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Xaenym hat sich auf die Suche nach Armenia gemacht, um ihre gestohlene Erinnerung zurück zu bekommen. Ihre Freunde haben die Titanen aus der Unterwelt befreit und können es nun mit den Göttern aufnehmen. Das dachten sie zumindest. Denn etwas ist schief gelaufen. Die Titanen haben keine Kräfte. Als Ramy eine alte Prophezeiung in einem Buch findet, wird schnell klar, dass sie etwas damit zu tun hat. Da die Bibliothek von Titansvillage jedoch abgebrannt ist, müssen sie einen anderen Weg finden, an Informationen zu kommen. Sie treten eine Reise zum Olymp an, in dessen Bibliothek sie etwas in Erfahrung bringen, das den Kampf gegen die Götter völlig auf den Kopf stellt. Aber sie wissen nicht als einzige davon.
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Xenia Blake, 2000 geboren, lebt in einer Kleinstadt in Rheinland-Pfalz. Sie liebt Bücher und Kaffee über alles und kann sich kaum an eine Zeit erinnern, in der sie nicht geschrieben hätte. Schon sehr früh begann sie, an ihrem Debütroman „Erbin der Zeit – Die Schlacht von Pyrinas“ zu schreiben. Der dritte Band der Trilogie ist vor Kurzem erschienen und die Fantasyautorin arbeitet bereits an neuen Projekten.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Glossar
Nae
Seit die Götter Titansvillage zerstört hatten, waren zwei Monate vergangen. Einige Hütten waren mit wenigen Rußflecken davongekommen. Xaenyms, Moonrise' und Neffires Hütte war sogar noch bewohnbar. Inzwischen war Loryelle dort eingezogen, da Moon bei der Verteidigung des Lagers gestorben war und wir seit Wochen nichts von Xaenym gehört hatten.
Neffire hatte Pavers und Moonrise' Tod recht gut verkraftet. Sie arbeitete von morgens bis abends, um sich abzulenken. Und es funktionierte. Jeden Tag saß sie mit den anderen am Mittagstisch, lachte viel und schien einigermaßen glücklich zu sein.
Mehr Sorgen machte ich mir um Xaenym. Wo konnte sie nur sein? Titansvillage brauchte sie. Als Xae fortgegangen war, um die Göttin Armenia zu suchen, hatte sie Chaos hinterlassen. Alle Einwohner des Lagers hatten Aras' Befehl, ihr nichts von Armenia zu erzählen, blind befolgt. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass es eine falsche Entscheidung gewesen war, hatten alle begonnen, an Aras zu zweifeln.
Aber die Welt schien stillzustehen. Nichts geschah. Wir hatten nichts mehr wegen Aras unternommen. Wir hatten Heige nicht über ihre Vergangenheit ausgefragt. Wir standen morgens auf, halfen beim Bau der Hütten und legten uns wieder schlafen. Tag für Tag.
Die Titanen verhielten sich frustrierend normal. Ich hatte übernatürliche Gottwesen erwartet. Stattdessen verhielten sie sich, als wären sie menschlich. Zwar waren sie altmodisch, aber eben auch nur das. Bereits seit mehreren Tagen ahnte ich, was los war. Das Skia hatte einen Defekt. Nur die sterbliche Essenz der Titanen war aus der Unterwelt zurückgekehrt. Sie hatten keine Kräfte mehr.
Ich atmete tief durch und genoss die Waldluft. Ich war mitten in der Nacht in den Wald gelaufen und hatte mich auf den moosbewachsenen Boden gesetzt. Tief durchatmend schloss ich die Augen.
So gern hätte ich in einem Sagenbuch nach weiteren Informationen über das Skia gesucht, doch die Bibliothek war abgebrannt. Jahrtausendealtes Wissen hatte sich in Asche und Rauch verwandelt. Meine Hütte war bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Seit Wochen kam ich jeden Tag hierher und starrte stundenlang die Bäume an.
Nach der Mission fiel es uns allen schwer, in den Alltag zurückzufinden. Häufig ertappte ich mich dabei, wie ich die Pfeile in meinem Köcher zählte, obwohl ich jederzeit neue aus dem Waffenlager holen konnte oder morgens aufstand und weiterlaufen wollte, nur um dann festzustellen, dass ich kein Ziel hatte. Es fühlte sich falsch an, still herumzusitzen, während Vice und Zeus noch lebten.
„Wie lange willst du noch die Bäume anstarren?“, fragte eine Stimme. Ein Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus.
„Ich bin eine Dryade. Wir tun so etwas“, protestierte ich.
Ramy trat grinsend zwischen den Bäumen hervor und setzte sich neben mich. Seine schwarzen Haare waren zerzaust und sein weißes T-Shirt zerknittert. Die verschnörkelten Tattoos an seinen Armen schimmerten durch den hellen Stoff hindurch. Ramy schaffte es tatsächlich, gut auszusehen, obwohl er gerade erst aufgestanden war.
„Warum sitzt du mitten in der Nacht hier rum?“, fragte er.
„Warum suchst du mich, während ich mitten in der Nacht hier rumsitze?“, gab ich zurück.
Er zuckte mit den Schultern, nahm meine Hand und zog mich auf die Beine.
„Du hast heute Geburtstag.“
„Nein“, erwiderte ich stirnrunzelnd.
„Ist mir egal. Ich habe ein Geburtstagsgeschenk für dich.“
Er griff in die Innentasche seiner Jacke und zog ein dickes in Leder gebundenes Buch mit goldener Aufschrift hervor.
„Die Chronik des trojanischen Krieges“, las ich erstaunt. „Wo hast du das her?“
„Ich hab es in den Trümmern der Bibliothek gefunden. Ein paar Seiten sind nicht mehr lesbar, doch ich dachte, du könntest vielleicht etwas damit anfangen.“ Er zuckte mit den Achseln.
„Aber das war erst ein kleiner Teil des Geschenks. Denkst du, ich schenke dir nur ein verkohltes Buch zum Geburtstag?“
„Wie gesagt, ich habe nicht Geburtstag.“
„Jedenfalls denke ich, es geht uns allen so. Wir können nicht tatenlos herumsitzen. Und genau das ist mein Geschenk.“
Ich sah ihn fragend an.
„Lies das Buch. Ich war so frei und habe mit Textmarker ein paar Stellen markiert. Das muss etwas bedeuten. Wenn ich Recht habe, müssen wir so schnell es geht aufbrechen.“
„Du hast ein jahrhundertealtes Buch mit Textmarker bemalt?“,
rief ich empört.
„So in etwa. Aber darum geht es nicht. Lies es dir durch. Bitte.
Erinnerst du dich, dass es den Göttern nicht nur um das Skia ging? Es gibt da noch etwas anderes. Und ich glaube, dieses Buch hat etwas damit zu tun. Ich werde daraus nicht schlau.
Aber du vielleicht. Wenn überhaupt jemand versteht, worum es geht, dann du. Ich weiß, es klingt so, als würde ich nur nach einem Vorwand suchen, eine neue Mission zu starten, und ja, das stimmt. Still rumzusitzen ist nicht meine Art. Aber ich glaube, da ist wirklich was los. Vielleicht hilft dieses Buch ja, die Titanen … titanischer zu machen.“
Ich nickte und wollte mich zurück zu meiner Hütte begeben, als er mich am Arm festhielt und zu sich zog.
„Das kann bis Sonnenaufgang warten.“
„Aber ...“ Weiter kam ich nicht, da seine Lippen schon auf meinen lagen.
Die nächsten beiden Tage verbrachte ich damit, das Buch zu lesen und besonders auf die markierten Stellen zu achten. Und Ramy hatte tatsächlich Recht. Ich blieb fast durchgehend wach und dachte an die Geschehnisse in Troja. Nachdem ich das Buch gelesen hatte, rannte ich, so schnell ich konnte, zu seiner Hütte.
Es kümmerte mich nicht, dass es vier Uhr morgens war. Ich musste dringend mit Ramy sprechen. Er war inzwischen bei Roove eingezogen, da seine früheren Mitbewohner tot waren.
Kurz bevor ich anklopfte, öffnete sich die Tür langsam. Dahinter kam Roove in vollständiger Kampfmontur zum Vorschein, der mich mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. An seinen Schultern hing ein schwarzer Rucksack.
„Äh … ich“, stammelte er.
„Du willst Xae suchen gehen“, ergänzte ich.
Er ließ die Schultern sinken und sah zu Boden. „Wenn es so wäre, würdest du mich gehen lassen?“
„Ich kann dich nicht aufhalten, oder?“ Seufzend trat ich zur Seite.
Er lächelte und ging die Treppen hinunter. Kurz bevor er mit der Dunkelheit verschmolz, drehte er sich um und sagte: „Leb wohl.
Ich hoffe wirklich, dass wir uns wiedersehen. Aber ohne Xae komme ich nicht zurück. Ich kann einfach nicht. Ich habe es die ganze Zeit versucht, mir eingeredet, dass ich sie nicht brauche.
Aber das tue ich.“ Und dann verschwand er.
Langsam drehte ich mich um und presste die Lippen zusammen.
Vor einigen Monaten hatten wir uns zu zehnt auf den Weg gemacht. Jetzt waren nur noch Neffire und ich davon übrig.
Meine Brust fühlte sich furchtbar leer an.
Als ich in Ramys Zimmer ankam, saß er bereits kerzengerade auf seinem Bett und starrte mich an.
„Wieso bist du wach?“
„Ich konnte nicht schlafen. In letzter Zeit kann ich gar nicht mehr schlafen. Ich muss ständig an dieses Buch denken.“
„Genau deshalb bin ich hier. Wir müssen zu Aras. Sofort.“
„Aras hat hier nichts mehr zu sagen“, entgegnete er spöttisch.
„Wir gehen zu Aras“, beharrte ich. Es war mir egal, dass er sich im Moment für nichts interessierte. Er war der Lagerleiter. Wenn wir eine Mission antreten wollten, musste er davon wissen.
Einige Minuten später beugte Aras sich stirnrunzelnd über das Buch. Ramy presste seine Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und ballte die Fäuste. Ich fand noch immer seltsam, dass er Aras' Sohn war. Noch dazu hasste Ramy ihn anscheinend. Die beiden hatten noch kein einziges Wort miteinander gesprochen. Im ganzen Raum herrschte angespannte Stille. Mir war klar, dass Ramy nur für mich hier war. Es ging ihm nicht um den Auftrag.
Ich nahm Ramys Hand und verschränkte meine Finger mit seinen. Sofort entspannte er sich. Sein Atem ging langsamer. Er griff nach einer meiner Haarsträhnen und drehte sie lächelnd zwischen den Fingern hin und her.
Plötzlich schlug Aras das Buch zu.
„Nein“, verkündete er.
Urplötzlich ließ Ramy meine Haarsträhne los und begann mit den Zähnen zu knirschen.
„Was meinst du mit 'nein'?“, fragte ich stirnrunzelnd.
„Ich meine nein. Ihr geht nicht.“
„Aber Aras, schau dir doch die erste Seite an.“ Ich deutete auf die ersten Zeilen des Buches.
„Aufzeichnungen zum Krieg um Troja, einem der vier vergangenen Blutskönigreiche, von Dermeseus, dem Sohn der Athena, zusammengetragen“, zitierte ich.
„Dort steht Blutskönigreich. Dieses Wort ist Ramy und mir sofort ins Auge gefallen. Ich habe dieses Wort noch nie gehört.
Ginge es nur um ein gewöhnliches Königreich, stünde dort nicht Blutskönigreich. Und später schreibt Dermeseus, die Vereinigung der vier Königreiche sei verhindert worden, der Kelch sei nicht gefüllt worden. Bitte, Aras, ich muss mehr darüber erfahren. Wir haben keine Bücher mehr. Aber sie haben welche.“
„Du willst in die Bibliothek des Olymp einbrechen? Warum gehst du nicht zu Neraya?“
„Ich glaube, sie ist tot.“
Aras lachte auf. „Wie kommst du darauf?“
„Schlag Seite 847 auf. Dieses Buch erzählt nicht nur von Troja.
Es enthält Prophezeiungen des Orakels von Delphi.“
Aras verdrehte zwar die Augen, tat aber wie gehießen.
„Sobald Wissen stirbt
reines Herz verdirbt
und die Erbin der Zeit läuft hinfort
fällt Entscheid an altbekanntem Ort
An verfluchtem Tag kehrt viertes Reich wieder
und unsichtbare Ketten gehen nieder
ehe vier Königreich sich vereinen
soll tot geglaubter König erscheinen.“
„Einiges davon ist schon geschehen. Das reine Herz, nämlich deins, ist verdorben. Es gab eine Zeit, da hast du uns zugehört, gemeinsam mit uns entschieden. Doch als Xaenym hier ankam, hast du plötzlich alles verschwiegen und alles allein geregelt.
Die Erbin der Zeit, Xae, ist weggelaufen. Und irgendwo, wo sie schon oft war, wird sie ihre zweite Entscheidung fällen. Das heißt, dass das Wissen, also Neraya, schon gestorben ist.“
Aras hob eine Augenbraue.
„Das klingt alles so, als würdet ihr unbedingt gehen wollen und würdet alles als Grund für eine Mission ansehen.“
„Wir wollen nicht nur gehen, wir werden gehen“, meldete sich Ramy zu Wort. Seine Stimme klang hohl und distanziert, doch ich hörte die darin mitschwingende Wut heraus.
„Nein.“
„Weißt du was, Dad?“
Aras zuckte bei diesem Wort sichtlich zusammen.
„Du hast hier sowieso nicht mehr viel zu sagen. Wir wollen doch alle, dass Chronos als Lagerleiter eingesetzt wird. Es traut sich nur niemand, etwas zu sagen“, fuhr Ramy fort. „Komm mit, Nae. Wir machen uns noch heute auf den Weg.“ Er zog mich aus dem Büro, wobei ich Aras einen entschuldigenden Blick zuwarf, und stapfte zum wieder aufgebauten Waffenlager. Ich wusste nicht so Recht, ob Ramys Vater mir leidtun sollte. Er hatte Titansvillage so lange geleitet und den Job auch wirklich gut gemacht. Aber plötzlich wirkte er wie ausgewechselt. Natürlich waren manche sauer auf ihn.
„Du hättest nicht so hart zu ihm sein sollen“, sagte ich, während ich einen Köcher und ein paar Dolche in einen Rucksack stopfte.
„Er hatte es verdient“, schnaubte Ramy.
Ich seufzte und legte meine Hand auf seine Schulter.
„Es tut mir leid. Du bist nur wegen mir nach Titansvillage gekommen. Um bei mir zu sein. Ich hatte keine Ahnung, wie schwer es mit Aras und dir… Ich hätte das nicht von dir verlangen dürfen.“
Er strich sanft über meine Wange und lächelte.
„Nae, ich habe das nicht für dich getan. Ich habe es für unsgetan. Seit ich dich kennengelernt habe, versuche ich nicht, die Götter zu besiegen, damit sie besiegt werden. Ich kämpfe nicht gegen Monster, weil sie mich sonst töten. Ich überlebe nicht, damit ich weiterlebe. Ich tue es, um bei dir sein zu können. Ich tue es für uns.“
Ich lächelte. „Und dafür liebe ich dich.“
„Das ist ja nicht zu ertragen“, sagte plötzlich eine genervte Stimme.
Ich fuhr herum und erblickte ein Mädchen, das in vollständiger Kampfmontur am Eingang des Waffenlagers stand und die braungrünen Augen verdrehte. Ihre hellbraunen Haare waren verknotet und voller Schmutz. Ein Schnitt zog sich quer über ihre Stirn.
Ungläubig starrte ich das Mädchen an. Das konnte nicht sein.
Doch ich war mir sicher. Es war Jannes. Sie lebte.
So schnell ich konnte, rannte ich zu ihr und fiel ihr um den Hals.
Sie tätschelte unbeholfen meinen Rücken, offensichtlich unschlüssig, wie sie reagieren sollte. Jannes hatte es noch nie gemocht, jemanden zu umarmen.
„Wie …?“, fragte ich mit erstickter Stimme. Eine Träne lief mir die Wange hinab.
„Ich habe keine Lust, alles zehnmal zu erklären. Bald erzähle ich es euch allen.“ Sie zuckte mit den Achseln, als wäre es keine große Sache. Aber das war es. Sie lebte. Ich konnte es nicht fassen.
Ich nickte, doch ich brannte vor Neugier. Wie war sie zurückgekehrt? War sie überhaupt richtig gestorben? Wenn man tot war, verlor man seinen Körper. Sie konnte also nicht einfach über den Acheron entkommen sein wie Cryliss.
Nun trat Ramy neben mich und grinste Jannes breit an.
„Du lebst“, bemerkte er.
„Sieht ganz danach aus“, erwiderte sie achselzuckend. „Wie ich sehe, machen wir uns demnächst auf den Weg?“ Sie deutete auf unsere Rucksäcke.
„Äh ... ja, wir müssen in die Bibliothek der Götter, weil unsere abgebrannt ist, aber ... Du bist doch gerade erst hier angekommen. Ich habe keine Ahnung, wo du in den letzten zwei Monaten warst. Es ist so viel passiert, von dem wir dir noch erzählen müssen. Findest du nicht, dass es besser wäre, hier zu bleiben und zu versuchen, dich zurechtzufinden?“, fragte ich zögernd.
Jannes schnaubte.
„Ich werde mich nicht hier verkriechen und mir anhören, was passiert ist. Ich will kämpfen. Ihr könnt mir während der Mission alles erzählen. Denkst du wirklich, ich würde wegen eines kurzen Aufenthalts in der Unterwelt aufhören zu kämpfen und mich in Titansvillage von Fragen durchlöchern lassen?
Vergiss es. Ich komme mit.“
Ohne auf eine Antwort zu warten, begann sie, ihren Rucksack zu packen. Innerhalb weniger Minuten war sie reisefertig, sah uns erwartungsvoll an und hob eine Augenbraue.
„Worauf wartet ihr denn?“
„Wir treffen uns heute Abend um sechs vor dem Hauptgebäude.
Die anderen wissen schon Bescheid“, gab Ramy zurück.
Ich verdrehte die Augen. „Du hast das organisiert, bevor ich überhaupt davon wusste, oder?“
Ramy grinste mich breit an. „Hast du etwas anderes erwartet?“
Als ich mich wieder an Jannes wenden wollte, war sie bereits verschwunden.
„Was denkst du darüber?“, fragte Ramy mit nachdenklicher Miene.
„Sie taucht hier mitten in der Nacht ohne Erklärung auf und will sofort mitkommen ... Ich weiß nicht. Ich freue mich, sie wiederzusehen, aber sie war tot. Der Aufenthalt im Tartaros hat Cryliss zerstört. Ich frage mich, was mit Jannes passiert ist.“
Ramy nickte, während er ins Leere starrte.
Wenige Stunden später saß ich erneut an einen Baum gelehnt im Wald und atmete tief durch. Neben mir lag ein lederner Rucksack voller Proviant und Waffen. In zehn Minuten musste ich reisefertig vor dem Hauptgebäude stehen. Doch statt mich auf den Weg zu machen, saß ich lange Zeit nur herum.
Ein letztes Mal hatte ich diesen Wald sehen wollen, bevor ich sterben würde. Irgendwann im Laufe des Tages war ich zu der Überzeugung gelangt, dass ich nicht überleben würde. Das letzte Mal war die Hälfte von uns gestorben. Wenn diese Mission genauso gefährlich werden würde, standen meine Überlebenschancen nicht allzu hoch.
Nach einigen Minuten rappelte ich mich auf und begab mich zum Hauptgebäude. Ich wollte an dieser Mission teilnehmen.
Meine Befürchtung hielt mich nicht davon ab, Abenteuerlust zu verspüren. Ich brauchte endlich wieder eine Aufgabe, ein Ziel.
Sofort beschleunigte ich meine Schritte.
Schon von Weitem hörte ich Stimmgewirr. Neffire kam mir entgegen und lief dann neben mir her.
„Wir haben ein Problem“, erklärte sie hastig.
„Meinst du Jannes?“
„Nein. Sie ist eben aufgetaucht und hat uns gesagt, dass sie lebt.
Warum, wissen wir nicht, aber darum geht es nicht.“
Ich runzelte die Stirn. „Was ist dann los?“
„Nun ja ... “ Noch bevor sie ihren Satz beenden konnte, erkannte ich das Problem. Es war aber auch nicht zu übersehen.
Sivah, Heige, Dvyn, Jannes und Ramy standen mit ihrer Ausrüstung vor dem Hauptgebäude. Und … Loryelle. Zum ersten Mal sah ich sie in vollständiger Kampfmontur. Sogar ein paar Dolche hatte sie an ihrem Gürtel befestigt. Außerdem hatte sie unzählige Rucksäcke um sich herum liegen, die fast schon einen Wall um sie herum bildeten.
Als Neffire und ich bei ihnen ankamen, redete Loryelle schon drauf los: „Ich komme mit. Seth war mein Bruder und ich will nicht, dass er umsonst gestorben ist. Ich weiß, ich bin Rotblüterin und kann nicht kämpfen, aber ich habe manchmal allein trainiert und ...“
„Lory, du weißt nicht, wie gefährlich das ist. Du kannst dir nicht schnell etwas zu Essen holen, wenn du keins mehr hast.
Vielleicht wirst du von den anderen getrennt und bist auf dich allein gestellt. Du kannst nicht mitkommen“, sagte ich sanft.
„Ihr könnt mich nicht davon abhalten“, beharrte sie.
„Woher weißt du überhaupt von der Mission?“, fragte Ramy.
„Neffire hat es mir erzählt“, erwiderte sie.
Ramy warf Neffire einen bösen Blick zu.
„Ich hasse dich, weißt du das eigentlich?“
„Woher soll ich denn auch wissen, dass sie gleich mitkommen will?“ Neffire hob verzweifelt die Hände.
„Warum nehmt ihr Dvyn mit und mich nicht? Er ist ein Jahr jünger als ich“, klagte Loryelle.
„Er hat eine Ausbildung. Du nicht“, sagte Heige trocken.
„Ich komme mit“, beschloss Loryelle.
„Sie kommt mit.“
Wir alle starrten Sivah verständnislos an.
„Aber ...“, setzte Heige an, verstummte jedoch, als Sivah eine Augenbraue hob. Damit war die Diskussion beendet. Wenn Sivah etwas entschieden hatte, duldete sie keine Widerrede. Ein Lächeln breitete sich auf Loryelles Gesicht aus und sie errötete leicht.
„Also gut. Und was genau befindet sich in diesen Rucksäcken?“
Ramy deutete auf den Gepäckstapel, der Loryelle umgab.
„Epouros, Waffen, Schlafsäcke, Kleidung, Proviant, ein paar Flaschen Wasser, Schuhe, ein Zelt, Holz, falls wir ein Feuer machen wollen ...“
Während sie weitersprach, wechselte ich einen kurzen Blick mit Ramy. Er schien sofort zu verstehen, schnappte sich zwei Rucksäcke und warf sie kurzerhand durch das geöffnete Fenster einer naheliegenden Hütte. Unglücklicherweise trat genau in diesem Moment Raphael davor und wurde somit von einem fliegenden Rucksack getroffen.
„Das ist ein Geschenk für dich“, rief Ramy grinsend. Raphael hingegen seufzte nur und schloss das Fenster.
„Jetzt brauchen wir noch zehn weitere geöffnete Fenster“, bemerkte Jannes.
Ramy schüttelte den Kopf und begann, einen Rucksack nach dem anderen zwischen zwei Säulen des Hauptgebäudes hindurch zu werfen, bis schließlich ein Gepäckhaufen in der Mitte des großen Saals lag.
Ausnahmsweise hatte Loryelle dazu nichts zu sagen. Sie stand nur da und starrte Ramy entgeistert an.
„Wir sollten besser verschwinden, bevor Aras das da“, Dvyn deutete in Richtung der Rucksäcke, „sieht.“
„Aras! Wir haben einen Haufen von unnötigem Gepäck im großen Saal abgeladen!“, schrie Ramy augenblicklich.
Ich seufzte. „Lasst uns jetzt einfach gehen, bevor Ramy sich weiter wie ein Kindergartenkind verhält.“
Verständnislos hob er die Arme.
„Haben wir überhaupt ein Auto?“, fragte Neffire.
Daraufhin zog Ramy einen Schlüsselbund aus der Hosentasche und ließ ihn klimpern.
Heige runzelte die Stirn. „Wo hast du den her?“
„Willst du nicht wissen“, erwiderte Ramy grinsend.
Kurz darauf stiegen wir in einen rostfarbenen, klapprigen VW-Bus, den Ramy am Rande des Lagers abgestellt hatte. Heige taufte ihn Hippiemobil.
Sivah fuhr und Loryelle, die neben ihr saß, redete die ganze Zeit pausenlos auf sie ein.
Nach einigen Minuten nahm ich das Buch über Troja in die Hand und strich über den Einband. Hatte ich mich geirrt? Was, wenn Aras Recht hatte? Wenn die Prophezeiung nichts bedeutete?
Ramy, der anscheinend erraten hatte, woran ich dachte, nahm meine Hand.
„Du hattest Recht. Diese Mission ist wichtig. Wir müssen mehr über die Blutskönigreiche herausfinden“, meinte er mit beruhigender Stimme.
„Weißt du, ich frage mich, ob das alles nicht zu überstürzt war.
Vielleicht hätten wir noch einmal darüber nachdenken sollen ...“
Er schmunzelte.
„Du denkst sogar darüber nach, ob du zu wenig nachgedacht hast.“
„Du hast Recht. Wir haben die richtige Entscheidung getroffen.“
Ich lächelte und legte meinen Kopf auf seine Schulter. Er roch so vertraut noch Moos und Tannennadeln. Bei ihm fühlte ich mich sicherer als an jedem anderen Ort. Egal was geschah, Ramy würde mich beschützen. Fast augenblicklich schlief ich ein.
Xaenym
Ich muss zugeben, dass ich das Ganze nicht gut durchdacht hatte.
Ich war ohne genaueren Plan in die Sahara gelaufen (oder wohl eher gestolpert, mein neuer Körper erschien mir noch immer fremd), weil ich gehofft hatte, Armenia wäre in Pyrinas. Aber das Problem war: Die Insel der Verdammten bestand nur noch aus einem riesigen Krater. Sie hatte ihre Magie verloren, war nur noch ein Loch voller Trümmer, das nun vor mir klaffte und mich zu verspotten schien. Und natürlich hatte Armenia sich nicht in ein Loch voller Trümmer gesetzt und dort auf mich gewartet.
Die Annahme, meine Fragen würden nun beantwortet werden, entpuppte sich ebenfalls als Irrtum.
Warum hatte Aras mir nichts davon erzählt, dass eine verfluchte Göttin meinen Körper bewohnt hatte?
Wo war Armenia?
Welche Erinnerung hatte sie mir gestohlen?
Warum wollte sie, dass ich sie fand?
Ich setzte mich auf den Boden und starrte meine Hände an.
Meine kurzen Nägel waren verdreckt und eingerissen, meine Knöchel aufgeschürft. Vor ein paar Monaten hätte ich es nie ertragen, so auszusehen. Vor ein paar Monaten hatte ich ohnehin einen anderen Körper gehabt.
Immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich mich musterte.
Auch nach mehreren Wochen hatte ich mich nicht daran gewöhnt, so groß zu sein. Immer wenn mir eine rote Locke ins Gesicht flog, wunderte ich mich einen Augenblick..
Ich seufzte und starrte in den Krater. Eigentlich hätte ich aufstehen und zusehen sollen, dass ich zurück nach Titansvillage gelangte. Vor zwei Tagen war ich von einer einzelnen Harpyie angegriffen worden, die etwas von einem 'Meister' sagte, was darauf hinwies, dass Notos aus dem Tartaros zurückgekehrt war und seine Harpyien nach mir ausschickte.
Kurz gesagt: Ich hatte ein ordentliches Problem.
Aber ich konnte einfach nicht gehen. Ein Teil von mir wartete darauf, Armenia zwischen den Trümmern stehen zu sehen.
„Denk nach, Xae“, murmelte ich. „Wo könnte Armenia sein?“
Sie war dazu verdammt, den Göttern zu helfen. Wenn sie also diesem Drang nicht widerstehen konnte, befand sie sich im feindlichen Lager.
Nachdem ich zu dem Schluss gekommen war, dass dies die einzige Möglichkeit war, rappelte ich mich auf, schulterte meinen Rucksack und lief in die erstbeste Richtung los.
Vorausgesetzt, Armenia war auf dem Olymp, hatte ich trotzdem absolut keine Chance, sie zu finden und zu überleben. Aber ich konnte auch nicht einfach nach Titansvillage zurückkehren. Ich hatte mich mitten in der Nacht davongeschlichen, um Armenia zu suchen. Ohne sie im Lager aufzutauchen, würde den Anschein erwecken, ich hätte die anderen für gar nichts im Stich gelassen. Ich musste es zumindest versuchen.
Meine Finger glitten über den lederumwickelten Griff meines Schwertes. Tharros hatte mir in den letzten zwei Monaten jeden Tag das Leben gerettet. Obwohl ich mich noch nicht wirklich daran gewöhnt hatte ich zu sein, fiel es mir leicht, damit zu kämpfen. Doch das würde mir auch nichts nützen, wenn ich nicht früh genug in eine Stadt gelangte, da meine Vorräte bald aufgebraucht sein würden und ich somit ohne Wasser und Proviant mitten in der Sahara stehen würde.
Wie gesagt, ich hatte das Ganze nicht durchdacht. Bis hierher zu kommen, war kein Problem gewesen. Ich hatte mich einfach ohne Fahrkarte in den Zug gesetzt und mich aus dem Staub gemacht, bevor der Schaffner kontrolliert hatte und das Nötigste aus Lebensmittelgeschäften gestohlen. Nur hatte ich keinen Plan für den Fall, dass Armenia nicht in Pyrinas war. Und genau das war passiert.
Der Marsch durch die Wüste war die reinste Hölle. Mein neuer Körper kam nicht so gut mit Hitze klar wie Armenias. Sie hatte auf der Insel gelebt, weshalb sie oft der glühenden Saharasonne ausgesetzt gewesen war. Ich hingegen hatte im Laufe der letzten Tage Sonnenbrand bekommen und fühlte mich allgemein vollkommen durchgebraten.
Am Ende des Tages verließ mich auch das letzte Bisschen Kraft.
Meine Beine knickten unter mir weg und ich stürzte in den Wüstensand. Die Augen fielen mir zu. Fast augenblicklich überkam mich der Schlaf.
Es war der erste Traum seit Wochen. Ich befand mich in einem modern eingerichteten Raum, dessen Wände aus weißem Marmor bestanden. Vice stand an einem Fenster und sah hinaus. Dunkle Schatten umrahmten seine eisblauen Augen.
Schweißperlen zeichneten sich an seiner blassen Stirn ab. Ein Goldblüter saß mit dem Rücken zu mir über ein Buch gebeugt an einem Schreibtisch. Durch die hohe Lehne seines Sessels konnte ich ihn nicht sehen.
„Wer könnte nur der letzte sein? Hast du wirklich keine Ahnung?“, seufzte er. Seine Stimme kam mir seltsam bekannt vor. Aber jeder von Vice' Truppen, mit dem ich gesprochen hatte, war tot. Woher kannte ich ihn also?
„Denkst du, wir würden noch hier sitzen, wenn ich es wüsste?
Wir sollten uns zuerst auf die anderen konzentrieren. Sie kommen ohnehin hierher. Xaenym, weil sie glaubt, Armenia wäre hier und die anderen, weil sie Informationen brauchen.
Lass sie herkommen. Lass deinen Feind für dich arbeiten. Lass sie uns Heige bringen. Sorg dafür, dass sich alle Truppen zurückziehen. Mach ihnen den Weg hierher leicht. Und wenn sie hier ankommen, bereiten wir ihnen einen angemessenen Empfang.“
Ein kaltes Lächeln breitete sich auf Vice' Gesicht aus.
Schweißgebadet schreckte ich aus dem Schlaf hoch. Armenia war nicht auf dem Olymp. Aber Vice war dort und erwartete mich und die anderen mit all seinen Truppen. Er brauchte mich und Heige für irgendetwas. Ich durfte nicht in seine Falle tappen. Doch ich musste meine Freunde warnen, sonst würden sie es tun. Ich hatte keine Ahnung, wo ich sie abfangen sollte, also musste ich dahin, wo ich sie auf jeden Fall finden würde.
Und plötzlich hatte ich eine Idee.
Nae
Es war eine wirklich schlechte Idee gewesen, Loryelle neben Sivah zu setzen. Man sah Sivah an, dass sie kurz davor war, Lory aus dem Auto zu schmeißen, wovon diese nichts zu bemerken schien.
Jannes seufzte.
„Okay, das reicht. Loryelle, falls du es nicht begreifst, niemanden interessiert, was du da redest. Halt endlich die Klappe.“
Lory verstummte und sah sie aus großen, blauen Augen an.
„Musste das sein?“, fragte ich Jannes.
„Sie ist endlich still. Und das wollten wir doch alle erreichen“, schnaubte sie.
Den restlichen Tag über sagte Loryelle kein einziges Wort mehr.
Sie starrte nur gedankenverloren aus dem Fenster. Die Wut stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Seltsam, dachte ich. Lory war nie wütend. Traurig vielleicht, aber wütend? Ich hätte erwartet, dass sie sich schuldig fühlen würde, sich entschuldigte und rot anlief. Aber sie war ganz eindeutig sauer. Auf einmal kam sie mir so verändert vor. Hatte Seths Tod sie so sehr mitgenommen?
Am Abend bauten wir im Wald neben einem Parkplatz ein Zelt auf und zündeten ein Lagerfeuer an. Da Aras uns keinen Charterflug organisiert hatte und wir nicht bewaffnet in ein normales Flugzeug steigen konnten, waren wir gezwungen, zur Küste von North Carolina zu fahren und dort ein Boot zu klauen.
Wir hatten es gerade mal bis Virginia geschafft. Ich seufzte bei dem Gedanken, wie lang und beschwerlich der Weg über den Nordatlantik werden würde.
Als Loryelle eine Tüte Marshmallows aus ihrem Rucksack kramte, schnitzen wir alle ein paar Spieße und hielten die Marshmallows übers Feuer. Ich musste zugeben, dass ich diesem Moment sehr froh darüber war, dass sie jeden Mist mitgenommen hatte.
„Also, Jannes“, sagte Dvyn zwischen zwei Bissen, „du warst in der Unterwelt?“
Jannes erstarrte. Sie ballte die Hände zu Fäusten und starrte in die Flammen. Dvyn sah sie nur neugierig an. Mehrere Sekunden wartete er auf eine Antwort, als Jannes plötzlich aufsprang und zwischen den Bäumen verschwand.
„Soll ich hinterher? Meine Anwesenheit macht jeden wieder glücklich“, meinte Ramy achselzuckend.
„Ach, halt die Klappe“, seufzte Heige, doch er grinste nur.
Nachdenklich sah ich Jannes' Silhouette nach.
„Nein, lass sie gehen“, sagte ich leise. „Ich glaube, wer sich ihr jetzt nähert, verliert seinen Kopf.“
Erst bei Sonnenaufgang ließ sie sich wieder blicken. Dunkle Schatten umrahmten ihre grünbraunen Augen. Zahlreiche Blätter hatten sich in ihren verknoteten Haaren verfangen. Sie würdigte uns keines Blickes, schulterte ihren Rucksack und stieg anschließend ins Auto.
Während der Fahrt sagte Jannes kein einziges Wort. Immer wieder sahen die anderen sie mitleidig an. Obwohl sie nicht reagierte, war ich mir sicher, dass sie es bemerkte. Als ich meine Hand tröstend auf ihre Schulter legte, warf sie mir einen abwertenden Blick zu und hob eine Augenbraue.
„Du weißt eine Menge, Nae, aber trotzdem hast du keine Ahnung“, sagte sie knapp, lehnte ihren Kopf ans Fenster und schloss die Augen, woraufhin ich meinen Arm hastig zurückzog.
Dvyn kaute nervös auf den Nägeln und beobachtete Jannes aus dem Augenwinkel. Schweißperlen zeichneten sich an seiner blassen Stirn ab.
„Mach dir keine Vorwürfe“, flüsterte ich ihm zu. „Es ist nicht deine Schuld.“
Seine großen braunen Augen sahen mich traurig an.
„Doch ist es. Ich hätte nicht nach der Unterwelt fragen sollen.“
Die Schuldgefühle in seiner Stimme waren kaum zu überhören.
„Du konntest nicht wissen, dass ...“
„Natürlich. Wer plaudert schon gerne über seine Erlebnisse in der Unterwelt?“
„Die Jannes, die ich kannte, hätte kein Problem damit gehabt.
Sie war unzerstörbar. Egal was sie durchgemacht hat, sie blieb genauso stolz wie immer. Sie ...“
Meine Stimme versagte, als ich Jannes ansah. Ihr Gesicht war sogar im Schlaf wutverzerrt. Inständig hoffte ich, dass sie keine schlechten Träume hatte.
Jannes
Ich war wieder da. Vor dem Totengericht. Ich war gestorben und hier aufgewacht, vor mir Minos, Aiakos und Rhadamantys auf einem goldenen, silbernen und bronzenen Thron.
„Und, wie lange wollt ihr mich noch anstarren?“, schnaubte ich verächtlich.
Völlig verblüfft blickten sie mich an, als wären sie nicht sicher, ob sie mich richtig verstanden hatten.
Offenbar hatten sie mit den üblichen Fragen gerechnet.
'Wo bin ich? Was mache ich hier? Wer seid ihr?'
Aber ich wusste das alles, also musste ich mir eben eine andere Frage einfallen lassen.
„Tote, ich bin mir nicht sicher ...“
„Jannes“, korrigierte ich.
„Jannes, ich bin mir nicht sicher, was genau du meinst“, sagte der auf dem goldenen Thron, Minos, verwirrt.
„Natürlich bist du das. Wenn ihr eine Seele seht, wisst ihr automatisch, was sie im Leben getan hat, nicht wahr? Dann müsst ihr mich ja nicht so anstarren, um es herauszufinden.“
Völlig perplex stammelte Aiakos: „Ähm ... das ist richtig, aber ...“ Er klang, als hätte er es noch nicht in den Stimmbruch geschafft.
„Du hast dich umgebracht?“, fragte Rhadamantys leise, woraufhin Aiakos verstummte. Obwohl der dritte Richter auf dem kleinsten Thron saß und die einfachste Kleidung trug, war er den anderen nicht untergeordnet, wie ich angenommen hatte.
Zwar wirkte er unscheinbar, doch das Funkeln in seinen bronzefarbenen Augen verriet mir, dass er Minos und Aiakos in seiner Gewalt hatte. Die beiden wussten es nur nicht.
„Das stimmt“, bestätigte ich. „Hab mir ein Schwert in den Bauch gerammt.“
„Du kennst die Regelung bezüglich Selbstmord?“
Ich hob eine Augenbraue. „Welche Regelung?“
„Selbstmörder kommen nicht ins Elysium. Sie sind ehrlos“, erwiderte er.
Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ein kalter Schauer jagte meinen Rücken hinunter. Schweiß brach an meinen Handflächen aus.
„Ehrlos?“, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Dann habt ihr keine Ahnung von Ehre.“
„Tut mir leid, Mädchen“, sagte Rhadamantys.
„Sie tut dir leid?“, piepste Aiakos und sprang wutentbrannt auf, was ihn bei seinem Gewicht einige Mühe kostete. „Hörst du nicht, wie sie mit uns redet? In den Tartaros mit ihr!“
Ich verdrehte die Augen und zeigte ihm den Mittelfinger.
„Tartaros!“, quiekte er.
„Aiakos, Bruder, wir müssen die Seele nach den Taten zu ihren Lebzeiten beurteilen. Es gibt keine Regel für das Verhalten vor dem Totengericht“, sagte Rhadamantys beschwichtigend.
„Er hat Recht“, warf Minos widerwillig ein. „Ich stimme für den Asphodeliengrund.“
„Von mir aus“, seufzte Aiakos.
„Ich gehöre ins Elysium“, sagte ich. „Schaut doch in meine Vergangenheit. Ehrenvolle Kämpfe. Aufopferung für einen Freund.“
„Du hast dich umgebracht“, meinte Minos herablassend.
„Um Roove zu retten!“
„Das hast du. Und jetzt trage die Konsequenzen dafür.
Selbstmord ist nun mal ehrlos.“
„Ich habe mehr Ehre als ihr alle zusammen!“
„Tut mir leid. Ich kann nichts für dich tun“, seufzte Rhadamantys.
Meine Beine gaben unter mir nach. Ein riesiges Loch tat sich in meiner Brust auf. Nichts ging mir über meine Ehre. Und jetzt kam ich nicht ins Elysium, weil ich keine Ehre hatte. Die Tränen schnürten mir die Kehle zu.
Ehrlos. Selbstmord. Asphodeliengrund. Die Wörter hallten wie ein Echo in meinen Gedanken wider. Ich würde Devan niemals im Elysium wiedersehen. Stattdessen würde ich ohne Erinnerung zwischen grauen Blumen umherlaufen.
Ich stieß einen erstickten Schrei aus.
„Mädchen, ich kann nur eines für dich tun“, sagte Rhadamantys, doch ich hörte ihn kaum.
„Ich lasse dir deine Erinnerung. Du hast ehrenvoll gelebt und das will ich belohnen. Dein Fehler war nur, ehrlos zu sterben.
Mach's nächstes Mal besser.“
Und dann war ich plötzlich im Asphodeliengrund.
Ich riss die Augen auf. Schweißperlen standen auf meiner Stirn.
Die anderen sahen mich an, doch ich tat so, als würde ich es nicht bemerken. Ich wollte ihr Mitleid nicht. Es war alles in Ordnung. Ich lebte wieder. Ich hatte keine Angst vor der Unterwelt. Jannes Xanthos hatte nie Angst.
Als wir mitten in der Nacht endlich an der Küste ankamen, teilte Sivah jedem eine Aufgabe zu. Ich würde mit Dvyn etwas zu Essen besorgen, Ramy und Nae kümmerten sich um einen Kompass und eine Seekarte. Der Rest stahl währenddessen ein Boot.
Also bat ich Sivah um 100 Dollar und machte mich, gefolgt von Dvyn, auf den Weg zum nächsten Supermarkt.
Schon nach zwei Minuten ging mir dieser Ort gehörig auf die Nerven. Beaufort war die Art von Stadt, in der ein reiches Paar mit zwei Kindern ein wunderschönes Haus mit Garten bauen und danach ein eintöniges Leben führen würde. Ganz Beaufort war voll von solch perfekten Bilderbuchfamilien.
Und genau die hatten genug Geld, um sich Boote zu kaufen.
Bevor ich ein Lebensmittelgeschäft fand, hatten schon drei Mütter ihre Kinder beschützend an die Hand genommen, sobald sie mich gesehen hatten. Eine hatte ihrem Sohn sogar zugeflüstert, dass schwarze Kleidung wie meine signalisiere, dass man sich von der Person fernhalten sollte.
Es war einer dieser kleinen Läden, wie es sie nur in Kleinstädten gab. Er hatte genau drei Regale, von denen zwei mit biologisch angebauten, veganen Lebensmitteln ohne Konservierungsstoffe gefüllt waren. Das dritte war Fairtradeschokolade, deren Erlös an Entwicklungsländer ging, vorbehalten.
„Kaufen wir Schokolade?“, fragte Dvyn hoffnungsvoll.
„Nein.“
„Auch keine mit Keksstückchen?“
Ich warf ihm einen genervten Blick zu, woraufhin er verstummte und so tat, als würde er sich unheimlich für ein kalorienarmes Veganschnitzel interessieren.
Ich verdrehte die Augen und machte mich auf die Suche nach Brot, während Dvyn Käse und Wasser in einen Einkaufskorb lud. Plötzlich sah der Verkäufer von seiner Sportzeitschrift auf, hievte sich anschließend mühsam aus seinem Sessel und kam auf mich zu, wobei er anfing, zu schwitzen wie ein Marathonläufer. Ich unterdrückte den Drang, ihm zu sagen, dass er vielleicht mehr tun sollte, als nur über Sport zu lesen.
„Was suchen die junge Dame und ihr Bruder denn? Sie sind nicht von hier, hab ich Recht?“, fragte er freundlich, doch ich sah nicht einmal vom Regal auf.
„Er ist nicht mein Bruder.“
„Ihr Freund?“
Ich hob eine Augenbraue. „Der Junge ist 13.“
Er trat nervös von einem Bein aufs andere.
„Wie kann ich ihnen denn helfen?“
„Indem sie mich in Ruhe lassen.“
„Aber Miss ...“
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Äh … ich ... In welche Richtung reisen sie weiter?“
„Was geht sie das an?“
Ich hob eine Augenbraue und sah auf ihn hinab. Es war mir ein Rätsel, wie er es als Mann schaffte, kleiner als ich zu sein, obwohl ich selbst nicht gerade groß war.
„Ich ... wollte mich nur ein wenig, äh, mit ihnen unterhalten“, stammelte er.
„Hören sie mir ganz genau zu“, raunte ich. „Sie sagen mir jetzt, was sie hier wollen, was sie mit dem eigentlichen Ladenbesitzer gemacht haben und was Vice wissen will.“
Er erbleichte.
„Du ...“
Blitzschnell zog ich einen Dolch und drückte ihn an seine Kehle.
„Warum hat Vice dich geschickt?“, zischte ich.
„Bitte nicht ...“, wimmerte er.
Sofort verstärkte ich den Druck.
„Warum?“
„Ich sollte die Monster in ganz North Carolina zum Olymp zurückbeordern.“
„Und warum hast du dann mit mir geredet?“
„Ich dachte ... Vice wäre Stolz auf mich, wenn ich herausfinde, wohin ihr geht“, winselte er mit zusammengekniffenen Augen.
„Vice ist nicht dumm. Er weiß, dass wir kommen. Und was bist du überhaupt?“
„Rotblüter. Er schickt immer nur uns, damit er die Goldblüter für Wichtigeres nutzen kann.“
„Ihr seid Essen auf zwei Beinen. Sucht die Monster auf, überbringt die Nachricht und werdet gefressen. So hat Vice zwei Sachen auf einmal erledigt“, schnaubte ich. „Was ist mit dem Ladenbesitzer?“
„Bewusstlos im Hinterzimmer. Als wir euch gesehen haben, sind wir schnell hier rein gerannt und ich habe mich als Verkäufer ausgegeben.“
Er hatte 'wir' gesagt. Wir, nicht ich. Meine Augen weiteten sich.
Wie hatte ich nur annehmen können, der Mann wäre allein?
Hektisch schnitt ich ihm die Kehle durch, fuhr herum und konnte mich gerade noch wegducken. Die Faust des Sterblichen donnerte ins Regal und stieß es um, woraufhin die anderen beiden wie Dominosteine umfielen. Ich hörte Dvyn stöhnen, doch ich hatte gerade keine Zeit, ihm aufzuhelfen. Er müsste wohl noch eine Weile unter einem Berg von Fairtradeschokolade liegen.
Plötzlich trat der Rotblüter mir den Dolch aus der Hand.
Schmerz flammte in meinem Daumen auf und ich vermutete, dass er gebrochen war. Als ich einen ungeschickten Versuch unternahm, mein Schwert zu ziehen, folgte ein weiterer Tritt, durch den ich zur Seite umfiel und mit dem Gesicht auf den harten Fliesen landete. Mein Handgelenk schrie vor Schmerz.
Wut loderte in mir auf. Jannes Xanthos würde nicht gegen einen unbewaffneten Sterblichen verlieren. Er war nicht einmal besonders stark oder groß. Ich hatte mich nur durch die Regale ablenken lassen. Da meine linke Hand nicht zu gebrauchen war, schnappte ich mir mit der rechten ein Veganschnitzel, rappelte mich auf und schlug es ihm ins Gesicht. Er geriet ins Taumeln, wobei ich ihm vors Schienbein trat, sodass er hinfiel und ich die Gelegenheit hatte, ihm meinen Dolch ins Herz zu stoßen.
Keuchend rappelte ich mich auf, begab mich zu Dvyn, der zwischen zwei umgefallenen Regalen eingeklemmt war und sah mit verschränkten Armen auf ihn hinab.
„Du könntest mir auch helfen“, nuschelte er.
„Ich wollte nur die Tatsache auskosten, dass du zwischen Bioäpfeln und Fairtradeschokolade gefangen bist.“
Dann trat ich die Regale zur Seite und half ihm hoch.
„Also, was genau war los?“
„Sagen wir mal so, man kann Vice' Leute prima mit Veganschnitzeln verprügeln.“
„Veganschnitzel sind die besten Waffen der Welt“, bestätigte er.
Schnell schnappten wir uns zwei Einkaufskörbe, füllten sie mit Vollkornbrot und Wasser aus Bergbächen und verließen den Laden.
Xaenym
Jeder meiner Muskeln brannte. Nur eine kleine Spalte im Fels gab meinem Fuß Halt. Ein Fehltritt und ich würde in die Tiefe stürzen.
Ich war umgekehrt und befand mich nun wieder auf dem Weg nach Pyrinas. Oder besser gesagt, auf dem Weg zum Schutthaufen, der einmal Pyrinas gewesen war. Als wir damals da gewesen waren, hatten die Götter ein Portal zum Olymp eingerichtet. Falls es noch funktionierte, würde ich binnen Sekunden dort auftauchen und musste nicht um die halbe Welt reisen. Vermutlich inmitten von Göttern, aber immerhin hatte ich dann die Chance, mich irgendwie rauszuschleichen, in der Nähe zu verstecken und nach den anderen Ausschau zu halten. Also kletterte ich in den Krater. Egal wie sehr ich mich beeilte, der Boden wollte einfach nicht näher kommen.
Sobald es dunkel wurde, rollte ich mich auf einem Felsvorsprung zusammen und schloss die Augen. Meine Finger umklammerten Tharros' Griff, jederzeit bereit, das Schwert zu ziehen und zu kämpfen, obwohl ich wusste, dass ich bei einem Angriff sofort hinunterfallen würde. Ich zog meine zerschlissene Lederjacke fester um mich und schlief schließlich ein.
Roove und Paver standen von Monstern umzingelt auf einem schneebedeckten Hügel. Gleichzeitig stürmten sie auf die Ungeheuer los. Mit jedem Schwert- oder Axthieb töteten sie eines von ihnen, doch es waren zu viele. Eine Dracaenae stieß Paver zu Boden, während eine Harpyie ihren Speer zum tödlichen Stoß hob. In letzter Sekunde warf sich Roove zwischen die beiden. Seine Klinge traf das Monster am Flügel und brachte es so zu Fall. Mit einer unkontrollierten Bewegung versuchte die Harpyie, Rooves Hals zu durchbohren, doch die Speerspitze rutschte an dem Fläschchen Ypnosöl ab, das Roove immer an einer Kette trug.
Das Glas zerbrach, sodass ihm die goldene Flüssigkeit über die Kehle lief, aber ansonsten war er unverletzt. Paver starrte ihn für einen Sekundenbruchteil mit offenem Mund an, rappelte sich jedoch schnell wieder auf und kämpfte weiter. Ein Monster stürzte sich auf ihn und ...
Ruckartig riss ich die Augen auf. Der Boden raste mit beängstigender Geschwindigkeit auf mich zu. Ich hatte kaum Zeit zu begreifen, dass ich mich im Schlaf vom Felsvorsprung gerollt haben musste, als ich schon unten aufschlug.
Heige
„Polizei“, flüsterte jemand plötzlich. Erschrocken riss Neffire die Augen auf. Sie hatte gerade versucht, mit ihrer Gabe den Motor des Schiffes, auf dessen Deck wir standen, zu starten.
Ich sah über die Schulter und erblickte Loryelle, die panisch auf einen Polizisten zeigte, der geradewegs auf uns zusteuerte.
„Wir werden ja wohl mit einem sterblichen Polizisten fertig“, meinte ich stirnrunzelnd.
„Wir sind eine Gruppe aus vier schwarz gekleideten, bewaffneten Teenagern, die mitten in der Nacht auf dem Deck eines Schiffes rumlungern und können ihn nicht einfach bewusstlos schlagen. Wie zum Hades sollen wir das erklären?“
Loryelle hob verzweifelt die Arme.
„Gar nicht“, erwiderte ich achselzuckend und schwang mich über Bord. Das eiskalte Wasser lähmte mich. Es fühlte sich an, als würden tausende kleine Nadeln in meine Haut gestochen.
Noch im Wasser breitete sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus. Adrenalin pulsierte durch meine Adern. Ich fühlte mich wach und lebendig.
Mit steifen Bewegungen schwamm ich zum Pier, kletterte hinaus und rannte zittern auf den Polizisten zu.
„Officer, da hinten versucht jemand, ein Boot zu stehlen! Dort, die kleine blaue Yacht! Ich habe sie gesehen und ... Mir ist so kalt, bitte helfen sie mir!“, rief ich.
„Ganz ruhig, Miss. Was ist passiert?“
„Schnell, sie müssen da hin! Verschwenden sie nicht ihre Zeit!“
„Warum sind sie nass?“
„Da hinten sind Verbrecher!“
„Und deshalb stürzen sie sich mitten in der Nacht ins Wasser?“
„Ich hatte Panik!“, kreischte ich.
„In Ordnung, sie warten hier, ich sehe mir das mal an. Obwohl ich hätte schwören können, dass die Gestalten gleich hier und nicht dort drüben waren.“
Er joggte los und beleuchtete mehrere Boote mit seiner Taschenlampe. Währenddessen signalisierte ich den anderen, unten zu bleiben und keinen einzigen Laut von sich zu geben.
Nach einigen Minuten kam der Polizist wieder zu mir und sagte, dass er nichts gefunden habe.
„Beeilen sie sich!“, schrie ich.
„Was?“
„Mir ist kalt! Wissen sie, was für Krankheiten ich bei dieser Kälte bekommen könnte?“
Ich gab mir Mühe, nicht loszuprusten. Doch der Polizist reichte mir nur seine Jacke und führte mich am Ellenbogen die Straße entlang.
Als er einen kurzen Moment wegsah, wirbelte ich herum und verschwand in der nächsten Seitengasse.
So schnell ich konnte, rannte ich zurück zum Pier, kletterte aufs Deck und setzte mich breit grinsend hin.
„Das war ein ziemlicher Vollpfosten“, lachte ich. Lory stimmte mit ein, doch Neffire hatte die Augen weiterhin konzentriert geschlossen und Sivah sah mich nur gelangweilt an.
Xaenym
Ich stand in einem riesigen Raum mit marmornen Wänden.
Mir wurde klar, dass ich durch das Portal gestürzt sein musste.
Ich war auf dem Olymp.
Zehn Götter saßen an einem runden Tisch, auf dem mehr Gerichte standen, als ein Mensch in seinem ganzen Leben essen könnte. Aber die Götter waren nun mal keine Menschen. Und man sah es ihnen an. Ich wusste nicht, was genau an ihnen anders war. Immer, wenn ich einen Gott gesehen hatte, war mir nur etwas an seinen Augen aufgefallen. Doch hier konnte ich ihre Macht spüren. Sie strotzten nur so vor Kraft. Ich kam mir sterblich vor. Klein. Unbedeutend. Verspürte den Drang, mich zusammenzurollen und auf das Ende meines kurzen, sterblichen Lebens zu warten.
Zeus' sturmgraue Augen blickten mich direkt an. Ich sah Blitze hindurchzucken, bildete mir ein, die Elektrizität knistern zu hören. Und trotzdem schien er mich nicht zu bemerken.
„Ich habe dich vor ihnen verborgen“, sagte jemand. Ich fuhr herum und erblickte Hekate, die ein paar Meter hinter mir stand.
Sie trug wie immer ein schlichtes silbernes Kleid.
„Äh, was?“, fragte ich.
„Sie können dich nicht sehen oder hören. Ich habe einen Zauber gewirkt, als du durch das Portal gefallen bist. Aber ich kann diesen Zustand nicht mehr lange aufrechterhalten. Du hast fünf Minuten. Lauf.“
Sofort sprintete ich los, ohne mich noch einmal umzudrehen. Ich zwängte mich zwischen zwei Säulen durch, gelangte in einen langen Flur aus grauem Gestein und rannte um mein Leben.
Meine Lunge brannte und mein keuchender Atem hallte an den Wänden wieder. Immer wenn ich hoffte, hinter der nächsten Abzweigung endlich einen Ausgang zu finden, folgte nur ein weiterer, grauer Flur. Offenbar hatten die Götter den gesamten Olymp aus grauem Gestein erbaut und weißen Marmor nur für ihren Thronsaal benutzt. Natürlich. Die Götter wollten allen zeigen, dass sie besser waren. Jeder ihrer Krieger sollte wissen, dass er Zeus unterlegen war.
Ich rannte an einer spaltbreit geöffneten Tür vorbei und warf einen Blick hinein. Ruckartig blieb ich stehen. Vice stand am Fenster und jemand saß über ein Buch gebeugt am Schreibtisch.
Es war wie in meinem Traum. Ein Teil von mir wollte darauf warten, dass die Person aufstand und ich herausfinden konnte, wer es war. Doch die Zeit drängte. Die fünf Minuten waren fast um. Wenn ich nicht gleich einen Ausgang finden würde, steckte ich hier fest.
Ich rannte ziellos umher, lief von einem Korridor in den anderen und rannte schließlich fast in einen Goldblüter mit Rüstung hinein. Ungeschickt warf ich mich zur Seite, um ihn nicht zu berühren, und schlug hart auf dem Boden auf. Mein Kiefer knirschte. Der Goldblüter drehte seinen Kopf in meine Richtung und hob augenblicklich seinen Speer.
Die Zeit war um. Man konnte mich wieder sehen.
Blitzschnell sprang ich auf, wich dabei dem Speer aus und rammte ihm einen Dolch in die Brust. Er ging lautlos in die Knie; eine Blutlache bildete sich um seinen Körper. Hastig zog ich seine Jacke und die weite Hose sowie den Helm an und sprintete um die Ecke. Das Herz schlug mir bis zum Hals.
Es hätte nichts genützt, den Körper zu verstecken. Das Blut hätte man ohnehin gesehen. Ich konnte nur hoffen, dass ich weit genug davon entfernt war, wenn man ihn fand.
Heige
Nae und Ramy sahen aus, als hätte man einen Rührbesen in ihre Haare gesteckt. Ihre Kleidung war verrutscht und Ramy hatte sein Shirt linksherum an, doch ich beschloss, ihn nicht darauf hinzuweisen.
Stattdessen warf ich ihm einen fragenden Blick zu, woraufhin er breit grinste und Nae ihm ihren Ellenbogen in die Rippen stieß.
Ich stand auf und gab Ramy ein High-Five. Nae seufzte.
„Wie seht ihr denn aus?“, fragte Neffire.
„Fantastisch, wieso?“, grinste Ramy. Neffire verdrehte nur die Augen.
Wenig später kehrten auch Dvyn und Jannes zurück. Diese hielt ihre Hand seltsam verdreht, als hätte sie Schmerzen, doch sie war offenbar zu stolz, um nach Epouros zu fragen.
Dvyn erzählte uns von den Sterblichen im Laden und wir beschlossen einstimmig, dass es wohl das Beste wäre, uns innerhalb der nächsten Stunde auf den Weg zu machen.
Wir breiteten die Karte auf einem Tisch vor dem Lenkrad aus (Sivah und Nae nannten den Raum „Schiffsbrücke“, wir anderen sagten „Raum mit dem Lenkrad“) und versuchten rauszufinden, wie genau man die Yacht steuerte. Loryelle schaffte es, zum fünften Mal die Scheibenwischer zu betätigen, während Ramy vorschlug, auf einen großen roten Knopf zu drücken. Als wir ihn alle stirnrunzelnd ansahen, zuckte er nur mit den Achseln und sagte: „Es ist ein großer roter Knopf. Seien wir ehrlich, jeder will einmal im Leben so was drücken.“
Nae seufzte, woraufhin er ihr grinsend den Arm um die Schultern legte.
Sivah übernahm das Steuer und wies uns andere an, die Kajüten einzuteilen.
Nach einigen Minuten kamen wir zu dem Schluss, dass ich mir mit Neffire eine teilen würde, Nae mit Ramy, Jannes mit Loryelle und Sivah mit Dvyn.
Die weiß bezogenen Betten waren riesig und wunderbar weich.
Der Raum hatte hölzerne Wände. An einer Seite befand sich eine kleine Luke, durch die man das Meer sah. Neffire warf sich aufs Bett und schlief fast augenblicklich ein.
Ich zog meine Stiefel sowie meine Jacke aus und setzte mich auf die Bettkante. Eigentlich hätte ich schlafen sollen, aber ich hatte einfach keine Lust und stand stattdessen auf, um mir das Schiff ein wenig anzusehen.
Jannes
Es war stockdunkel. Die dicke Wolkendecke verhinderte, dass das Mondlicht das Deck der Yacht erhellte. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war. Seit ich aus der Unterwelt zurückgekehrt war, schlief ich weniger. Die Erfahrung, tot gewesen zu sein, sorgte dafür, dass ich mich immer lebendig und wach fühlte. Müdigkeit war nichts im Vergleich dazu, tot zu sein.
Hier stand ich also, an die Reling gelehnt und betrachtete das scheinbar schwarze Wasser unter mir, während ich auf den nächsten Kampf wartete. Immer wenn ich kein Schwert in der Hand hatte, spürte ich ein Kribbeln in den Fingerspitzen.
Adrenalin, das durch meine Adern gepumpt wurde.
Plötzlich strich ein Luftzug über meinen Hinterkopf. Ich fuhr herum und zog dabei mein Schwert, steckte es aber wieder in die Scheide, als ich Heiges Silhouette erkannte.
„Schleich dich nie wieder so an“, zischte ich.
„Das nächste Mal hänge ich mir eine Kuhglocke um, damit du mich auf hundert Meter Entfernung hörst“, erwiderte sie und lehnte sich neben mich an die Reling.
Ich blickte sie von der Seite an und hob eine Augenbraue.
„Was?“, fragte sie.
„Du bist noch hier“, bemerkte ich trocken.
„Gut erkannt.“
„Warum bist du noch hier?“
Sie zuckte mit den Achseln. „Mir ist langweilig.“
„Kann dir nicht wo anders langweilig sein?“
„Zufällig finde ich diesen Platz hier sehr schön.“
Wir schwiegen einige Minuten, dann fragte Heige: „Bist du hier, weil du Angst vor Alpträumen hast?“
„Ich habe keine Angst.“
Sie seufzte und verschmolz mit der Dunkelheit. Ich starrte wieder zum dunklen Wasser hinab.
Ich hatte keine Angst. Keine Angst vor der Unterwelt oder vor Hades. Ich war Jannes Xanthos. Und Jannes Xanthos hatte keine Angst.
Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Ungewollt blitzte eine Erinnerung vor meinem geistigen Auge auf.
Plötzlich war ich im Asphodeliengrund. Ich stand auf einer Wiese voller grauer, verwelkter Blumen, umringt von umherwandernden Toten.
Den Richtern war nicht klar gewesen, was es für mich bedeutete, die Erinnerung zu behalten. Es entpuppte sich als Alptraum.
Im Laufe der Zeit, die ich hier verbrachte, begann ich, an allem zu zweifeln. Ein Leben zählte nichts im Gegensatz zu der erdrückenden Anzahl von Toten. Die Kriege in der Oberwelt waren unwichtig, wenn nach dem Tod das hier folgte. Wenn in tausend Jahren ohnehin niemand mehr lebte. Und mir wurde klar, dass die Ewigkeit vor mir lag. Ich konnte nichts tun. Nichts bewirken. Nicht einmal etwas fühlen.
Ich versuchte, mir das Gesicht zu zerkratzen, um etwas spüren zu können. Um die Möglichkeit zu haben, etwas zu bewirken, selbst wenn es nur rote Striemen waren. Aber es ging nicht.
Die eigene Existenz hing vom Einfluss ab, den man auf seine Umgebung hatte. Er machte lebendig. Und das war ich nicht.
Ich hatte hier nicht einmal einen Körper. Ich war ein Geist.
Den Seelen um mich herum war das alles egal. Sie hatten keine Erinnerung. Keinen Vergleich. Ihnen war nicht klar, dass sie bedeutungslos waren. Sie wussten nichts von der Oberwelt. Sie waren sich ihrer ehemaligen Existenz nicht bewusst.
Aber ich war es. Und nun drohte die Last der Ewigkeit, mich zu erdrücken. Nichts würde jemals wieder geschehen. Ich würde nichts tun. Für immer.
Ich riss die Augen auf. Mit zitternder Hand griff ich mir an die Brust, um meinen Herzschlag zu spüren.
Krieg dich wieder ein!, dachte ich. Mein Herz schlug. Alles war in Ordnung. Ich lebte.
Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Ich lebte.
Nae
„Guten Morgen!“, rief Ramy um sechs Uhr morgens. Er neigte dazu, viel zu früh viel zu wach zu sein.
Ich griff nach meinem Kissen und schlug es ihm ins Gesicht.
„Wofür war das denn?“, klagte er.
„Du kannst doch nicht erwarten, dass ich dir kein Kissen ins Gesicht haue, wenn du mich so früh weckst“, nuschelte ich.
„Wir haben schon sechs Uhr.“
„Und genau das ist das Problem. Sechs Uhr. Verschwinde, ich will schlafen“, murmelte ich, während ich bereits wieder eindöste.
„Was, wenn ihr dir sage, dass ich etwas über die Blutskönigreiche herausgefunden habe?“
Sofort war ich hellwach und richtete mich kerzengerade im Bett auf.
„Und?“
„Es ist leider nicht besonders viel“, gab er zu. „Anscheinend ist Korinth auch eins von den vier Blutskönigreichen. Ich habe zwar immer noch keine Ahnung, was genau das ist, aber immerhin kennen wir jetzt zwei, Korinth und Troja.“
Ich nickte. „Trotzdem hättest du mich nicht zu wecken brauchen.“
Er grinste. „Das war nur ein Vorwand. Ich dachte, das macht dich viel eher wach, als wenn ich dir sage, dass wir in Wirklichkeit schon ein Uhr mittags haben.“
Ich seufzte. „Ich hasse dich.“
Sein Grinsen wurde noch breiter. „Das bezweifle ich.“
Das Schiff war größer, als ich zunächst gedacht hatte. Es gab unter Deck sogar eine kleine Turnhalle, die wir zu einem Trainingsraum umfunktionierten, indem wir gemeinsam mit Heige und Dvyn Matten auf den Boden legten und einen Boxsack aufhängten.
Sobald wir fertig waren, gingen Heige und Dvyn nach oben. Ich ließ ich mich auf eine Matte sinken und schlug die Beine übereinander.
„Lust auf einen Kampf? Ohne Waffen?“, fragte Ramy.
Ich zog meine Lederjacke aus, sodass ich nun nur noch ein dunkelgrünes Top und dunkle Hosen trug, rappelte mich auf und stellte mich ein paar Meter entfernt von Ramy auf.
Bevor ich mich versah, war er bei mir und trat mir die Beine weg und stieß mich nach hinten. Stöhnend krachte ich zu Boden und rollte mich zur Seite.
„Hast du gerade wirklich deine zwei Köpfe kleinere und dementsprechend halb so starke Freundin ohne Vorwarnung umgetreten und auf die Matte geworfen?“, meckerte ich. „Hätte eins davon nicht gereicht?“
Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Ich bin ein wahrer Gentleman, findest du nicht auch?“
Ich warf ich einen bösen Blick zu, sprang auf und trat ihm währenddessen in den Bauch. Ramy krümmte sich und geriet dann ins Straucheln, woraufhin ich ihn mit einem Faustschlag zu Boden beförderte.
Ich lachte, half ihm auf und gab ihm einen Kuss auf die Beule, die meine Faust an seiner Wange hinterlassen hatte. Dann gingen wir zusammen zur Schiffsbrücke, wo die anderen bereits auf uns warteten. Jannes stand am Steuer und Dvyn hatte sich etwas abseits hingesetzt.
Sivah breitete eine Karte auf dem Tisch aus.
„Wir erreichen eine Geschwindigkeit von bis zu 20 Knoten beziehungsweise 20 Seemeilen die Stunde. Das wären circa 24 Meilen. Griechenland ist knapp 2000 Meilen entfernt. Das heißt, wir fahren ungefähr 100 Stunden. Wir müssen zwischendurch noch anlegen, um etwas zu Essen zu besorgen und zu tanken, also müssen wir mit einer Woche Fahrt rechnen. Die nächste sichere Insel ist Santa Cruz das Flores, etwa 1200 Meilen von hier. Wenn ich mich nicht irre, müssten wir innerhalb der nächsten drei Tage ankommen.“
„Tun wir sowieso nicht. Falls wir angegriffen werden, und das werden wir auf jeden Fall, geht bei unserem Glück der Motor kaputt oder so“, warf Jannes ein. Ihr linkes Handgelenk war noch immer angeschwollen und irgendwie verdreht, doch sie schien sich nicht dafür zu interessieren.
„Das nenne ich ein gesundes Maß an Optimismus“, murmelte Ramy, der mit verschränkten Armen auf die Karte starrte.
„Können wir endlich Mittagessen? Ich verhungere“, meinte Loryelle.
Ohne von der Karte aufzuschauen deutete Sivah auf einen kleinen Tisch voller Brot und Marmelade, woraufhin Lory sich hinsetzte, die Beine übereinanderschlug und sich ein Brot schmierte.
Irgendwie war der Anblick seltsam. Auf Missionen setzte man sich nicht an einen Tisch und machte sich etwas zu essen. Man schnappte sich schnell ein Stück Brot und hoffte, während des Essens nicht umgebracht zu werden. Obwohl hier keine Gefahr drohte und absolut nichts dagegen sprach, gemütlich zu Essen, würden Goldblüter so etwas nicht tun.
„Am besten, ihr geht jetzt trainieren oder so. Hier gibt es nichts mehr zu besprechen“, meinte Sivah und ging hinaus.
Jannes fuhr herum.
„Es gibt hier einen Trainingsraum? Warum sagt mir das keiner?“
„Vielleicht, weil du jedem, der sich dir auf fünf Meter nähert, einen bösen Blick zuwirfst?“, schlug Ramy vor.
Sie verdrehte die Augen und stürmte hinaus.
„Soll ich dir zeigen, wo die Turnhalle ist?“, rief Dvyn ihr nach.
„Nein“, erwiderte sie kühl.
„Wer will stattdessen ans Steuer?“, seufzte Neffire.
„Ich“, kam es von Loryelle, woraufhin wir uns alle stirnrunzelnd zu ihr umdrehten. Sie schluckte einen Bissen Marmeladenbrot hinunter und fuhr fort: „Ich schaffe das schon. Am Armaturenbrett ist ein GPS-Gerät und die Karte habe ich daneben liegen. Wisst ihr, früher waren Seth und ich manchmal mit Dad segeln und ...“
„Ich habe nichts dagegen“, sagte ich hastig, bevor sie wieder in den Redemodus wechselte und lächelte sie an.
Eigentlich hatte ich was dagegen. Loryelle hatte den Orientierungssinn einer Kartoffel. Wahrscheinlich würde sie uns in den Amazonas oder so bringen. Aber vielleicht musste man ihr nur etwas zutrauen.
Lächelnd sprang sie auf und ging zum Lenkrad.
„Wie geht nochmal das GPS an? Oh, ich hab's schon.“
Sie drückte auf einen kleinen Knopf, woraufhin die Scheibenwischer angingen.
Ich seufzte.
Heige
Eigentlich hatte ich in die Turnhalle gehen und ein paar Pfeile in eine Matte oder so schießen wollen, doch stattdessen lehnte ich im Türrahmen und sah Jannes zu. Sie schlug mit bloßen Fäusten auf einen Boxsack ein, wobei sie Techniken anwandte, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Seit sie aus der Unterwelt zurückgekehrt war, hatte sie sich ein wenig verändert. Ihre Beine waren definierter und ihre Armmuskeln zeichneten sich deutlich unter ihrer gebräunten Haut ab. Ihre Muskeln wirkten nicht übertrieben. Im Gegenteil, es stand ihr.
Jannes versetzte dem Boxsack einen kräftigen Tritt, woraufhin er sich von der Decke löste und auf den Boden krachte.
Sie wandte sich mir zu und hob eine Augenbraue.
„Was?“, fragte sie.
„Du bist besser geworden“, erwiderte ich schulterzuckend.
Ein stolzer Ausdruck huschte über ihr Gesicht.
„Wenn man sich vom Ausgang der Unterwelt allein bis nach Titansvillage durchschlagen muss, hat man keine Wahl. Man trainiert jeden Tag oder man stirbt.“
Sie packte den Boxsack und trug ihn an den Rand der Halle, als würde er nichts wiegen.
„Lust auf einen Übungskampf?“, fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht. Du weißt schon, mein Rücken.“
Sie grinste. „Weichei.“
Ich grinste zurück und zeigte ihr den Mittelfinger.
Plötzlich durchfuhr ein Ruck das ganze Schiff. Ich wurde nach vorn geschleudert und fiel der Länge nach auf den Boden.
Stöhnend setzte ich mich auf und blickte mich um.
Jannes stand am Fenster und schaute mit düsterer Miene hinaus.
„Ein Sturm. Wind und heftiger Regen.“
„Auch Blitze?“, fragte ich.
„Ich sehe zumindest keine. Warum?“
Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. „Weil ich eine Idee habe.“
Hastig sprang ich auf und rannte hinauf aufs Deck. Eiskalter Regen traf mich wie ein Schlag und durchnässte mich bis auf die Knochen. So schnell ich konnte, kletterte ich aufs Dach.
Wind zu erzeugen kostete mich jedes Mal alle Kraft. Doch bereits vorhandene Böen zu manipulieren, sie nur ein wenig abzulenken, wäre vielleicht nicht so anstrengend.
Es war gefährlich. Vielleicht würde ich sogar sterben. Aber das war mir egal.
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf den Wind.
Lenkte ihn um. Zwang ihn, mich hochzuheben.