ich war wohl ein bisschen hitzig in meiner Kritik an der Diagnose des Bordarztes, und Zouteboom war an die Decke gegangen.

»Jegliche Autorität an Bord dieses Schiffes liegt in meinen Händen!«, hatte er geschrien, und seine Hängebäckchen hatten gezittert, als er mit dem Fuß aufstampfte. »Und sämtliche medizinischen Aufgaben und Analysen obliegen Doktor Köthensieker und seinem Team. Ist das klar?«

Und Jochen und ich hatten genickt wie Schuljungen vorm Direx. Auf See herrschen andere Gesetze als an Land, und keiner von uns beiden hatte sich wirklich die Mühe gemacht, die Unterschiede vor Antritt der Fahrt zu eruieren.

»Wir kriegen einen Vertrag über sechs Monate«, hatte Jochen geschwärmt, »wir werden zum Nordkap und von da nach Kapstadt und wieder zurück pendeln, und die ganze Zeit wird die Heuer unangetastet auf unsere Konten fließen, denn an Bord ist praktisch alles frei. Alles!«

»Achthundert Fahrgäste und fünfhundert Mann Besatzung, und beinahe sechzig Prozent davon weiblich«, hatte er noch selig lächelnd hinzugefügt, doch da war meine Unterschrift schon quer unter den Vertrag gekrakelt gewesen. »Wir werden vor lauter Bumsen kaum zum Schlafen kommen.«

Und kaum waren wir unterwegs, da hatte jemand den Ersten Steward geköpft, und der Kapitän wollte das auf keinen Fall wahrhaben.

»Und wenn ich mich den Empfehlungen des Bordarztes anschließe, so steht es Ihnen beiden nicht an, diese meine Entscheidungen zu kritisieren. Habe ich mich unmissverständlich ausgedrückt?« Zouteboom schrie immer noch, sein Schweinskopf puterrot. Vielleicht bin ich naiv, doch ich hatte mir Schiffsführer von seinem Kaliber immer als in sich ruhende Persönlichkeiten vorgestellt, vergleichbar mit, sagen wir mal, Bernhardinern, und nicht als hysterische Kläffer, die schon den geringsten Widerspruch als Angriff auf ihre Machtausübung verstehen. Wieder nickten wir ergeben, und Zouteboom beruhigte sich ein bisschen. »Um es trotzdem noch einmal zu vertiefen: Sie zur Begutachtung eines Selbstmordes hinzuzuziehen war nichts als ein bedauerlicher Irrtum, der sich nicht wiederholen wird.«

Moment mal, dachte ich – rechnet er etwa mit noch mehr »Selbstmorden«?

»Also tun Sie von jetzt an das, wofür Sie bezahlt werden: Halten Sie Augen und Ohren offen, seien Sie stets bereit für die Belange unserer Passagiere und überlassen Sie die Leitung des Schiffes mir und den für ihren jeweiligen Aufgabenbereich zuständigen Mannschaftsgraden.

Sollten Sie mir noch einmal unangenehm auffallen, werde ich Ihren direkten Vorgesetzten anweisen, Sie entsprechend zu disziplinieren. Guten Tag.«

Na, da war es doch gar nicht schwergefallen einzuschwenken, und überhaupt, Prost allersei –

Nein, dachte ich und setzte die immer noch leere Flasche ein zweites Mal ab. Nein. An Bord lief ein Schwertmörder unbehelligt herum, und ich würde nicht so tun, als wäre nichts. Jochen – war er wirklich dabei, sich diese Amerikanerin mit der Figur einer zu nahe am Kamin aufgestellten Altarkerze schönzutrinken? Ich nahm die Hand der Berlinerin von meinem Schenkel – wenn es nicht die Hand des Berliners gewesen war, die Tischdecken hier hingen lang herunter –, stand auf und griff meinen Kollegen, der in Heathers schwimmenden Augen zu ertrinken drohte, fest bei der Schulter. Mit einem Ruck sah er zu mir auf.

»Lass uns mal für ’ne Sekunde an die frische Luft gehen«, raunte ich ihm zu und ging voran.

Die Sonne hing wie angeklebt über der in sommerlicher Sanftmut wogenden Nordsee. Schon in ein paar Stunden sollten die beiden Teile des Stewardleichnams darin versenkt werden, um die Fische zu füttern, die möglicherweise eines Tages auf den Tellern der Fahrgäste seines ehemaligen Schiffes liegen würden. Ein wunderbarer oder ein entsetzlicher Kreislauf, alles eine Frage der Betrachtung.

Ich dachte daran, Jochen darauf hinzuweisen, doch der beäugte die Weite der blauen See mit diesem schwankenden Misstrauen, das er schon im Hafen an den Tag gelegt hatte. Nicht richtig seefest, war meine Vermutung.

»Ga-hanz schön wellich heute«, rief er und packte die Reling mit festem Griff. »Schau-haukelt wie ein Wasserbett beim Bumsen.« Er seufzte. »Hab ich dir schon erzählt, wie Ingrid und ich da-hamals in Pa-haris in diesem sündteuren Hotel übernachtet haben, und da hatten sie dieses riesige –«

»Jochen«, unterbrach ich ihn hastig, aus den letzten Tagen noch wohl versorgt mit Geschichten um und mit und von mir aus auch in Ingrid drin, »hast du eine Ahnung, wo sie den Leichnam verstaut haben, bis zur Seebestattung?«

»Urgs, wassumallesinnerwelt willzu denn mit dem? Kein Kopf mehr dran unn-alles.«

»Jochen, der Mann ist ermordet worden.«

»Ah-ah«, machte er, begleitet von einer wackelnden Handbewegung. Bisschen autoritätshörig, unser Jochen Fuchs. Holt das Übelste aus mir heraus, wenn er mir so kommt.

Ich starrte ihn an, wortlos.

»Dassagst du«, meinte er, doch man konnte spüren, dass er innerlich mindestens ebenso schwankte wie außen. Plötzlich wusste ich, wie ich ihn kriegen konnte.

»Jochen«, fragte ich ihn eindringlich, »was sind wir?«

»Ermittler!«, kam es, blitzartig, aus geblähter Brust.

Die mit Abstand Nervtötendsten unseres Berufsstandes sind die, die sich für so was wie den verlängerten Arm der Polizei halten. Sie haben nichts, aber auch gar nichts kapiert.

»Und als solche«, behauptete ich, »müssen wir Spuren sichern, oder?«

Er nickte gravitätisch.

»Also, weißt du, wo er ist?«

»Klardoch.« Und, nach einigem weiteren Nicken: »Unnungefähr.«

»Na, dann lass uns mal nachsehen.«

»Was ist das?«, fragte ich und meinte die zwölf herdklappengroßen Metalltüren zu unserer Rechten. Jochen fluchte leise und rieb sich den Steiß, auf dem er die Eisentreppe hinuntergeholpert war.

»Gottverdammter e-helender Scheiß-Seegang«, murmelte er und sog den Atem zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. »Reißt einem glatt die Fü-hüße unterm Arsch weg.«

Ich wollte noch mal nach der Funktion der Türen fragen, doch Jochen war abgelenkt. Er hatte seinen Gürtel geöffnet und tastete seine Kehrseite nun innerhalb der Hose ab. »Nur noch rohes Fleisch«, konstatierte er. »Werde für Tage aufm Bauch schlafen müssen. Und in der Missionarsstellung bumsen. A-hapropos Bumsen. Weißt du eigentlich, wie lange ich schon nicht mehr gebu-humst habe?«

Ich wusste es, aber ich sagte nichts.

»Vier Wochen!«, meinte er grimmig.

Es waren immer vier Wochen bei Jochen. Eine Art von Grundeinstellung des Gedächtnisses, denke ich.

»Und du bist Zeuge«, wechselte er das Thema, »dass diehies hier ein Beru-hufsunfall war.«

Er konnte ein Jahr nicht gefickt haben, doch in seiner Erinnerung waren und blieben es immer vier Wochen. Beneidenswert.

»Da bin ich mir nicht sicher«, widersprach ich. »In wessen Auftrag sind wir denn hier?«

»Der Wahrheit!«, fuhr er mich an, und letzte Bröckchen seines letzten Auswurfs fuhren mit. »Im Auftrag von Wahrheit, Recht und Gesetz!« Wichtigtuerisch begann er, sich die Hose wieder zuzuknöpfen.

Die herdklappengroßen Stahltüren waren mit abschließbaren Griffen versehen, ähnlich denen von Gastronomie-Kühlschränken. Ich zögerte, so wie ich vor dem eigenen Kühlschrank zögere, wenn ich mal wieder eine Zeit lang nicht zu Hause gewesen bin.

»Doch während du«, sinnierte Jochen weiter, hartnäckig, »Recht und Gesetz ja mehr als sinnloses Regelwerk ansiehst, einzig geschaffen, dich in deinem Fahr-, Ermittlungs- und so-honstigem Lebensstil zu be-he-hindern, stehe ich mit beiden Beinen –«

Wahllos probierte ich einen der Griffe, die Klappe schwang mühelos auf, und ein Licht ging an. Ich holte Luft wie jemand, der sich einen Amboss hat auf die Zehen fallen lassen.

»Wass’n?«, wollte Jochen wissen, blickte mir neugierig über die Schulter und – wie ich – dem toten Steward von oben in den Hals. Mit einem raschen Schritt zur Seite brachte ich mich aus der Schusslinie, bevor Jochen auf die ihm ureigene Weise auf diesen Anblick reagieren konnte. Wäre da nicht der strenge Duft halb verdauter Alkoholika gewesen, man hätte meinen können, es bei Jochen mit einem Rohköstler zu tun zu haben.

»Obsttag?«, fragte ich und deutete auf den Boden zu seinen Füßen. Den Großteil der Einlagen seiner bunten Drinks schien er unzerkaut hinuntergespült zu haben. Hätte mich nicht gewundert, wenn irgendwo in all dem Zeugs auch noch ein buntes Schirmchen herumgeschwommen wäre.

»Wowo issn der Kopf?«, wollte Jochen wissen, ohne auf meine Frage einzugehen. Gemeinsam probierten wir die Klapptüren durch, bis uns der Erste Steward unter schweren Lidern hervor ansah. Das war mal ein schöner Mann gewesen. Graue Schläfen, tadellose Frisur und Manieren, herablassend-freundlich den Herren unter den Passagieren und zuvorkommend-galant den Damen gegenüber, von leicht olivenöligem Charme, möchte ich sagen. Die grauen Schläfen waren alles, was davon geblieben war. Das und die Frage nach einem Motiv für seine Enthauptung.

»Ah, das trifft sich ja ganz hervorragend«, ertönte es hinter uns, und Jochen und ich zuckten zusammen. In diesem Teil des Schiffes übertönte das verdammte Dieselbrummen alle Schritte. Doktor Köthensieker näherte sich uns auf seine den Gesetzen der Schwerkraft widersprechende leichtfüßige Art, paffend wie ein Imker dabei. Über der Schulter trug er ein Fichtenbrett und unter dem rechten Arm etwas, das aussah wie ein zusammengefaltetes Bettlaken.

Es war ein zusammengefaltetes Bettlaken.

»Sie wollten wohl Abschied nehmen?«, fragte der Bordarzt auf eine arglose Art, breitete das Leintuch auf dem Metallboden aus und legte das Brett der Länge nach obendrauf. »Wie pietätvoll. Und wie praktisch. Da können Sie mir ja gleich helfen, den Verblichenen in den für Seebestattungen von alters her üblichen Sack zu nähen.«

Wer hätte ihm sonst geholfen?, fragte ich mich. Hat er gewusst, dass er Jochen und mich hier antreffen würde? Dieses unbestimmte Unwohlsein holte mich wieder ein, das mich seit der Einschiffung nicht recht loslassen wollte. Dieses Gefühl, unter ständiger Beobachtung zu stehen, meine Privatsphäre irgendwo an Land zurückgelassen zu haben. Ein Gefühl, bestärkt durch die beklemmende Gewissheit, nicht weglaufen zu können, hier, vor nichts und niemandem, was wiederum Erinnerungen heraufbeschwört, die seit meiner Haftzeit nicht aufhören wollen, in schöner Regelmäßigkeit mein nächtliches Laken mit Schweiß zu durchfeuchten.

»Also denn«, riss Köthensieker mich mit robuster Fröhlichkeit aus meinem schwitzigen Frühstadium von Käfig-Koller und zog den Leichnam auf seiner Rollbahre hervor.

Dies hier war tatsächlich die Leichenkammer der Equinox, professionell eingerichtet und mit gleich zwölf Kühlkammern versehen. Bisschen viel, auf den ersten Blick, doch dürfte das enorm hohe Durchschnittsalter unserer zahlenden Gäste bei der Kalkulation eine Rolle gespielt haben.

Gemeinsam hoben wir den Leichnam an und ließen ihn auf das Brett herab. Dr. Köthensieker förderte eine Rolle Paketklebeband aus seinem Kittel zutage und band dem Toten nacheinander die Beine und dann auch die von zahlreichen Schnitten entstellten Arme und Hände zusammen wie die einer Geisel.

»Was wir nicht wollen«, erklärte er dabei, »ist, dass der zu Bestattende beim Rutsch über die Reling anfängt, in seinem Sack mit den Extremitäten herumzufuchteln. Könnte vor allem bei jüngeren Matrosen Albträume auslösen, so was.« Routiniert griff er den Kopf bei den Haaren, platzierte ihn an die einstmals von der Natur dafür vorgesehene Stelle und zurrte ihn wenig liebevoll mit Metern von Klebeband quer über die zerrupfte Frisur – was seltsam brutal aussah – und mehrmals unter den Achseln hindurch und schließlich noch zwei-, dreimal über Augen und Mund und um das lange Brett herum fest, auf dem der Torso schon fixiert war. »Dafür auch die Planke«, fügte er hinzu. »Für einen glatten Abgang. In Würde, wenn man so will.«

Bei allem Bemühen: Würde war das, was dem Ganzen am meisten abging. Bis jetzt sah es so aus, als ob man Joseph Beuys sich an einer geköpften Leiche habe austoben lassen. Bisschen Filz und ein Klacks Fett hier und da und die Handschrift wäre unverkennbar. Man war am Ende richtig dankbar für das Laken.

»Ich kann spüren, dass Sie von meiner Diagnose nicht recht überzeugt sind«, wandte sich der Doktor an mich, ohne den Blick von seiner Arbeit abzuwenden – dem Einfädeln eines groben Zwirns in das Ohr einer großen Nadel.

Ich nickte, sagte aber nichts. War noch nie ein Fan davon, mich ständig zu wiederholen.

»Ich verstehe Sie gut«, behauptete der leitende Bordarzt und biss ein langes Ende Faden ab. »Und ich sympathisiere grundsätzlich mit Leuten, die den Dingen gerne auf den Grund gehen.« Er begann, mit ausholenden Bewegungen vom Fußende her den Ersten Steward in seinen Sack einzunähen.

›Aber‹, dachte ich.

»Aber«, sagte er, »Sie müssen wissen, dass ich nach meinem Studium an der Universität von Sapporo erst mal mehrere Jahre lang als Gerichtsmediziner praktiziert und mir damit einen scharfen Blick für Details zugelegt habe.

Ein paar Fälle in dieser Zeit waren, ähnlich wie dieser hier, geradezu bizarr.«

Und während ich mich an eine Säule lehnte und Jochen, der von irgendwoher Mopp, Schrubber und Eimer aufgetrieben hatte, möglichst unauffällig seinen Obstsalat aufkratzte, tischte uns der Doktor einen dieser Fälle auf.

»Schreinerei«, begann er. »Niedergebrannt bis auf die Grundmauern. In den Trümmern entdeckt die Feuerwehr eine bis zur Unkenntlichkeit verkohlte Leiche. Ohne – und das rief uns auf den Plan, und das ist auch der Bezug zu dieser Geschichte hier – ohne Kopf. Fand sich dann ein paar Meter weiter, der Kopf. Abgesägt«, betonte er und schnalzte mit der Zunge. »Mit, wie sich herausstellen sollte, einer Bandsäge. Großes Ding, stand mitten in der Werkstatt, ihr zu Füßen der verkokelte Torso.«

Jochen gab ein Geräusch von sich wie jemand, der Mühe hat, ein Aufstoßen unten zu halten.

»Es war, um es kurz zu machen, der Tischlermeister persönlich. Hatte einen Safe, im Büro seiner Werkstatt, und der stand offen und war leer gefegt. Raubmord, sagte die Kripo. Anschließend Feuer gelegt zur Verwischung der Spuren. Weitere Ermittlungen brachten ans Licht, dass er erst ein paar Wochen zuvor eine hohe Lebensversicherung abgeschlossen hatte, der Meister, und eh sie sich versah, saß seine Witwe auch schon in U-Haft.«

Stich für Stich nahm der Seebestattungssack um den Leichnam herum Form an.

›Doch‹, dachte ich.

»Doch«, sagte der ehemalige Pathologe, »ergaben sich bei näherem Hinschauen ein paar Ungereimtheiten.« Er sah kurz auf, um zu überprüfen, ob er unsere ungeteilte Aufmerksamkeit hatte. Zufrieden fuhr er fort. »Ein ehemaliger Mitarbeiter der Schreinerei brachte mich drauf.

Aus irgendeinem Grund hatte jemand die hydraulische Furnierpresse direkt vor die Bandsäge gerückt. Was keinen Sinn machte, da dies exakt der Platz ist, den man zum Arbeiten an der Säge braucht. Obendrein war an einem der Hydraulikstempel manipuliert worden. Jemand hatte ihn aus seiner normalerweise senkrechten Position in eine waagerechte Lage gebracht, ausgerichtet auf das Band der Säge. Ja, bei näherem Hinsehen entdeckte ich Schnittspuren der Sägezahnung im untersten Teil des Stempels. Mir kam da eine Idee. Und siehe da: Nachfragen bei der Bank ergaben, dass der Tischlermeister pleite war. Vollkommen. Hoch verschuldet, Werkstatt und Haus kurz vor der Zwangsversteigerung, Familie vor dem Ruin. Was macht er also? Schließt eine hohe Lebensversicherung ab, manipuliert seine Furnierpresse, stellt die Bandsäge an, legt den Kopf auf den Sägetisch, den Hydraulikstempel im Genick, startet die Presse und –«, triumphierend sah er vom säuerlich dreinblickenden Jochen zu mir und wieder zurück, »sägt sich selber den Kopf ab!«

Jochen schluckte, hörbar selbst über dem Dieselbrummen.

»Der Stempel drückt und drückt, die Säge sägt und sägt, irgendwann fällt der Kopf herunter und rollt davon, der Torso sackt zusammen, doch der Stempel drückt weiter, gegen das rasende Band der Säge, die Funken stieben, entzünden überall herumliegende trockene Holzspäne – der ganze Laden brennt komplett nieder, Feuer- und Lebensversicherung werden mit einem Doppelschlag zur Kasse gebeten.« Naht und Story waren kurz vor ihrem gemeinsamen Ende.

›Nur‹, dachte ich.

»Nur«, sagte der Doktor mit der leisen Stimme von jemand, der es gewohnt ist, Pointen zu servieren, »dass Selbstmord und damit verbundenes Abfackeln der eigenen Werkstatt unter die sogenannten Ausschlussklauseln fallen. Nachdem ich mein Gutachten abgeliefert hatte, wurde die Witwe augenblicklich auf freien Fuß gesetzt, doch von dem Geld hat sie nie etwas gesehen.« Und Dr. Köthensieker gluckste auf eine unnachahmlich selbstzufriedene Art in sich hinein, ganz so, als wäre Witwen um die Versicherungssumme zu bringen das denkbar köstlichste Vergnügen, das einem Kenner der Materie widerfahren kann. …

»Was Sie so verstört«, sprach er mich wieder an, »ist dies …« Er schlug noch einmal das Laken zurück und wies mit der Nadel auf den Halsbereich des Leichnams. »Ihnen ist die Trennungslinie zwischen Haupt und Rumpf nicht sauber genug«, stellte er fest, deckte den Kopf wieder zu und stichelte weiter. »Und Sie haben keine rechte Erklärung für die Verletzungen an Armen und Händen.«

Außer der naheliegenden, dass man instinktiv die Hände hochhebt, wenn jemand versucht, einem ein Schwert in den Hals zu hacken, dachte ich.

»Möglicherweise bin ich selber nicht ganz unschuldig an dieser Ihrer Skepsis.« Er hielt kurz inne, um sich das Kinn zu reiben, mit einer Geste zerknirschten Selbstvorwurfs. »Als ich den Moment der Straffung des Drahtes unter dem Gewicht des fallenden Körpers mit ›Zapp‹ lautmalerisch umschrieb, habe ich Ihnen damit möglicherweise das Bild eines abrupten Abrupfens gezeichnet, ähnlich dem schwungvollen Entkorken einer Weinflasche.«

Jetzt, dachte ich, hast du mir ein Bild gezeichnet. Ich werde keine Pulle Wein mehr aufmachen können, ohne dass es mich einholt.

»Das war nachlässig von mir. Natürlich ist der Körper noch ein paarmal am Draht schaukelnd auf und ab getanzt, bevor der Hals endgültig durchtrennt war. Und jedes Hochhüpfen brachte die Drahtschlinge in eine andere Position, jedes erneute Straffen eine andere Schnittverletzung mit sich. ›Zapp-zapp-zapp-zapp-zapp‹. Und selbstverständlich griff der Selbstmörder in entsetztem Bewusstwerden seines fatalen Tuns nach dem Draht, verzweifelt bemüht, das Unausweichliche doch noch abzuwenden, und zerschnitt sich die Gliedmaßen bei seinen fruchtlosen Versuchen.« Energisch biss er den Faden durch, befestigte die Nadel mit einem Stich quer durch die Brusttasche an seinem Kittel, klopfte der Leiche wie zum Abschied auf die Schulter und erhob sich. »Nachdem das nun geklärt ist, hoffe ich, Sie schlafen wieder ruhig«, meinte er ebenso wohlwollend wie nachdrücklich, endgültig, abschließend.

»Das klang doch ganz plausibel«, fand Jochen. Sein angeborener Hang zur Unterwerfung hatte wieder die Überhand gewonnen über seinen ›Recht-und-Gesetz‹-Fimmel.

Wie ein Fähnchen im Wind, unser Jochen.

Ich machte »Hrm«.

»Okay, auch ich hatte zu Anfang meine Zweifel«, fuhr er fort und zog mit einem Pümm den Korken von der angebrochenen Flasche Portwein neben seinem Bett. »Doch je länger ich drüber nachdenke …« Nachdenklich goss er sich ein Wasserglas voll. Redete sich die ganze Angelegenheit schön. Log sich einen in die Tasche. Nahm den einfachen Weg. Schwenkte mit vollen Segeln ein auf die ZouteboomKöthensieker’sche Linie.

Oder versuchte es zumindest. Er sollte mich besser kennen.

Ich sah auf die Uhr. Um fünf am Morgen, wenn der ganze Kahn schlief, wollten sie das Mordopfer über die Reling wandern und damit für immer verschwinden lassen. Uns blieben somit drei Stunden, etwas zu unternehmen. Bloß was?

»Du wirkst immer noch nicht überzeugt«, fiel Jochen auf. »Und jetzt stopp mal für einen Moment dieses Hin- und Hergerenne. Setz dich auf deinen Hintern und denk nach!«

Ja, dachte ich. Das mach ich. Mit einem Schritt war ich im Bad und hob den Wandspiegel aus seiner Klemmhalterung über dem Waschbecken. Nachdenken, dachte ich. Das werde ich. Und mir ein bisschen nachhelfen beim Nachdenken, das werde ich auch.

Jochen sah mir mit zusammengezogenen Brauen zu, wie ich erst den Spiegel auf den Tisch zwischen uns legte und dann meinen Arm in das Tiefkühlfach unseres Kühlschranks steckte. Ganz weit nach hinten.

»Was solln das werden?«, fragte er er misstrauisch und goss sich Port nach.

»Nur ein bisschen kristalline Stimulanz«, sagte ich. »Um der wachsenden Öde auf See entgegenzusteuern.« Und ich packte den Beutel auf den Spiegel, ging noch mal ins Bad, eine Klinge holen.

»Wachsende Öde? Kristof, wir sind gerade mal den siebten Tag auf See, und du sprichst schon von wachsender Öde? Was soll denn erst sein, wenn wir zwei Monate unterwegs sind?«

»Och«, sagte ich und wog den Beutel in der Hand, »damit kommen wir locker zwei Monate aus.« Es war deutlich mehr als ein Kilo.

»Und wenn die zwei Monate um sind und das Zeugs ist alle? Was willst du dann gegen die Öde tun?«

»Dann haben wir noch so einen im Eisfach.«

»Noch so … Woher um alles … ?«

»Längere Geschichte«, sagte ich und hackte und schob mir zwei Lines zurecht.

Meinem Freund Pierfrancesco Scuzzi hatten sie den, sagen wir mal, Grossisten wegverhaftet. Nach Jahren reibungsloser Zusammenarbeit stand Scuzzi von heute auf morgen ohne Nachschub da, und seine Kunden wurden rasant rappelig. In seiner Not telefonierte er hastig herum und tat auch tatsächlich eine neue Connection auf.

»Und ich habe ihn noch so gewarnt«, sagte ich zu Jochen und zog mir die erste Line weg. »Scuzzi, sag ich zu ihm, was erzählst du da? Albaner? Bist du noch ganz dicht?«

Doch hat er gehört, mein Freund? Nein. Die erste, kleinere Lieferung war ohne jede Beanstandung. Qualität wunderbar, Transfer ohne Stress, alles lief reibungslos. Kunden zufrieden, Scuzzi beruhigt. Auch die zweite, dritte Bestellung erledigten die Albaner ohne Probleme. Doch dann wurden ihnen die Aufenthaltsgenehmigungen nicht verlängert. Sagten sie. Scuzzi, der sein bequemes Leben – von früh bis spät zugedröhnt im Morgenmantel, um es knapp zu schildern – wieder aufgenommen hatte, reagierte etwas panisch. Da machten sie ihm ein Angebot: Er solle ihre Restbestände aufkaufen. Eine Menge Restbestände. Zu äußerst günstigen Konditionen.

»Und ich sag noch«, sagte ich zu Jochen und schnorchelte auch die zweite Linie ab, »Scuzzi, sag ich, lass die Finger davon. Das klingt für mich nach dem klassischen Beschiss. Doch hört er, der gierige kleine Lump? Nein.«

Zum Austausch verabredeten sie sich an einem öffentlichen Ort – Burger King –, wenn auch, wie ich bemäkelte, keine Minute von der Autobahn entfernt.

›Soll ich nicht mit?‹, habe ich gefragt, doch Scuzzi meinte, je weniger Leute, desto weniger Aufsehen. Auch von den Albanern wolle nur einer kommen. Hatten sie gesagt.

»Sie kamen zu zweit«, sagte ich zu Jochen, verstaute den Beutel wieder im Tiefkühlfach und holte die Zigarrenkiste aus der Gemüsebox. Rauchen, dachte ich. Jetzt rauchen. »Und der eine, der Große, legte Scuzzi den Arm ganz freundschaftlich um die Schulter und hielt unseren Freund Pierfrancesco damit ganz freundschaftlich auf seinem Sitz fest und machte Small Talk auf Albanisch, bis der andere mit dem Geld aus der Türe war.«

Ein Teil davon geliehen, das Geld. Viel Geld obendrein, sehr viel Geld. Für einen Sack Katzenstreu. Den hatten sie ihm dagelassen, unterm Tisch.

»Hab ich dann übernommen, den Sack«, erinnerte ich mich und paffte eine Cohiba zur Glut. »Scuzzi hat ja keine Katze. Und was macht meine? Scheißt mir in den Topf mit der Yucca-Palme, das Aas. Passte ihr nicht, die neue Marke. Genau wie mit dem Trockenfutter aus’m Sonderangebot. Zehn Kilo von dem Zeugs habe ich wegschmeißen müssen, weil sie es partout nicht fressen wollte. Dabei habe ich mit allen Methoden versucht, es ihr doch noch anzudrehen. Aber nein, du kannst dir nicht vorstellen, was das für Dickschädel sein können, diese kleinen Biester. Doch«, fiel mir auf, »ich drifte ab.«

›Hilf mir‹, sagte Scuzzi zu mir. Also habe ich angefangen zu recherchieren. Wie war Scuzzi überhaupt an diese Gestalten geraten? Wer hatte den Kontakt vermittelt? Wie immer bei diesen Drogengeschichten ging alles um drei oder vier Ecken, aber wozu ist man Detektiv. Ich bekam also raus, um die üblichen drei oder vier Ecken, wer die Typen waren, wo sie wohnten. Eine ganze Sippschaft, natürlich. Operierten von einer Villa aus, fast schon ein Schlösschen. Mit Videoüberwachung innen und außen, mit frei laufenden Wachhunden im Park und der ganzen verdammten Familie über die ganze verdammte Hütte verteilt. Da heimlich einsteigen zu wollen wäre Selbstmord gewesen.

»Also bin ich hingegangen«, sagte ich zu Jochen und versuchte mich an einem Rauchring, »und habe ihnen die Polizei auf den Hals gehetzt.« Das Ergebnis war ein Teilerfolg, wenn man so will: Rauch ja, Ring nein. »In meiner Eigenschaft als privater Ermittler wäre mir zu Ohren gekommen und so weiter. Wie sich herausstellte, hatten die Bullen schon selber ein Auge auf die Sippe geworfen, und mein Hinweis brachte den Stein ins Rollen. Doch irgendjemand – und bitte sieh mich nicht so an, Jochen irgendjemand also muss die Albaner vorgewarnt haben, denn als die Hundertschaft vorne vorfährt, seilen sich praktisch zeitgleich zwei Mann hinten durch das Gartentor ab, wuchten zwei Taschen in den Kofferraum eines unauffällig geparkten dicken Benz und brausen davon. Richtung Belgien. An einer Raststätte geht der eine kacken, während der andere tankt. Als der erste nicht vom Klo zurückkommt, weil jemand sein Scheißhaustürschloss von außen mit Sekundenkleber eingeschmiert hat, geht der andere nachsehen und gibt damit ihrem diskreten Verfolger Gelegenheit, dem Kofferraum ihres Wagens mit einem kurzen Brecheisen zu Leibe zu rücken, in aller Hast die Reisetaschen in seinen alten Toyota umzuladen, dem Benz mit der Zange ein Reifenventil rauszurupfen und schließlich den Toyota unter dem Jubel der Reifen in den Sonnenuntergang hinein zu beschleunigen.«

Machen einen trockenen Hals, so Zigarren. Jochens Portwein war Gott sei Dank alle, also sprang ich auf die Füße und steckte meinen Kopf erneut in den Kühlschrank. Beck’s? Warum nicht.

»Zwei Reisetaschen voll Drogen«, erinnerte ich mich, ein wenig träumerisch, klopfte den Kronkorken an der Tischkante ab und setzte die Bierflasche an. »Daff einfig Bwöde«, sprach ich am Hals der Flasche entlang, bevor ich sie wieder absetzte – leer –, »war, dass sich meine mühsamen Recherchen auch rückwärts nachvollziehen ließen.« Ich rülpste gefühlvoll und wiegte den Kopf dabei. »Um alle drei oder vier Ecken. Und deshalb kam uns dein Anruf mit dem Jobangebot hier auf dem Schiff auch so verdammt gelegen.«

Uns, ja.

»Und was würden Sie sagen, wo Ihre spezielle Begabung liegt?«, hatte die Personalchefin der Reederei Scuzzi gefragt, und seine kaltblütige Antwort hatte im Nachhinein einen ganzen Teil dieses Schiffes zu einer No-go-Area für mich gemacht.

Einen Moment lang sah ich etwas ratlos in den Flaschenhals. Mit der Erwähnung des Schiffes hatte ich, so wollte mir scheinen, einen gedanklichen Kreis geschlossen, nur dass ein Kreis rund ist, weshalb ich mich für einen Augenblick etwas schwertat mit dem Wiederauffinden des Ausgangspunktes.

»Und irgendjemand auf diesem Äppelkahn hat jemand anders vom Leben zum Tod befördert, und ich werde nicht zulassen, dass das vertuscht wird, auch wenn es der Schiffsleitung möglicherweise als die bequemste Lösung erscheint.« Da hatte ich ihn wieder, den Ausgangspunkt. »Weil nichts hier die heiter-sedierte Stimmung der Fahrgäste trüben darf, oder warum auch immer.« Weder für die Tat als solche noch für das Verhalten des Kapitäns und schon gar nicht für das des Bordarztes konnte ich bisher ein Motiv ausmachen. Und das ärgerte mich. Schürt meine Aufsässigkeit, wenn man versucht, mich wie einen Idioten zu behandeln.

»Was hast du vor?«, fragte Jochen. »Und bleib verdammt noch mal wenigstens eine Minute lang sitzen. Das ist jetzt dein drittes Bier in drei Minuten.«

»Auch eins?«, fragte ich, warf die leere Flasche routiniert hinter mich zu den anderen auf den sich über einem Einkaufswagen in der Ecke türmenden Berg von Leergut und machte mir noch rasch ein viertes auf. Ist nichts drin, in diesen Nulldreiern. Und Zigarrenrauch wird trockener, je länger die Glut vornedran wird. Meine näherte sich, fiel mir auf, recht flott vier Zentimetern. »Und mach mal die Tür auf. Man sieht ja die Hand vor Augen nicht mehr, so qualmst du. Das ist eine sündteure kubanische Zigarre, was du da rauchst, und kein Joint, verdammt noch mal.«

»Gleich«, sagte ich und meinte die Tür damit. Und er hatte ja recht, der Jochen. Ich ließ die Cohiba im Klo verzischen, kniete mich aufs Bett und durchforstete meinen Bettkasten mit beiden Händen. Irgendwo hatte ich doch …

»Also, noch mal von vorne: Was hast du vor, und was genau willst du nicht zulassen? Wir haben hier an Bord weder irgendeine Handhabe noch irgendeine Form von … Jurisprudenz, oder wie immer man das nennen will. Wenn die Schiffsleitung den Fall für abgeschlossen erklärt, dann haben wir uns dem anzuschließen. Und wenn sie morg…«, Jochen sah auf seine Uhr, »heute früh den Kadaver über Bord schmeißen wollen, dann gibt es nichts, was wir daran ändern könnten.«

Ah, da war sie ja. Die Keksdose. Mit den Blättchen.

»Blödsinn«, sagte ich. Und dem Beutel Gras.

»Ich werde dir jetzt mal sagen, wie ich die Dinge sehe«, knurrte ich und klebte zwei Blättchen schräg längs aneinander. Dann eins quer. Trennte vorsichtig das Dreieck überflüssigen Papiers heraus. Krümelte getrocknete Blütenblätter über die Papierchen, fügte am schmalen Ende ein Pappröllchen hinzu, leckte den Klebestreifen an und wickelte alles zu einem Konus. Drehte das obere Ende zu, kniff es rundum ein und brannte vorsichtig den Deckel ab.

So.

Noch ’ne Line wär jetzt auch nicht verkehrt, dachte ich.

Jochen seufzte auf eine resignierte Art, erhob sich und griff ohne hinzusehen eine Flasche vom Regal über seinem Kopf.

»Wenn die Leiche erst mal bei den Fischen ist«, sagte ich und sog die Feuerzeugflamme ins dicke Ende, sprang auf die Füße, verstaute das Gras wieder im Bettkasten und riss den Kühlschrank auf, »haben wir nicht nur keine Handhabe, keine Jurisdiktion, sondern auch keinerlei Indiz mehr, dass hier an Bord ein Mord geschehen ist.« Was hatte ich noch mal am Kühlschrank gewollt?

»Wenn es Mord war«, gab Jochen hartnäckig zu bedenken, dicht gefolgt vom Knck eines frisch entsicherten Schraubverschlusses. Ich ignorierte ihn. Bier. Ja. Und was noch? Ah, stimmt. Eisfach.

»Ramazzotti«, las mein Kajütennachbar vor, ohne rechte Begeisterung. ›Pizza‹, dachte ich. Das ist zwanghaft. Eine Art Pawlow’scher Reflex. 9900 von 10 000 Pizzen, die ich in meinem Leben zu mir genommen habe, waren umlullt von der knödeligen Stimme dieses Sängers, der meinem Freund Pierfrancesco so einen seltsamen Schimmer in die Augen zu treiben vermag. »Den musst du angeschafft haben«, meinte Jochen verdrießlich.

»Und deshalb«, presste ich hervor, begleitet von Rauch, und löffelte ein bisschen Granulat aus dem Beutel auf den Spiegel, »habe ich Folgendes beschlossen.«

Jochen schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken, setzte die Flasche an und zog gleichzeitig eine Miene, die schon vorweg Opposition ankündigte zu jeglicher Form eines von mir geäußerten Beschlusses, gleich welcher Natur.

»Wir ziehen los«, eröffnete ich ihm und fragte mich, wo zum Deibel ich die Rasierklinge gelassen hatte, »schnappen uns die Leiche« – prustend sprühte italienischer Kräuterfusel quer durch die Kabine – »und verstecken sie bis zur Ankunft im nächsten Hafen irgendwo an Bord.«

»Du spinnst«, kam der erwartete Einwand, zerhackt von heftigem Husten. »Mit dem verdammten Pulver hast du dir den letzten Rest Verstand verschossen.«

Fertig mit Husten, blickte Jochen zu Boden, als dämmere ihm nur schrittweise, dass dunkelbrauner Likör und sandfarbene Auslegware zwar bis zu einem gewissen Grad organisch, aber in keinster Weise farblich miteinander zu verschmelzen vermögen.

»Ohne mich«, fügte er hinzu.

Mangels einer greifbaren Klinge walzte ich die Körner mit der – leeren – Bierflasche zu Staub. Einmal angesetzt und schon ist nichts mehr drin, in den kleinen Dingern. Gott sei Dank war der Duty free rund um die Uhr geöffnet.

»Jockel«, sagte ich zu ihm, wie ich es in Momenten zu tun pflege, wenn das Herz spricht, »dieses arme Schwein wurde zu Tode gehackt. Das können und das werden wir nicht einfach ignorieren. Und nun« – hastig zog ich mir noch eine Prise und sprang auf – »lass uns los!«

Im Grunde musste man von der Equinox im Plural sprechen; sie war zwei Schiffe: eines im Bauch des anderen versteckt. Das eine ein Luxusliner allerhöchster Exklusivität, das andere ein Seelenverkäufer wie Tausende andere auch. Nach außen hin eine weitläufige Welt des Lichtes, der Aromen und des Müßiggangs; unter der Oberfläche ein enges, verschwitztes, muffiges Schattenreich. Es war ein bisschen so wie Erste gegen Dritte Welt. Oder, um den gemeinsamen Lebensraum mit ins Bild zu nehmen, als ob man – sicherlich ganz in Kapitän Zoutebooms Sinne – die Apartheid wieder eingeführt hätte. In perfektionierter Form, diesmal.