Erbin der Zeit: Die Tochter des Himmels - Xenia Blake - E-Book

Erbin der Zeit: Die Tochter des Himmels E-Book

Xenia Blake

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Beschreibung

Der Vasilias hat sein Gesicht gezeigt. Die Meeresgötter sind in den Krieg eingetreten. Die letzte Schlacht naht. Xaenym und ihre Freunde stehen vor mehr Problemen als je zuvor: Aras scheint plötzlich gegen sie zu arbeiten, sie müssen die letzten beiden Königsblüter finden und eine Armee aufstellen. Titansvillage droht ein Zweifrontenkrieg gegen den Olymp und Tsagios, aus dem es nur einen Ausweg gibt: Die Tochter des Himmels zu finden, die als Retterin der Titanen prophezeit wurde. Eine Gruppe Goldblüter macht sich auf die Suche nach ihr, während die anderen in Titansvillage zurückbleiben, Krieger rekrutieren und versuchen, Aras' Geheimnis aufzudecken.

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Über die Autorin

Xenia Blake, 2000 geboren, lebt in einer Kleinstadt in Rheinland-Pfalz. Sie liebt Bücher und Kaffee über alles und kann sich kaum an eine Zeit erinnern, in der sie nicht geschrieben hätte. Schon sehr früh begann sie, an ihrem Debütroman „Erbin der Zeit – Die Schlacht von Pyrinas“ zu schreiben.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Epilog

Glossar

Kapitel 1

Ramy

Wir hatten aus Versehen den Krieg losgetreten. Statt Tantalos aus dem Tartaros zu befreien, wie wir es dem Monster, das für Tsagios arbeitete, versprochen hatten, hatten wir es vergessen und waren einfach zurück nach Titansvillage gegangen. Und jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit, bis Tsagios' Truppen hier auftauchen würden. Aus verschiedenen Gründen fand ich Tsagios viel schlimmer als den Olymp.

Erstens wussten wir kaum etwas über diese Stadt. Sie war einfach so plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht.

Zweitens hatten sie eine enorm große Armee.

Und drittens mussten sie nicht nach den Königsblütern suchen, weil sie niemanden erwecken wollten. Die Meeresgötter wollten lediglich alle umbringen. Sie brauchten nur das Skia, das in einer Truhe im Hauptgebäude aufbewahrt wurde. Noch ein Grund mehr, schnellstmöglich hier einzumarschieren.

Ich saß zusammen mit ein paar anderen an einem Tisch in der Mensa und gähnte. Mein Atem bildete weiße Wölkchen in der Luft und ich zitterte vor Kälte. Nae hatte uns morgens um vier aus unseren Hütten gezerrt. Warum auch immer hatte sie alle ihre großen Erkenntnisse mitten in der Nacht. Müde blickte ich in die Runde.

Heige hatte die Beine auf den Tisch gelegt und rauchte, was Jannes neben ihr ziemlich zu stören schien. Aber jedes Mal, wenn Jannes die Nase rümpfte, blies Heige ihr nur absichtlich den Rauch ins Gesicht und lachte. Das Mädchen kostete wirklich aus, dass sie keine gesundheitlichen Probleme kriegen konnte.

Roove versuchte, Jannes zu beruhigen, was ihm kein bisschen gelang. Raphael starrte zu Boden und schlang eine dicke Wolldecke um sich. Ich hätte auch gern eine gehabt, es aber natürlich nie zugegeben. Auch wenn es eine eiskalte Oktobernacht war.

In den letzten zwei Wochen war Raph irgendwie Teil unserer Gruppe geworden. Durch seinen Streit mit Kaden und der Funkstille, die jetzt zwischen den beiden herrschte, wusste er nicht so genau, wo er hingehörte und Nae versuchte nun, ihn bei uns aufzunehmen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er mich nicht mochte, auch wenn ich nicht nachvollziehen konnte, wie man jemanden wie mich nicht fantastisch finden kann.

Nae brachte uns gerade eine Kanne Kaffee, damit wir nicht einschliefen, und schenkte sich eine extragroße Tasse ein.

„Also, jetzt sind wir ja vollzählig.“

Für den Bruchteil einer Sekunde wunderte ich mich, doch dann fiel mir auf, dass sie Recht hatte. Xaenym, Lex und Jakir waren noch immer irgendwo in Georgia, um Kayth Haring zu suchen. Theoretisch hätte Heige sie im Handumdrehen per Portal hinbringen können, aber sie weigerte sich, ihre Kräfte zu benutzen. Sie sagte, die Hexenmagie hätte sie einfach zu viel gekostet.

Ich nahm es ihr nicht übel. Wir alle wussten, dass man sich nicht auf Heige verlassen konnte und hatten gelernt, nicht auf sie zu zählen. Aber trotzdem würde sie uns nicht verraten. Sie war zwar eigensinnig und egoistisch, doch es gab nichts, was der Vasilias ihr anbieten konnte. Und außerdem hasste sie ihn zu sehr.

Ich hätte gern gesagt, dass ich ihn auch hasste. Aber im Gegensatz zu den anderen hatte ich etwa einmal mit Paver Cane gesprochen. Ich fühlte mich nicht von ihm verraten.

Der Vasilias war für mich immer noch ein Phantom, ein Mann ohne Gesicht.

„Rück endlich mit der Sprache raus, Nae“, stöhnte Jannes genervt und verdrehte die Augen.

„Ähm … Ich weiß, wer der Königsblüter von Athen ist.“

Sofort war ich hellwach. Alle sahen Nae fragend an, bis auf Heige, die zu beschäftigt damit war, sich eine Haarsträhne zu flechten.

„Denkt doch mal nach. Die Prophezeiung sagt, wir kennen den dritten Goldblüter schon. Also wer könnte es sein? Wir kennen niemanden aus dem Olymp oder Tsagios und es ist auch keiner aus Titansvillage. Und wir wissen nur von einen Goldblüter, der in der Welt der Sterblichen lebt.“

„Arabelle“, platze Roove hervor.

„Genau.“

Raphael hob eine Hand, als würde er sich im Unterricht melden. „Äh, wer ist Arabelle?“

„Ihre Mom, eine verdammt reiche Goldblüterin aus London, hat uns vor zwei Jahren kontaktiert, damit wir ihre Tochter ausbilden. Roove, Ayslynn und ich sind also nach London gefahren und haben das Anwesen leer vorgefunden.

Niemand weiß, wo das Mädchen heute ist“, erklärte Nae.

„Warte mal, du hast gesagt, die Familie war stinkreich und kommt aus London. Habt ihr den vollen Namen für mich?“, fragte Raphael.

„Arabelle Chloe Kingsley, wieso?“ Roove runzelte die Stirn.

„Wenn ihr 'verdammt reich' sagt, von wie viel Geld sprechen wir dann?“

„Ganz London hat den Kingsleys gehört. Sie waren Milliardäre, wenn nicht Billionäre.“

„Bringt mir einen Laptop“, forderte Raphael.

„Willst du Arabelle Kingsley googeln?“, fragte Heige. „Das hilft dir bestimmt weiter.“

Raphael seufzte. „Ich trage Star Wars T-Shirts und bin ein ziemlicher Nerd. Ich google nicht. Ich hacke mich ins britische Bankensystem, rufe die Top zehn Konten unter dem Namen Kingsley auf und schaue, wo sie zuletzt aktiv waren.“

„Ich hab keine Lust auf die Rotblüterpolizei“, meinte Nae.

„Wieso? Letztes Mal war's verdammt lustig mit denen“, warf Heige ein.

„Ich kann durchaus meine Spuren verwischen. Und jetzt bringt mir einen Laptop“, wiederholte Raphael.

Roove zuckte mit den Achseln, stand auf und holte einen alten, nervtötend langsamen Rechner aus seiner Hütte.

„Du musst die IP-Adresse ...“, setzte ich an, doch Raphael hob die Hand und brachte mich zum Verstummen.

„Ich hab die IP-Adresse für das ganze Lager schon vor Jahren umgeleitet. Was denkst du, wieso jeder Laptop im Lager einen Torbrowser hat? Damit können wir ins Internet, ohne dass jemand erfährt, wo wir sind.“

„Na dann“, erwiderte ich und nahm einen kräftigen Schluck Kaffee.

Schon nach zwei Minuten ging mir das ständige Klicken der Tastatur auf die Nerven.

„Während Sanchez arbeitet, können wir ja auch weiter über den Krieg diskutieren“, schlug Jannes vor.

Heige seufzte. „Nicht schon wieder.“

Jannes funkelte sie wütend an.

„Hör zu, Prinzesschen von Troja: Wir stecken ziemlich tief in der Scheiße. Unser Lagerleiter ist ein unrasierter Typ im Unterhemd, die Göttin, die uns eigentlich helfen sollte, läuft in ihrer sterblichen Gestalt herum und hat nur Augen für ihn, die Titanen lassen sich nie blicken. Tsagios könnte jeden Moment mit einem Heer vor unserer Tür stehen und wir brauchen das Blut vom Vasilias, wenn wir eine Chance haben wollen. Wir müssen was tun. Kriegsvorbereitungen treffen. Ein Heer aufbauen. Pläne schmieden. Jetzt.“

„Jannes hat Recht. Und außerdem müssen wir die anderen Goldblüter hier trainieren. Aras hat damit aufgehört“, meinte Nae.

Roove seufzte. „Das sind definitiv zu viele Probleme auf einmal. Wie wäre es, wenn wir erst einmal Arabelle finden und warten, bis Kayth hier ist? Xae kann dann das Training leiten. Wir haben noch ein, vielleicht zwei Wochen Zeit. Es dauert eine Weile, bis Tsagios seine Truppen mobilisieren kann. Wenn wir drei Königsblüter haben, machen wir uns Gedanken um den letzten. Und währenddessen treiben wir dann irgendwie Truppen auf, ja?“

„Das klingt nach einem Plan“, sagte ich.

„Nach einem schlechten“, fügte Jannes zuckersüß hinzu.

„90 Prozent unserer Pläne sind schlecht, aber irgendwie funktionieren sie immer“, erwiderte ich.

Jannes seufzte.

Xaenym

Wir standen einfach nur da und starrten das Ortsschild von Sandy Springs an. Um ehrlich zu sein, hatte keiner von uns eine Ahnung, wie genau wir Kayth finden sollten. Die Stadt hatte über hunderttausend Einwohner. Wir konnten schlecht an jedem Haus klingeln.

Nachdem wir ein wenig überlegt hatten, beschlossen wir, uns an der North Springs High School einzuschleichen und uns umzuhören. Jakir war zwar zu alt dazu, aber Lex und ich waren noch im Schüleralter.

„Und Alice, wollen wir shoppen gehen?“ Lex zwinkerte mir zu.

„Äh, wieso?“

„Also ich weiß ja nicht, was du vorhast, aber ich gehe nicht in Kampfmontur da hin“, erwiderte er.

„Oh, richtig.“ Ich kam mir ziemlich dumm vor.

Sofort nahm er meine Hand und zog mich die Straße hinab.

Jakir sah uns verwirrt nach, als wüsste er nicht genau, was er tun sollte.

„Warte! Was ist mit Jakir?“

„Der hält die Stellung.“

Ich runzelte die Stirn. „Am Ortsschild?“

Lex nickte ernst.

Ich hatte keinen eigenen Stil. Ich mochte weder Kleider noch einfache T-Shirts oder ausgefallene Muster. Früher hatte ich Mode geliebt, aber jetzt sah das alles für mich mehr oder weniger gleich aus.

Auf einmal dachte ich an Kayth und seine bunten Ringelsocken. Eigentlich trug er völlig durchschnittliche Sachen, krempelte aber seine Jeans hoch, damit man seine Socken sah. Er hatte auf jeden Fall Stil. Bei dem Gedanken daran, ihn morgen vielleicht schon wiederzusehen, stieg mein Herzschlag an. Ich konnte mir kaum erklären, warum ich so für ihn empfand, wo wir uns doch erst einmal gesehen hatten. Immer, wenn ich an ihn dachte, schoss mir das Blut in die Wangen und ich wünschte mich zurück auf diese Parkbank in Ägypten, neben den Jungen mit den verschiedenfarbigen Augen. Ich wollte bei ihm sein und ihn kennenlernen. Wollte wissen, ob er auf der rechten oder linken Seite des Bettes schlief. Ob er seine Pommes mit Mayonnaise oder Ketchup aß.

Ich war nicht wegen des Krieges hierhergekommen. Ich wollte einfach nur bei Kayth sein. Und das, obwohl ich ihn nicht einmal kannte. Es war verrückt. Ich wusste nicht, wo ich diese Gefühlte einordnen sollte. Irgendwie kam es mir so vor, als hätten sie keinen Platz in meinem Körper. Aber sie waren da, schwirrten umher und brachten mich durcheinander.

Ich ließ mich auf den Hocker in der Umkleidekabine sinken und stützte den Kopf auf die Hände.

Am liebsten hätte ich Sivah gefragt, ob das normal war und wie ich damit umgehen sollte, aber das ging nicht. Sivah war tot.

„Und? Wie seh ich aus?“, fragte Lex von draußen. Ich seufzte und ging hinaus, wo ich sofort losprustete. Lex trug einen silbernen Hut, ein grünes Jackett voller Glitzerpailletten und eine riesige, goldene Sonnenbrille.

„Fantastisch“, lachte ich.

„Weißt du, ich fühl mich wie so ein Hippie aus den Siebzigern.“

„Das Stirnband und die langen Haare fehlen“, gab ich zu bedenken.

„Ich brauche so was von eine Haarverlängerung.“

Wieder lachte ich.

„Komm schon, du musst auch so etwas anprobieren.“

„Nee, lass mal. Ich bleibe lieber bei den normalen Sachen.“

„Dann entscheid dich endlich mal. Du hattest gefühlt den halben Laden an und hast noch immer nichts gefunden.“

Ich seufzte und setzte mich auf den Boden. „Mir gefällt hier einfach nichts.“

„Soll ich dir etwas raussuchen, das eigentlich jedem Mädchen steht?“

Ich zuckte mit den Achseln. „Wenn du magst.“

Er hob einen Arm.

„Was genau …?“

Lex deutete auf seine leere Hand. „Das ist das Outfit, was so gut wie jedem Mädchen steht.“

Ich seufzte, musste aber ein Grinsen unterdrücken.

„Okay, jetzt mal ernsthaft. Das Problem sind gar nicht die Klamotten, oder? Alice McElderry, du hast wohl Angst.“

Er grinste und setzte sich neben mich.

Angst. Ich hatte nicht besonders oft Angst, doch leider hatte Lex Recht. Der Gedanke, Kayth gegenüber zu stehen, machte mich ungeheuer nervös.

„Warst du schon mal verliebt?“, fragte ich leise.

Lex schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht so der Typ dafür.“

„Du hast doch ungefähr jede Woche eine neue Freundin.“

Er legte den Kopf schief und zog die Nase kraus. „Na ja, das sind eher One-Week-Stands.“

Ich schmunzelte.

„Also, wovor hast du Angst?“

„Was, wenn ihm mein Outfit nicht gefällt?“

„Du könntest das Outfit tragen, das ich vorgeschlagen habe.

Das würde ihm garantiert gefallen.“

Ich verdrehte die Augen. „Ernsthaft: Was, wenn er mich sieht und sich fragt, was an mir überhaupt so toll sein soll?“

„Er wird dich lieben. Er muss.“

„Das ist ja das Problem. Er könnte sich darüber Gedanken machen, dass das Ganze nur wegen unserer Abstammung ist.

Dass er mich sonst nicht lieben würde.“

„So läuft das nicht. Ihr liebt euch einfach. Okay, es ist irgendwelcher demititanischer Hokuspokus und ihr könnt nicht mal was dagegen machen, aber wen kümmert's?“

„Ich weiß einfach nicht, was ich zu ihm sagen soll, wenn ich ihn auf dem Schulflur sehe. Dadurch, dass wir schon verliebt sind, fühlt sich das Ganze so vorbestimmt und unwirklich an.“

„Sag ihm einfach hallo. Danach kommt ihr schon ins Gespräch. Ihr müsst schließlich eine Menge klären.“

„Ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll. Ich meine ...“

„Hör mal: Du hast mir von eurem ersten Gespräch erzählt.

Und ihr habt beide geredet wie ein Wasserfall. Bei euch kommt kein peinliches Schweigen auf. Dafür passt ihr zu gut zusammen.“

„Woher willst du das wissen? Wir kennen ihn doch beide nicht wirklich.“

„Wir sind hier, um ihn kennenzulernen.“

In elf Minuten würde der Unterricht beginnen. Ich stand vor den Türen der North Springs High School und starrte sie an.

Lex sagte nichts. Er würde warten, bis ich bereit war. Mit zitternden Händen zog ich mein lilanes T-Shirt glatt. Heute hatte ich mir zum ersten Mal seit Monaten wieder Mühe gegeben, gut auszusehen. Ich hatte sogar ein wenig Schminke aufgetragen.

Jakir saß auf einer Parkbank vor der Schule und warf mir einen beruhigenden Blick zu. Du schaffst das, schienen seine goldenen Augen zu sagen.

Lex hielt mir seinen Arm hin, woraufhin ich mich bei ihm unterhakte und mich regelrecht auf ihn stützte. Meinen eigenen Beinen traute ich im Moment nicht ganz.

„Lass mich nicht fallen, ja?“

Er nickte und öffnete die Tür.

North Springs war eine High School wie jede andere. Die Flure waren hell, zahlreiche Schüler standen an ihrem Spind und nahmen Bücher heraus. Lex und ich gingen zunächst zielgerichtet hinein, als wüssten wir, wohin wir gehen sollten, lehnten uns dann an eine Wand und sahen uns um.

„Siehst du ihn irgendwo?“, fragte ich leise.

Er schüttelte den Kopf.

„Ich auch nicht.“

Lex wirbelte herum, hielt geradezu auf ein Mädchen zu und schenkte ihr sein strahlendes Lächeln.

„Hi, ich bin Jackson aus der Zwölften. Weißt du, wo ich Kayth Haring finde?“

Ihre Mundwinkel hoben sich und sie wurde rot. „Ich bin Angelica.“

Lex wartete einige Sekunden und fragte dann erneut nach Kayth.

„Oh, äh … Keine Ahnung“, stammelte sie und spielte mit ihren Haaren.

Ich verdrehte die Augen. Sie war noch nicht mal schüchtern.

Nein, sie versuchte, süß zu wirken. Ich kannte diese Sorte Mädchen. Ziemlich beliebt, meistens im Cheerleaderteam.

Ich hatte schließlich selbst einmal zu diesen Mädchen gehört.

Angelica schrieb irgendetwas auf einen Zettel und gab ihn Lex, der sich bedankte und wieder zu mir herüberkam.

„Und? Erfolg?“, seufzte ich.

„Kommt drauf an, wie du Erfolg definierst. Sie kennt Kayth nicht, aber ich habe ihre Nummer.“ Grinsend hielt er ein Stück Papier, auf das mit schön geschwungenen, pinken Buchstaben 'Angelica' und ihre Nummer geschrieben standen.

„Du hast kein Handy“, erwiderte ich kühl.

„Verdammt, Alice. Guck dir das Mädchen an. Für die kauf ich mir ein Handy, wenn's sein muss.“

Ich ging nicht darauf ein und sah mich nach weiteren Teenagern um, die wir nach Kayth fragen konnten.

Ein schriller Glockenton erklang. Ich zuckte zusammen.

Mist. Der Unterricht begann.

Lex und ich wollten gerade gehen, als uns jemand an der Schulter berührte.

„Schwänzen ist heute nicht, ihr zwei.“

Innerlich fluchend fuhr ich herum.

Es war einer dieser überordentlichen Lehrer Mitte 40, der sich haargenau an alle Regeln hielt und Kaschmirpullis mit Rollkragen trug.

Beinahe wäre ich aus Reflex weggerannt, doch irgendetwas an dem Funkeln in Lex' karamellfarbenen Augen sagte mir, dass er die Situation unter Kontrolle hatte.

Vermutlich hatte er durch seine Gabe wieder irgendeine Info erhalten, die ihm weiterhalf.

„Mr. Rolston, wir wollten nicht schwänzen, Alice hat nur ihre Schlüssel vor der Tür verloren. Danach gehen wir sofort zum Unterricht, versprochen.“

„Ich habe euch noch nie hier gesehen“, schnaubte Rolston.

„Wir sind nun mal unauffällig. Und jetzt müssen wir los, sonst kommen wir noch zu spät“, sagte Lex mit einem entschuldigenden Lächeln und zog mich fort.

Als wir gerade rausgehen wollten, merkte ich, dass Mr.

Rolston uns folgte. Natürlich.

„So, nachdem deine Schlüssel jetzt nicht wieder aufgetaucht sind, könnt ihr ja in den Unterricht“, knurrte er und zerrte uns hinein.

„Welches Fach hast du gerade?“, fragte er mich.

„Äh … Mathe. Elfte Klasse.“

„Und du?“, wandte er sich an Lex. „Biologie. Zwölfte.“

„Dann wollen wir euch mal in den Unterricht bringen.“

Ich seufzte.

Ich hätte nicht gedacht, dass ich jemals wieder im Matheunterricht landen würde.

Rolston hatte mich einfach nur ins Klassenzimmer geschoben, also hatte ich mich als neue Schülerin vorgestellt und mich in die hinterste Reihe gesetzt.

Die Leute beachteten mich nicht. Ich war zwar nicht unscheinbar, aber ich hielt die ganze Stunde über den Mund.

Obwohl ich mich verhielt wie früher im Unterricht, ging in mir etwas ganz anderes vor. Ich starrte keine Löcher mehr in die Luft, sondern beobachtete die anderen Schüler.

Überlegte, wo sie Waffen versteckt haben könnten. Schätzte, wie schnell sie mich angreifen könnten. Ich sah in jedem eine potentielle Gefahr.

Ein Teil von mir wünschte sich mein altes Leben zurück.

Damals war ich nicht ständig in Alarmbereitschaft gewesen und hatte nicht so viel über andere Leute nachgedacht.

Aber ein viel größerer Teil von mir liebte mein Leben. Trotz der vielen Verluste bot es mir mehr, als ich als Rotblüterin je hätte bekommen können. Es war, wie Sivah damals in den Tropen gesagt hatte. Ich hatte die Chance auf ein wahres Leben, die Chance, etwas zu verändern.

Die Pausenklingel riss mich aus meinen Gedanken.

Hastig packte ich meine Sachen zusammen und folgte irgendeinem Mädchen. Sobald sie mich bemerkte, fuhr sie herum.

„Hast du auch Kunst belegt?“, fragte sie.

„Äh, klar.“

Sie rümpfte die Nase. Anscheinend mochte sie mich nicht. Das Mädchen gehörte wohl nicht zu den Beliebten. Aber sie schien zu glauben, ich würde bald dazugehören und hasste mich schon mal im Voraus. Ich fragte mich, was sie von mir gehalten hätte, wenn sie die Wahrheit über mich gekannt hätte.

Schließlich kamen wir im Kunstraum an. Das Mädchen setzte sich sofort an ihren Platz in der ersten Reihe, ohne sich weiter um mich zu kümmern. Also stellte ich mich kurz beim Lehrer vor. Man sah ihm irgendwie an, dass er Künstler war. Er brannte für seinen Beruf, freute sich jedes Mal, wenn er die Zeichnungen an den Wänden anschaute.

Umso weniger Interesse zeigte er für mich.

„Alle mal herhören, das ist Alice McDonalds.“

Fast musste ich lachen. Wer hätte gedacht, dass ich jemals wieder in einem Klassenraum landen und dem Lehrer die Aussprache meines Namens erklären würde? Ich verdrehte die Augen. „McElderry, Idiot.“

Die Gespräche verstummten. Die Leute reckten die Hälse, um zu sehen, wer sich getraut hatte, so mit Mr. Gregson zu reden. Erst jetzt sah ich mich wirklich im Raum um, analysierte alles, wie ich es eben getan hatte.

Ein Mädchen in der vordersten Reihe hatte die Hand an ihrem Gürtel eingehakt. Ein Goldblüter würde so etwas tun, um jederzeit eine Waffe ziehen zu können.

Der braunhaarige Junge in der dritten Reihe schaute mich gelangweilt an. Ein Goldblüter guckte so, wenn jemand es noch nicht einmal wert war, getötet zu werden.

Aber das waren normale Leute. Ich hätte sie nicht so misstrauisch beobachten sollen. Die versteckte Welt war etwas völlig anderes als diese hier. Ich musste nicht nach Gefahren Ausschau halten. Zögerlich entspannte ich mich.

Und dann hörte ich jemanden schmerzerfüllt schreien.

Kapitel 2

Xaenym

Ich fuhr herum, blickte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Erneut drang ein Schrei zu mir durch, diesmal leiser.

Alle sahen mich verwirrt an.

„Hast du einen Geist gesehen, McDonalds?“, schnaubte Gregson.

„Nein, ich … Toilette“, stieß ich hervor.

„Was?“

„Toilette. Da gehen Menschen manchmal hin, wissen Sie?“, gab ich zurück und stürmte hinaus.

Je weiter ich mich vom Klassenzimmer entfernte, desto schneller wurden meine Schritte. Das Klackern meiner schwarzen Stiefel mit Absatz hallte über den ganzen Flur wieder. Meine Lunge brannte und meine Knöchel schmerzten, doch es war mir egal. Diese Stimme hätte ich unter tausenden erkannt. Schließlich gehörte sie zu dem Jungen, den ich liebte.

Ich musste irgendwie ins Erdgeschoss und dann raus. Der Schrei war aus der Richtung des Schulhofs gekommen. Nur leider kannte ich mich hier überhaupt nicht aus. Die Flure sahen alle gleich aus.

Panik stieg in mir auf. Was, wenn ich zu spät kam?

Mein Blick fiel auf ein offenes Fenster. Ohne weiter darüber nachzudenken schwang ich mich hinaus und landete ein Stockwerk tiefer in der Hocke auf dem Schulhof.

Und da lag er, blutüberströmt, die Klauen einer Harpyie nur Zentimeter von seinem Hals entfernt.

Ihn zu sehen fühlte sich an, als würde sich die Welt um mich herum verlangsamen. Ich konnte auf jedes Detail achten.

Sein Sweatshirt war lila, seine Hose blau und verwaschen. Wie beim letzten Mal hatte er sie hochgekrempelt, damit man seine Socken sah, doch heute waren diese senfgelb, genau wie seine Sneakers.

Eine klaffende Wunde zog sich von seinem Hals bis zur Mitte seiner Brust. Blut strömte daraus hervor wie aus einer Bachquelle.

Sein braunes Auge schien froh zu sein, dass ich hier war und das blaue wirkte verzweifelt, flehte um Hilfe.

Blitzschnell zog ich einen Dolch aus meinem Stiefel und warf. Ich hatte keine Bedenken, die Harpyie zu verfehlen. Doch noch während des Wurfes wusste ich, dass es ein Fehler gewesen war. Ich war keine Machitis mehr. Zwar konnte ich noch gut kämpfen, weil ich es fast jeden Tag tat, aber ich warf nur selten ein Messer …

Die Klinge bohrte sich in die Schulter der Harpyie. Sie heulte schmerzerfüllt auf und hielt einen Augenblick inne.

Lange genug, damit ich einen anderen Dolch ziehen und mich auf sie stürzen konnte.

Mit aller Kraft stach ich auf das Ungeheuer ein. Ich fühlte mich stärker als je zuvor. Hier ging es nicht nur um mein Leben, sondern um das von Kayth. Und ich würde nicht zulassen, dass er starb.

Als sie sich nicht mehr rührte, stach ich noch zwei Mal zu und ließ dann von dem Monster ab. Da ich nicht genau wusste, wo ich das tote Ungeheuer hintun sollte, stopfte ich es einfach in einen Müllcontainer.

„Xaenym?“, stieß Kayth hervor.

Sofort war ich bei ihm und sah mir die Wunde genauer an.

Er würde es schaffen, auch wenn er sehr viel Blut verlor.

„Du siehst so anders aus“, murmelte er schwach. Natürlich.

Er hatte mich nur als Armenia gesehen. Es war ein Wunder, dass er mich überhaupt wiedererkannt hatte.

„Alles wird gut. Ich bin's. Lange Geschichte“, sagte ich und strich ihm über die Wange.

Plötzlich sprangen ein paar Sirenen an. Jemand musste uns entdeckt haben. Wenn sie die Rotblüterpolizei riefen, hatten wir ein ordentliches Problem.

„Wir müssen dich hier wegbringen. Jetzt.“

Kayth nickte nur und machte einen ungeschickten Versuch aufzustehen.

Ächzend hob ich ihn hoch und trug ihn über den hinteren Teil des Schulhofes. Er war verdammt schwer und meine Armmuskeln drohten, zu zerreißen, aber ich trainierte nicht umsonst seit fast einem Jahr.

„Kayth?“

Er stöhnte.

„Kayth, wo soll ich dich hinbringen?“

„Nach Hause. Bring mich nach Hause“, flüsterte er und wurde dann ohnmächtig.

Nae

Etwa morgens um neun hatte Raphael es geschafft. Die letzten paar Stunden hatte er eine Tasse Kaffee nach der anderen getrunken. Dunkle Schatten umrahmten seine Augen. Aber er hatte tatsächlich herausgefunden, wo die Bankkarte zuletzt verwendet worden war.

Arabelle lebte. Ständig wurden kleinere Summen (wobei 'kleinere' hier mehrere Tausend bedeutete) von einem verdammt vollen Konto auf ihren Namen abgebucht.

Meistens in London, jedoch schien sie alle paar Wochen zu verreisen, weshalb sie ihre Geldkarte oft auf den Malediven oder in Spanien benutzte.

Das letzte Mal war vor zwei Stunden etwas abgebucht worden.

„Leute“, meinte Ramy. „Packt eure Teetassen ein. Wir fliegen nach London.“

Aras schnaubte. Er sah noch heruntergekommener aus, als sonst. Armenia war die letzten Tage ziemlich damit beschäftigt gewesen, ihre Hütte einzurichten, weshalb sie ihn jetzt nicht mal mehr zwang, sein versifftes Unterhemd zu wechseln.

„Ständig kommt ihr hierher, wollt Geld und Flugtickets für irgendeine sinnlose Mission“, rief er.

„Wir haben dir das mit den vier Königreichen doch erklärt.

Wir brauchen das Blut, um die Titanen zu erwecken. Das willst du doch, oder?“, fragte ich.

„Die Titanen sind doch schon erwacht. Schau in die Hütten am westlichen Ende des Lagers.“

„Das sind keine Titanen. Das sind Sterbliche“, mischte sich Raphael ein.

„Bitte Aras“, flehte Roove.

„Meine Antwort lautet nein.“

Ich warf Heige einen fragenden Blick zu und formte das Wort Portal mit den Lippen.

Sie schüttelte den Kopf. Heige würde uns also nicht mit Hexenmagie helfen.

„Ich hab 'ne andere Idee“, platzte diese hervor. „Wir klauen ein Charterflugzeug.“

„Bin so was von dabei“, kam es augenblicklich von Ramy.

„Ich weiß nicht. Was ist mit der Rotblüterpolizei?“, fragte ich stirnrunzelnd.

Heige winkte ab. „Ich habe das schon öfters gemacht.

Inzwischen sucht mich die Polizei überall. Glaub mir, die sind verdammt schlecht im Leute-Finden.“

Ich zuckte mit den Achseln. „Meinetwegen.“

„Aras, wir brauchen nur ein Auto. Bitte. Hinter der Krankenstation steht doch ein Jeep, oder nicht?“, fragte Roove.

„Ihr kriegt den Wagen nicht.“

Jannes schnaubte, stieg über seinen Schreibtisch hinweg und suchte seine Schubladen durch, bis sie einen Autoschlüssel hervorkramte. Grinsend hielt sie ihn hoch.

Aras' dunkle Augen wurde groß. „Was soll das? Ich bin der Lagerleiter!“

Jannes lachte. „Und hier siehst du, wie viel Einfluss du noch hast.“

Aras stand auf und baute sich drohend vor ihr auf. Obwohl er heruntergekommen aussah, zeichneten sich die Muskeln unter seinem vergilbten Unterhemd ab. Er war einen ganzen Kopf größer als Jannes, stärker und älter.

„Gib mir die Schlüssel, Jannes“, sagte er seelenruhig.

Aras drohte ihr nicht auf die Art, wie Eltern oder Lehrer einem ungehorsamen Teenager drohten. Er drohte nicht mit einer Strafe. Er drohte mit einem Faustschlag.

Ein wütendes Funkeln lag in seinen Augen. Ich traute ihm zu, einen Kampf vom Zaun zu brechen. Aber irgendetwas an diesem Blick war seltsam. Der Zorn schien etwas darin zu verstecken, als wäre er nur an der Oberfläche. Dahinter lag eine seltsame Art von Trauer. Als täte es ihm leid, wütend zu sein.

Jannes spuckte ihn an, woraufhin Zorn in seinen Augen aufloderte. Er griff nach ihrem Arm, doch sie wandte sich blitzschnell ab, packte ihn und … Ich traute meinen Augen nicht. Jannes warf Aras zu Boden, versetzte ihm einen Tritt, lächelte auf ihn hinab und ging dann hinaus. Wir anderen folgten ihr völlig perplex.

„Jannes, High-Five. Bitte. Ich weiß, du machst so was nicht, aber das gerade war verdammt cool“, meinte Ramy und versuchte, mit ihr Schritt zu halten.

„Schnauze.“

Ramy seufzte und wartete, bis ich ihn eingeholt hatte. Dann legte er den Arm um mich und zog mich so mit sich.

„Jannes, ist dir klar, was du gerade getan hast?“, fragte Roove.

„Ich habe Titansvillage verraten. Habe den Lagerleiter angegriffen. Ab jetzt bin ich nicht mehr berechtigt, hier zu leben und zu trainieren. Wenn ich wieder hier auftauche, bringt Aras mich um.“ Während sie das sagte, zuckte sie nicht mal mit der Wimper. Doch wir alle wussten, dass es ihr etwas ausmachte, in ihrem Zuhause als Verräterin zu gelten.

„Hast du keine Angst?“, fragte Raphael leise.

Sie zuckte mit den Achseln. „Nicht wirklich. Wenn er mich angreift, bring ich ihn eben vorher um.“

Xaenym

Das Schulgebäude war evakuiert worden. Schon wieder.

Letztes Jahr hatten wir im Hauswirtschaftsunterricht Brathähnchen gekocht. Ich war zwar immer eine schreckliche Köchin gewesen, aber diese Stunde hatte alles übertroffen. Wie auch immer hatte ich es geschafft, die Küche in Brand zu setzen. Und dann hatte man alles evakuiert.

Ich stand vor der Haustür mit der Nummer 21 und klingelte bei 'Haring'. Mein Herz versuchte offenbar, meinen Brustkorb von innen zu zertrümmern. Schweiß brach an meinen Handflächen aus und vermischte sich mit Kayths Blut. Meine Armmuskeln waren kurz davor, den Dienst zu verweigern. Ich zitterte am ganzen Körper.

Glücklicherweise war mir niemand begegnet. Alle waren auf der Arbeit, die Jugendlichen in der Schule. Ich hörte hin und wieder Polizeisirenen. Kayth und ich wurden gesucht.

Ich war mir nicht sicher, ob Kayths Mom zu Hause war, aber ich hoffte es inständig, da er keinen Haustürschlüssel in der Hosentasche hatte.

Schließlich klingelte ich noch mal. Und noch mal.

Blutige Fingerabdrücke blieben an der Klingel haften. Was würde seine Mutter sagen, wenn ich ihr ihren Sohn in diesem Zustand brachte? Würde sie mich verantwortlich machen?

Endlich ging die Tür auf. Dahinter kam eine kleine Frau mit dunkelbraunen Locken zum Vorschein. Lachfalten zeichneten sich an ihren Augen und ihrem Mund ab.

Sie trug einen grauen Wollpullover und eine einfache Jeans. An ihren Händen klebte Mehl. Vermutlich backte sie gerade. Das Braun ihrer Augen erinnerte mich an Schokoladenkekse. Plätzchenduft strömte aus der Wohnung. Ich hatte noch nie eine Person gesehen, die so freundlich aussah wie Kayths Mom. Sie wirkte wie jemand, den man um sich haben wollte, wenn man krank war, der einem Hühnersuppe kochte und einen zudeckte.

Als sie Kayth und das ganze Blut sah, weiteten sich ihre Augen. Ich erwartete, dass sie mich anschreien oder in Tränen ausbrechen würde. Aber sie wirkte sofort wieder gefasst.

„Komm schnell rein, Liebes. Mein Name ist Evelyn. Ich habe schon viel von dir gehört.“

Evelyn fegte Mehl vom Küchentisch und bedeutete mir, Kayth dorthin zu legen.

Die Wohnung war sehr klein und ein wenig heruntergekommen. Die Dielen im Flur waren kaputt, die Farbe an den Wänden blätterte langsam ab. Aber ich konnte Evelyn nicht vorhalten, dass sie sich nicht um ihr Zuhause kümmerte. Alles war blitzblank geputzt. Fotos von ihr und Kayth als Kind hingen an der Wand. Seine Mutter gab wirklich alles dafür, die Wohnung in Ordnung zu halten. Das eigentliche Problem war das Geld.

Evelyn eilte zu einem Schrank und holte ein Fläschchen Epouros aus einem Tongefäß. Da Kayth bewusstlos war und es nicht trinken konnte, tränkte ich ein Tuch damit und tupfte damit die Wunde ab. Obwohl er mit Blut besudelt war, wirkte Kayth so ruhig und friedlich. Ich strich ihm über die Wange. Wie sehr ich mir doch wünschte, dass die Wunde so schnell wie möglich heilte. Nicht, weil ich Angst hatte, dass sich die Verletzung entzünden würde oder so. Nein, ich wollte einfach, dass es ihm gut ging. Natürlich wollte ich auch, dass es meinen anderen Freunden gut ging. Aber das hier war anders.

Evelyn trat neben mich und legte mir eine Hand auf die Schulter.

„Es ist so weit, hab ich Recht. Er muss mit dir gehen, oder?“ Evelyns Stimme zitterte so stark, dass ich sie kaum verstand.

Ich seufzte. Es gab schönere Aufgaben, als dieser Frau zu erklären, dass ich ihren Sohn, den sie jahrelang vor uns allen versteckt hatte, nun mitnehmen musste. Wie sollte ich ihr so etwas sagen?

Schließlich nickte ich nur.

„Pass auf ihn auf, ja? Ich weiß, er ist nicht mehr mein kleiner Junge. Aber pass für mich auf ihn auf.“ Sie wischte sich eine Träne von der Wange.

Erneut nickte ich.

Evelyn lächelte. Ein warmes, beruhigendes Lächeln.

„Und jetzt komm, setz dich mit mir hin und iss ein paar Kekse.“

Sie holte ein Tablett voller Schokokekse aus einem Schrank und stellte sie neben Kayth auf den Tisch. Bevor ich daraufschauen konnte, riss sie einen Zettel vom Tablett, zerknüllte ihn schnell und ließ ihn fallen.

„Was war das?“, fragte ich stirnrunzelnd.

„Oh, das war gar nichts ...“

Doch ich hatte den Zettel schon aufgehoben. Ein Preisschild.

„Du betreibst eine Bäckerei, richtig?“

Sie nickte.

„Du kannst doch nicht einfach deine Kekse an mich verschenken!“, rief ich empört. Irgendwie war ich wütender, als andere in so einer Situation gewesen wären. Aber die Schatten unter Evelyns Augen, die kaputten Dielen und die abblätternde Farbe an den Wänden verrieten mir, dass Evelyn ständig arbeitete, um sich und Kayth gerade so über Wasser zu halten.

„Ich nehme keinen einzigen Keks an“, verkündete ich und setzte mich auf einen knarzenden Küchenstuhl. Evelyn zuckte mit den Achseln, holte mir ein Glas Wasser und setzte sich zu mir.

Normalerweise war ich nicht die Art Mädchen, die von Müttern gemocht wurde. All die Mütter, die ich im Laufe der Jahre kennengelernt hatte, weil ich ein Date mit ihrem Sohn gehabt hatte, waren nicht gerade angetan von mir gewesen.

Sie wussten, dass ich eines dieser beliebten Highschoolmädchen gewesen war, das zu viel auf ihr Aussehen gab und ihren Sohn nicht wirklich liebte.

Heute machte ich vermutlich keinen viel besseren Eindruck.

Ich hatte Leute umgebracht und verletzt, trug Waffen mit mir herum und hatte mit dem bewusstlosen Kayth in den Armen bei Evelyn geklingelt. Aber trotzdem mochte sie mich.

Und ich mochte sie auch. Auf irgendeine Art erinnerte sie mich an meine Mom, auch wenn es keinen Sinn ergab.

Annie hatte selten Zeit für mich gehabt und das hatte mich nie wirklich interessiert. Ich war ein dummer Teenager gewesen, der nur eine Geldkarte gebraucht hatte, um glücklich zu sein. Jetzt wünschte ich mir, öfter mit ihr Pizza bestellt und beim Essen schlechte Filme geguckt zu haben.

„Alles in Ordnung, Liebes?“, fragte Evelyn besorgt.

„Ja. Alles gut.“ Ich seufzte und sah Kayth an.

„Wie viel weißt du über unsere Welt, Evelyn? Weißt du, was ein Königsblüter ist? Weißt du etwas über den Krieg?“

Sie musste schmunzeln.

„Das kann man wohl sagen. Ich wurde mit 15 nach Titansvillage gebracht. Und ein paar Jahre später durfte Atlas, der Titan der Kraft, vier Monate lang die Last des Himmels auf jemand anderen übertragen und hatte somit frei.“ Ein trauriges Lächeln huschte über ihr Gesicht.

„Damals wusste keiner so wirklich etwas über die vier Königshäuser. Aber meine Eltern hatten es mir erzählt.

Meine Urgroßmutter war Prinzessin Ismene von Theben gewesen. Ich durfte niemandem etwas davon verraten, weil sonst jeder Jagd auf mich gemacht hätte. Und als ich Kayth bekam, wusste ich, dass ich ihn vor dieser Welt beschützen musste.“

Ich versuchte, mir vorzustellen, wie Evelyn mit fünfzehn ausgesehen haben musste, mit Waffen in der Hand. Ob sie Sivah gekannt hatte?

Eigentlich hätte ich ihr gerne ein paar Fragen gestellt, doch sie und Kayth hatten sich nicht umsonst aus dem Krieg rausgehalten. Es reichte schon, dass ich plötzlich hier auftauchte und ihren Sohn mitnahm, da musste ich sie nicht auch noch an etwas erinnern, das sie vermutlich zu vergessen versuchte.

Ich war mit dem Kopf auf dem Küchentisch eingeschlafen.

Evelyn hatte eine Wolldecke um meine Schultern gelegt und die Rollläden runtergelassen.

Kayth schreckte nachts um vier aus dem Schlaf hoch. Träge öffnete ich die Augen und bewegte meinen steifen Nacken ein wenig. Schweißperlen zeichneten sich auf seiner Stirn ab.

„Was ist passiert?“, fragte er leise.

„Du wurdest angegriffen. Aber jetzt ist alles gut. Naja, deine Schule wurde evakuiert, weil ein rothaariges Mädchen angeblich Amok gelaufen ist, aber das ist nicht dein Problem.“ Ich grinste.

„Ich bin froh, dass du hier bist. Ich dachte schon, du wärst tot, weil du vor ein paar Monaten nicht am Treffpunkt aufgetaucht bist.“

Sein Blick verwirrte mich noch immer. Durch die verschiedenen Augenfarben kam es mir so vor, als würden mich zwei Personen ansehen. Und ich wusste nicht, wessen Blick ich zuerst erwidern sollte.

Ich sah ihn an, prägte mir jedes Detail seiner Gesichtszüge ein. Hohe Wangenknochen. Breites Kinn. Vereinzelte Sommersprossen auf der geraden Nase.

Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Was ist?“

Ich zuckte mit den Achseln. „Du siehst gut aus.“

Er sah mehr als gut aus. Er sah calvin-klein-model-gut aus.

Aber das konnte ich jetzt schlecht sagen.

Er wurde ein wenig rot. „Äh … du auch.“

Ich grinste schief. „Ich weiß.“

Kayth musste lachen. Dann verblasste sein Lächeln.

„Und wie geht es morgen weiter?“

Ich fuhr mir durch die Haare. „Na ja … Wir müssen gehen.

Nach Titansvillage.“

Er seufzte. „Ich wusste, dass ich irgendwann gehen muss.

Und als ich dich getroffen habe, wusste ich, dass es Zeit ist, eine Seite zu wählen. Aber ein Teil von mir hofft, hier bei Mom bleiben zu können. Sie braucht meine Hilfe, weißt du?

Sie arbeitet vormittags als Haushaltshilfe, verkauft dann Gebäck und backt bis spät in die Nacht. Und trotzdem reicht das Geld kaum aus. Ich jobbe nach der Schule bei Walmart, um unser Einkommen aufzuverbessern, aber auch das ist nicht genug. Die Miete für den Laden wird ständig erhöht.“

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Seit ich mich erinnern konnte, hatten Mom und ich genug Geld für alles, was wir wollten, gehabt.

„Deshalb wolltest du bleiben. Deshalb kommst du nach jeder Reise zurück. Wegen deiner Mom.“

Er nickte schwach.

Wir schwiegen eine Weile.

„Ich will manchmal nach Sandy Springs zurückkommen. Ihr helfen. Ihr Geld bringen. Es ist mir egal, ob wir Krieg führen. Meine Mom verdient ein besseres Leben. Das ist meine Bedingung.“

Ich nickte. „Ich komme mit, so oft es geht.“

„Okay. Und jetzt erzähl mir, warum du mich versetzt hast.

Zwei Mal.“

Ich lächelte verlegen und begann, zu erzählen. Von Armenia, von Pyrinas, vom Skia, von Lex und Jefferson und Mya, von Vice und Heige, vom Vasilias und Dvyn und Neffire und Sivah und allen anderen.

Ich erzählte ihm alles, was ich seit meinem 16. Geburtstag erlebt hatte.

Er hörte mir zu, wenn ich sprach, und drängte mich nicht, weiterzuerzählen, wenn ich kurz schwieg. Eigentlich nur eine kleine, selbstverständliche Sache, doch es bedeutete mir wirklich viel.

Als ich fertig war, runzelte Kayth die Stirn. „Warte mal. Du hast das alles erlebt, nachdem du 16 wurdest?“

Ich nickte.

„Wann hast du Geburtstag?“

„Am vierten März. Wieso?“

Er seufzte und lachte Gleichzeitig auf. „Ich bin doch tatsächlich jünger als meine Freundin.“

Ich grinste verschmitzt. „Also bin ich deine Freundin?“

Er wurde rot. „Äh, ich …“ Langsam beugte ich mich zu ihm hinunter. „Kein Problem.

Du hast schon Recht.“

Doch kurz bevor unsere Lippen sich berührt hätten, wich er zurück, so gut das in seinem Zustand ging.

„Was ist los?“, fragte ich.

„Ich habe noch nie ... jemanden geküsst“, gab er zu.

Das überraschte mich wirklich. So wie er aussah, hätte er jedes Mädchen haben können. Aber er hatte sich seinen ersten Kuss für mich aufgehoben.

Ich hatte schon dutzende Jungen geküsst. Ich hatte auch mehr getan, als sie nur zu küssen. Eigentlich bereute ich es nicht. Aber ein Teil von mir machte sich Sorgen, dass es Kayth etwas ausmachen würde, dass ich mir meinen ersten Kuss nicht für ihn aufgehoben hatte.

„Nun, dann ist doch jetzt ein passender Moment für deinen ersten Kuss, oder nicht?“

Er schüttelte den Kopf. „Nicht, während mein Blut an meiner Wange klebt. Nicht, während du Harpyienblut an der Stirn hast.“

Ich lächelte. „Okay.“

Und ich freute mich auf meinen ersten Kuss mit Kayth.

Kapitel 3

Heige

Ich war zu hundert Prozent sicher, dass Jannes mich jeden Moment vom Fahrersitz treten und sich selbst ans Lenkrad setzten würde, doch das kümmerte mich wenig bis gar nicht.

Ich hatte zwar keine Ahnung, wer die Idee gehabt hatte, mich ans Steuer zu lassen, aber ich genoss es so was von.

Der Tacho zeigte nur Geschwindigkeiten bis 150 Meilen pro Stunde an – und die fuhren wir auch.

Es kam mir vor, als würden wir ein Blasorchester hinter uns herziehen, weil die wütenden Autofahrer, die ich überholte, so oft hupten.

Wir waren innerhalb von einer Viertelstunde am Flughafen.

Ich parkte völlig schief und stieg mit einem zufriedenen Lächeln aus.

Raphael war ganz grün im Gesicht. Er konnte sich gerade noch so auf den Beinen halten.

„Ich darf den Flieger steuern“, verkündete Ramy und knallte die Autotür zu. „Heige, klasse Fahrstil übrigens.“

Ich grinste.

„Ramy, kannst du überhaupt fliegen?“, fragte Nae stirnrunzelnd.

Er zuckte mit den Achseln und grinste schief. „Ich werd's wohl lernen.“

Den Flieger zu stehlen, war ein Kinderspiel gewesen. Ich schnaubte. Immer diese überreichen Sterblichen, die glaubten, eine schwarze Uniform machte jemanden automatisch zum allmächtigen Securitybeamten.

Ich erinnerte mich an die Zeit zurück, als ich mit Vice einen Flieger gestohlen hatte. Ein Teil von mir wollte nach Sydney fliegen und ihn vor unserem damaligen Hotel stehen sehen.

Aber das würde er nie wieder tun.

Ich seufzte, sicherte mir den Platz neben dem Minikühlschrank und stopfte einen Pudding nach dem anderen in mich rein.

Es waren nicht diese klassischen Supermarktpuddings, sondern irgendwelche überteuerten Sorten, wie Drachenfrucht mit Papayas und Sternfrüchten, aber immerhin schmeckten sie.

Ramy flog, wie ich fuhr. Alle paar Sekunden wackelte der ganze Flieger und wir hatten das doppelte des normalen Tempos drauf. Einmal machte Ramy Anstalten, ein Looping zu versuchen, doch dann gab Nae zu bedenken, dass wir dabei alle auf den Kopf fallen würden, falls er einen Fehler machte.

Wir erreichten London in Rekordzeit. Schließlich kreisten wir über der Stadt, offenbar auf der Suche nach einer Landebahn.

Ich aß meinen Pudding leer und setzte mich auf das Armaturenbrett, darauf bedacht, keine Knöpfe zu erwischen.

„Lande doch da hinten“, schlug ich vor und deutete auf ein Hochhaus.

„Das ist ein Haus“, erwiderte Nae, die auf seinem Schoß saß, trocken.

„Gut erkannt.“ Ich scheuchte Ramy vom Sitz, der mich völlig perplex anstarrte und übernahm das Steuer.

Die Menschen starrten uns an, als würden wir mit einem Urzeitvogel auf dem Dach landen und nicht mit einem gewöhnlichen Flieger.

Ramy stieg mit einem breiten Grinsen aus und winkte den Leuten, woraufhin Nae losprustete.

Und jetzt mussten wir schnellstmöglich verschwinden, bevor die Polizei unseren Flieger fand.

„Raph, hast du eine Adresse für uns?“, fragte ich, während ich hinausstieg.

„Klaro. Broadlands Road 25. Ein riesiges Anwesen. Kaum zu übersehen.“

Ich nickte und sprang vom Dach des Gebäudes. Nae stieß einen spitzen Schrei aus.

Mein Magen machte einen Satz. Adrenalin schoss durch meine Adern, während der Boden auf mich zuraste. Kurz bevor ich aufgeschlagen wäre, ließ ich die Luft nach oben strömen, woraufhin mich ein heftiger Ruck durchfuhr. Das Abbremsen hatte zwar wehgetan, aber das war es einfach wert gewesen.

Die anderen brauchten noch mehrere Minuten, bis sie bei mir waren. Dann setzten wir uns zusammen an die Bushaltestelle und warteten, was mir fast schon lächerlich sterblich vorkam.

Nae hatte innerhalb von wenigen Sekunden rausgefunden, wo wir umsteigen mussten.

Während wir einstiegen, starrten uns die Leute mit großen Augen an. Vermutlich sahen wir mit unserer Kleidung aus, als würden wir irgendeiner Sekte angehören. Immerhin trugen wir nur einige, gut versteckte Dolche am Körper, sonst hätten wir wohl die Polizei auf den Fersen gehabt.

Ich hatte vergessen, wie amüsant Busse waren. Man bekam eine Menge seltsamer Menschen zu Gesicht. Zum Beispiel trug eine Frau einen Rottweiler in einer gigantischen Tasche herum, als wäre er ein Chihuahua.

Das Kingsley-Anwesen sah aus, als hätte man einen zweiten Buckingham Palace errichtet.

Eine breite, schneeweiße Treppe führte zum prunkvollen Anwesen hinauf. Sie erinnerte mich an die Treppe, auf der Cinderella ihren Schuh verloren hatte.

„Okay, wer klingelt?“, fragte Raphael.

Ich trat einen Schritt zurück. „Ich sehe aus, als würde ich sie verprügeln wollen. Besser nicht.“

„Nein“, sagte Jannes kühl.

„Ich würde es ja machen, aber ich sehe zu gut aus. Sie könnte ihn Ohnmacht fallen oder so.“ Ramy lächelte entschuldigend.

„Nae, du siehst nett genug aus. Du hast den Job“, meinte Jannes und versteckte sich unter der Marmortreppe, was wir anderen ihr gleichtaten.

Die Dryade strich ihre Kleidung glatt, setzte ein Lächeln auf und drückte schließlich auf die Klingel.

Lange geschah nichts, doch dann öffnete eine ältere Frau mit einem Tablett auf dem Arm die Tür und beäugte Nae argwöhnisch.

„Äh … Ich suche Miss Kingsley. Ich bin wegen Titansvillage hier“, stieß Nae hervor.

„Ich muss nach Ihrem Namen fragen, Miss.“

„Nae.“

Die Frau, vermutlich eine Haushälterin oder Ähnliches, blinzelte überrascht. „Und weiter?“

Nae sah verlegen zu Boden. Dryaden hatten keine Nachnamen und sie war nicht gut darin, sich Dinge auszudenken. „Ähm … Murgsens?“

„Miss, Sie haben Besuch“, rief die Frau ins Haus. Ihre Stimme war schrecklich schrill. Ich verstand nicht, wie man jemanden wie sie länger als zwei Minuten ertragen konnte.

„Ich muss kurz mit Miss Kingsley über Sie sprechen“, meinte die Frau und schlug Nae die Tür vor der Nase zu.

Diese warf uns einen hilfesuchenden Blick zu.

„Das machst du toll“, flüsterte Ramy. „Mach einfach weiter.“ Er grinste. „Murgsens? Wirklich? Wer bitte heißt Murgsens?“

Sie seufzte. „Ich bin nicht gut in so was, okay?“

Die Minuten verstrichen. Nichts geschah.

Jannes schnaubte genervt. „Wenn diese Oma noch eine Sekunde länger braucht, dann trete ich diese Tür ein und ...“

Genau in diesem Moment wurde die Tür geöffnet.

„Miss Kingsley lädt Sie zu einer Tasse Tee ein. Bitte folgen sie mir.“

Xaenym

Lex und Jakir waren auf der örtlichen Polizeistation gelandet. Evelyn hatte sich ein wenig umgehört und herausgefunden, dass sie unter Verdacht standen, mit mir in Verbindung zu stehen und seit gestern Abend beim Verhör schwiegen. Mit seiner Gabe hätte Kayth den Vorfall ganz einfach aus den Köpfen der Leute löschen können, doch ich war bereits in den Nachrichten und wurde überall gesucht.

Evelyn beteuerte, Jakir und Lex mühelos aus dem Verhörsaal holen zu können, also ließen wir ihr einen Versuch, während Kayth und ich seine Sachen packten.

Zuerst schmiss er alle Waffen, die er in den hintersten Ecken seines Kleiderschrankes versteckt hatte, in den Koffer und machte sich dann daran, seine Kapuzenpullis einzupacken.

„Du trägst in Titansvillage sowieso nur Spolas und schwarze Hosen, also brauchst du den ganzen Kram nicht“, meinte ich und setzte mich aufs Bett.

Er schüttelte den Kopf. „Ist mir egal. Ich trage Sweatshirts und bunte Socken. Meine Gegner werden schon beim Anblick meiner Simpsons-Socken erzittern.“

Ich musste lächeln, doch ich fühlte mich ein wenig unbehaglich. Die Situation war seltsam. Ich wusste so wenig über Kayth, platzte einfach in sein Leben und zwang ihn, es auf den Kopf zu stellen. Immerhin zwang ich ihn gerade, seine Heimat zu verlassen.

Als ich mir durch die Haare fuhr, merkte ich, dass sie blutverkrustet waren. Also schnappte ich mir einen von Kayths Pullis und machte mich auf die Suche nach dem Bad.

„Was wird das?“, rief er mir hinterher.

„Ich gehe duschen und klaue dir einen Pulli“, erwiderte ich und sperrte mich im Bad ein, bevor er sich das Sweatshirt zurückholen konnte. Ich war froh, das Zimmer verlassen zu haben. Hier hing wenigstens nicht dieses unangenehme Schweigen in der Luft.

Das Problem war nicht einmal, dass wir uns kaum kannten, sondern dass wir uns vorkamen, als würden wir uns schon ewig kennen und immer wieder über die Tatsache stolperten, dass es nicht so war.

Ich wusch mir das Blut und den Schmutz aus den roten Locken und schlüpfte in Kayths Sweatshirt, das mir bis zur Mitte der Oberschenkel reichte. Meine Hose war zwar voll von getrocknetem Blut, aber ich konnte wohl schlecht seine klauen, also musste ich meine eigene wieder anziehen.

Schließlich musterte ich mich im Spiegel. Ich hatte schon besser ausgesehen, aber immerhin war ich jetzt sauber. Und das Rot des Pullovers stand mir doch nicht so schlecht, wie ich erwartet hatte.

Es war der Pulli mit dem verwaschenen Aufdruck, den Kayth bei unserer ersten Begegnung angehabt hatte. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht.

Schließlich ging ich wieder in sein Zimmer und setzte mich aufs Bett. Er lächelte mich an.

„Du siehst hübsch aus.“ Er deutete auf den geschlossenen Koffer. „Ich bin so weit. Jetzt müssen wir nur auf meine Mom warten.“

„Okay, erzähl mir etwas über dich“, verlangte er, während er sich neben mich fallen ließ.

Ich zuckte mit den Schultern. „Was willst du denn wissen?“

„Was machst du in deiner Freizeit?“

Ich lächelte verlegen. „Ich habe nie Freizeit.“

„Was würdest du tun, wenn du welche hättest?“

„Äh … Ich weiß nicht. Früher hätte ich wohl Modemagazine durchgeblättert, aber jetzt interessiert mich so was nicht mehr.“

„Du solltest mal mit mir klettern oder joggen gehen“, meinte er. Es gefiel mir, wie beiläufig er das sagte. Wie normal er war. Ich kam mir vor wie jeder andere Teenager auch. Und obwohl ich die versteckte Welt liebte, tat mir diese Portion Normalität echt gut.

„Okay.“

„Weißt du was? Mom und ich haben noch eine Tiefkühlpizza. Wir zwei machen jetzt Pizza und klappern die typischen Erstes-Date-Themen ab.“

Ein Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus. „Das klingt nach einem Plan.“

Evelyn Haring war Superwoman. Anders konnte ich mir nicht erklären, wie sie es bitte geschafft hatte, mit einem Tablett Keksen und einem netten Lächeln die unfreundliche Hauptkommissarin davon zu überzeugen, Lex und Jakir gehen zu lassen.

Ich stand gerade mit den beiden vor Kayths Wohnung, während er sich von seiner Mom verabschiedete.

„Alice McElderry ist jetzt also verliebt“, grinste Lex. „Und?

Hast du interessante Storys für mich?“ Er zwinkerte mir zu.

„Wir haben uns noch nicht mal geküsst, okay?“

„Du warst einen halben Tag mit dem Typen allein und hast ihn nicht geküsst? Wo ist die Alice hin, die betrunken mit mir rumgeknutscht hat?“

„Klappe, Lex.“

Ich hatte es inzwischen aufgegeben, ihn davon abzubringen, mich Alice zu nennen. Für ihn war ich nun mal Alice McElderry und daran ließ sich nichts ändern.

Also warf ich, statt mich bei Lex zu beschweren, Jakir einen besorgten Blick zu.

„Bist du sicher, dass du das schaffst?“

Er hatte sich bereit erklärt, ein Portal zu öffnen, obwohl er nur die Grundlagen der Hexenmagie beherrschte. Ich hatte einmal gesehen, wie er einen Zauber gewirkt hatte. Es war, als hätte es ihn ein Stück seiner Lebenskraft gekostet.

Jakir nickte. „Wir müssen sofort weg hier. Und in Titansvillage kann ich mich ja hinlegen und ein paar Tage schlafen.“

Eigentlich hatte er Recht. Es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Und ich glaubte auch nicht, dass wirklich etwas passieren würde. Aber ein Teil von mir fühlte sich verpflichtet, sich um Jakir zu kümmern. Er half immer jedem und ich wollte sicherstellen, dass ihm auch solche Hilfe zuteil wurde.

Kayth und Evelyn erschienen im Türrahmen. Er drückte sie noch kurz und kam dann auf uns zu.

„Ich will sie spätestens nächsten Monat besuchen“, forderte er.

„Alice, ist dein Freund irgendwie … na ja, ein Muttersöhnchen?“, grinste Lex.

Kayth sah ihn mit seinen verschiedenfarbigen Augen an, eines wütend, das andere eher traurig.

„Lebt deine Mom noch?“

Lex wirkte für einen Moment etwas verwirrt.

„Äh … nein.“

Kayth nickte und wandte sich dann an mich. „Und deine?“

Ich schüttelte den Kopf „Jakir, was ist mit dir?“

„Sie starb vor ein paar Jahren.“

Kayth warf Lex einen eindringlichen Blick zu.

„Siehst du? Deshalb will ich meine Mom so oft sehen, wie ich nur kann. Weil die Eltern von Goldblütern immer sterben. Ich genieße die Zeit, die ich noch mit ihr habe, okay? Und außerdem macht sie klasse Kekse.“

Nae

Mein Blick schweifte im Raum umher. Alles war weiß und blitzeblank poliert. Die Möbel, sogar die Wände. Waren die etwa aus Marmor?

Auf der Mitte des Teetisches stand eine kleine Pflanze, der einzige grüne Fleck im strahlenden Weiß, das mich beinahe blendete.

Arabelle Kingsley sah aus wie eine Märchenprinzessin, die darauf wartete, dass ein Prinz auf einem weißen Pferd sie vor einem Drachen rettete.

Das erste, was mir auffiel, waren ihre weißblonden Haare, die sie zu perfekten Locken gedreht und hochgesteckt trug.

Keine einzige Strähne war verrutscht. Die Farbe wirkte so ebenmäßig und perfekt, dass sie natürlich sein musste, obwohl ich so eine Haarfarbe noch nie gesehen hatte. Sie erinnerte mich an Schnee, der in der Sonne glitzerte.

Arabelles Schminke war ebenfalls perfekt. Sie hatte ihr rundes Gesicht konturiert und ihren Wangen eine leichte Röte verliehen. Augenringe hatte sie nicht mal ansatzweise.

Sie wirkte ziemlich jung, erholt und frei von jeglichen Sorgen. Ich sah ihr an, was für eine Art Mädchen sie war.

Arabelle war reich, verwöhnt und beliebt. Die silberne Rolex an ihrem Handgelenk sprach nicht gerade dagegen, ebenso wenig ihr eindeutig teures fliederfarbenes Kleid und ihre schwarzen High-Heels.

Sie nahm einen Schluck Tee aus einer winzigen, verzierten Tasse, die aus der Geschirrsammlung einer Prinzessin hätte stammen können, und sah mich erst danach an.

Ihre Augen verrieten mir sofort, dass ich Recht gehabt hatte.

Sie waren groß und strahlten eisblau, waren jedoch von einem goldenen Ring umgeben.

Athen ist blau wie Eis mit dem Schimmer der Sonne.

Bingo. Ich hatte die Erbin von Athen gefunden.

„Äh … Hi“, meinte ich unsicher.

Sie schürzte die Lippen. „Du wolltest mit mir reden?“

Ich nickte, woraufhin sie mir einen Platz anbot und mir Tee mit Milch einschenkte. Wie britisch von ihr.

„Sagt dir das Wort 'Titansvillage' etwas?“, fragte ich.

Sie nippte an ihrem Tee. „Ich habe den Begriff ein Mal gehört. Zwei Tage danach sind meine Eltern gestorben.“

„Und mehr weißt du nicht?“

„Wie viel willst du?“

„Was?“

„Wie viel muss ich dir zahlen, damit du mich in Ruhe lässt?“

Ich blinzelte überrascht. „Ähm … Ich will kein Geld.“

„Hör zu: Es sind schon oft Leute wie du hier aufgetaucht und wollten mit mir reden. Aber nachdem ich einen Scheck ausgestellt habe, war es ihnen plötzlich egal. Und die, die nicht gehen wollten … Ich habe Sicherheitsleute.“

Wie lange es wohl dauern würde, bis die uns aus dem Haus kickten? Plötzlich war ich mir nur allzu bewusst, wie schnell die Uhr an der Wand tickte. Die Zeit lief uns davon. Wenn Arabelle nicht mitkam, hatten wir den Krieg praktisch schon verloren.

„Ich möchte dir aber wichtige Sachen über den Tod deiner Eltern erzählen.“

„Ist mir egal. Was sagst du zu zweihunderttausend?“

„Ich will kein Geld.“

„Jeder hat seinen Preis. Und ich kann ihn zahlen. Egal, wie hoch er ist. Nimm das Geld und verschwinde oder ich rufe ein paar Leute, die dich verschwinden lassen.“

Langsam verstand ich, wieso Arabelle unentdeckt geblieben war. Sie log nicht. Zumindest klang sie nicht so. In diesem Haus waren wirklich Leute, die schon Götterkrieger überwältigt hatten.

Reden. Ich musste sie überzeugen, zu ihr durchdringen.

„Geld interessiert mich nicht“, wiederholte ich eindringlich.

„Fünfhunderttausend.“

Ich seufzte. Vielleicht musste ich einfach anfangen, ihr alles zu erklären, egal ob sie zuhören wollte oder nicht.

Also tat ich das. Erzählte ihr vom Krieg. Von antiken Göttern und Titanen. Vom Skia und dem Blut der vier Königreiche. Ich ließ aus, dass sie eine Königsblüterin war, und konzentrierte mich darauf, ihr unsere Welt begreiflich zu machen. Genaugenommen behandelte ich sie, wie Aras jeden Neuankömmling in seinem Büro.

Zu meiner Überraschung unterbrach sie mich nicht. Sie saß einfach da, schwieg und rührte desinteressiert mit einem silbernen Löffel in ihrem Tee.

Als ich fertig war, sah ich sie fragend an. Schließlich hob sie den Blick – und brach in schallendes Gelächter aus.

„Das ist lächerlich“, prustete sie. „Schwerter, Monster, Götter?“

„Du siehst doch die Leute, die ständig hier sind. Bewaffnete Krieger. Ich sage die Wahrheit.“

Arabelle lachte weiter. „Du hast da wohl was falsch verstanden. Ich glaube dir. Ich weiß seit dem Tod meiner Eltern, dass da … was ist. Aber ich will nichts mit Kriegen und Monstern zu tun haben, sondern mein normales Leben leben. Zur Schule gehen. Nach Malibu reisen. Schuhe kaufen.“

Mir fiel auf, dass sie sehr gehoben sprach. Sie kürzte nichts ab und benutze auch nicht das normale londoner Englisch.

Nein, sie klang wie jemand, der dem Buckingham Palace entlaufen war.

Was für eine seltsame Person, dachte ich. Sie versteckte sich hinter ihrem Geld und schaute nicht mal, was dahinter lag.

Und dieses Mädchen wollte ein normales Leben führen?

Offenbar hatte sie keine Ahnung von der Welt, weder der versteckten, noch der gewöhnlichen.

Ich sah sie verwundert an. „Bist du nicht neugierig?“

Arabelle schüttelte den Kopf.

„Ich erzähle dir etwas, ja? Vor zwei Jahren bin ich nach Hause gekommen und habe das Haus verwüstet vorgefunden. Blut klebte an einem Gemälde. Also habe ich mich einfach umgedreht, bin rausgegangen, habe mir ein Hotel gesucht und den Wiederaufbau meiner Villa in Auftrag gegeben. Natürlich haben die Behörden nach mir gesucht.

Aber meine Geldkarte hat sie dazu gebracht, mich sehr schnell zu vergessen. Meine Eltern interessieren mich nicht.

Sie waren nie da. Ich habe sie vielleicht ein Mal alle paar Monate gesehen. Was betrifft es mich, was mit ihnen passiert ist? Ich will mich nicht in eine Welt einmischen, in der Menschen sterben. Mein Leben ist perfekt. Mach es mir nicht kaputt.“

Ich staunte. Arabelle Chloe Kingsley hatte eine Mauer aus Geld um sich herum gebaut, die dem Krieg besser standhielt, als jede Festung.

„Du steckst schon drin, Arabelle. Und die Mauer aus Geld um dich herum bricht zusammen.“

„Ich habe noch mehr als genug Geld, um deine ganze versteckte Welt zu bestechen.“

„Darum geht es nicht. Du bist nicht nur eine einfache Goldblüterin, die man ein- zweimal aufsucht und dann in Ruhe lässt, falls sie nicht kämpfen will. Du bist eine Königsblüterin. Die Leute wollen dein Blut.“

Sie fragte nicht mal, was das bedeutete. Die versteckte Welt hätte ihr nicht egaler sein können.

„Du auch?“, wollte sie stattdessen wissen.

Ich zuckte zusammen. Fieberhaft suchte ich in ihren Augen nach einem Hinweis darauf, welche Antwort sie erwartete.

Die Wahrheit würde ihr vermutlich nicht gefallen. Aber wenn ich log, würde sie es merken.

„Ja, eigentlich schon“, gab ich zu.

Sie nahm einen Schluck Tee. „Du bist ehrlich. Gefällt mir.

Aber meine Antwort lautet nein.“

„Sie werden kommen, Arabelle. Und wenn du nicht auf unserer Seite stehst, musst du auf ihre.“

„Meine Geldkarte regelt das.“

„Mich konntest du auch nicht bestechen“, erinnerte ich sie.

„Eine Million“, sagte sie so beiläufig, als wäre das der Betrag, den sie zusammen mit ein paar Fusseln in der Hosentasche einer alten Jeans fand.

Das war wirklich enorm viel Geld. Aber ich dachte nicht mal eine Sekunde daran, das Angebot anzunehmen. Titansvillage und meine Freunde waren alles für mich. Ich brauchte keinen Luxus. Ich brauchte kleine, gemütliche Hütten, Ramys Duft nach Wald, Xaenyms lautes Lachen und Jannes' Dickköpfigkeit.

Nachdem sie das gesagt hatte, wollte ich Arabelle erst recht überzeugen. Sie tat mir irgendwie leid mit ihrem Geld. Ich wollte ihr zeigen, dass nicht alles käuflich war. Wenn sie hierblieb, weiterhin die Behörden bestach, damit sie sie in Ruhe ließen, und sich eine Rolex nach der anderen kaufte, würde sie irgendwann sehr einsam enden.

„Komm mit, Arabelle. Bitte.“

Sie runzelte die Stirn. Nicht einmal dabei entstanden richtige Falten auf ihrer makellosen Haut.

„Ihr bekämpft euch mit Schwertern. Weißt du, wie komisch das ist? Ihr seid Freaks, okay? Schwerter, Kampf, Krieg, Blut! Was soll das? So läuft die Welt nicht mehr. Wir sind hier im 21. Jahrhundert.“

„Die versteckte Welt läuft so. Und du steckst mittendrin. Du hast nur keine Ahnung.“

„Ich will auch keine Ahnung haben!“

„Ich möchte dir doch nur helfen“, setzte ich an, doch plötzlich stürmte jemand herein. Es war Ramy, ein breites Grinsen auf den Lippen, der sich neben mich setzte und die Beine auf den Tisch legte.

„Hi, ich bin Ramy, der heißeste Typ, der dir je begegnen wird“, begann er und ich fürchtete schon, worauf das hier hinauslaufen würde.

„Und du steckst ziemlich tief in der Scheiße, verstanden?

Wie ich den Vasilias kenne, weiß er schon, dass wir hier sind. Seine Truppen müssten auf dem Weg hierher sein. Ich würde zwar gerne sehen, wie du eine Dracaenae bekämpfst, indem du ihr Geld an den Kopf schmeißt, aber wir brauchen dich lebendig. Wenn der Vasilias dich in die Finger kriegt, war's das. Er nimmt dein Blut und bringt dich um.“

Natürlich hatte Ramy das ganze Gespräch unterm Fenster belauscht. Was hätte ich anderes erwarten können?

Arabelle trommelte gelangweilt mit den hellrosa lackierten Fingernägeln auf dem Tisch.

„Zweimillionen Dollar, wenn ihr sofort verschwindet und niemandem von mir erzählt.“

Ramy grinste breit, stand auf und legte mir eine Hand auf die Schulter. Sein Blick sagte mir, dass er einen Plan hatte und ich einfach mitspielen sollte. Also stand ich ebenfalls auf.

„Wir wollen dein Geld nicht. Du brauchst es noch. Wenn der Vasilias herkommt … Weißt du, wer das ist? Er heißt nicht umsonst der Vasilias statt nur Vasilias. Es ist ein Titel.

Bedeutet 'der König'. Und er lässt niemanden am Leben, der ihm missfällt. Also behalt dein Geld für's Erste. Du willst schließlich bestimmt einen Sarg aus Gold, oder nicht?“, fragte Ramy, während wir zusammen hinausspazierten.

Sobald wir aus der Haustür traten, hob er eine Hand und zählte mit den Fingern die Sekunden runter. Und genau bei null kam Arabelle hinter uns hergestöckelt.

„Wartet!“, rief sie.

Ramy seufzte. „Was ist denn noch, Prinzesschen?“

„Ich komme mit. Gebt mir ein paar Stunden. Ich muss packen.“