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Er kennt dich. Er will dich. Und er wird dich jagen.
Nach der Veröffentlichung ihres Serienkiller-Buches "Das Herz des Jägers" zieht sich die Journalistin Carmen Jacobs in eine einsame Hütte im Wald zurück, um endlich zur Ruhe zu kommen. Doch dann findet sie einen Umschlag auf ihrer Veranda, der Fotos von brutal ermordeten Frauen enthält. Die Polizei glaubt, dass es sich dabei um einen PR-Gag ihres Verlages handelt. In ihrer Verzweiflung wendet Carmen sich an Griffin Archer, einen attraktiven Computerexperten und Software-Millionär. Die beiden haben eine gemeinsame Geschichte, und Griffin ist zunächst nicht begeistert davon, als Carmen ihn um Hilfe bittet. Zu sehr hat sie ihn in der Vergangenheit verletzt. Aber der Killer spielt ein krankes Katz-und-Maus-Spiel mit der jungen Journalistin, und Griffin ist der Einzige, der ihr helfen kann ...
Ein atemberaubender Romantic-Suspense-Roman der New-York-Times-Bestsellerautorin Alexandra Ivy. eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.
"Ein überzeugender Thriller ... bei dem auch die Romantik nicht zu kurz kommt." - Publishers Weekly
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Seitenzahl: 534
Romantic Thriller Reihe:
Er wird dich finden
Ares Security Reihe:
ARES Security – Kill Without Mercy
ARES Security – Kill Without Shame
Nach der Veröffentlichung ihres Serienkiller-Buches »Das Herz des Jägers« zieht sich die Journalistin Carmen Jacobs in eine einsame Hütte im Wald zurück, um endlich zur Ruhe zu kommen. Doch dann findet sie einen Umschlag auf ihrer Veranda, der Fotos von brutal ermordeten Frauen enthält. Die Polizei glaubt, dass es sich dabei um einen PR-Gag ihres Verlages handelt. In ihrer Verzweiflung wendet Carmen sich an Griffin Archer, einen attraktiven Computerexperten und Software-Millionär. Die beiden haben eine gemeinsame Geschichte, und Griffin ist zunächst nicht begeistert davon, als Carmen ihn um Hilfe bittet. Zu sehr hat sie ihn in der Vergangenheit verletzt. Aber der Killer spielt ein krankes Katz-und-Maus-Spiel mit der jungen Journalistin, und Griffin ist der Einzige, der ihr helfen kann …
Alexandra Ivy ist das Pseudonym der bekannten Regency-Liebesroman-Autorin Deborah Raleigh. Mit ihrer international erfolgreichen Guardians-of-Eternity-Reihe stürmte sie die SPIEGEL-Bestsellerliste und baute sich eine große Fangemeinde auf. »Er wird dich jagen« ist der zweite romantische Thriller der Erfolgsautorin. Alexandra Ivy lebt mit ihrer Familie in Missouri.
Alexandra Ivy
Er wird dich jagen
Aus dem Amerikanischen von Anna Wichmann
beTHRILLED
Deutsche Erstausgabe
»be« - Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2018 by Debbie Raleigh
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »What are you afraid of?«
Published by Arrangement with KENSINGTON PUBLISHING CORP., 119 West 40th Street, NEW YORK, NY 10018 USA
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Andrea Euerle
Lektorat/Projektmanagement: Kathrin Kummer
Covergestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung von Motiven © shutterstock: Dimedrol68 | NickSorl | Le Chernina | venusty888 | Archeophoto | Krasovski Dmitr
eBook-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-8161-0
Dieses eBook enthält eine Leseprobe des in der Bastei Lübbe AG erscheinenden | erschienenen Werkes »Dein ist der Schmerz« von Leslie Wolfe.
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Eine Stimme in Jeannie Smiths Hinterkopf flüsterte, sie solle sich doch in ihr unschönes Schicksal ergeben.
Sie hatte immer gewusst, dass es mit ihr ein schlimmes Ende nehmen würde. Das hatten alle gesagt, auch ihre Mutter, bevor sie mit ihrem letzten Lover abgehauen war. Ihre Großeltern hatten es gesagt, als sie sie mit gerade mal sechzehn vor die Tür setzten. Und selbst ihr Zuhälter hatte das gesagt, als ihm die infizierten Einstiche an ihren Innenarmen aufgefallen waren.
Ein schlimmes Ende war das, was Frauen wie sie erwartete.
Außerdem war es ja nicht so, als wäre sie nicht gewarnt worden. Seitdem sie als Hure arbeitete, hatte man sie geschlagen, ausgeraubt und in die Gosse geworfen. Das Ganze war nur noch schlimmer geworden, nachdem sie Kansas City verlassen hatte, um eine Autobahnnutte zu werden.
An den Fernfahrerkneipen und Raststätten entlang der Interstate herumzulungern, galt selbst unter Huren als absoluter Tiefpunkt. Was wiederum bedeutete, dass dies nur die verzweifeltsten Frauen taten.
Aber selbst nach all den Prügeln und dem harten Sex, den sie gezwungenermaßen ertragen hatte, war ihr erst dank des Freiers an diesem Abend die wahre Bedeutung von Horror aufgegangen.
Was wirklich seltsam war.
Denn er sah so gut aus.
Dunkle Haut, glänzendes schwarzes Haar und schöne braune Augen.
Die Art von Mann, die jede Frau bekommt.
Natürlich erklärte das auch, dass sie nicht sofort misstrauisch geworden war, als er sie in den langen Anhänger an seinem Sattelschlepper gedrängt hatte. Auch nicht, als ihr aufgegangen war, dass es sich um einen Kühlanhänger handelte. Das war immer noch besser, als es an der Wand des Diners zu tun. Oder auf dem harten Schotter des Parkplatzes.
Aber als sie in den Anhänger gestiegen war, hatte sie auch die anderen Männer bemerkt, die bereits auf sie warteten. Verdammt, sie steckte echt in Schwierigkeiten.
Sie versuchte, ihrem Begleiter ihren Arm zu entziehen, den dieser jedoch eisern festhielt.
»Hey, es war nicht die Rede von einer Party«, protestierte sie.
Einer der Männer trat vor, doch sein Gesicht blieb im Schatten verborgen.
»Das hat aber gedauert«, knurrte er. »Da draußen laufen unzählige Huren rum. Was haben Sie so lange getrieben?«
Der Freier, der ihren Arm festhielt, zuckte zusammen. Offensichtlich hatte der andere das Sagen.
»Sie wollten eine Blondine. Das war die erste, die ich finden konnte.«
Der andere schnaubte. »Sie haben getrödelt, während wir uns hier fast die Eier abfrieren.«
Aus dem Schatten im hinteren Bereich des Anhängers kam zustimmendes Gemurmel. Jeannie gab einen angstvollen Laut von sich. Wie viele waren es? Vier? Fünf? Oder sogar noch mehr?
»Wurde nach der Letzten sauber gemacht?«, verlangte der Mann, der sie festhielt, zu erfahren, wobei er augenscheinlich versuchte, seine Nervosität hinter überheblichem Verhalten zu verbergen.
»Selbstverständlich«, antwortete der andere gedehnt. »Unser letzter Gast ist bei den anderen versteckt worden. Jetzt wird es Zeit für weiteren Spaß.«
Jeannies betäubende Resignation wich unverhofft dem Drang, sich erbittert zu wehren.
Möglicherweise war ihr Schicksal an jenem verhängnisvollen Tag, an dem sie das Licht der Welt erblickt hatte, entschieden worden. Möglicherweise war es ihr Los, einen schlimmen Tod zu finden.
Aber, bei Gott, sie hatte zwanzig Jahre lang um ihr Überleben gekämpft.
So leicht würde sie sich nicht töten lassen.
Sie wehrte sich gegen die Mistkerle, die sie fesselten und ihr die Kleidung vom Leib rissen. Auch als sie sie nacheinander vergewaltigten, hielt sie nicht still.
Und sie leistete selbst dann noch Widerstand, als ihr Freier über ihrem geschundenen und blutenden Körper stand und ein Brecheisen in der Hand hielt.
Er zögerte kurz, während er auf sie herabblickte. Fast so, als wäre er sich nicht sicher, ob er die ultimative Sünde tatsächlich begehen sollte. Dann flüsterte ihm der Schattenmann etwas ins Ohr, und er hob das Brecheisen hoch und schwang es mit verzweifelter Kraft. Ein seltsames Pfeifen ertönte, als das Metall die eiskalte Luft durchschnitt. Jeannie war irritierenderweise fasziniert von dem unfassbaren Entsetzen, das sie ergriff. Jedenfalls bis sie den stechenden Schmerz spürte, als das Brecheisen ihren Kopf traf.
Dann fühlte sie gar nichts mehr.
Ein schlimmes Ende …
20. Dezember
Rocky Mountains
Der große Umschlag lag auf Carmen Jacobs’ Veranda.
Sie verzog das Gesicht und starrte durch das beschlagene Fenster der Haustür. Ihr erster Instinkt bestand darin, diese unerwünschte Erinnerung an die Außenwelt einfach zu ignorieren.
Sie hatte die abgelegene Hütte in den Rocky Mountains nur gemietet, um den Anforderungen ihrer Karriere, bei der sie im Fokus der Öffentlichkeit stand, zu entfliehen. Zumindest hatte sie das ihrer Literaturagentin gegenüber behauptet. Teilweise stimmte es sogar. In den letzten zwölf Monaten war sie von einer Stadt in die nächste geflogen, um ihren Bestseller »Das Herz eines Jägers« zu promoten. Ihr proppenvoller Terminkalender enthielt auch zahlreiche Fernseh- und Radiointerviews sowie Vorträge. Zudem hatte sie einen Monat in Kalifornien verbracht und einen Kurs in kreativem Schreiben gegeben.
Schon bald würde das alles von vorn beginnen, wenn die Taschenbuchausgabe ihres Buchs erschien.
Da hatte sie sich eine Pause verdient.
Aber der starke Drang, sich mitten im Winter in diese Hütte zurückzuziehen, beruhte vor allem auf dem alljährlichen Wahnsinn, der zur Weihnachtszeit dazugehörte. Sie war keine Weihnachtshasserin. Na ja, vielleicht ein wenig. Doch das war nicht ihre Schuld. Sie hatte nun mal keine Familie – und wenn sie ehrlich zu sich war, auch keine engen Freunde.
Im Allgemeinen störte es sie nicht, allein zu sein. Vielmehr zog sie es sogar vor, sich auf ihre Karriere konzentrieren zu können, ohne von anderen belästigt und ständig abgelenkt zu werden.
Allerdings machte sich der Mangel an engen Vertrauten zu dieser Jahreszeit allzu deutlich bemerkbar. Das konnte durchaus an den schnulzigen Werbespots liegen. Oder am Anblick der kichernden Kinder, die durch die Geschäfte huschten. Oder es waren die Erinnerungen an eine Zeit, in der sie nicht allein gewesen war.
Was auch immer der Grund war, jedenfalls hatte sie stets den Drang verspürt, sich zu dieser Zeit zurückzuziehen. Und trotz der Tatsache, dass sie gerade erst ihren sechsundzwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte, besaß sie genug Geld, um sich diesen Wunsch zu erfüllen.
Sie nippte an ihrem heißen Kakao und sah zu, wie die Schneeflocken träge aus den Wolken heruntersegelten und ihre Veranda mit einer unberührten weißen Schicht überzogen.
In wenigen Minuten würde der Umschlag nicht mehr zu sehen sein.
Problem gelöst.
Sie trank noch einen Schluck und einen dritten. Die Schneeflocken schwebten in der Luft. Lautlos. Hypnotisierend.
Eine umherwirbelnde Wolke des Friedens.
Sie versuchte, sich abzuwenden. Ihre Pläne für diesen Tag umfassten ein langes, heißes Bad, ein gemütliches Mittagessen, etwas Romantik in Form eines Romans. Und später eine Flasche Wein am Kamin.
Ein geheimnisvoller Umschlag war nicht vorgesehen.
Dummerweise besaß Carmen jedoch eine tief verwurzelte Charakterschwäche.
Sie war neugierig.
Ihre Neugier hatte sie in der achten Klasse dazu bewogen, ihrer Lehrerin hinterherzuschleichen, nachdem sie gesehen hatte, wie diese mit dem Rektor im Lagerschuppen verschwunden war. Dieses kleine Abenteuer hatte dafür gesorgt, dass man sie aus der Schule warf. Wahrscheinlich, weil sie die geschossenen Fotos an der Klassenpinnwand veröffentlicht hatte.
Drei Jahre später hatte ebendiese Neugier sie dazu gebracht, heimlich den Dachboden ihrer Großeltern zu betreten, um in den kleinen Safe zu schauen, der einst ihren Eltern gehört hatte. Es war ihr zwar nicht gelungen, ihn zu öffnen, sehr wohl jedoch, dabei erwischt zu werden. Ihr Großvater hatte ihr einen Monat Hausarrest aufgebrummt, und ihre Großmutter hatte geweint. Die Tränen waren dabei weitaus schmerzhafter gewesen als die Tatsache, dass sie den Frühlingsball verpasste.
Jedoch war sie auch nur dank ihrer Neugier Journalistin geworden. Und hatte später fünf der berüchtigtsten Serienmörder Nordamerikas interviewt. Ihr Buch über diese nervenaufreibenden Treffen war zum Bestseller geworden und hatte sie in die Welt des flüchtigen Ruhms katapultiert.
Wie Diskokugeln und Crocs.
Sie schnitt eine Grimasse und stellte die halb leere Tasse auf einen Tisch. Solange sie nicht wusste, was sich in diesem Umschlag befand, würde sie sich nicht entspannen können.
Also konnte sie es auch genauso gut gleich hinter sich bringen, ihn zu öffnen.
Sie schlang den Gürtel ihres dicken Bademantels enger um die Taille und machte widerstrebend die Tür auf. Sofort traf sie ein Schwall eiskalter Luft und ließ sie beinahe erstarren. Die Hütte hatte in der Broschüre so malerisch ausgesehen. Die Kiefern. Der Schnee. Die majestätischen Berge.
Aber sie hatte nicht bedacht, wie furchtbar kalt es hier werden würde.
Jetzt huschte sie hinaus und rutschte mit ihren Plüschpantoffeln über die gefrorene Veranda. Sie bückte sich und hob den Umschlag auf, während sie beschloss, im nächsten Jahr an einen schönen Sandstrand mit viel Sonne zu fahren.
Nachdem sie sich aufgerichtet hatte, sah sie sich um und vergewisserte sich, dass niemand auf der kleinen Lichtung lauerte. Dann flitzte sie erschaudernd wieder in die Hütte und schloss die Tür hinter sich.
Sie streifte sich einige Schneeflocken vom Bademantel, nahm ihre Tasse mit dem heißen Kakao und kehrte in die Küche zurück. Seit ihrer Ankunft vor zehn Tagen war dieser gemütlichste Raum zu ihrem Lieblingszimmer geworden. Der Holzfußboden. Die Deckenbalken. Der abgenutzte Tisch am Fenster, durch das man auf den gefrorenen Garten hinter dem Haus hinausblickte. Hier gab es sogar einen offenen Kamin, in dem sie am Vorabend Marshmallows geröstet hatte.
Nun goss sie den restlichen Kakao ins Spülbecken und wusch die Tasse aus. Sie war keine Ordnungsfanatikerin, bevorzugte es jedoch, ihre Umgebung aufgeräumt zu halten. Ein Psychiater hätte ihr zweifellos gesagt, dass dies etwas mit ihrem Drang zu tun hatte, jeden noch so kleinen Aspekt ihres Lebens kontrollieren zu wollen. Sie fasste es jedoch eher als Ordentlichkeit auf.
Sie setzte sich an den Tisch und geriet ein letztes Mal ins Wanken. Vielleicht war es besser, den Umschlag ins Feuer zu werfen, das sie während der Zubereitung ihrer morgendlichen Tasse Kakao wieder entfacht hatte. Damit würden ihre Probleme knisternd und knackend vergehen. Stattdessen schüttelte sie reumütig den Kopf und drehte den Umschlag um, damit sie sich die Vorderseite ansehen konnte.
Ihr Name war ordentlich getippt worden, ebenso die Adresse der Hütte. Als ihr Blick auf den Absender fiel, überraschte es sie nicht, dort den Namen ihrer PR-Agentur zu entdecken. Schließlich wussten noch nicht mal zehn Personen, wo sie sich im Augenblick aufhielt.
Sie riss den Umschlag auf und holte einen weiteren Umschlag heraus. Dieser war schlicht und braun, und ihr Name war daraufgekritzelt worden.
Carmen runzelte die Stirn.
Im Allgemeinen handelte es sich bei derartiger Post um einen verzweifelten Hilferuf eines Unbekannten.
Seit Erscheinen ihres Buchs wurde sie mit Bitten überhäuft, den Mord an den Verwandten wildfremder Personen zu untersuchen. Oder man flehte sie an, ihre Kontakte spielen zu lassen, um einen geliebten Sohn aus dem Gefängnis freizubekommen, ungeachtet der Tatsache, dass er seine Freundin erschlagen oder einem Nachbarn in den Kopf geschossen hatte. Gelegentlich gelang es einer einfallsreichen Seele, ihren Aufenthaltsort herauszufinden, und diese Person schob die Informationen unter der Tür ihres Hotelzimmers hindurch, aber im Allgemeinen landeten die Anfragen auf dem Schreibtisch ihrer Agentin oder sogar ihrer Redakteurin, die sie an die PR-Agentur schickte.
Die Agentur, bei der sie die strikte Anweisung hinterlassen hatte, jegliche Korrespondenz erst nach dem Jahreswechsel zuzustellen.
Daher sollten die Mitarbeiter sie eigentlich nicht mit unerwünschter Post belästigen, wenn sie nicht gefeuert werden wollten – was Carmen vermutlich nicht tun würde, solange sich ihr Buch auf den Bestsellerlisten hielt.
Warum also schickten sie ihr diesen Brief?
War es ein Weihnachtsgeschenk? Ging es um den Auftritt bei der Today Show, den sie unbedingt für sie buchen wollten?
Es gab nur einen Weg, herauszufinden, worum es sich handelte.
Sie riss den Umschlag auf und zog ein Blatt Papier heraus. Ungeduldig überflog sie die handschriftliche Nachricht.
Frohe Weihnachten, werte Carmen. Das neue Jahr naht, und ich biete Ihnen eine Herausforderung an. Sie können die Jägerin oder die Gejagte sein.
Sie rümpfte die Nase. Das war ja ganz schön rätselhaft. Ihr Blick fiel auf die Unterschrift.
Der Trucker.
Von einem Augenblick auf den anderen wich ihre Genervtheit grenzenlosem Entsetzen. Sie sprang keuchend auf und stieß den Stuhl um, als sie einen Schritt zurückwich.
Ach du Scheiße!
Der Trucker.
Zahlreiche Details ihrer Nachforschungen gingen ihr durch den Kopf.
Neal Scott. Ein zweiundvierzigjähriger Lkw-Fahrer aus Kansas City, der an der I-70 zwischen Denver und Topeka Jagd auf Huren und Ausreißerinnen gemacht hatte. Dieser Mann hatte mindestens siebenundzwanzig Frauen mit einem Brecheisen getötet und die Leichen entlang des Highways abgelegt. Nach seiner Verhaftung 1991 hatte er zugegeben, die Leichen im Kühlanhänger seines Lasters aufbewahrt zu haben, bis er ein neues Opfer gefunden hatte.
Carmen presste eine Hand auf ihr rasendes Herz und zwang sich, sich wieder dem Tisch zu nähern. Der Umschlag war zu schwer gewesen, als dass er nur ein dünnes Blatt Papier enthalten haben konnte.
Sie streckte eine Hand aus, ergriff eine Ecke des Umschlags und drehte ihn um. Als ein merkwürdiges Rascheln ertönte, verspannte sich Carmen. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber bestimmt nicht den Stapel an Polaroidfotos, die auf die Tischplatte fielen.
Ihr lautes Atmen durchbrach die Stille, als sie sich vorbeugte. Sie hatte diese Fotos schon einmal gesehen. Man hatte sie bei Neal Scott gefunden, nachdem dieser von einer Highwaypatrouille angehalten worden war. Dank dieser Bilder hatte man beweisen können, dass Scott der geheimnisvolle Serienmörder war, den die Presse den Trucker nannte. Als wäre die tote Prostituierte in seinem Anhänger nicht Beweis genug gewesen.
Carmen presste die Lippen aufeinander und griff nach den Fotos. Sie hatte sie auch in ihrem Buch veröffentlicht und kannte die schrecklichen Bilder daher ausgesprochen gut.
Sie wollte sie gerade in den Umschlag zurückstecken, als ihr Blick auf das zerschmetterte Gesicht einer jungen blonden Frau fiel und sie erstarrte.
Das Foto war körnig, und die Frau hatte Blut auf der Stirn, das aus der grässlichen Wunde an ihrer Schläfe stammte, aber ihre Züge waren dennoch gut zu erkennen.
Ihr Gesicht war schmal, fast schon ausgezehrt, und mit dünnen Narben übersät. Auf ihrem Kinn zeichneten sich einige Geschwüre ab. Vermutlich vom Meth. Und ihr langes Haar war zerzaust, als hätte sie es schon seit langer Zeit nicht mehr gekämmt.
Sie sah aus wie vierzig, war aber vermutlich eher näher an zwanzig.
Das war eine Frau, die ein hartes Leben und einen noch härteren Tod durchgemacht hatte.
Carmens Hände zitterten, als sie sich das nächste Foto ansah. Wieder eine Blondine. Ihr Gesicht war etwas kantiger und so stark gebräunt, dass die Haut an Leder erinnerte. Auch sie war erschreckend dürr. Und sie wies dieselbe blutige Wunde an der Seite des Kopfes auf.
Da waren noch drei andere Fotos. Auf allen junge Frauen, die man brutal ermordet hatte.
Die Bilder glichen den Polaroids, die man bei Neal Scotts Festnahme in dessen Besitz gefunden hatte. Doch keines dieser Fotos war beim Prozess als Beweismittel aufgetaucht.
Was in aller Welt hatte das zu bedeuten?
Hatte Scott diese Fotos versteckt? Aber wo? Und warum schickte man sie ihr?
Carmen ließ die Polaroidbilder fallen und wischte sich die Finger am Bademantel ab, als hätte sie sich beschmutzt.
Sie musste etwas unternehmen, so viel stand fest. Dummerweise ging in ihrem Kopf alles durcheinander, und sie konnte keinen klaren Gedanken fassen.
Ihr Blick huschte hin und her und fiel schließlich auf den großen Umschlag, der noch feucht vom Schnee war. Ja. Damit hatte alles angefangen. Dadurch war die Zerstörung ihres märchenhaften Urlaubs besiegelt worden.
Und sie wusste genau, wen sie dafür verantwortlich machen konnte.
Vorsichtig wich sie zurück, ohne den Tisch aus den Augen zu lassen. Als wären die Fotos eine Klapperschlange, die sich zum Zubeißen bereit machte. Gleichzeitig streckte sie einen Arm aus und tastete blind nach ihrem Handy, das sie auf der Arbeitsplatte liegen gelassen hatte.
Dabei fegte sie einen leeren Teller weg und warf eine Vase voller Blumen um. Unbedeutende Verluste. Endlich berührten ihre Finger ihr Handy.
Sie hob es hoch, sodass sie auf das Display sehen konnte, wandte den Blick jedoch nicht von den Fotos ab, und drückte die dritte Kurzwahltaste.
Ein leises Summen ertönte, als die Verbindung hergestellt wurde, und dann teilte ihr eine Computerstimme mit, dass das Büro bis nach Neujahr geschlossen war und dass sie eine Nachricht hinterlassen konnte, um so bald wie möglich einen Rückruf zu erhalten.
Oh, und man wünschte ihr gut gelaunt eine schöne Weihnachtszeit.
Na, großartig.
Sie legte auf und ging ihre Kontakte durch, bis sie die Nummer ihrer PR-Frau gefunden hatte. Lucy Cordova war zehn Jahre älter als Carmen und besaß den schlanken Körper eines Supermodels und die Seele eines weißen Hais.
Es war kein Zufall, dass sie als eine der Besten in ihrer Branche galt. Sie fraß ihre Konkurrenz und spuckte sie wieder aus.
»Geh ran, geh ran, geh ran«, murmelte Carmen, während das Handy tutete, doch dann schaltete sich die Mailbox ein. »Verdammt.«
Sie drückte die Wahlwiederholung. Mit demselben Ergebnis. Doch sie versuchte es ein drittes Mal.
Als sie gerade überlegte, ob sie einen vierten Versuch starten sollte, summte ihr Handy, weil sie einen Anruf bekam.
Lucy.
Gott sei Dank.
»Okay, Carmen«, krächzte eine Stimme. Anscheinend hatte Lucy beschlossen, an diesem Morgen auszuschlafen. »Was gibt es für einen Notfall?«
Carmen musste sich erst einmal räuspern, bevor sie einen Ton herausbekam.
»Es geht um das Paket, das heute Morgen vor meiner Tür lag.«
»Welches Paket?«, verlangte Lucy zu erfahren, und dann raschelte es, als würde sie aus dem Bett aufstehen. »Ach ja. Ich erinnere mich daran, dir diesen Umschlag geschickt zu haben.«
Carmen leckte sich die Lippen. Warum waren sie so trocken?
»Woher hast du ihn?«, fragte sie.
»Er wurde vor drei Tagen von einem Boten gebracht«, teilte Lucy ihr mit.
»Und wer war der Absender?«
»Das Büro der Pflichtverteidiger, die den Scott-Fall übernommen hatten«, antwortete Lucy, deren Stimme jetzt so widerhallte, als hätte sie den Lautsprecher eingeschaltet.
Die Frau machte sich zweifellos gerade Kaffee. Sie war koffeinsüchtig und eigentlich nie ohne eine Tasse in der Hand anzutreffen.
»Lag denn kein Brief dabei?«, wollte Carmen wissen.
Sie hörte ein leises Schlürfen und ein erleichtertes Seufzen. Lucy hatte offenbar den ersten Schluck Kaffee getrunken.
Eine Sekunde später klang ihre Stimme schon kräftiger, die Wirkung des Koffeins setzte ein.
»Nein, da war kein Brief. Nur eine handschriftliche Nachricht, dass sie nach Neal Scotts Exekution seine Habseligkeiten erhalten hatten und diese gerade durchgingen.«
Scott war vor drei Monaten hingerichtet worden. »Warum wurde der Umschlag an dein Büro geschickt?«, fragte Carmen.
»In der Nachricht stand, dass sie den Umschlag gefunden und zu deiner Wohnung geschickt hatten. Da du nicht zu Hause warst, haben sie ihn uns geschickt.«
Carmen schaute aus dem Fenster. Der Schnee fiel weiterhin gemächlich vom Himmel. Als könnte sich der Wettergott nicht entscheiden, ob der Schneefall zunehmen oder aufhören sollte.
Ich müsste jetzt Kaffee trinken und das Winterwunderland genießen,dachte sie. Stattdessen war ihr Frieden durch Todesvisionen zerstört worden.
Das war nicht die Art von Weihnachtsfest, die sie sich ersehnt hatte.
»Und du hast beschlossen, ihn mir hierherzuschicken?«
»Ich dachte, er würde vielleicht Informationen über den Mörder enthalten«, erwiderte Lucy. »Du weißt schon, irgendwas, das du in die Taschenbuchausgabe aufnehmen kannst, um den Verkauf anzukurbeln.«
Carmen stöhnte entnervt auf. Dass sie die Polaroidfotos in ihrem Haus liegen hatte, dass sie sie tatsächlich anfassen konnte, machte die Bilder irgendwie noch verstörender, als es die Schwarz-Weiß-Kopien, die sie für ihre Bücher verwendet hatte, gewesen waren.
Auf diese Weise fühlte es sich noch persönlicher an. Fast schon vertraulich.
»Der Tod dieser jungen Frauen ist eine Tragödie und kein Verkaufsargument«, fauchte sie.
Kurz herrschte betretenes Schweigen, bevor sich Lucy räusperte. »Du weißt genau, wie ich das meine.«
Carmen zwang sich zu einem gequälten Lachen. Sie wusste selbst nicht, warum sie wütend auf Lucy war, die ihr den Umschlag doch nur weitergeleitet hatte, ohne dessen Inhalt zu kennen.
»Ja, das weiß ich«, gab sie zu.
»Was ist los, Carmen?«, wollte Lucy auf einmal wissen.
Abermals fiel Carmens Blick auf den Tisch, und ihr Magen zog sich zusammen.
»Der Umschlag enthielt Fotos.«
»Was für Fotos?«
»Polaroids von toten Frauen. Insgesamt fünf.«
»Großer Gott. Das tut mir so leid, Carmen«, hauchte Lucy. »Etwa die Bilder, die beim Prozess verwendet wurden?«
Carmen schüttelte den Kopf, obwohl Lucy das gar nicht sehen konnte.
»Nein. Diese hier kannte ich bisher noch nicht.«
»Augenblick mal.« Lucys Stimme klang gepresst, dabei war sie kein Mensch, den man leicht aus dem Gleichgewicht bringen konnte. »Willst du mir damit sagen, dass das Fotos von toten Frauen sind, die die Öffentlichkeit bisher noch nicht kennt?«
Carmen erschauderte. Sie stand einen Meter vom Tisch entfernt, hatte jedoch das Gefühl, als würden die unbekannten Frauen sie anstarren. Als würden sie sie um etwas bitten, was Carmen ihnen nicht geben konnte.
Gerechtigkeit.
»Ich sage nur, dass ich sie nie zuvor gesehen habe. Und du weißt über meine Nachforschungen Bescheid«, sagte Carmen. »Ich halte es für möglich, dass ich abgesehen von Scott die Einzige bin, die von der Existenz dieser Bilder weiß.«
Sie hörte ein Klappern, als hätte Lucy ihre Kaffeetasse fallen gelassen.
»Das ist ja großartig!«, rief sie aus und versuchte gar nicht, ihren Freudenausbruch zu verbergen. »Ist dir klar, was mit deinen Verkaufszahlen passieren wird, wenn du Fotos von weiteren Opfern zeigen kannst?« Sie machte eine kurze Pause, und Carmen bildete sich ein, den Taschenrechner in Lucys Kopf zu hören, während diese die Zahlen überschlug. »Himmel, du könntest gleich ein neues Buch schreiben.«
Carmen verzog das Gesicht. Es wäre scheinheilig gewesen, Lucys Reaktion empörend zu finden. Schließlich hatte Carmen die Frau aus gutem Grund angeheuert – sie hatte ein unvergleichliches Gespür dafür, jede Situation gnadenlos zu ihrem Vorteil auszunutzen.
Selbst eine Situation, die mit toten Frauen zu tun hatte.
»Die Behörden müssen die Fotos bekommen«, entgegnete Carmen entschieden.
»Ja, aber zuerst fertigen wir Kopien davon an«, verlangte Lucy. »Es könnte Monate oder gar Jahre dauern, bis wir die Originale von der Polizei zurückbekommen.«
»Finden wir lieber erst einmal heraus, wer diese armen Frauen sind, bevor wir darüber nachdenken, mit ihnen Geld zu verdienen, okay?«, erwiderte Carmen trocken.
Anscheinend spürte Lucy, dass Carmen nicht in der Stimmung war, um über Geschäfte zu sprechen, da sie versuchte, ihre Aufregung zu zügeln.
»Und was soll ich jetzt für dich tun?«
Carmen überlegte kurz. Sie war noch immer völlig durch den Wind, und das Denken fiel ihr schwer. Es kam ihr beinahe so vor, als würden ihre Gehirnzellen in Sirup schwimmen.
»Ich möchte, dass du die Anwälte anrufst und so viel wie möglich über diesen Umschlag in Erfahrung bringst«, verlangte sie schließlich.
Sie hielt es für das Beste, ganz am Anfang anzufangen.
»Geht klar«, bestätigte Lucy, deren Entschlossenheit Carmens Unbehagen etwas lindern konnte. »Ich melde mich wieder bei dir.«
Carmen beendete das Gespräch und zwang sich, die Küche zu verlassen. Sie hatte das dringende Bedürfnis, heiß zu duschen. Zwar würde sie die Bilder dadurch nicht aus dem Kopf bekommen, aber sie konnte möglicherweise dieses Gefühl, beschmutzt zu sein, abwaschen.
Sie betrat das kleine Badezimmer, ließ den Bademantel auf den Boden fallen und ging unter die Dusche. Erschaudernd wartete sie, bis sich das Wasser aufgewärmt hatte, und fragte sich nicht zum ersten Mal, ob es ein Fehler gewesen war, Das Herz eines Jägers zu schreiben.
Sie hatte ihre Karriere als Journalistin schließlich nicht wegen des Traums begonnen, ihre Zeit in Gefängnissen zu verbringen und Monster zu interviewen. Und es waren Monster – jeder der fünf Männer hatte mindestens zehn Frauen ermordet, die meisten sogar weitaus mehr. Aber als ihr Collegeprofessor sie gewarnt hatte, dass die Artikel, die sie für die Schulzeitung schrieb, zu banal wären, um die Aufmerksamkeit einer angesehenen Zeitung oder Zeitschrift zu erregen, hatte sie sich dazu durchgerungen, sich etwas zu suchen, womit sie sich von anderen Möchtegernjournalisten unterschied.
Was machte sie einzigartig?
Die Antwort lag auf der Hand.
Mord.
Sie war mit dem Tod vertraut. Und mit der Art von Mann, die eine Unschuldige ermordete, ohne Gnade zu zeigen.
Daher hatte sie sich an Neal Scott gewandt, ohne sich auch nur den Hauch einer Chance auszurechnen, dass er auf ihre Bitte um ein Interview antworten würde. Der Mann saß seit siebzehn Jahren in der Todeszelle und hatte nie über seine Verbrechen gesprochen. Doch keine Woche später erhielt sie eine Antwort von Scotts Anwälten.
»Ja, Mr Scott würde sich gern mit Ihnen treffen, wann immer es Ihnen passt.«
Das war der Beginn ihrer düsteren Reise durch den Verstand von Serienmördern gewesen. Allerdings hatte sie geglaubt, damit abschließen zu können, sobald das Taschenbuch erschienen war.
Sie verzog das Gesicht, verließ die Duschkabine und trocknete sich ab. Dann ging sie über den Flur ins Schlafzimmer und zog sich eine Jeans und einen dicken Pullover über. Ihr blondes Haar fiel ihr lockig ins Gesicht, sodass sie fast wie zwölf aussah. Sie schnalzte mit der Zunge und band sich einen strengen Pferdeschwanz.
Ihre Großmutter mochte es niedlich finden, dass Carmen sich ihr kindliches Aussehen bewahrt hatte, aber sie ärgerte sich sehr darüber.
Als sie sich gerade warme Socken angezogen hatte und in die Küche zurückgekehrt war, klingelte ihr Handy.
Carmen nahm den Anruf an. »Was hast du rausgefunden?«
Lucys Stimme hallte durch den Raum. »Nichts.«
Sofort war die Anspannung wieder da. Verdammt. Hatte Lucy nur vorgegeben, ihr helfen zu wollen, damit Carmen zustimmte, die Fotos in ihrem Buch zu veröffentlichen?
»Ich bin nicht in der Stimmung für Spielchen, Lucy«, fauchte Carmen.
»So war das auch nicht gemeint, Carmen«, erwiderte Lucy. »Ich habe wirklich nichts in Erfahrung bringen können.«
Der schneidende Unterton in Lucys Stimme war nicht zu überhören.
Im Moment ging es nicht ums Geld. Lucy war wirklich besorgt.
»Das musst du mir erklären.« Carmen ließ sich auf einen Küchenstuhl sinken und rieb sich die Stirn.
Lucy räusperte sich. »Ich habe in der Anwaltskanzlei angerufen, die Neal Scott vertreten hat, wo man mir mitteilte, dass sie nicht die geringste Ahnung haben, wovon ich spreche.«
Carmen runzelte die Stirn. »Sie erinnern sich nicht daran, das Päckchen geschickt zu haben?«
»Sie erinnern sich nicht daran, weil es nicht von ihnen kommt«, erläuterte Lucy. »Tatsächlich hatten sie die eindeutige Anweisung von Neal Scott, seinen ganzen Besitz nach seiner Hinrichtung zu vernichten. Er wollte nicht, dass irgendein Gefängniswärter nach seinem Tod seine Zahnbürste auf eBay verkauft.«
Carmens Blick wanderte zurück zu den Fotos, die noch immer auf dem Küchentisch lagen.
Die Mitarbeiter der Anwaltskanzlei hatten keinen Grund zu lügen, jedenfalls keinen, der Sinn ergab.
»Und du bist dir sicher, dass der Umschlag von keiner anderen Kanzlei kam?«, hakte Carmen nach.
»Ich bin mir ganz sicher. Ich habe sogar bei der Empfangsdame nachgefragt, die Buch über die eingegangenen Pakete führt. Sie notiert sich immer genau, für wen das Paket ist und von welchem Unternehmen es kommt.«
Carmen spürte, wie sich ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengrube breitmachte.
»Welcher Lieferdienst hat es gebracht?«
»Dullus Express«, antwortete Lucy wie aus der Pistole geschossen. Offensichtlich hatte sie mit Carmens Frage gerechnet.
»Hast du die Telefonnummer?«
»Ich habe schon versucht, sie anzurufen.«
»Versucht?«
Lucy seufzte übertrieben. »Die Telefonnummer, die der Bote hinterlassen hat, gehört zu einem Chinarestaurant«, gab sie zu. »Und als ich den Namen der Firma gegoogelt habe, konnte ich nichts finden.«
»Wer hat den Umschlag geschickt?«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
Carmen erschauderte. »Scheiße.«
»Ja«, stimmte Lucy ihr zu. »Scheiße.«
Carmen legte auf. Sie musste erst einmal nachdenken, was ihr jedoch nicht möglich war, wenn Lucy auf sie einredete.
Sie schlug die Arme um ihren Oberkörper und starrte den Umschlag an, bevor ihr Blick zu der Nachricht weiterwanderte.
Konnte es sein, dass Neal Scott die Fotos aufgenommen hatte und dass die Polizei nichts davon wusste? Aber wer hatte sie dann entdeckt? Und warum machte sich derjenige die Mühe, Carmen glauben zu lassen, sie wären von dem Serienmörder, und unterschrieb die Nachricht sogar mit »Der Trucker«?
Sollte das irgendein kranker Witz sein? Durch ihr Buch war sie ins Visier aller möglicher Irrer geraten. Hatte einer von ihnen die Fotos nachgestellt, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen?
Das war eine plausible Theorie. Es gab so viele Verrückte auf der Welt.
Aber so gern sie die Fotos auch als Streich abgetan hätte, etwas tief in ihrem Inneren warnte sie, dass die Nachricht durchaus ernst gemeint sein könnte.
Sie ging auf und ab, und eine schreckliche Angst machte sich in ihr breit.
Wenn Scott die Fotos nicht gemacht hatte und sie auch nicht als Streich gedacht waren, dann konnte es nur eine andere Erklärung dafür geben.
Ein Nachahmungstäter.
Während ihr dieser entsetzliche Verdacht durch den Kopf ging, wanderte sie ruhelos durch die Küche. Konnte das sein? Lief da draußen ein Irrer herum, der beschlossen hatte, in Neal Scotts Fußstapfen zu treten?
Schlug er möglicherweise genau in diesem Moment einer unschuldigen Frau den Schädel ein?
Sie blieb neben dem Tisch stehen, berührte zaghaft das oberste Foto, und ihre Furcht verwandelte sich in Entschlossenheit.
Es gab nichts, was sie tun konnte, um diese Frauen zu retten. Nicht, wenn sie bereits tot waren.
Aber vielleicht, nur vielleicht, konnte sie ihnen Gerechtigkeit verschaffen.
20. Dezember
Rocky Mountains
Da sie nicht genau wusste, an welche Behörden sie sich wenden musste, stieg Carmen in den Jeep, den sie sich für ihren Aufenthalt in den Bergen gemietet hatte, und fuhr in die Kleinstadt, die sich direkt neben dem Skigebiet befand. Dort musste es doch jemanden geben, der die Fotos an die entsprechenden Behörden weiterleiten konnte.
Dummerweise hatte sie weder die Weihnachtszeit noch den Grippevirus, der gerade zuschlug, in Betracht gezogen. Auch nicht die Tatsache, dass die Frau des Sheriffs gerade Zwillinge zur Welt gebracht hatte.
Nachdem sie das flache Ziegelsteingebäude betreten hatte, führte die gelangweilte Rezeptionistin sie widerstrebend durch das gespenstisch leere Revier und in ein unordentliches Büro, in dem Carmen auf den diensthabenden Deputy warten sollte.
Während die Minuten verstrichen, mahlte sie mit dem Kiefer. Warum dauerte das denn so lange? Möglicherweise trieb da draußen ein neuer Killer sein Unwesen, und sie saß Däumchen drehend hier und wartete darauf, dass sich jemand an ihre Anwesenheit erinnerte.
Oder hatte die Rezeptionistin etwa vergessen, dem Deputy Bescheid zu sagen?
Carmen schüttelte ungeduldig den Kopf. Selbst, wenn die Frau sie vergessen hatte, musste dies doch das Büro des Deputys sein. An dem Whiteboard an der Wand waren einige hingekritzelte Notizen zu sehen. Auf dem mitgenommenen Schreibtisch stand ein gerahmtes Foto. Und in dem Aktenschrank befanden sich so viele beigefarbene Ordner, dass einige ein Stück weit herausragten und den Eindruck erweckten, sie wollten diesem Chaos entkommen.
Früher oder später musste der Mann doch auftauchen.
Es vergingen weitere zehn Minuten, bis der Deputy endlich den Raum betrat. Er war ein kleiner Mann mit stämmigem Körperbau, was jedoch eher an zu viel Kuchen als Muskeln zu liegen schien, und besaß ein eckiges Gesicht mit schlichten Zügen, das an eine Bulldogge erinnerte.
Im Augenblick trug er eine braune Uniform und eine Baseballkappe, die er sich tief ins Gesicht gezogen hatte. Mit ihm waberte der Geruch nach Kaffee und einer kürzlich gerauchten Zigarette herein.
»Miss Jacobs«, sagte er gedehnt und ließ sich auf seinen Bürostuhl fallen.
Nur mit Mühe gelang es Carmen, ihm ein Lächeln zu schenken. »Hallo, Deputy.«
»Würden Sie mir erklären, was Sie hergeführt hat?«
Carmen runzelte die Stirn. Der Mann hätte kaum weniger enthusiastisch klingen können. Sie war anscheinend nicht die Einzige, die einen schlechten Tag hatte.
Sie beugte sich vor, ignorierte seinen Tonfall und warf den Umschlag auf seinen Schreibtisch, wobei sie rasch umriss, wie dieser auf der Veranda ihrer gemieteten Hütte gelandet war.
Er nahm die Fotos heraus und ging sie schnell und augenscheinlich desinteressiert durch.
»Sie haben sie heute Morgen erhalten?«
»Ja.«
Er betrachtete die Bilder noch kurz, hob dann überraschend den Kopf und sah Carmen mit einem Blick an, in dem sich seine Ablehnung deutlich widerspiegelte.
»Und Sie kommen damit zu mir?« Bei ihm klang es beinahe wie eine Anschuldigung.
Sie war verwirrt. »Ich wusste nicht, an wen ich mich sonst wenden sollte.«
»Vielleicht an jemanden, der … Wie haben Sie es doch gleich ausgedrückt?« Er tat so, als würde er nachdenken. »Jemanden, der nicht so sehr damit beschäftigt ist, auf dem Hintern zu sitzen und Donuts zu essen, dass er sich nicht mit den Ermittlungen hinsichtlich der verschwundenen Huren beschäftigen kann.«
Carmen unterdrückte einen Seufzer und lehnte sich zurück. Aha. Das war also der Grund für die ablehnende Haltung.
Es war ihr nicht einmal in den Sinn gekommen, dass der Mann Das Herz eines Jägers gelesen haben könnte. Wie dumm von ihr. Der Immobilienmakler, der ihr die Hütte vermittelt hatte, war bestimmt damit hausieren gegangen, dass eine berühmte Schriftstellerin vorübergehend in der Gegend wohnen würde.
Was ja in Ordnung gewesen wäre, wenn sie ein gut laufendes Kochbuch geschrieben hätte.
Stattdessen hatte sie jedoch über Serienmörder geschrieben und ihre Meinung über die lokalen Behörden, die kein großes Interesse daran gehabt hatten, die vermissten Frauen zu finden, trotzig kundgetan – ebenso wie ihre Auffassung, dass man die Täter schneller gefunden hätte, wären die Opfer aus angesehenen Familien und keine Huren und Ausreißerinnen gewesen.
Sie versuchte, ihr Lächeln beizubehalten. »Ich gehe davon aus, dass Sie kompetent sind.«
»Wie kommen Sie auf die Idee?« Er ließ den Blick dreist über ihren ganzen Körper wandern. »In Ihrem Buch wirkt die Polizei wie ein Haufen unfähiger Schwachköpfe.«
»Das war nicht meine Absicht«, erwiderte sie, auch wenn sie davon ausging, dass er ihr nicht glaubte.
Damit behielt sie recht. Seine Miene schien sogar noch finsterer zu werden. »Nein. Sie wollten aus eiskalten Killern eine Art Kulthelden machen.«
Carmen schüttelte den Kopf. Sie hatte nicht vor, über die Vor- und Nachteile ihres Buchs zu diskutieren.
»Es tut mir wirklich leid, wenn ich Sie mit meinem Buch beleidigt haben sollte, aber ich brauche Ihre Hilfe, um herauszufinden, wer mir diese Fotos geschickt hat.« Sie versuchte, das Gespräch wieder auf den Beweggrund dafür zu lenken, dass sie über die vereisten Straßen in die Stadt gefahren war.
Der Deputy brauchte eine beleidigend lange Minute, bis er sich die Bilder abermals ansah.
»Haben Sie sie angefasst?«, verlangte er zu erfahren.
Carmen verschränkte die Hände im Schoß. »Natürlich.«
»Dann müssen wir auch keine Fingerabdrücke mehr abnehmen«, teilte er ihr mit, als hätte sie durch das Berühren der Fotos auch alle anderen Abdrücke beseitigt. Er nahm den Umschlag und drehte ihn um. »Keine Briefmarke?«
»Der Originalumschlag wurde entsorgt.«
Der Deputy schnaubte lautstark, wobei er wie eine betrunkene Gans klang.
»Wie praktisch.«
Carmen musterte ihn verwirrt. »Wie meinen Sie das?«
»Dadurch wären einige Dinge klarer geworden.«
»Dinge?«
Er stopfte die Fotos umständlich wieder in den Umschlag.
»Im Augenblick haben wir nur ein paar Fotos, auf denen möglicherweise tote Frauen zu sehen sind«, sagte er in abweisendem Tonfall. »Wir kennen weder das Datum noch den Ort, an dem die Bilder aufgenommen wurden. Es gibt auch keinerlei Hinweis darauf, wo sich die vermeintlichen Leichen jetzt befinden. Ich bin mir nicht sicher, was Sie jetzt von mir erwarten.«
War das sein Ernst?
»Es ist doch offensichtlich, dass Sie der Sache nachgehen sollten«, erwiderte sie und konnte ihre Verärgerung nicht ganz verbergen. »Wollen Sie denn nicht wissen, wer mir die Fotos geschickt hat und ob diese Frauen tatsächlich tot sind?«
Er schürzte die Lippen. »Und das hat nicht zufälligerweise etwas mit Ihrem Buch zu tun, Miss Jacobs?«
Carmen zählte bis zehn. Dann bis zwanzig.
Schließlich antwortete sie. »Bei Neal Scott handelt es sich um einen der Mörder, über die ich geschrieben habe, wie Sie vermutlich wissen.«
»Ich meinte …« Er tippte mit einem drallen Finger auf den Umschlag. »Erscheint demnächst etwa ein neues Buch von Ihnen?«
Sie runzelte die Stirn. Warum konzentrierte er sich derart auf ihr Buch?
»Kein neues«, gab sie achselzuckend zu. »Nur die Taschenbuchausgabe.«
»Und es würde den Verkauf ankurbeln, wenn die Medien erneut über Scott berichten würden, nicht wahr?«, merkte er an. »Ein paar geheimnisvolle Fotos, die zufälligerweise auf Ihrer Veranda auftauchen, und auf einmal will jeder Ihr Buch lesen.«
Wow. Die Anschuldigung wirkte wie ein Schlag ins Gesicht und ließ sie zusammenzucken.
Darauf wollte er also hinaus.
Sie beugte sich vor und knallte die Hände auf die Schreibtischplatte.
»Wollen Sie damit etwa andeuten, ich wäre nur deshalb mit den Fotos zu Ihnen gekommen, um eine Werbekampagne für mein Buch zu starten?«
»Das wäre nicht das erste Mal, oder?«
Erzürnt über die hartnäckige Weigerung des Mannes, ihr zuzuhören, verzog Carmen das Gesicht.
»Was wollen Sie damit andeuten?«
»Ist nicht bei einer Ihrer Signierstunden eine Frau aufgetaucht und hat behauptet, die Mutter eines der in Ihrem Buch erwähnten Opfer zu sein?«, beschuldigte der Deputy sie. »Ich habe gelesen, dass sie später gestanden hat, Schauspielerin zu sein, und dafür bezahlt wurde, dort eine Szene zu machen.«
Carmen zuckte zusammen. Auf diesen Zwischenfall wäre sie am liebsten nie wieder zu sprechen gekommen.
»Es wurde nie bewiesen, dass die Frau tatsächlich dafür bezahlt wurde, bei der Signierstunde aufzutauchen, aber es ist durchaus möglich, dass einer der Praktikanten aus der PR-Firma, die mich vertritt, das für eine gute Idee gehalten hat«, gestand sie widerstrebend.
Der Deputy verzog verächtlich die Lippen und tippte weiter mit einem Finger auf die Bilder.
»Vielleicht sollten Sie sich mal mit diesen Leuten über die Fotos unterhalten.«
»Das habe ich bereits getan, und sie haben nichts damit zu tun.«
»Sie können ja viel behaupten.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah so selbstzufrieden aus wie eine Katze, die gerade eine verletzte Ratte in die Ecke gedrängt hat.
Leise vor sich hinmurmelnd griff Carmen nach ihrer Handtasche, die sie neben ihre Füße auf den Boden gestellt hatte.
»Wenn Sie mir nicht glauben, dann fragen Sie die Leiterin der PR-Firma doch selbst«, meinte sie und zückte ihr Handy. »Sie wird Ihnen versichern, dass sie nicht dafür verantwortlich ist.«
Der Deputy zuckte mit den Achseln und ignorierte das Handy, das sie ihm reichte. »Das beweist gar nichts. Vielleicht war es diesmal Ihre eigene Idee.«
»Würde ich diese Fotos zu Werbezwecken nutzen wollen, dann hätte ich sie der New York Times oder der Today Show geschickt und nicht mir selbst.«
Erneutes Achselzucken. »Aber dann würden Sie nicht im Mittelpunkt der Story stehen.« Er saugte Luft durch die Lücke zwischen seinen Schneidezähnen. »Ich bin nicht von gestern, Miss Jacobs. Frauen wie Sie gieren immer nach Aufmerksamkeit.«
»Frauen wie ich? Meinen Sie Journalistinnen?«
»Frauen, die schon ihr ganzes Leben lang in den Klatschzeitungen zu sehen waren«, korrigierte er sie. »Sie halten es nicht aus, wenn Sie mal nicht im Rampenlicht stehen.«
Ihr ganzes Leben lang?
Carmen vergaß zu atmen, als sich ihr Magen vor Entsetzen zusammenzog.
Der Deputy bezog sich nicht auf ihr Buch. Offensichtlich wusste er von ihren Eltern. Und er kannte die erschreckenden Details über deren Tod, die monatelang in den Schlagzeilen gewesen waren.
Sie legte die Finger fester um das Handy. Kurz malte sie sich aus, wie sie dem Mann damit ins Gesicht schlug. Mit blutender Nase würde er nicht mehr so selbstgerecht aussehen.
Doch ihr gesunder Menschenverstand stellte sich sofort wieder ein, und sie steckte das Handy zurück in die Handtasche.
Schließlich wollte sie das Weihnachtsfest nicht im Gefängnis verbringen, sondern alle Hebel in Bewegung setzen, um den Schuft zu finden, der ihr diese Fotos geschickt hatte.
»Besteht Ihre einzige Reaktion auf die Fotos darin, mich als Lügnerin zu bezichtigen?«, fragte sie direkt.
Mit einem Mal schien sich der Deputy unwohl in seiner Haut zu fühlen. Als hätte er nicht damit gerechnet, dass sie von ihm verlangte, offen auszusprechen, was er bisher nur angedeutet hatte.
»Ich will damit nur sagen, dass es ein sehr seltsamer Zufall ist, wenn derartige bisher unbekannte Fotos auf einmal genau zu dem Zeitpunkt auftauchen, zu dem Sie ein neues Buch herausbringen«, wich er aus.
»Okay.« Carmen zog den Umschlag unter seinen drallen Fingern weg und sprang auf.
»Hey.« Er blinzelte und versuchte zu spät, den Umschlag festzuhalten. »Wo gehen Sie denn hin?«
Carmen war schon auf dem Weg zur Tür. »Da Sie mir nicht glauben, wende ich mich eben an jemanden, der es tut.«
Sie rechnete beinahe damit, dass er aufstehen und ihr den Weg versperren würde. Welcher Polizist, der seinen Beruf ernst nahm, wollte denn nicht auf Nummer sicher gehen, dass kein neuer Killer sein Unwesen trieb?
Doch der Deputy fluchte nur leise, und sein Bürostuhl quietschte, als er es sich darin etwas bequemer machte.
»Frohe Weihnachten, Miss Jacobs«, rief er ihr hinterher.
»Idiot«, murmelte sie und marschierte durch den Eingangsbereich ins Freie, wo sie von Eiseskälte empfangen wurde.
Sie erschauderte und begab sich über den rutschigen Parkplatz zu ihrem Jeep. Nachdem sie den Motor angelassen hatte, schaltete sie die Heizung ein und starrte durch die zugefrorene Windschutzscheibe.
Doch sie betrachtete nicht etwa die Berghänge, an denen bunt gekleidete Skifahrer in kleinen Gruppen zu sehen waren. Auch nicht die dramatischen, schneebedeckten Berge, die direkt über dem Skiresort aufragten.
Stattdessen warf sie den Umschlag auf den Beifahrersitz und kramte in ihrer Handtasche nach ihrem Handy. Es war offensichtlich, dass ihr die Polizei nicht helfen würde. Dafür hatte sie zu viele Brücken hinter sich abgebrochen. Nicht nur, indem sie angedeutet hatte, die Polizei hätte sich wegen der verschwundenen Frauen mehr Mühe geben müssen – sie hatte zudem auch etwas zu aggressiv nach Details verlangt, die der Öffentlichkeit eigentlich nicht zugänglich sein sollten.
Außerdem würde es immer Menschen geben, die glaubten, sie wäre aufgrund ihrer Vergangenheit nicht ganz bei Trost, wie es auch der Deputy angedeutet hatte.
Sie brauchte Beweise. Richtige, handfeste Beweise.
Wer konnte ihr jetzt helfen?
Sie ging ihre Kontaktliste durch. Die meisten ihrer Bekannten arbeiteten in der Buchbranche. Oder bei den Medien. Aber sie kannte auch einige Personen, die im Umfeld der Strafverfolgungsbehörden tätig waren.
Als ihr Daumen über dem Namen einer Person verharrte, die ihr tatsächlich helfen konnte, erstarrte Carmen.
Denn dieser Mann sah sie dummerweise als eine Lebensform an, die kaum höher als eine Schimmelpilzkultur einzuordnen war.
21. Dezember
Kalifornien
Das Haus lag weit genug vom Strand entfernt, dass man den Touristenhorden aus dem Weg gehen konnte, die Kalifornien zu dieser Jahreszeit heimsuchten, und war durch einen hohen Zaun vor den Nachbarn geschützt, der einem zudem ein Gefühl der Privatsphäre verschaffte. Früher einmal war es ein Farmhaus mit einer hinter Fliegengittern verborgenen Veranda und gemauerten Kaminen gewesen. Die erste Etage hatte Griffin Archer vor seinem Einzug vor drei Jahren derart umgebaut, dass dort anstelle mehrerer kleiner Räume ein großes Schlafzimmer entstanden war.
Im Augenblick saß Griff im Schatten am Terrassentisch und blickte auf den dürrekompatiblen Garten hinaus, für den er sich anstelle des sonst üblichen Pools entschieden hatte. Der Landschaftsgärtner, der mit der Aufgabe betraut worden war, hatte ihn vollkommen entsetzt angesehen, als Griff nicht einmal einen flachen Koi-Teich in Betracht ziehen wollte.
Reiche sollten offenbar zu Überfluss neigen.
Griff hingegen zog einfache Dinge vor.
Er nahm sein übliches Frühstück aus einem warmen Bagel mit Frischkäse und einem Glas frisch gepresstem Orangensaft zu sich und musterte sein Gegenüber.
Rylan Cooper war ein schlanker Mann, jünger als er, mit kantigen Zügen und goldbraunen Augen. Sein Haar war von der kalifornischen Sonne hellblond gebleicht worden, seine Haut trotz der Tatsache, dass er erst vor Kurzem nach Missouri zurückgekehrt war, um bei seiner frisch Angetrauten Jaci zu leben, tief gebräunt.
Seit dem Tag, an dem die beiden Männer an die Westküste gezogen waren, um ihr Technikunternehmen aufzubauen, das sich auf topmoderne Software für die Strafverfolgungsbehörden spezialisiert hatte, sah Rylan so aus, als würde er hierhergehören.
Rylan hatte sich eine elegante Strandwohnung gekauft. Er trug maßgeschneiderte Designerkleidung und ging mit spärlich bekleideten Models aus.
So stellte man sich einen Kalifornier vor. Doch dann war er wieder nach Hause gezogen und hatte ein Mädchen von nebenan geheiratet.
Im Gegensatz dazu hatte Griff sich nie wirklich eingefügt. Sein braunes Haar sah immer so aus, als hätte er schon vor einigen Wochen zum Friseur gemusst. An diesem Morgen war es noch schlimmer als sonst, da ihm das Haar in die breite Stirn fiel und sich über seinen Ohren lockte. Er war blass, obwohl er jeden Morgen am Strand laufen ging. Seiner Ansicht nach beruhte das darauf, dass er in Chicago geboren worden war und dass sich seine Haut daher eher für eisige Winter und trostlose Sommertage als für sonnenüberflutete Strände eignete.
Sein Gesicht war eher durchschnittlich, was sowohl Nase als auch Mund betraf. Er hatte seine Augen schon immer als sein herausragendstes Merkmal angesehen. Sie waren wie die seiner Mutter dunkelbraun und von dichten Wimpern gerahmt. Trotzdem hatte sich mehr als eine Frau darüber beschwert, dass er ständig abgelenkt wirkte und den Anschein erweckte, als würde er an etwas anderes denken.
Da hatten sie recht.
Zugegeben, er mochte Frauen, sehr sogar. Aber wenn er an einem Projekt arbeitete, dann fiel es ihm schwer, an etwas anderes zu denken.
An diesem Morgen trug er seine Laufshorts und ein lockeres Sweatshirt. Aber selbst wenn er sich Mühe gab und sich schick machen wollte, konnte er nicht mit Rylans schnittigem Erscheinungsbild mithalten.
Eigentlich war ihm das völlig egal.
Es gab einen guten Grund dafür, dass Rylan für die Verkäufe verantwortlich war, während sich Griff auf die Erschaffung des tatsächlichen Produkts konzentrierte.
Ohne Griffs Gedanken auch nur zu ahnen, sah Rylan auf seine Armbanduhr.
»Ich denke, das wäre alles«, sagte er. »Ich möchte früh am Flughafen sein. Zu dieser Jahreszeit macht das Verreisen einfach keinen Spaß.«
Griff stellte sein Orangensaftglas beiseite. Die beiden Männer hatten in den vergangenen Wochen an einem neuen Programm gearbeitet, das die Art revolutionieren konnte, wie Länder auf der ganzen Welt Gelder verfolgten, die in der Hand von Terroristen landeten. Was natürlich auch bedeutete, dass Rylan genug Flugmeilen gesammelt hatte, um sich damit eine eigene Fluggesellschaft kaufen zu können.
»Ich würde gern noch eine weitere Testreihe ansetzen, bevor wir mit der Installation anfangen.«
Rylan verdrehte die Augen. Griff wusste, dass sein Freund und Partner ihn für besessen hielt. Sie hatten schon Hunderte von Simulationen durchgeführt, und das Programm lief fehlerfrei.
»Das Heimatschutzministerium möchte das Programm bis zum ersten März installiert und einsatzbereit laufen haben«, gab Rylan zu bedenken, als hätte Griff diesen Termin vergessen können.
»Sie werden warten müssen, bis ich davon überzeugt bin, dass es keine Bugs mehr gibt«, beharrte Griff dickköpfig. »Du kennst meine Philosophie.«
»Ja, ja. Perfektion ist immer möglich.« Seufzend stand Rylan auf. Er wusste, dass Griff in dieser Hinsicht nicht nachgeben würde. »Ich werde meinen Ansprechpartner anrufen.« Rylan stemmte die Hände in die Hüften und blickte auf Griff hinab. »Sag mir wenigstens, dass du über die Feiertage nicht arbeiten wirst.«
Griff lag schon eine Lüge auf den Lippen.
Rylan war sein bester Freund. Nein, er war Griffs einziger wahrer enger Freund. Aber manchmal machte er sich Sorgen, als wäre er Griffs Großmutter und nicht sein Partner.
Und Griff hatte jetzt wirklich keine Lust auf eine Belehrung.
Aber als er seinem Freund in die Augen sah, unterdrückte er ein schweres Seufzen. Rylan hätte es sofort gemerkt, wenn er ihm etwas hätte vormachen wollen.
»Ich habe vor, mich mit einigen anderen Projekten zu beschäftigen, die während der letzten Monate ein wenig aus dem Blickfeld verschwunden sind«, gab Griff zu.
Rylan kniff die Augen zusammen. Er schien sich auf eine Predigt vorzubereiten, wahrscheinlich eine, die er innerlich längst geübt hatte. Als er jedoch Griffs leidende Miene bemerkte, warf er resigniert die Hände in die Luft.
»Jaci wird es dir nie verzeihen, wenn du das Weihnachtsessen verpasst«, warnte er ihn stattdessen.
»Ich bin kein Experte, was Frauen angeht«, erwiderte Griff und ignorierte Rylans unterdrücktes Lachen, »aber ich vermute, dass deine wunderschöne Frau das erste gemeinsame Weihnachtsfest gern allein mit ihrem Mann verbringen würde. Erst recht, wenn man bedenkt, wie wenig sie in den letzten sechs Wochen von dir hatte.«
»Davon sollte man ausgehen, nicht wahr?«, meinte Rylan. »Welche Frau würde mir denn nicht ein romantisches Essen im Bett servieren und mich dann wie ein Weihnachtsgeschenk auspacken wollen?«
Griff bedachte seinen Freund mit einem entsetzten Blick. »Himmel noch mal, Rylan, dieses Bild bekomme ich so schnell nicht wieder aus dem Kopf.«
Rylan schniefte und setzte einen gespielt verletzten Gesichtsausdruck auf. »Stattdessen hat meine Frau die letzte Woche damit verbracht, genug Essen für eine ganze Armee zu kochen und sich darüber zu beschweren, dass ich mir nicht genug Mühe gebe, dich zur Reise nach Missouri zu überreden.« Er hielt inne und schien darauf zu hoffen, das Maximum an Schuldgefühlen auszulösen. »Sie ist der Meinung, das Weihnachtsfest wäre erst dann richtig schön, wenn unsere ganze Familie beisammen ist.«
»Unsere Familie?«
Rylan grinste. Die beiden Männer hatten sich während Rylans Collegezeit kennengelernt und waren später nach Kalifornien gezogen.
»So sieht sie dich nun mal«, versicherte er seinem Partner. »Hast du ein Problem damit?«
Griff ging das Herz auf. Er kannte Jaci erst seit ihrer Hochzeit mit Rylan, aber in den Monaten danach war ihm die süße, nüchterne Frau, für die er sofort zu einer Art Bruder geworden war, ans Herz gewachsen.
Er hatte nie offen zugegeben, dass tief in seinem Inneren die Furcht gelauert hatte, Rylan könnte sich nach der Hochzeit vom Unternehmen und seinem alten Freund abwenden, wie es so häufig passierte, wenn sich Männer verliebten.
Stattdessen hatte Griff eine kleine Schwester hinzugewonnen.
»Nein«, antwortete er. »Nicht das geringste Problem.«
»Dann kommst du zum Essen?«, holte Rylan mühelos zum Todesstoß aus.
Griff lachte auf. Das war einer der Gründe dafür, dass sein Freund derart erfolgreich Geschäfte machte.
»Du gibst einfach nicht auf.«
Rylan zuckte mit den Achseln. »Das ist Teil meines Charmes.«
Als Griff Rylan gerade darauf hinweisen wollte, dass er sich diesen Charme nur einbildete, wurde er vom Klingeln seines Handys abgelenkt.
Er presste die Lippen aufeinander, und seine Finger zuckten, als er dem Drang widerstand, das Gerät vom Tisch zu fegen.
Die Anrufe hatten gestern angefangen. Nach einem Blick auf den Namen, der auf dem Display angezeigt wurde, hatte er direkt die Mailbox rangehen lassen und darauf gehofft, dass die Frau nach einem Dutzend Versuchen vielleicht aufgeben würde.
Was sie natürlich nicht tat.
Carmen Jacobs war vor allem eins: entschlossen.
Rylan beäugte Griff verwirrt, er konnte seinem Freund die Verärgerung deutlich ansehen.
»Ein unzufriedener Kunde?«
»Carmen Jacobs«, antwortete Griff knapp.
Rylan runzelte die Stirn. »Müsste ich sie kennen?«
»Sie hat das Buch Das Herz eines Jägers geschrieben«, rief Griff ihm ins Gedächtnis.
»Ah, jetzt erinnere ich mich.« Rylan stutzte und musterte Griffs verkrampfte Miene. »Sie wollte dich interviewen, nicht wahr?«
Griff stand abrupt auf, fast so, als könnte er durch die Bewegung verhindern, dass Carmen Jacobs’ Bild vor seinem inneren Auge auftauchte.
Was ihm selbstverständlich nicht gelang.
Erschreckend deutlich sah er Carmens lockiges blondes Haar, das ihr perfektes ovales Gesicht wie ein Heiligenschein umgab. Ihre großen Augen, die exakt die Farbe von Blauglöckchen hatten, und ihre hin und wieder aufblitzenden entwaffnenden Grübchen.
Ein solches Gesicht konnte Männer dazu bringen, sich wie Idioten zu benehmen.
Das hatte er auf dieselbe Weise lernen müssen, auf die er im Allgemeinen Dinge über hübsche Frauen in Erfahrung brachte.
Auf die harte Tour.
»Ja«, murmelte er.
Das Handy verstummte, nur um zehn Sekunden später abermals zu summen.
»Was will sie denn jetzt von dir?«, fragte Rylan.
Griff war sich der Hitze, die sich unter seiner Haut breitmachte, unangenehm bewusst. Das musste doch Wut sein, oder nicht? Vielleicht auch Scham, weil er sich so leicht von blauen Augen und Grübchen um den Verstand bringen ließ.
»Keine Ahnung, und es ist mir auch egal.«
Rylan kniff die Augen zusammen. »Du siehst irgendwie aus, als …«
»Als was?«
»Als würdest du erröten.«
Blödsinn. Griff runzelte die Stirn und sah übertrieben auffällig auf Rylans Armbanduhr. »Musst du nicht deinen Flieger erwischen?«
»Bin ja schon weg.« Rylan hob kapitulierend die Hände. »Aber gib nicht mir die Schuld, wenn du keine Blaubeermuffins mehr von Jaci bekommst.«
Das war eine ernstzunehmende Drohung. Jacis Blaubeermuffins waren Kunstwerke; saftig und süß und unfassbar lecker.
»So grausam kann sie doch nicht sein«, protestierte Griff.
Rylan öffnete die Lippen, aber bevor er etwas sagen konnte, summte Griffs Handy ein weiteres Mal.
Griff stieß einen leisen Fluch aus; er war nicht in der Stimmung, in Rylans Kichern mit einzufallen.
»Vielleicht solltest du Miss Jacobs zurückrufen«, meinte Rylan. »Eine so hartnäckige Frau ist die Mühe wert.«
Griff verschränkte die Arme vor der Brust. »Auf Miss Jacobs kann ich ebenso gut verzichten wie auf die Mühe.«
Rylan zuckte mit den Achseln und machte sich auf den Weg zum Gartentor. »Pass auf dich auf«, rief er über die Schulter. »Wir sehen uns dann beim Weihnachtsessen.«
»Dämliche Nervensäge«, hauchte Griff und nahm das Handy vom Tisch, bevor er ins Haus ging.
Zwanzig Minuten später joggte er sich auf seiner Lieblingsstrecke am Strand die Frustration aus dem Leib.
Er atmete die salzige Luft tief ein und bekam nach und nach einen freien Kopf, während seine Füße über den festen Sand donnerten und seine Haut von einem dünnen Schweißfilm benetzt wurde. Dies war das Beste am Leben an der Küste: Die frühmorgendliche Einsamkeit, wenn es nichts außer ihm, dem Meer und dem Hämmern seines Herzens gab.
Nach acht Kilometern drehte er um und schlenderte gemächlich zurück. Dank der geringeren Geschwindigkeit kühlte er nicht nur ab, sondern konnte die Aussicht auch genießen.
Als er die Stufen zum Parkplatz erklomm, drehten sich seine Gedanken bereits wieder um die Arbeit, die zu Hause auf ihn wartete. Doch das war ein Fehler, denn so war er derart abgelenkt, dass er die Frau nicht bemerkte, die an der Motorhaube seines roten Tesla lehnte.
Er war nur noch wenige Meter von seinem Wagen entfernt, als er sie schließlich wahrnahm.
Verdammt noch mal!
Seine Exfreundinnen hatten recht. Er beschäftigte sich viel zu sehr mit seinen Gedanken. Ansonsten wäre ihm die Frau bereits vom Strand aus aufgefallen und er hätte ihr aus dem Weg gehen können.
Vermutlich hatte jeder andere Mann in der Gegend Carmen Jacobs’ Anwesenheit bereits bemerkt.
Immer mehr Menschen machten sich auf den Weg Richtung Ozean, und viele der Männer blieben kurz stehen, um Carmens schlanken Körper zu bewundern, der unter ihrer Jeans und dem engen Kaschmirpullover an genau den richtigen Stellen Rundungen aufwies. Einigen gelang es sogar, den Blick lange genug von ihren herrlichen Brüsten abzuwenden, um das silbergoldene Haar zu betrachten, das ihr auf die Schultern fiel und ihre zarten Gesichtszüge umrahmte.
Griff wusste genau, was sie dachten. Schließlich träumte jeder Mann davon, das süße, unschuldige Mädchen in sein Bett zu locken und die verruchtesten Dinge mit ihr anzustellen.
Genau das war ihm vor sechs Monaten auch durch den Kopf gegangen. Eine ganze Woche lang war er jeden Morgen an Carmens Seite gelaufen und albernerweise davon ausgegangen, das Schicksal hätte dafür gesorgt, dass sich ihre Wege kreuzten. Er hatte ihre Absichten auch dann noch nicht angezweifelt, als sie ihn zunehmend über seine Arbeit ausgefragt und so getan hatte, als würde sie jedes seiner Worte faszinieren.
Erst, als er die Morgenzeitung las und auf einen Artikel stieß, in dem über Carmen Jacobs Kurs an einem hiesigen College berichtet wurde, ging ihm auf, dass ihr plötzliches Interesse an ihm möglicherweise einen guten Grund hatte.
Er zog die Wagenschlüssel aus der Tasche seiner Shorts.
»Ich will kein Wort hören«, warnte er sie und weigerte sich, ihr in die Augen zu sehen. Diese wunderschönen blauen Augen hatten ihn schon einmal in ihren Bann gezogen, doch das würde kein zweites Mal geschehen. »Treten Sie einfach von meinem Wagen weg, und verschwinden Sie.«
»Hallo, Griffin.«
Ihre Stimme war ebenso federleicht und feminin wie der Rest von ihr und traf ihn wie eine Liebkosung. Griff knirschte mit den Zähnen.
»Welcher Teil von ›ich will kein Wort hören‹ war unklar?«
Aus dem Augenwinkel sah er, wie sie zusammenzuckte. Hatte sie etwa damit gerechnet, dass er bei ihrem Anblick Freudensprünge machen würde? Vermutlich.
»Ich brauche Ihre Hilfe.«
»Das können Sie vergessen.« Er machte sich daran, die Autotür zu öffnen.
Sie trat ihm beherzt in den Weg. »Sie müssen mich anhören.«
Instinktiv hob er bei ihrer inständigen Bitte den Blick, woraufhin es ihn wie ein Blitz durchzuckte, als er ihr in die klaren blauen Augen sah. Es traf ihn genau wie beim ersten Mal, als er ihr am Strand begegnet war.
Sofort wallte Zorn in ihm auf.
»Ich muss überhaupt nichts«, knurrte er.
»Bitte«, flüsterte sie und hob eine Hand, als wollte sie ihn berühren.
Griff wich einen Schritt zurück. »Vermutlich haben Sie Ihr ganzes Leben lang nur lächeln müssen, um zu bekommen, was Ihr Herz begehrt, aber bei mir funktioniert das nicht«, teilte er ihr mit und machte eine abwehrende Handbewegung. »Und jetzt gehen Sie mir aus dem Weg.«
Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper. Es überraschte ihn nicht, dass sie an Ort und Stelle stehen blieb.
Dieses dickköpfige Weibsstück.
»Mir ist bewusst, dass wir nicht gerade den besten Start hatten«, sagte sie.
»Ach ja?« Er stieß ein schrilles Lachen aus. »Was genau meinen Sie damit? Dass Sie mich gestalkt haben?«, verlangte er zu erfahren und dachte dabei an die Vormittage, an denen sie am Strand bereits auf ihn gewartet hatte. »Oder dass Sie mich angelogen haben?«, fügte er hinzu und erinnerte sie daran, dass sie behauptet hatte, ihr Name wäre Jane Doe. »Oder dass Sie mich benutzen wollten?«, schloss er seine Anschuldigung ab.
»Ich wollte nicht …« Carmen sprach nicht weiter, als sie seine grimmige Miene bemerkte. Offensichtlich schaffte es nicht einmal sie, ihm in die Augen zu sehen und ihre Sünden zu leugnen. Nicht, nachdem sie ihn wochenlang mit endlosen Anrufen belästigt hatte, um ihn zu einem Interview für ihr neues Buch zu bewegen. Als er sich schlichtweg geweigert hatte, war sie zur guten alten »Inkognito-Strategie« übergegangen. Eine hübsche Frau. Ein knapper Bikini. Zufallstreffen am Strand. Zweifellos hatte sie gehofft, ihn mit blinder Lust zu verwirren, bevor er begriff, wen er da vor sich hatte. »Ich brauche Ihre Hilfe«, wiederholte sie.
Er schnaubte ungläubig. »Suchen Sie neue Opfer, die Sie ausbeuten können, um einen weiteren Bestseller zu schreiben?«
Sie wurde blass, als hätte er einen Nerv getroffen, doch ihre Entschlossenheit geriet nicht ins Wanken.
»Das hat nichts mit meinem Job zu tun«, behauptete sie.
»Aha.«
Sie griff mit ruckartigen Bewegungen in die große Handtasche, die sie auf die Motorhaube seines Wagens gestellt hatte, und zog einen Briefumschlag heraus.