Erbarmungslos - R.A. Salvatore - E-Book

Erbarmungslos E-Book

R.A. Salvatore

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Beschreibung

Unverzichtbar für Fans: Das epische Finale der Generationen-Trilogie um Dunkelelf Drizzt!

Mit seinem Sohn Drizzt Do'Urden wiedervereint und in der Zeit versetzt, hat Zaknafein die schwierigsten Kämpfe überstanden. Doch das Überleben hat einen schrecklichen Preis, und der Kampf ist noch lange nicht vorbei. Als das Schicksal eine unerwartete Wendung nimmt, entdeckt Zaknafein, dass er nicht nur die Dunkelheit besiegen, sondern auch lernen muss, das Unkontrollierbare zu akzeptieren: das Leben selbst.

Der actiongeladene Abschluss der Trilogie – voller atemberaubender Spannung, düsterer Magie und gefährlicher Intrigen.

Die Generationen-Trilogie bei Blanvalet:

Zeitenlos
Grenzenlos
Erbarmungslos

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Seitenzahl: 655

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Buch

Unverzichtbar für Fans: Das epische Finale der Generationen-Trilogie um Dunkelelf Drizzt!

Mit seinem Sohn Drizzt Do’Urden wiedervereint und in der Zeit versetzt, hat Zaknafein die schwierigsten Kämpfe überstanden. Doch das Überleben hat einen schrecklichen Preis, und der Kampf ist noch lange nicht vorbei. Als das Schicksal eine unerwartete Wendung nimmt, entdeckt Zaknafein, dass er nicht nur die Dunkelheit besiegen, sondern auch lernen muss, das Unkontrollierbare zu akzeptieren: das Leben selbst.

Der actiongeladene Abschluss der Trilogie – voller atemberaubender Spannung, düsterer Magie und gefährlicher Intrigen.

Die Generationen-Trilogie bei Blanvalet:

Zeitenlos

Grenzenlos

Erbarmungslos

Autor

R. A. Salvatore wurde 1959 in Massachusetts geboren, wo er auch heute noch lebt. Bereits sein erster Roman »Der gesprungene Kristall« machte ihn bekannt und legte den Grundstein zu seiner weltweit beliebten Romanserie um den Dunkelelf Drizzt Do’Urden. Die Fans lieben Salvatores Bücher vor allem wegen seiner plastischen Schilderungen von Kampfhandlungen.

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet

Die Legende von Drizzt beiBlanvalet:

Menzoberranzan

Die Dunkelelfen · Die Rache der Dunkelelfen · Der Fluch der Dunkelelfen

Das Eiswindtal

Der gesprungene Kristall · Die silbernen Ströme · Der magische Stein

Das Vermächtnis des Dunkelelfen

Das Vermächtnis · Nacht ohne Sterne · Brüder des Dunkels · Die Küste der Schwerter

Pfade der Dunkelheit

Kristall der Finsternis · Schattenzeit · Die Rückkehr der Hoffnung

Die Söldner

Der schwarze Zauber · Der Hexenkönig · Die Drachen der Blutsteinlande

Die Klingen des Jägers

Die Invasion der Orks · Kampf der Kreaturen · Die zwei Schwerter

Übergänge

Der König der Orks · Der Piratenkönig · Der König der Geister

Niewinter

Gauntlgrym · Niewinter · Charons Klaue · Die letzte Grenze

The Sundering – Die Gefährten

Das Buch der Gefährten

Die Nacht des Jägers · Der Aufstieg des Königs · Die Vergeltung des Eisernen Zwerges

Die Heimkehr

Meister der Magie · Meister der Intrige · Meister des Kampfes

Generationen

Zeitenlos · Grenzenlos

Außerdem:Erzählungen vom Dunkelelf

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Roman

Deutsch von Imke Brodersen

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Relentless – A Drizzt Novel« bei Harper Voyager, New York, 2020. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Copyright der Originalausgabe © 2020 by Wizards of the Coast LLC Published by arrangement with Harper Voyager, an imprint of HarperCollins Publishers, LLC. FORGOTTEN REALMS, NEVERWINTER, DUNGEONS & DRAGONS, D&D, WIZARDS OF THE COAST and their respective logos are trademarks of Wizards of the Coast LLC in the U.S.A. and other countries. © 2020 Wizards of the Coast LLC. Licensed by Hasbro. Published in the Federal Republic of Germany by Blanvalet Verlag, München Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkterstr. 28, 81673 München Redaktion: Alexander Groß Umschlaggestaltung: Isabelle Hirtz, Inkcraft nach einer Originalvorlage von Harper Voyager Umschlagdesign: Richard L. Aquan Umschlagmotiv: Aleksi Briclot

Dieses Buch ist für die Leser, die seit über 30 Jahren mit mir unterwegs sind. Und für die von euch, die jünger sind als die ersten Drizzt-Bücher und die gerade erst in das Abenteuer hineinfinden.

Was war das für eine wunderbare Reise für mich!

Und ein Hoch auf Diane, die in diesen surrealen Zeiten schon so lange die soziale Isolation mit mir durchhält!

Dramatis personae

In der Vergangenheit … nur Drow

Haus Xorlarrin

Oberin Zeerith Xorlarrin: Mächtige Anführerin des Vierten Hauses der Stadt.

Horoodissomoth Xorlarrin: Hauszauberer und ehemaliger Lehrmeister von Sorcere, der Drow-Akademie für arkane Magie.

Kiriy Xorlarrin: Priesterin der Lolth, Tochter von Zeerith und Horoodissomoth.

Haus Simfray

Oberin Divine Simfray: Herrscherin über ihr kleines Haus.

Zaknafein Simfray: Starker Elitekämpfer von Haus Simfray mit wachsendem Ruf, der zu den besten Kriegern der Stadt zählt. Wird von der ehrgeizigen Oberin Malice wie ein Augapfel gehütet, um ihr Haus voranzubringen und ihre persönlichen Gelüste zu befriedigen.

Haus Tr’arach

Oberin Hauzz Tr’arach: Herrscherin über ihr kleines Haus.

Duvon Tr’arach: Sohn von Oberin Hauzz. Waffenmeister von Haus Tr’arach. Will sich unbedingt beweisen.

Daungelina Tr’arach: Älteste Tochter von Oberin Hauzz und Erste Priesterin des Hauses.

Dab’nay Tr’arach: Tochter von Oberin Hauzz. Studiert gegenwärtig in Arach-Tinilith, der Drow-Akademie für die Priesterinnen der Lolth.

Haus Baenre

Oberinmutter Yvonnel Baenre: Auch als Yvonnel die Ewige bekannt. Oberinmutter Baenre ist unangefochtenes Oberhaupt nicht nur des Ersten Hauses, sondern von ganz Menzoberranzan. Auch andere Familien können ihre Oberinnen zwar als Oberinmutter ansprechen, aber als »die Oberinmutter« der Stadt gilt Yvonnel Baenre. Sie ist die älteste lebende Drow und hat diese Machtposition schon länger inne, als sich jeder andere Bewohner der Stadt erinnern kann.

Gromph Baenre: Oberinmutter Baenres ältestes Kind. Erzmagier von Menzoberranzan, höchstrangiger Mann der Stadt und in den Augen vieler der mächtigste Zauberer im gesamten Unterreich.

Dantrag Baenre: Sohn von Oberinmutter Baenre. Waffenmeister ihres Hauses. Gilt als einer der größten Krieger der Stadt.

Triel, Quenthel und Sos’Umptu Baenre: Drei Töchter von Oberinmutter Baenre. Priesterinnen der Lolth.

Weitere wichtige Drow:

K’yorl Odran: Oberin von Haus Oblodra, das für seine Beherrschung der ungewöhnlichen Gedankenmagie, Psionik, bekannt ist.

Jarlaxle: Schurke ohne Haus und Gründer von Bregan D’aerthe, einer Söldnerbande, die unauffällig Dienste für diverse Drow-Häuser erledigt, vor allem aber auf den eigenen Vorteil bedacht ist.

Arathis Hune: Leutnant von Jarlaxle und Assassine der Extraklasse. Wie viele andere Mitglieder von Bregan D’aerthe nach dem Zusammenbruch seines Hauses zur Bande gestoßen.

In der Gegenwart … viele Völker.

Drizzt Do’Urden: Geboren in Menzoberranzan, vor der Bosheit der Stadt geflohen. Drow-Krieger, Held des Nordens, einer der Gefährten der Halle.

Catti-brie: Menschenfrau, Frau von Drizzt. Auserwählte der Göttin Mielikki. In der arkanen und heiligen Magie bewandert. Gefährtin der Halle.

Regis alias Spinne Paraffin: Halbling. Mann von Donnola Topolino. Anführer der Halblingstadt Rebenblut. Gefährte der Halle.

König Bruenor Heldenhammer: Achter König von Mithril-Halle, Zehnter König von Mithril-Halle, Dreizehnter König von Mithril-Halle, heute König von Gauntlgrym, einer uralten Zwergenstadt, die er mit seiner Zwergensippe zurückerobert hat. Gefährte der Halle. Adoptivvater von Wulfgar und Catti-brie.

Wulfgar: Geboren im Elchstamm im Eiswindtal. Der große Menschenmann wurde von Bruenor in der Schlacht gefangen genommen und wuchs als Adoptivsohn des Zwergenkönigs auf. Gefährte der Halle.

Artemis Entreri: Ehemaliger Erzfeind von Drizzt. Mensch und Assassine, dem Drow-Krieger möglicherweise im Kampf gewachsen. Gehört heute zu Jarlaxles Bande, Bregan D’aerthe, und betrachtet Drizzt und die anderen Gefährten der Halle als seine Freunde.

Guenhwyvar: Magischer Panther, Begleiterin von Drizzt, wird von der Astralebene zu ihm gerufen.

Andahar: Magisches Einhorn, das Drizzt als Reittier herbeirufen kann. Im Gegensatz zu Guenhwyvar, die lebendig ist, ist Andahar ein rein magisches Wesen.

Lord Dagult Nieglut: Statthalter von Tiefwasser und Lordprotektor der Stadt Niewinter. Gutaussehender, ehrgeiziger Mensch.

Penelope Harpell: Anführerin der exzentrischen Zaubererfamilie Harpell. Schützt von ihrem Landsitz aus, dem Efeu-Herrenhaus, die Kleinstadt Langsattel. Penelope ist eine mächtige Zauberkundige, die Catti-brie unterweist und gelegentlich Stelldicheins mit Wulfgar hat.

Donnola Topolino: Halbling. Frau von Regis. Anführerin der Halblingstadt Rebenblut. Sie stammt aus Aglarond, weit im Osten, wo sie einst eine Diebesgilde leitete.

Inkeri Margaster: Adlige aus Tiefwasser. Gilt als Oberhaupt des Hauses Margaster von Tiefwasser.

Alvilda Margaster: Cousine und enge Vertraute von Inkeri. Ebenfalls Adlige aus Tiefwasser.

Brevindon Margaster: Inkeris Bruder, weiterer Adliger aus Tiefwasser.

Großmeister Kane: Mensch und Mönch, der seine sterbliche Hülle transzendiert hat und ein Wesen jenseits der Materiellen Ebene geworden ist. Kane ist Großmeister der Blumen im Kloster der Gelben Rose im fernen Damara. Als Freund und Mentor hilft er Drizzt, auf seinem turbulenten Weg endlich seinen Frieden zu finden.

Dahlia Syn’dalay (Dahlia Sin’felle): Eine große, schöne Waldelfe mit blauen Augen. Ihr Erscheinungsbild ist ebenso überraschend wie ihre brillante Kampfkunst. Eine Zeitlang war Dahlia mit Drizzt zusammen. Heute ist sie die Gefährtin von Artemis Entreri, und gemeinsam finden die beiden einen besseren Weg als jeder für sich allein.

Thibbledorf Pwent: Der kampfgestählte Zwerg ist in seiner scharfkantigen Stachelrüstung eine wandelnde Waffe. Seine Treue ist ebenso legendär wie der Gestank, der von ihm ausgeht. Seine schier selbstmörderischen Angriffe starteten stets mit dem Schrei: »Mein König!« Er ist in den Tiefen von Gauntlgrym bei der Rettung von König Bruenor umgekommen. Da er jedoch von einem Vampir getötet wurde, war dieser Tod nicht das Ende, und so spukt Pwent als unglückliches, verfluchtes Geschöpf durch die tiefsten Tunnel von Gauntlgrym, wo er seinen ewigen Hunger jenseits des Zwergenreichs mit Goblins stillt.

Die Brüder Felsenschulter, Ivan und Pikel: Ivan Felsenschulter ist ein in Ehren ergrauter Veteran vieler magischer und weltlicher Schlachten. Als Kommandant von Bruenors Wachen in Gauntlgrym hat der Zwerg eine Vertrauensposition inne.

Deutlich exzentrischer als Ivan ist sein Bruder Pikel. Er hat grüne Haare und betrachtet sich als Druide (Duu-dad). Pikel hilft Donnola Topolino beim Anlegen erstklassiger Weinberge in Rebenblut. Sein begrenzter, schwer verständlicher Wortschatz unterstützt das täuschend unschuldige Auftreten dieses ziemlich mächtigen Zwergs.

Kimmuriel Oblodra: Ein mächtiger Drow-Psioniker, der mit Jarlaxle zusammen Bregan D’aerthe leitet. Er ist das logische Gegenstück zum emotionalen Jarlaxle, was Jarlaxle durchaus bewusst ist.

Unsterbliche

Lolth, Herrin des Chaos, Dämonenkönigin der Spinnen, Königin der Dämonennetzhöllen: Die mächtige Dämonin Lolth herrscht als einflussreichste Göttin der Drow besonders über die größte Drow-Stadt, Menzoberranzan, die wegen der Ergebenheit ihrer Bewohner auch als die Spinnenstadt bezeichnet wird. Die Herrin des Chaos macht ihrem Namen alle Ehre, indem sie ihre Anhänger stets aufs Neue schockiert und ihre wahren Pläne unter dem Netz anderer Intrigen verhüllt, die offensichtlicher und verständlicher erscheinen. Ihr eigentliches Anliegen ist das Chaos.

Eskavidne und Yiccardaria: Diese Yochlol-Dämoninnen sind weniger mächtig und dienen Lolth als persönliche Zofen. Beide sind so gewieft und einfallsreich, dass Lolth ihnen bei ihren Besuchen bei den Drow viel Freiheit gewährt, damit sie alles hinreißend durcheinanderwirbeln.

Prolog

Das Jahr des Wiedererstandenen Zwergenvolks

Zeitrechnung der Täler 1488

Bruder Afafrenfere ermahnte sich immer wieder, sich vom Aussehen des alten Mannes nicht täuschen zu lassen. Er wirkte so … verschrumpelt. Gebrechlich. Ein schmaler Mensch, dessen Alter die meisten schon aufgrund seiner eingefallenen Wangen auf über hundert geschätzt hätten.

Was durchaus stimmte, nur zählte dieser Mann ungefähr doppelt so viele Jahre.

Afafrenfere drehte sich blitzschnell nach links und zweimal um sich selbst, um sich von seinem Gegner fernzuhalten. Am Waffenständer zog er ein langes Schwert mit schmaler, geschwungener Klinge. Er wirbelte mit gezückter Waffe so plötzlich herum, als würde er den alten Mann kampfbereit hinter sich erwarten.

Doch Kane, der Großmeister der Blumen, verharrte weiterhin auf dem runden Podest in der Mitte des großen kreisrunden Raums. Er wirkte gelassen und entspannt, und seine Hände waren leer. Nach dem letzten unbewaffneten Zweikampf war er Afafrenfere nicht gefolgt und hatte sich auch keinem der anderen Waffenständer entlang der geschwungenen Wand genähert, um Afafrenferes Katana etwas entgegenzusetzen.

Bruder Afafrenfere kehrte zum Podest zurück und stieg hinauf, um sich vor seinem Kontrahenten aufzubauen, der noch immer nicht reagierte. Seine Schwertspitze deutete direkt auf Kane, während der Mönch mit ruhigen Schritten näher kam, achtsam die Füße drehte und sein Gewicht stets perfekt ausgewogen verlagerte, damit er jederzeit den Rückzug antreten oder zur Seite schnellen konnte.

»Mit der offenen Hand hast du dich gut geschlagen«, sagte Kane begütigend zu ihm.

Die Magie in diesen beruhigenden Worten erkannte Afafrenfere erst, als seine Augenlider langsam zuklappten und die Schwertspitze sank.

Mit einem Aufschrei schüttelte er seine Benommenheit ab, sprang vor und stach zu. Aber Kanes linker Arm schoss senkrecht hoch, schlug nur ein kleines Stück seitwärts und lenkte damit die Klinge nach links von sich ab.

Zurückziehen und zustechen!

Dieselbe Hand fuhr zurück in die Mitte. Diesmal fing der Unterarm des alten Mönchs die Klinge ab und stieß sie zur anderen Seite weg.

Zurückziehen und zustechen!

Der linke Arm beschrieb eine weitere Rückhand nach oben. Wieder knapp daneben! So dicht dran. So verlockend.

Afafrenfere führte drei weitere abrupte, kraftvolle Angriffe aus. Jedes Mal glaubte er, er hätte getroffen, bis der Großmeister der Blumen die Klinge im allerletzten Moment von sich ablenkte, wenn sie schon so nahe war, dass sie ihm jeden nennenswerten Bart hätte abrasieren können.

Der nächste Stich zielte auf Kanes Bauch, und diesmal ergänzte Afafrenfere ihn geschickt mit einem Tritt gegen die Hüfte des Großmeisters.

Jetzt war es Kanes rechte Hand, die das Schwert abwehrte, und gleichzeitig nahm der Mann die Haltung eines Kranichs ein und ließ sein rechtes Bein gegen Afafrenferes Tritt hochschnellen. Afafrenferes Fuß traf hart gegen Kanes Schienbein, aber der alte Mönch ging nur noch etwas tiefer in die Knie, um die Wucht gekonnt abzufedern.

Damit war plötzlich Afafrenfere in der Defensive. Er durfte nicht einmal abwarten, bis sein angreifendes Bein wieder stand, sondern drehte sich sofort auf der rechten Ferse, folgte dem Schwung des tretenden Beins und schlug mit der linken Hand zu.

Kanes Hände waren schneller.

Der Großmeister drehte die linke Hand über das angewinkelte Schwert und stieß es weiter nach außen, während seine rechte Hand sich von der Klinge löste und wie eine Giftschlange vorschnellte. Er traf Afafrenfere direkt unter der linken Brust in die Rippen. Es war kein kurzer, scharfer Schlag, der die gesamte Kraft in den Aufprall legte, sondern es fühlte sich eher wie eine plötzlich angelegte Schraubzwinge an. Als wäre Afafrenfere gegen eine Wand geprallt.

Eine bewegliche Wand allerdings, denn Kanes Hand schob sich unaufhaltsam weiter vor.

Afafrenfere merkte, wie der Mönch seine Chi-Energie in diesen Schlag legte und ihn mit enormer Gewalt von sich wegdrückte.

Eigentlich hätte er in der Lage sein sollen, dieser Kombination körperlicher und spiritueller Kraft standzuhalten. Er war doppelt so schwer wie dieser uralte Mönch. Er müsste stärker sein. Viel stärker! Er müsste standhalten, aber das konnte er nicht.

Er führte endlich seinen linken Haken aus, verfehlte sein Ziel jedoch knapp. Oder doch ziemlich deutlich. Erst als Afafrenfere sah, dass sein kläglicher Angriff nicht etwa um Haaresbreite danebenging, sondern um mehrere Fuß, wurde ihm bewusst, dass er gerade nach hinten flog, bis er schließlich ein gutes Dutzend Fuß von Großmeister Kane entfernt zum Stehen kam. Er konnte gerade noch einen Absturz über die Kante des Podests verhindern.

Afafrenfere hob die Hände und breitete sie nach beiden Seiten aus. Mit der einen hielt er das Schwert, die andere war zu einer festen Faust geballt. Auch sein Kiefer war angespannt, und er bereitete all seine Muskeln auf eine schnelle, kraftvolle Bewegung vor, indem er sie bewusst mit Blut und der heilenden Kraft seines eigenen Chi flutete. Dann fuhren seine Arme nach unten, und der starke junge Mönch zapfte noch mehr von seiner körperlichen und spirituellen Energie an, ehe er mit einem plötzlichen Satz weit nach vorn schnellte, sich abrollte und vor Großmeister Kane zum Stehen kam.

Noch während er sich aufrichtete, stach er zu und verwandelte sich mit Tritten, Stichen und Hieben in einen Wirbel der Vernichtung.

Kane wehrte jeden Schlag ab, doch Afafrenfere bewegte sich mit einer so überraschenden Kraft und Präzision, dass sein mächtiger Gegner keinen Konterangriff landen konnte.

Ein waagrechter Schwerthieb ging daneben (wobei Afafrenfere während des anschließenden, ebenso erfolglosen Rückhandschlags nicht sagen konnte – und sich auch nicht darum scherte –, ob Kane sich darunter hinweggeduckt hatte oder darüber gesprungen war).

Auch dieser zweite Fehlschlag machte ihm nichts aus, denn er diente ohnehin nur dazu, die Klinge wieder neu auszurichten. Sobald das Schwert weit genug rechts war, drehte Afafrenfere es mit dem Handgelenk, drehte aus der Schulter heraus auch den ganzen Arm und zog die Waffe sehr plötzlich hoch in die Luft.

Und dann schräg nach unten.

Wieder daneben.

Und wieder wusste er, dass er nicht treffen würde, und verkürzte den Schlag sogar.

Denn auch dieser war eine Finte, die Afafrenfere weiterverfolgte, indem er das Schwert und den Arm herunterzog und drehte, um den Schwung für eine plötzliche Gegenbewegung zu nutzen, die darin mündete, dass er die Waffe über seinem Kopf schwang, bis er an dem langen Griff mit der zweiten Hand zugreifen konnte, um dem nachfolgenden Abwärtsschlag tödliches Gewicht zu verleihen.

Obwohl es ein stumpfes Übungsschwert war, verspürte Afafrenfere doch gewisse Schuldgefühle gegenüber Kane, denn der alte Mönch würde mit brummendem Schädel erwachen.

Aber nein! Afafrenferes Schlag wurde von Kane mit den Armen aufgehalten, die der alte Mönch kreuzweise erhoben hatte, und in dem Moment, als es auftraf – exakt in dem Augenblick, da es sein Fleisch berührte –, schnappte die Schere zu.

Selbst wenn die Klinge scharf genug gewesen wäre, Stein zu durchdringen, war die Berührung der Arme zu kurz für jeglichen ernsthaften Schaden. Wohl kein Stahl im ganzen Land hätte Kanes Armschere widerstehen können.

Und schon öffnete Kane wieder die Arme. Die abgebrochene Hälfte der Klinge flog davon, und ehe Afafrenfere die Bewegung überhaupt registrierte, fuhr Kanes rechte Hand nach unten und einwärts, um dann mit angewinkeltem Handgelenk und der Handfläche nach oben unter Afafrenferes Händen gegen den Schwertgriff zu stoßen.

Kane hob die Hand immer weiter und weiter, bis er Afafrenfere das halbierte Schwert entwunden hatte. Auch dieser Teil flog zur Seite.

Afafrenfere verfiel verzweifelt in Bewegung, schlug und trat nach links und rechts, hoch nach oben, tief nach unten.

Aber Kane tat dasselbe. Die beiden Klosterbrüder tauschten eine Vielzahl an harten Schlägen und Tritten aus, die Afafrenfere irgendwann nicht einmal mehr im Einzelnen wahrnahm. Er wusste nicht mehr, wie er Kanes Angriffe abwehrte, und ebenso wenig wusste er, wie Kane seine abwehrte. Denn er kämpfte inzwischen jenseits seines Bewusstseins, in einem Bereich der reinen Reaktion, in dem das Muskelgedächtnis jegliche geplante Bewegungsabfolge übertrumpfte.

Dann aber kam ein Fehler. Kane hatte einen Schlag nicht blockiert! Afafrenferes rechter Haken traf nicht, aber Kane musste doch etwas ungünstig nach links ausweichen.

Das zumindest dachte Afafrenfere, bis er mit links zuschlug, denn in diesem Moment fühlte er, wie Großmeister Kane den rechten Fuß vorstreckte und um sein eigenes, fest verwurzeltes rechtes Bein schlang, und als Kanes rechte Handfläche zur Abwehr hochfuhr, fand Afafrenfere ein unbewegliches Objekt vor, das ihn rückwärts zwang. Über das gestellte Bein von Kane hinweg.

Der Großmeister vollendete seine Bewegung, indem er die blockierende Handfläche nach vorne schob und sein rechtes Bein kraftvoll zurückzog. Damit brachte er Afafrenfere zu Fall.

Mit einem schnellen Abrollen nach hinten kam Afafrenfere wieder auf die Beine. Er staunte noch, wie schnell ihm dies geglückt war, obwohl Kane unmittelbar vor ihm war und ihn mit einem Hagel schneller Handkanten- und Faustschläge angriff. Afafrenfere wehrte diese Schläge mit exakten Bewegungen ab oder nahm sie hin, um zumindest ein Patt zu erreichen. Schließlich standen er und sein Großmeister einander in nur einem Fuß Abstand gegenüber. Sie hatten die Arme beidseits verschränkt und heruntergezogen.

Afafrenfere setzte zu einem Kopfstoß an, aber ehe er dazu kam, traf ihn etwas ins Gesicht, das ihm den Atem verschlug.

Ein Tritt.

Ein Tritt! Unmöglich, begehrte sein Verstand auf. Sie waren einander zu nahe! Wie konnte Kane ihm einen Tritt ins Gesicht verpasst haben, wenn zwischen ihnen so wenig Abstand war?

Er glaubte es nicht. Er weigerte sich noch, es zu glauben, als er auf dem Boden saß.

Afafrenfere schüttelte den Kopf, um das Flimmern vor den Augen loszuwerden. Als er aufsah, nahm er wahr, wie Kane ihn anstarrte und ihm eine Hand hinhielt, um ihm beim Aufstehen zu helfen.

Afafrenfere schlug ein und wollte hochkommen. Dann aber sackte er wieder nach unten und ließ sich auf die Seite kippen.

Irgendwann – wie lange darauf, wusste er nicht – stützte Afafrenfere sich auf den Ellbogen und betrachtete seinen Gegner und guten Freund, der im Schneidersitz vor ihm saß.

»Ich hielt mein Manöver mit der Vorwärts-Abwärts-Drehung für passend«, erklärte Afafrenfere, dem bei diesen Worten Blut von den Lippen tropfte. Er hatte eine ziemlich große Platzwunde an der Lippe, und jede Kieferbewegung tat höllisch weh.

»Du hättest fast jeden Gegner damit getötet«, sagte Kane anerkennend.

»Nur nicht dich.«

Kane zuckte mit den Schultern. »Nein.«

»Drizzt?«, bohrte Afafrenfere nach, denn der Dunkelelf war inzwischen ebenfalls ein Privatschüler von Kane.

Nach kurzem nachdenklichem Zögern zuckte Kane erneut mit den Schultern, sagte aber nichts.

»Wenn Drizzt und Afafrenfere kämpfen würden, auf wen würde Großmeister Kane setzen?«, wollte Afafrenfere wissen.

»Großmeister Kane hat keine Wünsche. Darum braucht er nicht zu wetten«, antwortete Kane.

»Und wenn doch?«

»Meine Antwort könnte dir nicht gefallen.«

Afafrenfere lachte, aber dann hielt er sich stöhnend das Gesicht. Mit Zeigefinger und Daumen griff er nach seiner blutigen Nase und drückte sie zur Seite.

Seine Zähne taten dabei so weh, dass er vermutete, dass der Oberkieferknochen hinter dem Gaumen angebrochen sein dürfte.

»Wenn du mich schlagen könntest, warum forderst du dann nicht die Meisterin des Winters heraus?« Dieser überraschende Themenwechsel ließ Afafrenfere aufblicken.

»Meisterin Savahn erwartet meine zweite Herausforderung?«, vergewisserte er sich, womit er darauf anspielte, dass Savahn ihn noch im letzten Jahr besiegt hatte. Der Mönch bemühte sich, seinen Eifer zu verbergen. Er war Savahn schon lange auf den Fersen, sowohl vor als auch nach seiner Niederlage, und hatte sich fast so weit erholt und verbessert, dass er sie ein zweites Mal herausfordern und Meister des Ostwinds werden könnte. Aber auch Savahn hatte hart trainiert – vielleicht gerade wegen Afafrenferes Ansporn – und war selbst einen Rang höher aufgestiegen, ehe Afafrenfere diese zweite Herausforderung offiziell aussprechen konnte. Inzwischen war sie Meisterin des Winters, und Afafrenfere hatte den offenen Rang des Meisters des Ostwinds für sich beansprucht, ohne sich dafür im Übungskampf gegen einen der drei Mönche im Kloster der Gelben Rose beweisen zu müssen, die noch über ihm standen: Savahn, die Meisterin des Winters, Perrywinkle Shin, der Meister des Frühlings, und Kane, der Großmeister der Blumen.

Kane nickte. Denn jetzt war der Rang unmittelbar über Afafrenfere besetzt, und es konnte nur einen geben. Um Meister des Winters zu werden, musste Afafrenfere die gegenwärtige Meisterin des Winters schlagen. Danach würde er seinen neuen Titel verteidigen müssen, entweder gegen Savahn, die ihn zurückforderte, oder vielleicht gegen den aufstrebenden Meister des Westwinds, Halavash, der ebenfalls rasche Fortschritte machte (und angeblich ebenfalls Privatunterricht bei Großmeister Kane nahm).

»Würde Großmeister Kane auf diesen Kampf wetten?«

»Nein.«

»Aber wenn er es täte, würde er wissen, auf wen er setzen sollte?«

»Ja.«

»Wenn er es täte, würde Großmeister Kane glauben, dass es eine sichere Wette wäre?«, drängte Afafrenfere weiter.

Da grinste Kane. »Ja«, sagte er und ging davon.

»Mögen wir beide noch so lange leben, dass ich dich eines Tages ernsthaft herausfordern kann«, rief Afafrenfere ihm nach.

Kane blieb stehen, verharrte kurz und drehte sich langsam um. »Bruder Afafrenfere, du bist mein Freund. Durch dich und mit dir habe ich – haben wir – zugunsten der Lebenden Großes vollbracht. Und deshalb sage ich dir eines und hoffe, dass du dir das als meine wichtigste Lektion gut merkst: Es darf nicht dein Ziel sein, Großmeister der Blumen zu werden.«

»Ich möchte dich nur herausfordern und besiegen. Denn dieser Sieg wäre ein Zeichen, um wie viel besser ich geworden bin«, antwortete Afafrenfere.

Kane nickte. »Um wie viel besser du geworden bist«, wiederholte er. »Der wahre Kampf findet in dir selbst statt, mein Freund. Im Ringen um körperliche und spirituelle Perfektion und Frieden.«

»Aber wir fordern einander doch heraus, um diesen Fortschritt zu erkennen.«

»Was ist dein Ziel?«, fragte Kane.

»Das sagtest du doch gerade.«

»Nein«, entgegnete Kane. »Das ist nicht dein Ziel. Das darfst du niemals als dein Ziel betrachten. Es geht um deinen Weg. Es geht darum, wie du dein Leben begreifst und Frieden mit dem Aufruhr des sterblichen Selbst und des ungewissen Endes schließt, von dem jeder weiß, dass es ihn eines Tages erwartet.«

»Alle im Orden von Saint Sollars streben danach, so zu werden wie Großmeister Kane«, sagte Afafrenfere.

»Ein Schreiber, der ein neues Buch in Angriff nimmt, um es fertigzustellen, und nur dieses eine Ziel im Sinn hat, schmälert in den Monaten des Schreibens diese Erfahrung und opfert damit die Freude, die Gefühle, die Einsichten und die Erinnerungen an die einzelnen Etappen dieses langen Prozesses. Darum frage ich noch einmal: Was ist dein Ziel?«

Afafrenfere starrte ihn verständnislos an.

»Du hast kein Ziel«, beantwortete Großmeister Kane seine eigene Frage. »Welchen Weg hast du gewählt?«

»Lernen. Leben. Wachsen. Der Wahrheit näherkommen«, antwortete Afafrenfere.

»Der Wahrheit?«

»Der Wahrheit über mich und über alles, was mich umgibt.«

Der Großmeister lächelte zufrieden und nickte. »Verliere das nicht aus dem Blick«, warnte Kane, ehe er ging. »Sonst wirst du den Titel des Meisters des Winters sehr schnell wieder verlieren, nachdem du ihn errungen hast.«

Afafrenfere brauchte einen Moment, ehe ihm bewusst wurde, was Kanes Abschiedsworte bedeuteten. Der weise, weitsichtige Großmeister erwartete tatsächlich, dass Afafrenfere Savahn besiegen würde. Überwältigt ließ er sich wieder auf den Boden fallen.

Er hatte noch immer keine Ahnung, wie Kane ihn mit dieser Wucht hatte ins Gesicht treffen können, als sie so dicht voreinander gestanden hatten.

Aber eines Tages würde er es verstehen, dachte er und schob diesen Gedanken beiseite. Der Zeitpunkt würde kommen oder auch nicht. Irgendwann im Laufe der Erlebnisse und Prüfungen während seiner körperlichen und spirituellen Entwicklung.

Afafrenfere saß auf einer hohen Klippe, einem schmalen Grat, der nur über eine schwierige Kletterpartie zu erreichen und in seinem Orden berühmt war. Von diesem Ort aus hatte der große Kane vor hundertfünfzig Jahren seinen Körper transzendiert und war mit dem Multiversum verschmolzen.

Afafrenfere hatte die Beine fest verschränkt. Seine Hände lagen mit den Handflächen nach oben auf den Knien, der Daumen berührte den Zeigefinger. Er atmete langsam und absolut gleichmäßig, Einatmung und Ausatmung exakt gleich lang.

Der Mönch war tief in sich versunken und zugleich endlos weit entfernt. Nie war er seinem Körper ferner gewesen, und nie hatte er sich ihm näher gefühlt.

Er spürte, dass sein Ziel näher rückte, denn es war, als würde er endlich die letzten Schranken seiner physischen Grenzen erkennen, jenen Klebstoff, der Afafrenfere seine Gestalt verlieh.

Den eisigen Wind, der um den Gipfel pfiff, spürte und hörte er nicht. Auch die Schreie der Kondore im Aufwind hoch über dem Gebirge nahm er nicht wahr.

Denn diese unmittelbare Umgebung zählte nicht. Seine Aufmerksamkeit war nach innen gerichtet, auf alles, aber auf nichts Konkretes.

Er zupfte willentlich an dem Klebstoff, bis er das Gefühl hatte, die Schranken zu schwächen.

Ja, er konnte sie vollständig durchbrechen, ganz sicher, und dann würde er die Ewigkeit erkennen. Er würde seine sterbliche Hülle überwinden. Er würde mit allem eins sein …

Aber diese Gedanken rissen Afafrenfere aus der dafür nötigen Konzentration. Die Erinnerung glühte in ihm nach, denn dieser Schritt war ihm schon einmal gelungen – mit Unterstützung. Damals war Großmeister Kane bei ihm gewesen, hatte von ihm Besitz ergriffen und seinen Körper geteilt. Als der große weiße Drache sich vor ihnen aufgebäumt hatte, hatte Kane Afafrenferes physische Grenzen gelöst und ihn in unzählige Partikel zerteilt, die eigentlich gemeinsam das Wesen ausmachten, das sich Afafrenfere nannte.

Diese Erfahrung war unglaublich schön gewesen und unvergesslich, auch wenn die Reise zum Alleinsein nur kurz gewährt hatte.

Denn Kane hatte ihn fast augenblicklich wieder zusammengesetzt, sobald der mörderische Frostodem des Drachen vorbeigebraust war. So hatte Afafrenfere den Wyrm töten können.

Der Mönch nahm seine Meditation wieder auf, zwang sich zu Geduld und kehrte an jenen Ort tiefer Ruhe zurück, einen kontemplativen Ort frei von Gedanken. Und erneut lotete er seine Grenzen aus.

Er spürte den Klebstoff und begann, ihn aufzulösen. Sich aufzulösen.

Doch noch ehe dieser Prozess wirklich begann, legte sich eine Hand auf seine Schulter, was ihn erschreckte.

Afafrenfere riss die Augen auf. Er spürte den Wind, hörte den Wind. Als er sich abrupt umsah, stand neben ihm Großmeister Kane, der langsam den Kopf schüttelte.

»Du bist noch nicht bereit«, sagte der Großmeister.

Afafrenfere blinzelte ihn erschüttert an.

»Komm. Lass uns ins Kloster zurückkehren«, sagte Kane und streckte ihm die Hand entgegen.

Afafrenfere schüttelte den Kopf. »Das hier ist nicht dein Platz, nicht deine Entscheidung, nicht dein Weg!«, begehrte er auf.

Ohne mit der Wimper zu zucken, hielt Kane ihm weiter die Hand hin.

»Du bist der Großmeister der Blumen, der Größte des Ordens von Saint Sollars«, fuhr Afafrenfere fort. »Und mit dem allergrößten Respekt wiederhole ich: Dieser Platz gehört nicht dir.«

»Es ist mein Platz.«

»Weil du der Großmeister der Blumen bist?«

»Weil ich dein Freund bin«, sagte Kane.

»Ich kann das!«, beharrte der jüngere Mönch.

»Ich weiß.«

»Aber dann …«

»Du kannst es noch nicht wieder rückgängig machen.«

Afafrenfere wollte etwas entgegnen, doch dann schwieg er.

»Du wirst transzendieren«, erklärte ihm Kane. »Du wirst mit allem verschmelzen. Du wirst unvorstellbare Harmonie und Schönheit erfahren. Aber Afafrenfere wird es nicht mehr geben.«

»Ich wäre tot?«

»Es wäre das Ende dieser Existenz, ja.«

»Und der Tod ist das Ende … von allem?«

»Ich weiß es nicht«, gab Kane zu. »Wenn du transzendierst, ist dies nicht das Ende – wie du aus unserer gemeinsamen Reise aus deinem Körper heraus weißt. Aber die Zeit für die Rückkehr ist kurz – Tage, nicht Monate –, und was nach diesem Zeitraum kommt, wenn keine Rückkehr mehr möglich ist, weiß ich nicht. Für die Zeit danach bleibt uns nur der Glaube.«

»Ich glaube. Und du?«

Kane zuckte mit den Schultern. »Was ich nicht weiß, weiß ich nicht. Allerdings habe ich Hoffnung.«

»Dann werde ich schnell zurückkehren, bevor der Punkt erreicht ist, an dem es nicht mehr geht.«

»Nein. Das wirst du nicht. Du bist noch nicht bereit.«

»Du glaubst, ich sei nicht stark genug?«, fragte Afafrenfere. Es gelang ihm, einen neutralen Ton beizubehalten. »Du glaubst, ich könnte nicht …?«

»Du wirst es nicht wollen«, unterbrach ihn Kane. »Deine Bindung an diesen Ort ist nicht stark genug. Wenn du die Reise erst einmal angetreten hast, wirst du eine Rückkehr nicht mehr in Betracht ziehen.«

»Was soll das bedeuten?«

Kane zuckte mit den Schultern. »Es bedeutet, dass du noch nicht bereit bist, diesen Schritt aus deiner sterblichen Hülle zu unternehmen. Fast. Aber noch nicht ganz. Es gibt noch einige Ränge über dir. Ich bitte also um Geduld.«

»Diese Welt ist ein gefährlicher Ort. Vielleicht bekomme ich diese Chance kein zweites Mal und werde zu einem Zeitpunkt aus der Welt gerissen, den nicht ich gewählt habe.«

Kane zuckte ungerührt mit den Schultern. »Noch nicht«, sagte er. »Ich bitte dich darum. Als dein Freund.«

Diese Worte machten Afafrenfere zu schaffen, denn die Sorge, die diesen Größten aller Mönche bewegte, war gleichermaßen enttäuschend wie schmeichelhaft.

»Du bist zurückgekommen«, sagte er, weil ihm nichts Besseres mehr einfiel.

»Aber nur knapp«, antwortete Kane leise, was Afafrenfere erschütterte. »Fast hätte ich keinen Gedanken mehr daran verschwendet. Ich war damals viel älter als du jetzt und aus der Sicht unseres Ordens viel stärker – keine Sorge, mein Freund, diese Stufe der körperlichen und geistigen Perfektion wirst auch du noch erreichen. Daran hege ich keinen Zweifel. Außer wenn du dein Streben nach Transzendenz jetzt weiterverfolgst und für immer verloren gehst.«

Wieder streckte er Afafrenfere die Hand hin.

»Ich will auf diese Reise gehen«, sagte Afafrenfere.

»Ich weiß. Und ich kenne auch den Grund dafür.«

Afafrenferes Blick wanderte von der Hand des Großmeisters zu dessen Augen.

»Seinetwegen. Wegen Parbid, den du geliebt hast«, sagte Kane. »Weil du hoffst, dass er dort wartet, und weil du seine Umarmung mehr ersehnst als alles andere.«

Afafrenfere hörte sprachlos zu. Er wollte abwehrend den Kopf schütteln, aber das gelang ihm nicht.

»Nichts im Multiversum ist mächtiger als die Liebe, mein Freund«, sagte Kane lächelnd.

Diesmal nahm Afafrenfere die angebotene Hand an und stellte sich neben seinen Freund. »Glaubst du, dass er dort ist, Großmeister? Glaubst du, dass er auf mich wartet?«

Kane zuckte erneut mit den Schultern. Da begriff Afafrenfere, dass der Großmeister es wirklich nicht wusste. Und er würde ihm keine tröstliche Lüge auftischen.

»Du hast es bereits gesagt«, erwiderte Kane stattdessen. »Du glaubst. Und ich hoffe.«

Schweigend nahmen sie den langen Abstieg in Angriff.

»Ich verstehe es immer noch nicht«, räumte Afafrenfere ein, als bald nach Sonnenuntergang die Lichter des Klosters der Gelben Rose in Sicht kamen. »Es hört sich bei dir so an, als wäre die Rückkehr in unsere sterbliche Hülle eine unglaubliche Leistung.«

»Das ist sie.«

Der junge Mönch zuckte mit den Schultern. »Als wir im Angesicht des großen weißen Drachen gemeinsam meinen Körper verließen, erschien mir die Rückkehr so …«

»… leicht«, beendete Kane seinen Satz. »Sie kam dir leicht vor, weil du das Transzendieren nicht angestoßen hattest und dir des Vorgangs nicht einmal bewusst warst. Deshalb hast du die Musik der Sphären nicht vernommen und die Schönheit des Ganzen nicht gesehen, ehe ich dich in die Körperlichkeit zurückzog, die als Afafrenfere bekannt ist.«

»Aber dich kostete es keine Mühe.«

»Nicht so wenig, wie du glaubst, aber mit jedem Verlassen unserer sterblichen Hülle werden die Grenzen zwischen uns und dem Ort jenseits davon … dünner. In diesem Fall war die Gefahr für uns und unsere Freunde so unmittelbar, dass es eine sanfte Rückkehr war. Das ist richtig. Wir mussten dorthin, sonst wären die, die uns lieb und teuer waren, verloren gewesen.«

»Aber …«, begann Afafrenfere. Er schien an dem Wort zu ersticken und schüttelte den Kopf.

»Irgendwann wirst du es besser verstehen«, versprach Kane. »Setze deine Ausbildung fort. Perfektioniere Geist und Körper. Aber ich warne dich. Wenn du glaubst, du seist bereit – und bis dahin können noch Jahre vergehen, vielleicht bin ich dann nicht mehr hier, um dich zu geleiten –, dann könnte es sein, dass dieser erste Moment der Transzendenz dein einziger bleibt und diese Existenz von Afafrenfere endgültig beendet ist.«

»Das habe ich gehört, Meister. Aber warum?« Afafrenfere ließ nicht locker. »Ich weiß, dass meine Arbeit hier noch nicht getan ist. Wenn ich weiß, dass ich noch nicht bereit bin für den nächsten Schritt …«

»Falls es einen nächsten Schritt gibt«, warf Kane ein.

»Falls es ihn gibt«, pflichtete Afafrenfere ihm bei. »Wenn ich das alles weiß, warum gehst du davon aus, dass ich meine sterbliche Existenz als Mensch aufgeben würde?«

Kane überlegte einen Augenblick, ehe er seinen Begleiter freundlich anlächelte. »Du hast die körperliche Liebe erlebt, den ganzen Akt bis zur Vollendung, richtig?«

Afafrenfere wurde rot. »Ja, natürlich.«

»Dann kennst du den Moment, in dem der Körper Fortsetzung und schließlich die Erlösung fordert.«

»Ja, Meister.«

»Der Körper kennt nur noch ein Ziel, und dieses Streben nach der Ekstase abzubrechen, erfordert enorme geistige und emotionale Disziplin. Wenn du transzendierst, ist das ein überwältigendes Glück, das zudem mit der Zeit – die bedeutungslos wird – weiter anschwillt, aber das Zeitfenster, um die erforderliche Disziplin aufzubringen, sich dieses pure Verlangen zu verwehren, ist kurz. Und wenn du daran scheiterst, ist deine hiesige Existenz für immer vorbei.«

Afafrenfere starrte ihn mit offenem Mund an.

»Ich weiß nicht, wie ich es noch deutlicher ausdrücken soll«, sagte der alte Mönch angesichts dieses verständnislosen Blicks. »Du wirst nicht zurückkehren wollen. Und damit wird es dich, so wie wir dich kennen und wie du dich kennst, nicht mehr geben.« Großmeister Kane wartete ein wenig, bis das Gewicht seiner Worte den sichtlich erschütterten Afafrenfere erreicht hatte. Dann fragte er: »Willst du das immer noch?«

»Ja«, antwortete der jüngere Mönch, »aber vielleicht noch nicht jetzt.«

»Wenn du so weit bist«, sagte Kane.

»Woran werde ich das erkennen?«

»Wenn du keine Angst mehr davor hast, nicht zurückzukehren. Wenn du glaubst, dass du hier alles gelernt hast, was du dieser Existenz entnehmen möchtest. Dabei geht es keineswegs um Traurigkeit oder Lebensmüdigkeit. Mit einer solchen Einstellung wäre das Transzendieren deiner sterblichen Hülle unmöglich. Es geht vielmehr um Erfüllung, eine derartige Erfüllung, dass du weißt, dass es in dieser Existenz kaum noch etwas Neues für dich gäbe.«

»Und diesen Punkt hast du erreicht?«

»An diesem Punkt harre ich seit über hundert Jahren aus.«

»Aber dennoch bist du noch hier.«

Großmeister Kane zuckte mit den Schultern. »Sozusagen«, antwortete er etwas kryptisch. »Ein Teil von mir ist hier, ein Teil ist für immer fern.«

»Dann verrate mir das Geheimnis!«

»Das kann ich nicht. Der Teil von mir, der es kennt, ist nicht hier.«

»Das verstehe ich nicht. Es gibt also noch etwas, mehr als das Transzendieren des Körpers?«

Kanes neuerliches Schulterzucken ließ Afafrenfere wiederholen: »Das verstehe ich nicht.«

»Du brauchst es nicht zu verstehen. Nicht jetzt. Noch nicht. Du hast noch viel zu lernen.«

»Dann sage mir, Großmeister, was muss ich jetzt noch wissen?«

»Dass du nicht mehr zurückwollen wirst. Sonst nichts.«

Teil 1

Launen des Schicksals und unterschiedliche Blickwinkel

Welch ein Ort ist meine Welt, welch dunkle Spirale verkörpert mein Geist? Im Hellen sehe ich meine Haut als schwarz an, in der Dunkelheit lodert sie weiß vor lauter unbezwingbarer Wut. Hätte ich doch nur den Mut, fortzugehen von diesem Ort oder aus diesem Leben oder mich offen gegen das Unrecht zu stellen, das die Welt meines Volkes ausmacht. Mir ein Dasein aufzubauen, das nicht allem widerspricht, woran ich glaube, und dem, was ich in gutem Glauben für die Wahrheit halte.

Zaknafein Do’Urden werde ich genannt, aber ich bin weder freiwillig noch meinen Taten nach ein Drow. Sollen sie also erkennen, wer ich wirklich bin. Sollen sie ihren Zorn auf diese alten Schultern niederprasseln lassen, auf denen die Hoffnungslosigkeit von Menzoberranzan lastet.

Menzoberranzan – was für eine Hölle bist du?

Zaknafein Do’Urden

Heimatland

Kapitel 1

Das Jahr des Schwarzen Hundes Zeitrechnung der Täler 1296

So viele bewegliche Teile

Auf diesen Straßen von Menzoberranzan, den Modergassen des Braeryn, war sie nur ungern unterwegs. Hier lauerten Schurken ohne Haus, die Ausgestoßenen und die Überlebenden besiegter Drow-Häuser. Hier lauerten die gefallenen Priesterinnen und die gefährlichen Bastardkinder dieses oder jenes Hauses, die zu einem Leben in Armut verdammt waren.

Jedenfalls weitgehend. Denn Oberin Malice aus dem Haus Do’Urden wusste natürlich, dass hier auch die Mitglieder von Bregan D’aerthe lauerten, einer Söldnerbande, die in der Stadt inzwischen eine große Rolle spielte und entsprechend wohlhabend war. Ja, allesamt Gesindel, aber nützliches Gesindel für die Oberinnen, die wussten, wie man sich ihre Dienste zunutze machte.

Über Zaknafein, ihren Gefährten und Waffenmeister, hatte Malice den Anführer von Bregan D’aerthe kontaktiert, Jarlaxle. So hatte sie den Namen der Person erfahren, die sie heute aufsuchen wollte und deretwegen sie nun durch die Modergassen von Menzoberranzan ging.

Das war ein ziemliches Opfer, und die Oberin hatte bereits beschlossen, dass dieser Mann ihr besser erzählen sollte, was sie hören wollte, sonst würde sie einen Toten zurücklassen.

Als sie das fragliche Haus endlich sah, reagierte Malice mit Erleichterung. Dieser Teil ihres Weges machte ihr zwar keine Angst, aber sie war angewidert und wollte ihr Geschäft schnellstmöglich abschließen und nach Hause zurückkehren.

Sie ging zur Tür, blickte sich nach den Mitgliedern ihrer Eskorte um, die sie beschatteten, und nickte ihnen zu. Ja, sie sollten alles abriegeln. Dann belegte sie die Tür erst mit einem, dann mit zwei Zaubern und bedachte sich selbst anschließend noch mit einem dritten und vierten, um sich vor jedweder Trickserei zu schützen.

Ein fünfter Zauber riss die Tür auf. Sofort betrat Oberin Malice das kleine Zimmer dahinter. Der Mann in der Robe hinter dem Tisch reagierte mit fassungslosem Entsetzen auf die Frau, die da vor ihm auftauchte.

»Ich bin hier noch nicht fertig!«, protestierte er.

Malice warf einen Blick von ihm zu der Kristallkugel auf dem Podest in der Mitte des runden Tisches. Sie konnte die verzerrten Umrisse des Bildes darin gerade so erkennen.

Mit einer Handbewegung ließ sie das Bild verschwinden. »Jetzt seid Ihr es«, sagte sie.

Da erhob die anwesende Frau Protest. »Ich habe für meine Zeit gut bezahlt!«

Malices Blick brachte sie zum Schweigen. Die Oberin musterte die Frau gründlich. Sie war etwas jünger als Malice, doch obwohl sie wohlgeformt war und sich vermutlich für ziemlich attraktiv und verführerisch hielt – was der Schnitt ihres Kleides verriet –, zeugten die Narben und Blutergüsse auf ihrem Gesicht und ihren bloßen Armen von der Härte eines Lebens in den düsteren Modergassen.

»Ihr tragt kein Hausemblem, Kindchen«, sagte sie. »Zu welcher Oberin gehört Ihr?«

»Warum sollte ich Euch das verraten?«

»Nun, wenn Ihr es nicht tut, dann weiß ich, dass Ihr zu keinem Haus gehört. Wenn ich Euch töte, wird sich niemand darum scheren.«

»Frau!«, protestierte der Mann in der Robe und erhob sich, um der Fremden entgegenzutreten. Er war alt, hatte etliche Narben im Gesicht, und die fadenscheinigen Kleider hingen locker um seine zu schmalen Schultern.

»Priesterin«, korrigierte sie ihn.

»Priesterin«, sagte er etwas weniger empört.

»Hohepriesterin«, stellte Malice klar.

»Hohepriesterin«, wiederholte der alte Drow mit brüchiger Stimme.

»Oberin«, ergänzte sie. Angesichts dieses Trumpfs schrumpfte der Mann in sich zusammen.

Er räusperte sich. »Ich bin uneingeladene Gäste nicht gewohnt«, sagte er ruhig. »Ihr habt mich erschreckt.«

»Und Ihr, Schätzchen?«, sagte Malice zu der Frau. »Wollt Ihr mir nun vielleicht Euer Haus verraten? Denn Ihr wisst natürlich, wenn Ihr eines nennt und dabei lügt, besteht die Strafe darin, dass Euch acht Beine wachsen, anstatt dass Ihr nur die zwei verliert, auf die Ihr so stolz seid.«

Prompt zog die Frau die obere Falte ihres geschlitzten Kleides zurecht, um ihre Beine besser zu bedecken.

»Ihr gehört keinem Haus an«, stellte Malice fest, als die entsetzte Frau in unverständliches Gemurmel verfiel. »Raus. Aber wartet da auf mich«, wies Malice sie an. »Vielleicht winkt Euch in Zukunft etwas Besseres.« Dann sah sie wieder den Mann an. »Ist es das, was Ihr in der Kristallkugel für sie gesehen habt?«

Der Drow wirkte ehrlich geschmeichelt.

»Das ist es doch, nicht wahr?«, fügte Malice hinzu und verstärkte die Frage durch eine magische Suggestion.

»Ja«, stieß der Mann hervor. »Ja. Ja, natürlich. Ich wollte ihr gerade sagen …«

»Geht jetzt«, sagte Malice zu der Frau, die daraufhin eilig verschwand.

Ohne den Mann aus den Augen zu lassen, spazierte Malice zu dem frei gewordenen Stuhl, um dort Platz zu nehmen. Beim Blick auf das fleckenübersäte Polster besann sie sich jedoch eines Besseren.

Eine kurze Handbewegung warf den Stuhl zur Seite. Dann rief sie stattdessen eine magische Scheibe aus blauem Licht herbei und setzte sich darauf. Oberin Malice wies auf den anderen Stuhl, erntete aber nur einen ebenso besorgten wie verwirrten Blick.

»Ihr seid Pau’Kros und gehörtet einst einem Haus an, das nicht mehr genannt wird?«, vergewisserte sich Malice.

»Ich gehöre zu Haus Oblodra.«

»Nein. Tut Ihr nicht. Jedenfalls noch nicht, auch wenn Ihr hofft, dass sie Euch eines Tages aufnehmen. Vielleicht sollte ich lieber sagen, dass Ihr hofft, dass sie nicht merken, dass Ihr in Wahrheit gar kein Meister der Gedankenmagie seid, sondern ein ganz gewöhnlicher Zauberer mit einer besonderen Gabe.«

Das Räuspern des Mannes klang eher nervös als beleidigt.

»Setzt Euch, Pau’Kros«, befahl Malice. »Ich bin Eure wichtigste Kundin.«

»Wie bitte? Das verstehe ich nicht«, erwiderte der Mann verlegen, nahm jedoch Platz, was Malice signalisierte, dass er aufgab.

»Jarlaxle hat mir von Euch erzählt«, erklärte sie.

Der alte Drow seufzte tief. »Er hätte nur etwas sagen müssen …«

»Ich brauche ihn nicht als Mittelsmann. Ich bin hier, Ihr seid hier, und ich wünsche eine Dienstleistung.« Sie setzte sich auf ihrer schwebenden Scheibe zurecht und schlug die Beine bequem übereinander, um dem Trottel zu zeigen, dass sie genau wusste, dass sie ihn mit nur einem Wort töten könnte. »Wer bin ich?«, fragte sie und legte ihre Schlangenkopfpeitsche auf den Tisch, deren lebende Ausläufer sich zischend wanden. Aus ihren Fangzähnen tropfte tödliches Gift.

Pau’Kros atmete tief durch, ehe er sich zögernd nach vorn lehnte und zu murmeln begann. Dabei starrte er in die Kristallkugel, die sofort wolkig wurde.

»Sage mir, Seher, wer ich bin, und sage mir, warum ich hier bin«, forderte Malice.

Er starrte weiter in die Kugel und setzte sein Gemurmel lange fort. Viele seiner Worte konnte Malice nicht verstehen, aber sie kannte den Klang der arkanen Magie gut genug, und das passte zu dem, was Jarlaxle ihr über diesen Mann erzählt hatte. Dieser Drow, Pau’Kros, hatte die Drow-Akademie für Zauberer, Sorcere, abgeschlossen und hohes Ansehen genossen, ehe er es sich mit dem mächtigen Gromph Baenre verscherzt hatte, zur selben Zeit, als das Haus seiner Familie restlos zerstört worden war. Seit jenem Tag vor langer Zeit schlug er sich mehr schlecht als recht als Wahrsager in den Modergassen durch, war in dieser Kunst laut Jarlaxle jedoch ziemlich gut geworden.

Außerdem überlebte Pau’Kros, weil er die Geheimnisse seiner Kundschaft zu wahren wusste.

»Oberin Do’Urden«, sagte er kurz darauf mit hörbarem Respekt. »Ich habe von Euch gehört. Dass Ihr meine Dienste wünscht, ehrt mich.«

»Beweist mir, dass Ihr dieser Ehre würdig seid.«

Der Mann leckte sich kurz die Lippen, räusperte sich und konzentrierte sich wieder auf die Kristallkugel. Ohne den Blick abzuwenden, zog er vier kleine Knochen aus der Tasche, die er links neben der Kugel warf. Dann griff er noch einmal in die Tasche und holte vier weitere Knochen heraus, die er auf der rechten Seite warf, worauf die Schlangen mit mehr bedrohlichem Zischen reagierten.

Malice bewunderte die Disziplin des Mannes, als er erst nach links, dann nach rechts blickte, die Schlangen ausblendete und sich ganz auf seine Wahrsageinstrumente konzentrierte.

»Ja«, sagte er, und ein feines Lächeln zog sich über sein Gesicht. »Ja, große Oberin Malice. Ihr tragt ein Kind.«

»Das weiß ich bereits«, stellte sie fest. Was gelogen war. Sie hatte die Schwangerschaft bisher lediglich vermutet, aber das war hier natürlich nicht die wichtigste Frage.

»Nennt mir den Erzeuger«, befahl sie.

Pau’Kros schluckte hörbar und wirkte zu Recht eingeschüchtert. Einer Oberin mitzuteilen, dass sie schwanger war, bedeutete fast immer etwas Gutes, aber ihr zu erklären, dass das Kind nicht von dem Mann stammte, den sie selbst im Sinn hatte, konnte einen grauenvollen Tod – oder Schlimmeres – nach sich ziehen.

»Der Erzeuger«, wiederholte Malice ausdruckslos. »Nennt mir den Vater dieses Kindes. Seht in Eure Kugel und nennt mir den Mann. Ihr habt von mir gehört, Ihr kennt meinen Ruf – den ich mir mit Stolz verdient habe, wie ich Euch versichere. Ich selbst ziehe vier Möglichkeiten in Betracht. Ihr werdet mir sagen, welcher davon es ist.«

Der Mann begann zu schwitzen. Seine Worte an die Kristallkugel klangen nun etwas weniger gelassen, denn in jeder Silbe schwang seine Nervosität mit.

Dann aber brach er plötzlich ab und starrte in die Kugel. Einen Moment lang wirkte er verwirrt, bis er grinste und ein Ausdruck der Erleuchtung auf sein Gesicht trat.

»Ich kenne diesen Mann«, sagte er, und Malice erkannte, dass er zu sich selbst sprach. Angesichts dieser Bemerkung und der Umgebung stieg ihre Hoffnung.

»Wer ist der Vater?«, forderte sie.

»Früher gehörte er zu Haus Simfray«, wagte der Seher zu erwidern, denn Haus Simfray existierte nicht mehr, und insbesondere für einen Mann niederen Standes galt es als unklug, von etwas zu sprechen, dass es nicht gab. »Zaknafein«, erklärte er eilig. »Zaknafein Do’Urden ist der Vat …« Er lehnte sich abrupt nach vorn und starrte gebannt in die Kugel.

Von der anderen Seite her erkannte Malice, dass die Bilder schnell wechselten und der Seher immer mehr erfuhr. Sie wollte ihn nicht unterbrechen. Nicht jetzt.

Nach einer langen Stille atmete der Seher tief durch und richtete sich wieder auf. Er wirkte sehr erschöpft. Seine Roben klebten an dem ausgezehrten Leib, und sein Gesicht war schweißnass. »Ja, Oberin Malice, Eure Hoffnungen erfüllen sich«, sagte er mit fester Stimme.

Malice war beeindruckt, wollte dies aber nicht preisgeben.

»Wie Eure Tochter, Priesterin Vierna, ist dieses Kind von Zaknafein«, teilte der Mann ihr mit.

»Ihr kennt ihn.«

»Ich kannte ihn«, gab Pau’Kros zu. »Aber das liegt viele Jahrzehnte zurück. Ich bin froh, dass Ihr über diese Nachricht erfreut seid.«

»Dafür bräuchte man keinen Seher. Wen würde der Gedanke an eine weitere Tochter von diesem großen Waffenmeister nicht entzücken?«

Pau’Kros nickte, aber diesmal zeugte seine Miene von Verwunderung. »Dass es eine Tochter wird, habe ich nicht gesagt«, bemerkte er.

»Das brauchtet Ihr nicht. Zaknafein ist ein zu guter Liebhaber und Besamer, um bloß einen Jungen zu zeugen«, versicherte ihm Malice und fügte angesichts von Pau’Kros’ Stirnrunzeln hinzu: »Ihr zweifelt am Segen der Lolth?«

»Natürlich nicht«, wehrte er sofort ab. »Ich würde nicht einmal Eure Zeit verschwenden, um genauer hinzusehen und zu bestätigen, was Ihr bereits wisst!«

Oberin Malice stand zum Gehen nicht auf. Sie ließ ihre Scheibe lediglich zur Tür schweben, öffnete diese mit einer Handbewegung und glitt auf die Straße hinaus.

Dort wartete nach wie vor die Frau, die zwischen Hoffnung und ängstlicher Vorahnung nervös von einem Fuß auf den anderen trat.

»Was wollt Ihr?«, knurrte Malice sie an.

»Ihr sagtet, ich solle hier draußen auf Euch warten«, antwortete die Frau.

»Könnt Ihr gut Befehle befolgen?«

»Ja … Oberin«, sagte sie.

»Dann gebt Ihr eine gute Sklavin für mein Haus ab«, sagte Malice, blickte ins Dunkel hinter der Frau und nickte kurz.

»Ja, Oberin … Was? Eine Sklavin? Ich bin keine …«

An dieser Stelle endeten ihre Worte, weil sie von hinten von einem scharfen Schwert durchbohrt wurde, dessen Spitze mit Fetzen ihres Herzens knapp unterhalb ihrer linken Brust hervorkam.

»Und auch keine Zeugin«, stellte Malice fest, während die Frau tot zu Boden fiel.

Begleitet von ihrem Gefolge kehrte sie zum Haus Do’Urden an der Westwand zurück.

»Ihr habt Euch also gut geschlagen«, sagte Jarlaxle später zu Pau’Kros, als der elegante Söldnerführer selbst an dem Wahrsagetisch Platz nahm – wobei er den Seher schon vor Langem gewarnt hatte, niemals einen seiner Hellseherzauber auf ihn zu verschwenden.

»Sie hat sie getötet.«

»Madeflava wäre ohnehin gestorben«, erwiderte Jarlaxle. »Das wusstet Ihr. Und sie wusste es auch. Es ist ein Jammer, ja, aber ein besserer Tod, als der gelbe Schimmel in ihrer Lunge ihr beschert hätte.«

Pau’Kros schlug die schmalen Hände vors Gesicht.

»Wo liegt das Problem?«, fragte Jarlaxle. »Ihr habt Ihr gesagt, was sie wissen wollte. Sie ist zufrieden abgezogen.«

»Zufrieden genug, um jemanden umzubringen«, sagte der Zauberer sarkastisch.

»Was ihre Zufriedenheit zweifellos noch gesteigert hat«, erwiderte Jarlaxle und lachte hilflos.

Pau’Kros seufzte und vergrub wieder sein Gesicht.

»Euch wird sie nicht töten, alter Narr«, erklärte Jarlaxle. »Sonst hätte sie das bereits getan. Ihr habt Ihr gesagt, was sie hören wollte. Das Schlimmste, was jetzt noch passieren kann, ist, dass sie irgendwann noch einmal bei Euch auftaucht, falls Zaknafein einen weiteren Treffer landet.«

»Ich habe ihr gesagt, was sie hören wollte«, stimmte Pau’Kros zu. »Aber nicht alles, was ich gesehen habe.«

Bei diesen Worten horchte Jarlaxle auf.

»Es ist keine Tochter, die in ihrem Bauch heranwächst«, erklärte der alte Seher. »Es ist ein Sohn.«

»Ihr habt sie angelogen?«

Pau’Kros schüttelte vehement den Kopf. »Sie wollte es gar nicht wissen. Sie war sich so sicher. Aber es wird sie nicht erfreuen. Ganz und gar nicht.«

»Dann ist es eben ein Sohn«, meinte Jarlaxle achselzuckend, als ob dies keine Rolle spielte.

»Oberin Malice hat schon zwei Söhne, oder? Nalfein und Dinin?«

Diesmal war es Jarlaxle, der tief aufseufzte. Sein Herz wurde noch schwerer, als er das Szenario gründlich durchdachte. Nein, Oberin Malice würde nicht erfreut sein. Besonders da dieses todgeweihte Kind von Zaknafein stammte.

Der Söldnerführer verabschiedete sich und machte sich auf den Weg zum Schwitzenden Pilz, dem besten Wirtshaus in den Modergassen (besonders seit Jarlaxle sich vor fünfzig Jahren die Anteilsmehrheit daran gesichert hatte). Er war nicht überrascht, als er Zaknafein dort antraf, denn seine Kundschafter hatten ihm dies bereits verraten. Der Waffenmeister saß an seinem üblichen Tisch hinten rechts in der Ecke.

»Was führt Euch an diesem schönen Abend hierher?«, fragte Jarlaxle, als er sich zu ihm gesellte und mit einer Handbewegung zum Tresen Getränke orderte.

»Dasselbe, was mich überall hinführt«, erwiderte Zaknafein. »Wo auch immer ich bin, stimmt es mich glücklich, dass es hundert andere Orte in dieser Stadt gibt, an denen ich gerade lieber nicht wäre.«

Jarlaxle fasste ihn gründlich ins Auge. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich das als Kompliment auffassen soll.«

»Eher nicht.«

Das entlockte Jarlaxle ein Lachen. »Jedenfalls tut es gut, Euch wiederzusehen. Jahrelang haben wir kaum einen Gruß gewechselt, und jetzt sehen wir uns schon zum vierten Mal in zwei Zehntagen?«

»Malice war in letzter Zeit ungewöhnlich launisch«, antwortete Zaknafein und trank einen großen Schluck.

Um ein Haar hätte Jarlaxle verraten, dass er bereits Bescheid wusste. Er hielt sich gerade noch zurück.

»Die Hexe ist schwanger«, sagte Zaknafein.

Jarlaxle sah ihn überrascht an – natürlich nicht wegen dieser Nachricht, sondern weil die Nachricht sich so schnell herumgesprochen hatte. War Oberin Malice überhaupt schon von ihrem Besuch bei dem Seher zurück?

Stotternd suchte Jarlaxle nach einer Erwiderung, bis er schließlich fragte: »Von Euch?«

»Wollt Ihr etwa andeuten, dass meine Frau mir untreu wäre?«, entgegnete Zaknafein verstimmt.

Jarlaxle lachte, und als Zaknafein die verärgerte Fassade nicht mehr aufrechterhalten konnte, stimmte er ein. Oberin Malices sexueller Appetit war schließlich allgemein bekannt.

»Ich bin fast sicher, dass ich der Vater bin«, sagte Zaknafein.

»Weil Ihr einfach besser seid als die anderen?«, zog Jarlaxle ihn auf.

»Qualität. Natürlich«, erwiderte Zaknafein. »Aber auch eine Frage der Häufigkeit. Die Hexe gönnt mir seit Wochen keinen Schlaf. Ich weiß immer Bescheid, wann sie sich bereit macht, ein anderes Haus zu plündern.«

Jarlaxle nickte. Nicht nur Malices Appetit war wohl bekannt, sondern es war auch kein Geheimnis, dass Haus Do’Urden ein Auge auf Haus DeVir geworfen hatte, und darüber wusste niemand besser Bescheid als Jarlaxle von Bregan D’aerthe.

»Beim letzten Mal habt Ihr Euch mehr über diese Nachricht gefreut. Beim ersten Kind«, stellte Jarlaxle fest.

Zaknafein hob hilflos eine Hand, während er weitertrank.

In diesem Moment nahte der Nachschub. Jarlaxle nahm selbst seinen Becher zur Hand und winkte die Bedienung davon.

»Ihr seid nicht mehr stolz, wenn Ihr Vierna anseht?«, wagte er zu bemerken. »Für eine Priesterin scheint sie außergewöhnlich zu sein.«

»Ja und nein«, räumte Zaknafein ein. »Von einer Tochter, die ich im Haus von Malice Do’Urden zeuge, hätte ich kaum mehr erwarten können. So dumm bin ich nicht. Ich weiß es, und ich wusste es ab dem Moment, als ich mein Kind zu Gesicht bekam und sah, dass es ein Mädchen war. Ich glaube, sie hat sich gut gemacht, aber es schmerzt mich doch, dass ich mit ansehen muss, wie mein Kind, meine Tochter, eine treue Anhängerin der grausamen Lolth wird.«

»Hatte sie eine andere Wahl?«

»Hatte sie eine andere Chance?«, erwiderte Zaknafein. Er lachte resigniert. »Es ist interessant, und es überrascht mich, wie ich zugeben muss, dieser Sinn der Elternschaft, diese unerwartete Bindung.«

»Was soll das heißen?«, fragte Jarlaxle, den Zaknafeins offene Worte überraschten.

»Der Sinn und Zweck von allem«, fuhr Zaknafein fort. »Von diesem Leben. Ich meine, auf einer sehr elementaren Ebene fürchte ich den Tod, und das dürfte wohl für jeden außer die von ihrem Glauben völlig Verblendeten gelten. Natürlich sehne ich persönlich mich nach Unsterblichkeit. Wer täte das nicht?«

»Hm. Ich weiß nicht … Ich meine – das wäre doch sehr lange, oder?«

»Das heißt, Ihr lügt Euch wirklich vor, dass Ihr eines Tages Euren letzten Atemzug begrüßt?« Zaknafein schnaubte. »Der Jarlaxle, den ich kenne, wird dem Tod ein besseres Geschäft vorschlagen.«

Diesmal prostete Jarlaxle ihm zu.

»Das heißt, ja, ich wäre gern unsterblich. Und ich hoffe, dass es mehr gibt als dieses eine Leben«, sagte Zaknafein. »Aber es überrascht mich, dass meine Kinder meine Befürchtungen ein Stück weit lindern. Sie sind eine Form der Unsterblichkeit. Das hatte ich nie so betrachtet – bis zu dem Tag, als ich Vierna das erste Mal sah.«

»Das ist gut!«

»Das ist erschreckend«, entgegnete Zaknafein. »Das eigene Kind zu sehen, macht einen verletzlich. Man merkt, dass es etwas auf der Welt gibt, das einen wirklich verwundbar macht, eine Person, die wichtiger ist als man selbst. Wenn ihr etwas Schlimmes zustoßen sollte, dann wäre das hundert Mal schmerzlicher, als wenn es mir selbst widerführe. Ich fürchte den Tod. Ich will nicht sterben. So viel weiß ich. Aber ich weiß auch, dass ich mich vor den Speer werfen würde, der auf mein Kind zielt. Selbst wenn dieses Kind eine Priesterin der Spinnenkönigin geworden ist.«

»Also freut Ihr Euch, dass Oberin Malice wieder ein Kind bekommt?«, fragte Jarlaxle. »Euer Kind?«

Die direkte Frage schien Zaknafein zu verblüffen. Er zuckte mit den Schultern, trank aus und schob seinen Stuhl zurück. »Ich muss wieder nach Hause«, sagte er und stand auf. »Wir haben viel zu tun.«

»Vor dem Krieg.«

»Es gibt keinen Krieg«, protestierte Zaknafein. »Was für ein Unsinn. Haus Do’Urden hegt natürlich keinerlei Ambitionen, die gegen die Edikte des Herrschenden Konzils verstoßen würden. Wir müssen nur vorbereitet sein, falls einem der Häuser über uns etwas Schreckliches zustößt.«

»Natürlich«, stimmte Jarlaxle zu und lächelte angesichts von Zaknafeins Erinnerung daran, wie absurd die Gesetze von Menzoberranzan waren. Selbstverständlich war es kein Problem, ein rivalisierendes Haus zu vernichten. Man durfte sich nur nicht dabei erwischen lassen. Dass man sich erwischen ließ – nicht etwa die Tat selbst –, konnten die herrschenden Oberinnen nicht dulden.

Er sah Zaknafein nach, als dieser das Wirtshaus verließ, lehnte sich zurück und dachte über die ungewöhnlich offene Unterhaltung mit dem normalerweise reservierten Mann nach. Er wusste, dass Haus Do’Urden in den nächsten Monaten Haus DeVir angreifen würde. Daher würde er seinen Freund wohl viele Monate oder gar Jahre nicht wiedersehen.

Interessanterweise betrübte ihn das erheblich, wie er registrierte.

Denn genau aus diesem Grund saß er Zaknafein so gerne gegenüber: Dieser Mann war erstaunlich tiefsinnig und hegte überraschende Gedanken.

Das wusste Jarlaxle zu schätzen, aber jetzt bedrückte es ihn. Dieses Mal hatte Zaknafein einen Jungen gezeugt, und als dritten Sohn von Haus Do’Urden würde die fromme Oberin Malice das Kind zweifellos schnell und gnadenlos der Spinnenkönigin opfern.

Doch nach dieser Unterhaltung fürchtete Jarlaxle, dass eine solche Tat seinem alten Freund schwer zu schaffen machen würde.

Oberin Malice mochte diesen Ort nicht. Überhaupt nicht. Zu viele Männer, die durch die zahlreichen Gänge und über Wendeltreppen eilten oder vor den endlosen Regalen mit Schriftrollen und alten Büchern knieten.

Und nicht irgendwelche Männer. Es waren die mächtigsten Männer von Menzoberranzan, unter ihnen ein paar – besonders Erzmagier Gromph, der älteste Sohn der Oberinmutter Baenre persönlich –, die Malice vermutlich im Kampf überlegen waren. Noch irritierender war, dass Oberin Malice nicht hierhergehörte und kaum jemand wusste, dass sie hier war. Und diese wenigen potenziellen Gegner, die großen Drow-Zauberer von Sorcere, konnten einen Körper leicht verschwinden lassen.

Ich bin da, ertönte eine beruhigende Stimme – nein, keine Stimme, sondern eine telepathische Botschaft, die in ihr schwang. Alles ist arrangiert. Ihr seid mit dem Einverständnis von Erzmagier Gromph hier. Niemand würde es wagen, die Hand gegen Euch zu erheben.

Oberin Malice hasste die Anwesenheit dieses verdammten Jarlaxle und seines noch schlimmeren Psioniker-Freundes von Haus Oblodra in ihren Gedanken. Dennoch war Jarlaxles magische Botschaft durchaus beruhigend.

Dieses innere Eingeständnis wurmte sie so sehr, dass sie sich noch mehr darauf konzentrierte, Jarlaxle aus ihren Gedanken auszuschließen. Wenn er hier war und mit ihr sprechen konnte, dann nahm er auch ihre Gefühlsregungen wahr, als wären es seine eigenen.

Sie wollte nicht, dass er mitbekam, wie eingeschüchtert sie war. Immerhin war sie die Oberin von Haus Do’Urden, einem aufsteigenden, starken Drow-Haus.

Malice erreichte eine merkwürdige, schmale Holztür, die eher in den Turm eines Elfenzauberers in einem alten Wald der Oberwelt gepasst hätte. Die unebenen Bretter reichten ihr bis auf Schulterhöhe, dann liefen sie leicht abgerundet zu einer Art Spitze zusammen. Die Oberin sprach einen Schutzzauber und dann einen zur Entdeckung von Magie. Noch ehe sie damit fertig war, schwang die Tür auf und gab den Blick auf eine kleine Plattform frei. Von hier aus führte eine Treppe in die Dunkelheit hinab.

Alles Gute, Oberin Malice, sagte die Stimme in ihrem Kopf. Ich warte hier, bis Ihr zurück seid.

Er konnte nicht mit ihr absteigen, zumindest nicht magisch, dachte Malice, denn dieses Portal würde jeden Zauber zerstören.

Sie holte tief Luft und trat auf den Treppenabsatz. Dort ergriff sie das glatte, rundgeschliffene Geländer. Das gut verarbeitete Holz, Holz von der Oberfläche, fühlte sich ungewohnt an. Das Geländer knarrte, als sie mit dem Abstieg begann, ebenso die Stufen. Es ging immer tiefer, bis weit unter die vielen Türme von Sorcere. Hier unten war es so schwarz, dass nicht einmal ihre scharfen Drow-Augen ihr einen Blick auf die Wand neben ihr oder die Stufen unter ihr gestatteten.

Doch sie ging weiter, ohne auch nur zu versuchen, ein magisches Licht zu erzeugen. Das brauchte sie nicht. Sie war die Oberin eines starken, aufstrebenden Hauses, sagte sie sich resolut. Kein Mann würde es wagen, sie anzugreifen.

Sie zählte ihre Schritte nicht, doch sie wusste, dass es über hundert Stufen waren, bis sie endlich tief unter sich ein fernes Licht wahrnahm. Eine einzelne Kerze?

Spinnweben streiften ihr Gesicht, doch auch dies konnte Oberin Malice nicht schrecken. Die Gegenwart von Spinnen war eher tröstlich. Spinnen waren Verbündete der Lolth, der Spinnenkönigin, und die war Oberin Malice gewogen.

Darum ging sie schneller und lächelte sogar, als eine Spinne sich abseilte und ihr über die Wange krabbelte.

Lolth war mit ihr!

Ihr kam der Gedanke, dass die Anwesenheit dieser segensreichen kleinen Tiere ein Hinweis auf den Glauben des Magiers war, den sie aufsuchen wollte.