9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Tief im Wald, unter der Erde, wartet der Tod. Nach dem preisgekrönten Bestseller «Sturmrot» der zweite Fall für Polizistin Eira Sjödin. In einem verlassenen Haus in den Wäldern von Ångermanland wird ein Mann tot aufgefunden. Er ist verhungert. An seiner linken Hand sind zwei Finger abgetrennt. Weiter nördlich, in der kleinen Bergbaugemeinde Malmberget, wurde ebenfalls ein Mann in einen Keller eingeschlossen und dem Tod überlassen. Die junge Polizistin Eira Sjödin wird zu den Ermittlungen hinzugezogen, denn niemand kennt die Gegend und die Menschen dort besser als sie. Als ein weiterer Mann verschwindet, trifft es Eira persönlich. Um ihn zu finden, ist sie bereit, alles zu riskieren. Wochenlang an der Spitze der schwedischen Bestsellerliste.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 448
Tove Alsterdal
Kriminalroman
Tief im Wald,
unter der Erde,
wartet der Tod.
In einem verlassenen Haus in den Wäldern von Ångermanland wird ein Mann tot aufgefunden. Er ist verhungert. An seiner linken Hand sind zwei Finger abgetrennt.
Weiter nördlich, in der kleinen Bergbaugemeinde Malmberget, wurde ebenfalls ein Mann in einen Keller eingeschlossen und dem Tod überlassen.
Die junge Polizistin Eira Sjödin wird zu den Ermittlungen hinzugezogen, denn niemand kennt die Gegend und die Menschen dort besser als sie.
Als ein weiterer Mann verschwindet, trifft es Eira persönlich.
Um ihn zu finden, ist sie bereit, alles zu riskieren.
Nach dem preisgekrönten Sensationserfolg «Sturmrot» der zweite Fall für Eira Sjödin.
Wochenlang an der Spitze der schwedischen Bestsellerliste.
«Ich will einfach mehr von Eira – so schnell wie möglich.» Skånska Dagbladet
«Tove Alsterdal hat die Fähigkeit, nicht nur einen spannenden Krimi zu schreiben – es gelingt ihr auch, eine ganze Region detailliert zu beschreiben, in der das Leben einzelner Menschen zu einem Faden in einer dicht gewebten gemeinsamen Geschichte wird.» Dagens Nyheter
«Zwei weitere Kriminalromane rund um die Polizistin Eira Sjödin [sind] geplant. Ich freue mich jetzt schon.» Frankfurter Rundschau Online
«Die Polizistin Eira ist eine großartige neue Bekannte, und Alsterdal ist unglaublich geschickt darin, sowohl Milieus als auch die menschliche Psyche zu porträtieren.» Tara
Tove Alsterdal, 1960 in Malmö geboren, zählt zu den renommiertesten schwedischen Spannungsautor:innen, ihre Romane erscheinen in 25 Ländern und wurden vielfach ausgezeichnet. «Sturmrot», der Auftakt ihrer Krimireihe um Polizistin Eira Sjödin, stand wochenlang auf Platz 1 der schwedischen Bestsellerliste. In Deutschland stieg der Roman sofort in die Top 10 der Spiegel-Bestsellerliste ein. Die Filmrechte sicherte sich eine Hollywood-Produktionsfirma.
«Eine der besten Schriftstellerinnen aktuell.» Skånska Dagbladet
Hanna Granz, geboren 1977, hat in Bonn Skandinavistik und Literaturwissenschaften studiert. Seit 2012 arbeitet sie als freie Übersetzerin und hat u.a. Romane von Sofie Sarenbrant, Patrik Svensson und Alex Schulman ins Deutsche übertragen.
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel «Slukhål» im Verlag Lind & Co, Stockholm.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2022
Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Slukhål» Copyright © 2021 by Tove Alsterdal
Redaktion Anja Lademacher
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg
Coverabbildung Johner Images/Getty Images
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-01175-5
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Ein kräftiger Stoß ging in jener Nacht durch das Tiefengestein, ein ungewöhnlich heftiges Grubenbeben, bei dem Betten hochgehoben und Geschirr und Gläser aus den Schränken geschüttelt wurden.
Am folgenden Morgen würde eine alte Dame das Unternehmen anrufen und verlangen, auf der Umsiedlungsliste weiter nach oben gesetzt zu werden. Ein siebenundzwanzigjähriger Familienvater würde das Gleiche tun. Im Garten war das Dreirad seiner Tochter verschwunden. Gestohlen, sollte er zunächst annehmen und sich über Diebe und sozialen Abschaum sowie die wachsende Kriminalität aufregen. Dann sah er den Riss, der sich in seinem Grundstück auftat, und er begriff, dass das Dreirad regelrecht vom Erdboden verschluckt worden war.
Es waren Ereignisse wie diese, die die Menschen dazu bewegten, Malmberget zu verlassen, ohne sich noch einmal umzudrehen, obwohl sie diesen Ort, der einst ihr Ort gewesen war, für immer vermissen würden.
Tommy Oja wurde nicht vom Beben, sondern eine Stunde später vom Klingeln des Telefons geweckt. Eine Tasse schwarzen Kaffee, ein Butterbrot auf die Hand. Es würde noch Stunden dauern, bis die Sonne aufging. Die Scheinwerfer seines Autos erleuchteten die Dunkelheit, die vor ihm lag. Viele der Straßenlaternen waren hier im Laufe des letzten Jahres erloschen, ein Teil von ihnen war abmontiert worden.
Er bog ab und fuhr nach Hermelin hinauf, wo er das Auto vor dem Zaun parkte, der den Erdrutsch absicherte. Ein paar der alten Holzhäuser standen noch, sie würden zu einem späteren Zeitpunkt abtransportiert werden; als Zeugen der jahrhundertealten Geschichte Malmbergets war ihnen ein besonderer Wert zugesprochen worden, und sie sollten woanders wiederaufgebaut werden. Er selbst war in einem Mietshaus aufgewachsen, das bereits vor Jahren abgerissen worden war. Es war, wie es war. Der Zaun rückte näher und die Kindheit verschwand, wurde von dem gewaltigen Loch verschlungen, von der Grube.
Tommy Oja wartete nicht erst die Ankunft des Kollegen ab, der von Gällivare kommen sollte. Er nahm Schlüssel und Kamera und betrat das Haus.
Es ging um eine Versicherungsfrage, deshalb war er aus dem Bett gejagt worden. Falls während des Grubenbebens ein Kaffeeservice zerbrochen oder ein Flachbildschirm heruntergefallen war, musste das Bergbauunternehmen, die LKAB mit Sitz in Luleå, für den Schaden aufkommen und nicht das Unternehmen, für das er arbeitete.
In wenigen Monaten würde die Umzugsfirma sämtliche Wohnungen hier ausräumen und alle Möbel und bewegliche Habe abtransportieren. Anschließend begann die eigentliche Arbeit: Rund um das Haus musste die Erde ausgehoben werden, um Paletten und Stahlträger darunterzuschieben und die Schornsteine zu sichern, damit das Haus an seinen neuen Standort verbracht werden konnte. Dort würden die Leute es wieder genauso einrichten, sodass man kaum einen Unterschied bemerkte, nur dass man statt der wunderschönen Aussicht über Malmberget mit dem Kirchturm und dem Gebirgspanorama nun den Blick auf den Fichtenwald bei Koskullskulle genoss.
Die Leute, die hier gelebt haben, haben Glück gehabt, dachte Tommy Oja, während er durch die Zimmer ging und alles dokumentierte. Sie konnten schließlich ihr Zuhause mitnehmen, oder zumindest einen Teil dessen, was ein Zuhause ausmachte, was auch immer das eigentlich war.
Eine Reihe Bücher war aus einem Regal gefallen. Das Glas eines schwarz-weißen, etwas vergilbten, gerahmten Hochzeitsfotos war gesprungen. Er fotografierte den Schaden und meinte plötzlich, das Hochzeitspaar klagen zu hören, starrte in ihre Gesichter, in denen der Ernst des feierlichen Moments vor etwa hundert Jahren stand. Der Sprung verlief quer über den Hals des Mannes, zersplitterte das Gesicht der Braut.
«Hör auf, Tommy Oja», sagte er laut zu sich selbst. Als Malmberger musste man sich von Sentimentalität freimachen. Man lebte in einem vorübergehenden Zustand und bildete sich auch nichts anderes ein. Weinte nicht über verschwundene Kinos oder Kioske, in denen man seine ersten Hockey-Bilder gekauft hatte. Das Erz musste abgebaut werden, und ohne das Grubenunternehmen würde es hier gar nichts geben, weder den Ort, die Arbeitsstellen noch den Reichtum, auf dem Schweden einst errichtet wurde, nur Rentierweideland und eine unberührte Gebirgslandschaft, was so manchem unten in Stockholm natürlich außerordentlich gefallen würde, Leuten, die in feinen Bars herumsaßen und keinen Gedanken daran verschwendeten, woher ihr Wohlstand eigentlich kam; dass er aus eben jenem Fels gebrochen worden war, der sich in diesem Moment genau unter ihm befand.
Da war es schon wieder. Verdammt.
Er konnte keine Worte ausmachen, sondern nur ein leises Wimmern, als säßen die Stimmen noch in den Wänden.
«Schnauze», brüllte er.
«Mit wem redest du?» Ein Typ stand in der Tür, ein junger Aushilfskollege, den man auf die Schnelle hatte einsetzen müssen, nachdem einer der älteren Mitarbeiter wegen eines Bandscheibenvorfalls krankgeschrieben worden war. Völlig ungelegen. Häuser zu versetzen, war ein prestigeträchtiges Unterfangen, da durfte nichts schiefgehen. Das geringste Ungleichgewicht, und die Wände konnten reißen. Die lokale Presse würde alles genau verfolgen, und die Bewohner Malmbergets würden am Straßenrand stehen.
Wenn der Ort schließlich weggebracht wurde.
«Du bist also doch noch aus dem Bett gekommen», sagte Tommy und trat wieder ins Treppenhaus, um ins Obergeschoss zu gehen.
Der Jüngere blieb stehen.
«Was war das?», fragte er.
«Was denn?»
«Es klang wie ein Tier oder so.»
Tommy Oja kam die Treppe wieder herunter.
«Hörst du es auch?», fragte er.
«Scheiße, da hat jemand seine Katze vergessen, oder?»
Jetzt ging ein Stoß durch die Rohre, ein schwaches Klopfen. Sie standen mucksmäuschenstill und sagten kein Wort. Um sie herum waren Geräusche, dumpf und vage und dann wieder deutlich lauter.
«Der Keller», sagte der Jüngere schließlich, «es muss aus dem Keller kommen.»
Tommy klimperte mit den Schlüsseln, probierte einen aus und dann den nächsten. Die Tür ging auf, eine gewundene Treppe führte in die Dunkelheit hinab, doch dann war Schluss, sie endete vor einer Eisentür mit einem kräftigen Schloss. Hier war kein Laut mehr zu hören, die Geräusche mussten auf anderen Wegen nach oben gedrungen sein, vielleicht durch den Schornstein. Es gab keinen passenden Schlüssel.
«Verdammt», sagte Tommy und drehte sich um. Der Junge folgte ihm dicht auf den Fersen, als sie hinausgingen und das Haus umrundeten. Da war es wieder. Vor einem Kellerfenster ging Tommy auf die Knie und schaltete die Taschenlampe ein. Die Scheibe reflektierte das Licht, sodass es vor den Augen flimmerte.
«Schlag es ein», sagte der Junge.
«Wir können doch hier nichts kaputt machen!»
«Es ist nur ein Fenster», sagte der andere, «was spielt das für eine Rolle?»
Die Jugend, dachte Tommy, während er zum Auto ging, Werkzeug holte und anschließend mit der Rohrzange auf das Fenster einschlug, manchmal hat sie verdammt noch mal recht.
Die letzten Glasscherben fielen auf den Steinfußboden drinnen, dann wurde es still. Tommy dachte noch, sie hätten sich getäuscht, er legte sich bereits Ausreden und Begründungen zurecht, während der Junge nach der Taschenlampe griff und hineinleuchtete. Es waren mehr als zwei Meter bis zum Boden, das wusste Tommy, er war bei allen Berechnungen und Überlegungen mit dabei gewesen, wie man dieses Haus am besten auf Stelzen setzte und anhob. Außerdem war das Fenster zu klein, als dass sich jemand hätte hindurchzwängen können, der auf die Idee kommen könnte, für eine verdammte Katze sein Leben zu riskieren.
Der Junge schrie auf und ließ die Taschenlampe fallen. Wich zurück, krabbelte rückwärts durch den Kies, als hätte er vor, auf dem Hintern nach Gällivare zurückzurutschen. Genau in diesem Moment ging die Sonne über den Bergen auf und brachte das Haar des Jungen wie einen Heiligenschein zum Leuchten.
«Hast du ein Gespenst gesehen, oder was?»
Tommy steckte die Hand durch das zerbrochene Fenster, ließ den Lichtkegel über die Wände gleiten. Es war unheimlich still. Seinen eigenen Puls konnte er hören, und den Jungen, wie er fluchte. Drinnen standen Kisten, zusammengeklappte Plastikstühle. Eine alte Tischtennisplatte, Poster an den Wänden. Dann sah er, wie sich etwas bewegte. Hände hoben sich, um das Gesicht zu schützen. Ein Mensch, halb liegend zusammengekauert, wie ein Tier an eine Wand gedrückt. Alte Kartons und anderes Gerümpel rund um ihn herum.
Tommy starrte, ohne zu begreifen.
Der Junge hinter ihm wimmerte immer noch.
«Klappe», brüllte Tommy.
Jetzt war es wieder deutlich zu hören, das Geräusch, das aus der Ecke zwischen Ziegel und Beton aufstieg, wie ein Pfeil die Luft durchschnitt, es war das Schreien eines eingesperrten Tiers, jenseits alles Menschlichen, aus einer Zeit bevor man Mensch wurde und Worte fand, ähnlich der Panik eines Kindes, wenn es zur Welt kommt. Tommy Oja hatte drei Kinder. Er wusste, wie sie geklungen hatten. Das hier war schlimmer. Er kramte nach dem Handy, seine Finger zitterten, als er die einfache Ziffernkombination eingab und bei der Zentrale in unzusammenhängenden Sätzen Polizei und Krankenwagen für einen Einsatz in der Långa Raden anforderte. Dreimal musste er die Adresse wiederholen, die Leute saßen in Umeå, fünfhundert Kilometer weiter südlich, was wussten die von Straßen in Malmberget.
Dann kroch er wieder zum Kellerfenster, leuchtete sich mit der Taschenlampe selbst ins Gesicht, statt den Menschen drinnen zu blenden.
«Sie kommen gleich», rief er in die Dunkelheit, ohne eine Antwort zu bekommen.
Oktober
Eira Sjödin war gerade dabei, Kaffeetassen in Handtücher einzuwickeln, als ihre Mutter den ersten Karton schon wieder auspackte.
«Was machst du denn da, Mama?»
«Ich glaube, das brauche ich nicht.»
«Du hast aber doch selber gesagt, dass du die Bücher mitnehmen willst.»
Kerstin Sjödin stellte ein paar von ihnen in die Lücken zurück, die andere Bücher, die sie kurz zuvor ausgewählt hatten, im Regal hinterlassen hatten.
«Es wird nichts draus», sagte sie, «ich finde das Ganze völlig überflüssig. Ich wohne hier doch so günstig. Zweitausend Kronen im Monat.»
Eira ließ sich auf einen Stuhl fallen. Sie war vollkommen erledigt. Diese Prozedur zog sich nun schon eine Woche hin. Der Schmerz, der darin lag, Dinge aus einem ganzen Leben auszuwählen, der Versuch, es auf ein Zimmer von achtzehn Quadratmetern einzudampfen.
Dreißigmal, mindestens, hatte sie ihre Mutter schon davon überzeugen können, ins Seniorenheim zu ziehen, und am nächsten Tag hatte sie es wieder vergessen, manchmal sogar schon Minuten später. Eira merkte sich, was Kerstin auspackte, um es hinterher wieder einpacken zu können, am Abend, wenn ihre Mutter schlief.
«Welche Bilder magst du denn am liebsten?»
Weiße Flächen blieben zurück, wo jahrzehntelang die Rahmen gewesen waren. Der Kupferstich mit den schwarzen Strichen, die den Fluss darstellten, aus einer Zeit, als sich die Baumstämme im Wasser stauten und aufrichteten, sowie eine gerahmte Kinderzeichnung, die ihr Bruder angefertigt hatte, als Eira noch gar nicht auf der Welt gewesen war. Mutter, Vater, Kind und eine Sonne, die gelb über ihnen strahlte.
Und dann die Vorhänge. Von einem zweigeschossigen Haus auf ein einziges Fenster reduziert. Und die Kleidung. Elegante Blusen zu bügeln, gehört wahrscheinlich nicht zu den Aufgaben der kommunalen Altenpflege, dachte Eira, als sie sah, was Kerstin wieder ausgepackt hatte, nach all den Mühen des Überredens am Vortag hatte Eira sie sorgfältig gefaltet, jetzt sollte alles wieder auf die Kleiderbügel zurück. Kerstin war immer noch jung, gerade mal etwas über siebzig gewesen, als sie an Demenz erkrankt war. Eira hatte gesehen, wie alt die anderen Bewohnerinnen im Heim waren, und überlegte, wie lange es wohl dauern würde, bis ihre stets elegant gekleidete Mutter ein Leben in Jogginghose akzeptieren würde, einen Rock mit Gummizug vielleicht, wenn sie Besuch erwartete.
Sie hatten nur eine Woche, dann würde der Platz an jemand anderes vergeben, dennoch nahm Eira ab, als ihr Handy klingelte, dennoch konnte sie nicht nein sagen.
«Wie geht’s?», fragte August Engelhardt, als er sie eine Viertelstunde später mit dem Streifenwagen abholte.
«Gut», sagte Eira.
August musterte sie von der Seite, und während er auf die Straße fuhr, lächelte er auf eine Weise, die über das Kollegiale hinausging.
«Hab ich schon gesagt, dass es schön ist, wieder hier zu sein?», fragte er.
August Engelhardt war fünf Jahre jünger als sie, nach wie vor ein Frischling im Polizeidienst und nach einem längeren Vertretungseinsatz in Trollhättan wieder zurück in Kramfors. Wahrscheinlich probierte er verschiedene Gegenden des Landes aus, um zu sehen, was sie jeweils zu bieten hatten.
«Wohin fahren wir?», fragte Eira.
«Es geht um einen Vermisstenfall. Ein Mann mittleren Alters aus Nyland. Soweit wir sehen konnten, gibt es da keinen kriminellen Hintergrund.»
«Wer hat ihn vermisst gemeldet?»
«Die Exfrau. Die Tochter studiert in Luleå und hat irgendwann ihre Mutter angerufen, weil sie sich Sorgen gemacht hat. Er ist seit drei Wochen verschwunden.»
Eira schloss einen Moment die Augen. Dennoch sah sie die Straße vor sich. Sie dachte an die Kommode, ein Erbstück – würde es zu voll werden im Zimmer? Vielleicht mussten sie bald mit dem Rollstuhl in diesem Zimmer rangieren, es konnte so furchtbar schnell gehen.
Der Vermisste lebte in einer Eigentumswohnung gleich hinter dem ICA-Markt Rosen in Nyland. Sie parkten neben einer Reihe zweistöckiger Wohnhäuser, wie es sie überall im Land gab, anonym, aber gepflegt. Der Hausmeister, der sie reinlassen sollte, war spät dran, aber die Exfrau wartete bereits vor der Haustür. Anorak und weißes Brillengestell, wie es in diesem Jahr in war, eine perfekt gestylte Kurzhaarfrisur.
«Seit drei Wochen hat niemand mehr etwas von ihm gehört», sagte Cecilia Runne. «Hasse kann echt ein Blödmann sein, aber bei seinen Jobs ist er immer sehr gewissenhaft.»
«Was macht er denn?»
«Eigentlich ist er Schauspieler, aber um Geld zu verdienen, macht er auch alles Mögliche andere. Kleinere Bauarbeiten, vielleicht auch mobiler Pflegedienst, ich weiß es nicht genau. Letzte Woche hätte er in Umeå eine Rolle übernehmen sollen, das meinte unsere Tochter zumindest. Was Geld angeht, ist Hasse ein hoffnungsloser Fall, aber er würde niemals einen Job sausenlassen. Nicht nach den Erfahrungen des letzten Jahres, als er sieben Monate lang keinen einzigen Auftrag hatte.»
Das Virus, das die ganze Welt so schwer getroffen hatte, die Kulturschaffenden, die älteren Leute. Auch der Umzug ihrer Mutter ins Seniorenheim war wegen dieses Elends immer wieder verschoben worden, bis die Situation zu Hause einfach nicht mehr tragbar gewesen war.
August notierte sich die Aussagen der Exfrau.
Wann hatte zuletzt jemand etwas von Hans Runne gehört, mit wem hatte er zu tun, hatte er in der Vergangenheit psychische Probleme gehabt, ein Alkoholproblem?
«Gab es eine neue Frau in seinem Leben?»
«Nein, ich glaube nicht», antwortete Cecilia Runne, vielleicht ein bisschen zu schnell. «Zumindest nicht, soweit ich weiß.» Ihr Blick schweifte über den Innenhof, die Wiese war von Laub bedeckt, vor einem Eingang stand ein Rollator.
Ein erwachsener Mann, der nicht zur Arbeit erschien und nicht an sein Handy ging, war kein dringender Fall, kaum überhaupt eine Angelegenheit für die Polizei. Sie nahmen die Anzeige entgegen, halfen, Zutritt zur Wohnung zu bekommen, schlimmstenfalls fanden sie ihn drinnen tot auf.
Es war das Wahrscheinlichste. Herzinfarkt, Schlaganfall und so weiter. Selbstmord. Oder er hatte eine Midlife-Crisis und war ins Fjäll ausgewandert, was ebenfalls kein Verbrechen war.
«Hauptsache, er liegt nicht da drinnen», sagte die Frau, und jetzt war ihr die Beunruhigung deutlich anzuhören, «in letzter Zeit häuft sich so etwas ja. Leute, die wochenlang in ihrer Wohnung gelegen haben, ein Bekannter und dann noch ein paar, von denen man gelesen hat. Wie soll Paloma mit so etwas zurechtkommen?»
«Paloma?»
«Unsere Tochter. Sie hat immer wieder versucht ihn anzurufen und wollte schon von Umeå hier runterkommen, obwohl sie gerade Prüfungen hat. Ich habe ihr gesagt, dass ich mich darum kümmere. Ich habe ihr eine Antwort versprochen.»
Der Hausmeister kam und ließ sie rein, Hans Runne wohnte im zweiten Stock. Sie stiegen über weiße Briefumschläge und Werbeprospekte, nahmen den Geruch von altem Hausmüll wahr – oder roch es nach etwas anderem? Der Flur führte direkt in die Küche. Ein paar Tassen und Gläser im Spülbecken, Weinflaschen auf der Arbeitsfläche. Der Gestank kam tatsächlich von den Müllbeuteln unter der Spüle.
«Er trinkt vielleicht ein bisschen zu viel», sagte die Exfrau hinter ihnen. «Kann sein, dass es damit nach unserer Scheidung schlimmer geworden ist, das kann ich nicht beurteilen.»
Im Wohnzimmer war er ebenfalls nicht, auch hier standen Flaschen und Gläser herum, ein riesiger Fernsehbildschirm. Die Tür zum Schlafzimmer war geschlossen.
«Sie warten vielleicht lieber im Flur», sagte Eira.
Die Frau schlug sich die Hand vor den Mund, wich mit schreckgeweiteten Augen ins Wohnzimmer zurück. August stieß die Tür auf.
Sie atmeten gleichzeitig auf.
Das Bett war nicht gemacht, Kissen und Decke lagen wild durcheinander, aber es war niemand dort. Sie gingen gleichzeitig in die Hocke, um auch unterm Bett nachzusehen. Keine Anzeichen, dass etwas nicht stimmte. Lediglich ein Mann, der sein Bett nicht machte. Der vor dem Einschlafen die Tagebuchaufzeichnungen von Ulf Lundell las, ein dickes Buch auf dem Nachttisch, und der Beißschiene nach zu urteilen, die in einer offenen Plastikhülle lag, im Schlaf mit den Zähnen knirschte. Die Luft schien hier drinnen seit mehr oder weniger drei Wochen stillzustehen, es war stickig, aber nicht sehr unangenehm.
Cecilia Runne hatte sich auf einen Stuhl in der Küche gesetzt.
«Das kann er doch nicht machen, einfach seine Tochter verlassen», sagte sie, als Eira und August wieder zu ihr traten. «Und ich muss mich um alles kümmern. Das ist so typisch Hasse, viele Worte, aber wenn es um Verantwortung für andere geht …»
«Seit wann leben Sie getrennt?», fragte Eira und öffnete den Kühlschrank, hörte die Frau etwas von drei Jahren sagen und dass sie ihn verlassen habe.
Milch, die vor einer Woche abgelaufen war, an den Rändern eingetrockneter Schinken. Wenn Hasse Runne freiwillig verschwunden war, dann kaum geplant.
Cecilia Runne begann zu weinen, leise und beherrscht.
«Ich bin so wütend auf ihn gewesen», sagte sie, «und jetzt ist es zu spät.»
Eira sah, wie August die Gratiszeitungen im Flur hochhob und schaute, von wann sie waren.
«Das wissen wir nicht», sagte Eira. «Es ist noch viel zu früh, um irgendetwas zu sagen.»
Fanom und Skadom und Undrom. Solche Dörfer gab es überall in den Wäldern um Sollefteå, lauter unverständliche Namen. Tone Elvin drosselte das Tempo auf dreißig, als sie die Ortseinfahrt nach Arlum och Stöndar passierte. Hier war sie bisher noch nie abgebogen. Das Dorf hieß laut Karte wirklich so, als hätten sich einst zwei Dörfer vereint und wären zu einem Ort verschmolzen. Warum, wusste sie nicht, ebenso wenig wie sie etwas über die Menschen wusste, die in Arlum och Stöndar lebten, sie fuhr lediglich hindurch. Ein paar Häuser zu beiden Seiten der schmalen Straße. Das ein oder andere stand sicherlich leer, aber keines davon war verfallen genug, um ihr Interesse zu wecken. Sie fuhr weiter in Richtung der alten Eisenfabrik und bekam Herzklopfen, als sie an Offer vorbeikam.
Offer – Opfer – wie düster und gleichzeitig schön der Ortsname klang.
Es waren die vergessenen Pfade, die sie suchte. Straßen, die die Menschen vor vielleicht fünfzig oder hundert Jahren benutzt und anschließend ihrem Schicksal überlassen hatten.
Als sie einen überwucherten Waldweg entdeckte, hielt sie an und hängte sich ihre Kamera um, eine alte Leica.
Der Wald schloss sich dicht um sie. Ein Septembergeruch nach Erde und gesättigter Natur, Tod, der auf das Leben folgt, und Auferstehung. Ein Rabe flog auf und segelte hoch über ihr, ein weiterer gesellte sich zu ihm. Sie folgten den Bären, das hatte sie irgendwo gelesen, und wieder klopfte ihr das Herz. Wie war das noch, sollte man einem Bären in die Augen sehen, wenn man ihm begegnete, oder nicht?
Glühende Herbstfarben folgten auf das beständige Dunkel der Fichten, da war eine Lichtung, ein ehemaliger Garten mit Laubbäumen und Sträuchern, da stand wirklich ein verlassenes Haus. Tone schnappte nach Luft, das war großartig, genau das, was sie gesucht hatte. Die Farbe war überall abgeblättert und die Fassade schimmerte grau. Sie richtete ihre Kamera aus und watete durch das hohe Gras. Fing die Vergangenheit im Sucher ein, die Trauer über verlorene Zeiten. Im Laub spielte die Sonne, brachte die Spinnweben zum Glitzern.
Die Raben landeten.
Das war beinahe zu viel. Die schwarzen Vögel wie Unglücksboten im schönen, immer noch satten Grün vor der heruntergekommenen Fassade. Einer von ihnen stolzierte am gesprungenen Steinfundament entlang, ein anderer ließ sich auf einem Zweig nieder. Tone wich vorsichtig zurück, die Kamera im Anschlag. Stieß einen Schrei aus, um sie zum Auffliegen zu bewegen und auch das fotografieren zu können. Die schwarzen Flügelschläge.
Sie legte einen neuen Film ein, fummelte und wurde nervös, sie musste alles einfangen, bevor das Tageslicht verschwand. Vergessenes, könnte sie die Ausstellung vielleicht nennen, oder Was fehlt. Eine Freundin, die als Psychologin arbeitete, hatte ihr gesagt, sie müsse sich mit der Trauer auseinandersetzen, mit der Tatsache, dass nur noch sie übrig war, aber sie wollte noch darüber hinausgehen, würde ihre Trauer gestalten, in Schwarz-Weiß, in all ihren Grautönen. Es würde ihr ganz persönliches Projekt werden, das sie wieder zu dem zurückbringen konnte, was sie am meisten liebte: die Fotografie.
Keine Schichten mehr im ambulanten Pflegedienst, um die Miete bezahlen zu können.
Die Holzplanken vor der Haustür waren morsch und Unkraut wucherte in den Ritzen, sie trat dicht heran, damit die Maserung und alle Nuancen sichtbar wären, Reste von Malerfarbe, Holz, das in verschiedenen Schichten gealtert war, all die Jahre, die Leben, die hier vergangen waren.
Tone probierte die Klinke, geschmiedetes Eisen. Die Tür war nicht abgeschlossen, sie ging erstaunlich leicht auf.
Diese Stille. Sonne, die durch staubige Fenster drang und den Raum mit ihren schräg einfallenden Strahlen in den verschiedensten Goldtönen füllte, Licht, das einen Rembrandt neidisch gemacht hätte. In der Ecke standen noch ein paar kaputte Stühle. Tone platzierte einen davon mitten im Zimmer, erstaunlicherweise blieb er stehen, obwohl ihm ein Bein fehlte, sie fotografierte aus unterschiedlichen Winkeln, fügte einen zerbrochenen Schemel hinzu, und plötzlich entstand da ein Drama, vielleicht ein Streit vor langer Zeit, einer war abgehauen, ein anderer geblieben; sie drehte den Stuhl, und die Stimmung veränderte sich. Das Licht sank mit jeder Belichtung ein wenig, es wurde Abend. Tone warf einen Blick ins nächste Zimmer.
Ein altes Bettgestell aus Eisen, eine zerrissene und ziemlich hässliche Rosshaarmatratze. Sie schoss ein paar Fotos, bei denen ihr nicht wohl war. Das Zimmer ging nach Norden, da gab es keine Schatten, nur Dunkelheit. Sie trat auf eine Holzplanke, die laut knarrte, und dachte an die Toten, Gewaltszenen entstanden in ihrem Kopf. Draußen schrie ein Rabe. Das Haus war auf der Hut, es knackte und keuchte und trieb sie wieder hinaus.
Alles Einbildung, dachte sie, als sie wieder im Freien stand. Die Sonne war hinter den Bäumen versunken, und die Kälte fühlte sich rauer an. Das sind nur Geräusche, wie altes Holz sie eben macht, dachte sie, vielleicht hausen Schwalben unterm Dach, und in den Wänden leben natürlich Mäuse.
Echte Kunst verlangte, dass man in seine eigene Angst eintauchte, sich dem stellte, was wehtat. Das war es, was sie in ihren Bildern vermitteln musste.
Nur nicht jetzt, dachte sie und bahnte sich einen Weg durch Espen und Birken, in die Richtung, von der sie annahm, dass sich dort der Pfad befand, auch wenn er jetzt nicht mehr zu sehen war.
Und dann war alles an seinem Platz. Die Kommode und das Bücherregal und all das andere, das so abgenutzt und alt aussah vor den weißen Wänden und dem höhenverstellbaren Stahlrohrbett, Modell Krankenhaus. Eira hängte noch die Gardinen auf, obwohl sie eigentlich schon zur Arbeit musste. Sie konnte ihre Mutter nicht im Chaos zurücklassen, es musste fertig und gemütlich sein, ihre Mutter sollte sich zu Hause fühlen.
Wenigstens ein bisschen.
«Ich helfe dir morgen mit den Büchern», sagte Eira und packte die letzten Gläser aus. Jeweils vier Stück, in der Hoffnung auf Besuch. Es wurde eng in dem einzigen Schrank.
«Lass mal, das schaffe ich schon allein», sagte Kerstin, «du weißt ja gar nicht, wie man systematisiert.»
Die Bibliothekarin in ihr war das Letzte, was aufgab.
Das Zeitgefühl hier drinnen war ein anderes. Langsameres. Es kam Eira unverschämt vor, so zu hetzen, vielleicht sogar unmenschlich, aber sie musste.
«Du wirst es gut haben hier.»
Sie umarmte ihre Mutter zum Abschied. Das taten sie nur selten.
«Ach, was weiß ich», erwiderte Kerstin.
Die Herbstluft draußen, hoch und klar. Eira blieb kurz stehen, um durchzuatmen. Es gab einen Spazierweg zum Fluss hinunter, ein paar Terrassen, die Möbel waren noch nicht hineingebracht worden. Den Prognosen nach sollte es im Oktober noch ein paar warme Tage geben. Es würde schon gut werden, oder?
Sie fuhr mit dem gemieteten Transporter zur Dienststelle, würde wohl für einen weiteren Tag bezahlen müssen.
Vor dem Eingang des Polizeigebäudes stand eine junge Frau und wirkte ein wenig verloren.
«Suchen Sie jemanden?», fragte Eira, während sie die Tür mit ihrer Karte öffnete und den Code eingab.
«Ja, aber …»
Eira blieb mit einem Bein im Flur stehen.
«Wollen Sie Anzeige erstatten oder so?»
«Vielleicht war es falsch hierherzukommen.» Ihre Stimme war zart wie Libellenflügel, die Haare gebleicht. Ein Piercing in der Unterlippe.
«Ich bin Polizistin, Sie können mit mir sprechen. Ist Ihnen etwas zugestoßen?»
«Es geht nicht um mich.» Die junge Frau berührte mit den Fingern ihr Haar, sie legte es weder zurecht, noch war es durcheinander. «Es geht um meinen Vater. Wir haben schon Anzeige erstattet, und meine Mutter sagt, mehr könnten wir nicht tun, aber irgendetwas muss man doch tun können?»
«Wollen Sie mit reinkommen?»
Erst nachdem Eira sie gebeten hatte, auf einer der Bänke Platz zu nehmen, in diesem Raum, der einmal die Rezeption gewesen war, als es noch feste Öffnungszeiten gegeben hatte, fiel ihr ein, nach ihrem Namen zu fragen.
Paloma Runne.
So einen Namen vergaß man nicht, er erzeugte Melodien im Kopf, ein kitschiger Song von früher. Una paloma blanca …
«Ich war dabei, als wir letzte Woche in die Wohnung Ihres Vaters gegangen sind», sagte Eira.
«Da habe ich ja Glück. Ich wollte mit einem von Ihnen sprechen, denn am Telefon heißt es immer nur, Sie könnten nichts sagen und bla, bla, bla.»
«Möchten Sie einen Kaffee? Ein Glas Wasser?»
Paloma nickte, und Eira nutzte die Gelegenheit, um sie kurz allein zu lassen, hochzulaufen und zu warten, bis die Maschine die Kaffeebohnen gemahlen hatte. Sie brauchte Zeit, um nachzudenken.
Hans Runne.
Wie weit waren sie damit eigentlich gekommen? Sie hatte Überstunden abgefeiert, um den Umzug zu organisieren, und seit Tagen nicht mehr an den Vermissten gedacht.
Das ist doch nur gesund, würden andere Leute sagen, man muss die Arbeit loslassen können und sich auf das Wesentliche im Leben konzentrieren: seine Lieben. Eira fand das eher bedrückend, als würde einem insgeheim unterstellt, man kümmere sich andernfalls nicht genug um diese seine Lieben.
Als sie mit den Kaffeebechern zurücklief, begegnete sie August.
«Wie ist es eigentlich mit dem Vermissten aus Nyland weitergegangen?», fragte sie.
«Keine Ahnung – er wird wohl weiter vermisst?»
«Seine Tochter wartet unten.»
August blickte sie vage an, dann drehte er sich zu seinem Bildschirm um. Die Listen des Handyanbieters waren ein paar Tage zuvor eingetroffen, ebenso die Kontoauszüge. Es war keine Selbstverständlichkeit, diese anzufordern, denn bisher hatten sie ja nichts gefunden, was auf ein Verbrechen hindeutete. Dennoch hatten sie es getan. Eira erinnerte sich an ihr Gefühl beim Verlassen der Wohnung. Wie der Adrenalinspiegel wieder gesunken war, eine dumpfe Ahnung, es könnte sich nur um Selbstmord oder um einen Unfall handeln. Natürlich konnte Hans Runne auch mit einer Geliebten nach Mauritius durchgebrannt sein, doch die meisten Erwachsenen hätten vorher wenigstens noch den Müll runtergebracht. Wenn er auf den Fluss hinausgeschwommen war oder sich mit einer Waffe in die Wälder begeben hatte, konnte es lange dauern, bis seine Leiche gefunden wurde, wenn überhaupt.
Und dennoch hatte etwas sie gestört, hatte sie das Gefühl gehabt, dass da etwas nicht passte.
War die Wohnung nicht ein bisschen zu unaufgeräumt gewesen, und gleichzeitig nicht chaotisch genug? Sie hatte den Eindruck gehabt, jemand hätte in Eile seine Wohnung verlassen, aber nicht in der Absicht, nicht wiederzukehren.
Intern war eine Fahndung rausgegangen. Das würde ihnen zwar kaum dabei helfen, den Mann zu finden, vereinfachte jedoch die notwendigen Schritte, falls seine Leiche auftauchte.
«Ich habe vergessen zu fragen, ob Sie Milch möchten», sagte Eira und stellte die Becher auf den Tisch. Ein Kaffee war schwarz, der andere milchig beige. Paloma Runne nahm sich Letzteren.
«Danke.»
«Es tut mir leid, aber viel kann ich Ihnen nicht sagen.»
Eira legte die Unterlagen auf den Tisch, die sie im Vorbeigehen aus dem Drucker gezogen hatte.
Die letzten Anrufe, von Mitte September. Das war jetzt vier Wochen her. Paloma deutete auf ihre eigene Nummer, zwei Tage bevor Hans Runnes Handy verstummt war.
«Er klang gut gelaunt, beinahe überdreht, so ist er manchmal, er hatte keine Zeit zu telefonieren, aber wir wollten uns ja auch bald treffen, jetzt am Wochenende, er wollte für einen Dreh nach Umeå, ich sollte mit dem Bus nachkommen, und er wollte einen Tisch im Le Garage reservieren. So was schlägt man doch nicht vor, wenn man plant, sich das Leben zu nehmen, oder?»
Oder gerade dann, dachte Eira, weil man seine letzten Tage wie auf parallelen Gleisen verbringt, einem, auf dem alles gut wird, und einem, das direkt in den Abgrund führt. Vielleicht hatte Runne sich aber auch schon entschieden, als er das letzte Mal mit seiner Tochter telefoniert hatte, vielleicht war es genau das, was er ihr geben wollte: die Aussicht auf ein schönes gemeinsames Abendessen in einem der angesagtesten Restaurants in Umeå.
«Vielleicht wollte er Sie nicht beunruhigen», sagte Eira vorsichtig.
«Ich glaube es trotzdem nicht», sagte Paloma Runne. «Mein Papa war nicht so.»
Sie verbesserte sich schnell.
«Ist nicht so.»
«Was meinen Sie mit so?»
«Depressiv. Einer, der aufgibt. Er ist meistens gut drauf, obwohl es mit seiner Arbeit oft schwierig war, und mit der Scheidung natürlich, die hat er nicht gut weggesteckt …»
«Sagt Ihnen eine der anderen Telefonnummern etwas?»
«Mein Patenonkel», sagte Paloma nach einer Weile und zeigte auf eine Nummer. Vier Tage vor dem Verschwinden. «Ein alter Freund von meinem Vater.»
«Haben Sie mit ihm gesprochen?»
«Er sagt, Hasse sei bestens gelaunt gewesen, habe mehrere Jobs in Aussicht gehabt und Frauen kennengelernt, mit denen er sich traf. Er schien wieder raus aus dem Tief, als wäre das Leben ein einziges Fest, so ungefähr.»
Eira erklärte ihr, was August zu den anderen Nummern herausgefunden hatte, der letzte Anruf war an ein Breitbandunternehmen gegangen, der vorletzte an einen Malerbetrieb.
«Können Sie das Handy denn nicht orten?»
«Leider ist es, soweit wir das sehen können, seit mehreren Wochen nicht mehr benutzt worden.»
«Aber dann muss ihm tatsächlich was passiert sein, das ist doch offensichtlich!»
«Er könnte es ausgeschaltet oder verloren haben …»
«Niemand schaltet ja wohl sein Handy aus.»
Was sollte sie ihr sagen? Doch, es kommt vor, dass Menschen verschwinden, nicht mehr erreichbar sein wollen, sich ins Schweigen verabschieden.
Das letzte Signal war in Härnösand aufgefangen worden. Von seiner Wohnung in Nyland bis Härnösand waren es sechzig Kilometer, eine Strecke, auf der sich der Ångermanälven immer weiter ausdehnte, bis er mit seinen Strömungen und atemberaubenden Untiefen das endlose Bottenmeer erreichte.
Wo also sollten sie suchen?
Eira schob die Anruflisten wieder zusammen. Sein Konto war so gut wie leer, die Überziehungskredite ausgereizt, Hans Runne hatte es sich gut gehen lassen in den Kneipen von Härnösand, und auch einiges in Internet-Casinos verzockt, allerdings keine hohen Summen. In den letzten vier Wochen hatte er weder seine Karte benutzt noch aktiv Zahlungen getätigt.
Weiter hatte sich niemand in den Fall hineingekniet, was kein Versäumnis war, genau genommen hatten sie schon sehr viel getan. Das hier war eine Grauzone, was man einer jungen Frau, die den Tränen nahe war, nicht so leicht vermitteln konnte. Jetzt hielt sie ihr Handy hoch, zeigte Eira Fotos.
«Hier hat er den Hamlet gespielt … Er war kein schlechter Schauspieler, er hatte nur immer wieder Pech, und vielleicht lag es auch daran, dass er wieder hierhergezogen ist, aber er hatte ein paar kleinere Fernsehrollen, vielleicht haben Sie ihn sogar mal gesehen. Erinnern Sie sich an den Skärgårds-Doktor? Da hat er in einer Folge mitgespielt.»
«Verstehe, aber …»
«Ich möchte nur, dass Sie ihn als den Menschen sehen, der er ist.» Weitere Rollen flatterten vorbei, Mittsommerfeste, ein Weihnachtsabend, er lachte, eine Wichtelmütze auf dem Kopf. «Es kann nicht sein, dass ein Mensch einfach vom Erdboden verschwindet, und nichts passiert. Als hätte es ihn nie gegeben, als würde es niemanden kümmern.»
«Haben Sie jemanden, mit dem Sie reden können?», fragte Eira.
«Ich bin doch wohl hier nicht das Problem?»
Eiras Handy klingelte, sie hörte rasche Schritte von oben, ein Alarm, sie würden irgendwo hinfahren müssen.
«Ich werde sehen, was ich tun kann.»
Endlich hatte sie Zeit, die Dunkelkammer einzurichten. Niemand mehr, der an die Badezimmertür klopfte, weil er duschen wollte oder der brüllte, dass er auf die Toilette müsse. Die beiden Studenten, an die Tone das große Schlafzimmer vermietet hatte, waren übers Wochenende zu ihren Eltern gefahren.
Für zwei wunderbare Tage hatte sie die Wohnung für sich allein.
Dennoch hängte sie zunächst die Wäsche ab. Warf die herumliegenden Bücher der Studenten in deren Zimmer und kaufte Fertigsuppen für zwei Tage, während die Angst vor dem Moment wuchs, in dem die Bilder im Entwicklerbad sichtbar wurden. Vielleicht hatte sie sich mit dem Licht oder der Belichtung vertan, oder es war ihr ganz einfach nicht gelungen, einzufangen, was sie in dem verlassenen Haus so unmittelbar und stark empfunden hatte. Das Verstreichen der Zeit, Wehmut, Dinge, die man nicht sehen konnte.
Sie hatte sich verflucht, weil sie das Risiko eingegangen war, analoge Filme zu benutzen, doch es war eine künstlerische Entscheidung gewesen, dazu musste sie stehen.
Echtheit. Qualität. Die alte Leica ihres Vaters, sein Lieblingsstück in der Sammlung. Wenn sie sie benutzte, konnte sie seine Hände auf ihren eigenen spüren wie in ihrer Kindheit, seine Stimme, die einer Fünfjährigen das Verhältnis zwischen Blende und Verschlusszeiten erklärte. Tone konnte sich nicht erinnern, dass ihr Vater je die Kamera auf sie gerichtet hätte. Sie war nicht das Motiv, er wollte ihr beibringen zu sehen. Um ehrlich zu sein, war er kein besonders guter Fotograf gewesen, hatte niemals ernsthaft etwas aus seinen Träumen gemacht. In seinen letzten Jahren hatte er Versicherungen verkauft. Welcher Künstler jagt nicht seinem Vater hinterher, dachte sie und hob das Vergrößerungsgerät auf die Waschmaschine. Sie schloss die Badezimmertür ab, um jeden noch so kleinen Lichtschein auszusperren.
Im Dunkeln legte sie die Filme in die Entwicklungsdose und gab die Chemikalien hinein. Als der Timer schrillte, fügte sie das Fixiermittel hinzu, anschließend wässerte sie die Fotos und wagte es dann endlich, Licht zu machen. Fensterleder, das hatte ihr Vater ihr beigebracht, um die Negative nach dem Wässern vorsichtig zu trocknen. Tone schaltete den Föhn ein, damit es schneller ging.
Das magische Gefühl war geblieben, seit sie in ihrer Kindheit die negative Welt das erste Mal erblickt hatte. Eine Welt, die sich nur ihr allein zeigte, die aber vielleicht die wahre war, in der Raben weiß vor einer schwarzen Fassade flatterten. Was war Licht und was Dunkel. Gut und Böse, Wahrheit und Lüge, alles, was sie um sich herum sah, barg zugleich auch sein Gegenteil in sich.
Tone betrachtete die Streifen unter der Lupe, holte Fotopapier und bereitete die Schalen vor. Die Zeit stand still. Es konnte Abend sein oder Nacht. Sie spürte weder Hunger noch Nervosität, keine Sehnsucht, die weiter reichte als bis zum nächsten Bild.
Einer der Raben, eingefangen in der Bewegung des Landens. Perfekte Diagonalen vor der heruntergekommenen Fassade, genau dort, wo ein Riss durch die Grundmauer lief, schwarze Flügel neben einem Kellerfenster. Und dort, mittendrin, ein weißer Fleck. Verdammt. Hoffentlich war es kein Schmutz auf der Linse, dann konnte sie die ganze Serie vergessen. Tone fixierte das Bild, trocknete es schnell und zog die Lupe hervor.
Allein der Gedanke daran, dass sie etwas retuschieren musste, ärgerte sie. Plötzlich nahm sie den scharfen Geruch der Chemikalien wahr und den Kopfschmerz, den sie jedes Mal auslösten. Sie wollte der Wahrheit nahekommen, sie nicht verwässern.
Unter dem Vergrößerungsglas nahm der Fleck Form an. Es war kein Schmutz, kein Lichtreflex, da war wirklich etwas.
Eine Hand.
Tone fielen die Geräusche wieder ein, die sie zu hören gemeint hatte, die Ahnung von etwas Unheimlichem. Sie rieb sich die Augen, schluckte und beugte sich erneut über die Lupe.
Die Schärfe der Leica war unübertroffen, in diesem Punkt hatte ihr Vater recht gehabt. Sie stellte jede Kontur dar. Überließ nichts dem Zweifel.
Die Hand griff durchs Fenster ins Gras, dorthin, wo die Raben landeten.
Sie wühlte in den Negativen, suchte zitternd ein etwas späteres Bild, einen Moment ganz kurz danach. Vierzehn Sekunden, Blende acht. Die Dunkelheit pochte in ihr. Die Sekunden, in denen es abkühlte, die Minuten, bis das Bild im Bad schwamm.
Das Kellerfenster wurde vom Licht getroffen. Der schwarze Vogel stelzte über die Wiese.
Die Hand war fort.
Die letzten Kunden an diesem Abend schoben ihre vollbeladenen Einkaufswagen über den Parkplatz vor dem ICA Kvantum in Sollefteå. Noch war es ruhig, doch in ein bis zwei Stunden würde Musik aus den überdimensionierten Boxen schallen, würden Bierdosen über den Asphalt rollen.
«Hier soll es Probleme geben?», fragte August und blickte über den so gut wie leeren Parkplatz.
«Wart’s ab.»
Eira schob sich den letzten Bissen ihres Wokgerichts mit Nudeln in den Mund und knüllte anschließend die Schachtel zusammen. Nachdem Pub-Abende und Festivals wegen der Pandemie eingestellt worden waren, hatten immer mehr Jugendliche Gefallen daran gefunden, sich auf verschiedenen Parkplätzen zu treffen, und das taten sie immer noch. Die Einladung zu diesen Auto-Treffen wurde über die sozialen Medien verbreitet, bis zu dreihundert Autos konnten es werden, hier oder vor dem ICA-Markt in Kramfors. Der Bahnhofsvorplatz in Örnsköldsvik war ebenfalls eine beliebte Adresse. Einige Wochenenden lang hatte Eira nichts anderes gemacht, als von einem Parkplatz zum anderen zu fahren, um einigermaßen für Ordnung zu sorgen.
Sie rief den diensthabenden Einsatzleiter an und fragte, ob es Hinweise gebe, dass sich der Treffpunkt geändert habe. Das war nicht der Fall.
«Aber wir haben noch was reinbekommen, nur ein paar Kilometer von euch entfernt.»
«Was denn?»
«Irgendwo ziemlich abgelegen, wenn ich das richtig sehe, mitten im Wald oberhalb von Undrom», er schien eher laut nachzudenken, als Anweisungen zu geben, «es ist wahrscheinlich besser, wenn wir uns morgen darum kümmern, bei Tageslicht, wenn es denn überhaupt etwas ist.»
«Wir stehen hier nur rum und sehen zu, wie das ICA-Personal die Einkaufswagen zusammenschiebt.»
«Okay.»
Eira stieg ins Auto, während der Einsatzleiter zusammenfasste, worum es ging. Ein Pling!, als die Wegbeschreibung auf ihrem Handy einging.
«Wo sollen wir hin?», fragte August.
«Zu einem verlassenen Haus, zwanzig Minuten von hier entfernt.»
«Klingt aufregend», sagte er und lachte, «und was passiert dort?» Sein Blick bekam etwas Herausforderndes, und dieses Lächeln war ziemlich unwiderstehlich.
«Wahrscheinlich gar nichts», sagte Eira.
Beim letzten Mal, als August hier gearbeitet hatte, waren sie ab und zu miteinander ins Bett gegangen, ziemlich oft sogar, ganz ohne Ansprüche oder Verpflichtungen. Eira wusste nicht, wo sie inzwischen standen, ob da noch etwas war oder ob es sich erledigt hatte. Es gab keine eindeutigen Signale. Eine Spannung in der Luft, so wie jetzt, als sie auf die Straße fuhr, die dem Fluss Richtung Osten folgte, sie spürte die Anwesenheit seines Körpers viel zu deutlich. Diese Hände, wie weich sie waren, geschmeidig irgendwie, ohne Schwielen und Verletzungen, ein Körper, der im Fitnessstudio und auf Joggingpfaden geformt worden war. Sie erinnerte sich an einen verlegenen Abschied. Einen Kuss und ein Tschüs, mach’s gut. Keine schwierigen Gefühle, keine SMS, dass man sich sehne.
«Bei Undrom müssen wir nach links», sagte sie und reichte ihm das Handy mit der Wegbeschreibung, «und dann weiter Richtung Nolaskogs.»
«Wohin?» August suchte auf der Karte, zoomte näher ran. «Das finde ich hier nicht.»
Eira lachte.
«Ich hatte vergessen, dass du Stockholmer bist. Nolaskogs wird hier die Gegend nördlich des Waldes genannt, ist so ein Ausdruck, das findest du nicht auf der Karte.»
«Echt schön, mal wieder in die Natur rauszukommen», sagte August, und es klang, als meine er es auch so.
Sobald sie die Landstraße verließen, verschwand auch das letzte Licht entgegenkommender Fahrzeuge. Ein paar Straßenlaternen, wenn sie durch eine Ortschaft fuhren, dann wurde es wieder dunkel, die Schwärze der Oktobernächte, bevor der erste Schnee fiel. Hier und dort leuchteten die zeitschaltuhrbetriebenen Lampen von irgendwelchen Ferienhausbesitzern, wohl in der Hoffnung installiert, Einbrecher abzuhalten.
«Offer», sagte August, als ihre Scheinwerfer ein Ortsschild streiften. «Warum nennt man eine Ortschaft Opfer, ich meine, wer will denn da wohnen?»
«Etwas weiter oberhalb liegt der Offer-See …» Eira kramte in ihrem Gedächtnis nach irgendwelchen Anknüpfungspunkten. Es hatte eine Opferquelle bei Sånga gegeben, zu der die Leute in vorchristlichen Zeiten und bis weit ins 20. Jahrhundert gepilgert waren, aber Ortsnamen bedeuteten selten das, was man glaubte, vor allem nicht in Gegenden, in denen Menschen vor so langer Zeit sesshaft geworden waren, dass sich die Sprache inzwischen vollständig verändert hatte. Skadom, so hatte sie gelernt, kam von einem uralten Wort für skugga, Schatten, ähnlich wie shadow, ein Hof im Schatten, und Bringen kam von bringur, was einst Erhebung, Anhöhe bedeutet hatte. Wenn überhaupt von irgendetwas, so zeugten diese Namen von Alter, davon, wie lange es hier schon Menschen gab, die dem Grund und Boden, auf dem sie sich ansiedelten, Namen gegeben hatten.
Im starken Scheinwerferlicht wurden die Fichten weiß.
«Hier soll es irgendwo eine zugewachsene Traktorspur geben», sagte August, «aber anscheinend kein Schild …»
Er rief etwas, und Eira trat auf die Bremse. Im Schein der Rücklichter erkannte sie Gras, das über einen Graben gewachsen war, Laubspuren, die auf einen ehemaligen Weg hindeuteten.
«Das hier ist eine Bärengegend», sagte sie.
«Woher weißt du das?»
«Ich weiß es einfach.»
Sie stieg aus und leuchtete mit der Taschenlampe zwischen den Fichten umher. Mit dem Auto würden sie hier kaum durchkommen. Solche Wege hatten die Tendenz, immer schmaler zu werden, je weiter man in den Wald hineinfuhr, manchmal endeten sie im Nichts. Ein Wald, den man sich selbst überließ, riss sofort die Herrschaft an sich und überwucherte jede menschliche Spur.
August übernahm die Führung und bog die Zweige für sie zur Seite. Sie waren keine fünf Minuten gegangen, als der Strahl ihrer Taschenlampe auf ein Haus fiel, grau und heruntergekommen.
«Ich glaube, wir sind da.»
Es konnte noch nicht allzu lange leer stehen, stellte Eira beim Näherkommen fest, fünf Jahre vielleicht, höchstens zehn, das Dach schien jedenfalls noch intakt. Sie war um genügend verlassene Häuser herumgestrichen, um aus dem Stadium des Verfalls ähnliche Schlüsse ziehen zu können wie aus den Jahresringen eines Baums. Es begann oft, bevor die letzten Menschen ein Haus verließen, mit der Müdigkeit der Alten, den Beinen, die es nicht mehr die Leiter hinaufschafften, Hoffnungslosigkeit, weil es niemanden gab, der das Ganze übernehmen wollte. Die Familiengeschichte fand oft anderswo ihre Fortsetzung.
August kletterte auf einen Stein, schaute durch ein zerbrochenes Fenster.
«Was für ein Ort! Da stehen noch Möbel und ein Kachelofen drin, wissen die Leute denn nicht, was so etwas wert ist? Wie kann man das einfach zurücklassen?»
Er klang wie ein Junge auf Entdeckungsreise, als hätte er vergessen, warum sie hier waren. Eira streifte sich Handschuhe über, bevor sie die Klinke herunterdrückte.
«Vermutlich hat hier nur jemand eine Weile Unterschlupf gesucht», sagte sie, «falls der Anruf überhaupt seriös war.»
«Das ist doch kein Problem, wenn das Haus ohnehin leer steht», sagte August. «Warum schickt man nicht alle Obdachlosen hierher?»
«So was kommt durchaus vor», sagte Eira und dachte an den Skandal vor ein paar Jahren, als herausgekommen war, dass wohlhabende Stockholmer Kommunen ihren Leistungsbeziehern Fahrkarten nach Kramfors in die Hand gedrückt hatten – einfache Fahrt.
Als sie das Haus betraten, verstummten sie beide. An den Fenstern hingen noch Spitzengardinen, da standen Sprossenstühle und ein Tisch, an dem vier Personen sitzen konnten, man bekam das Gefühl, dass hier das Leben einfach plötzlich aufgehört hatte.
Keine Geräusche, nur ihre Schritte.
«Oh, verdammt», rief August, als eine Diele unter ihm brach.
«Der Anrufer meinte, er hätte im Keller etwas gesehen.» Eira leuchtete umher, um herauszufinden, wohin die einzelnen Türen führten, öffnete die Speisekammer. Leere Marmeladengläser, Flaschen, ein zusammengedrücktes Paket Mehl. Vor der Küche eine weitere schmale Tür, die abgeschlossen war. Eira blickte sich nach einem Haken um, an dem ein Schlüssel hing, zog ein paar Schubladen heraus.
«Wollen wir erst mal von draußen gucken, bevor wir die Tür aufbrechen?»
Das Gras rund ums Haus stand eher hoch, nur an einer einzelnen Stelle war es ausgerissen worden. Vor einem kleinen Kellerfenster wirkte die Erde nackt, wie umgegraben. Reste von Isoliermaterial lagen herum. Eira ging auf die Knie. Steckte die Hand zum Fenster hinein und bewegte langsam die Taschenlampe. Ziemlich viel Gerümpel, ein Ölfass, ein kaputter Stuhl, ein zerrupfter Ballen Isoliermaterial, ein Gitterbett. In der Ecke ein Bündel, eine alte Decke. Der Lichtkegel wanderte weiter, ein paar Stuhlkissen, die von Mäusen oder anderen Tieren angefressen worden waren, einzelne Häufchen Schaumgummi. Das Bild des Kinderbetts prägte sich ihr ein, es erschien ihr so traurig: all die Träume, die es einst getragen hatte; sie musste an das Kind denken, das aufgewachsen und dann von hier fortgegangen war, dass jedes Haus wie dieses irgendeines Menschen Kindheit gewesen war. Dann traf es sie plötzlich wie ein Schlag.
Etwas, das sie gesehen und doch nicht gesehen hatte, etwas, das abwich.
Ihr Arm schmerzte von der unbequemen Haltung, sie musste ihn vorsichtig herausziehen, sich in halbliegende Stellung begeben, die Taschenlampe in die andere Hand nehmen.
In der hintersten Ecke. Das Bündel mit der Decke, oder was immer es war.
«August. Komm mal.» Eira richtete sich auf, reichte ihm die Lampe, sagte ihm, wie er sie halten sollte. «Liegt da jemand?»
Sie zuckte zusammen, als August in den Keller hineinrief, brüllte, sie seien von der Polizei.
«Jedenfalls bewegt sich da nichts», sagte er.
«Wir gehen rein», entschied Eira.
Sie brauchten eine Viertelstunde, um die Tür aufzubrechen. Gutes Holz, ehrliches Handwerk, ein Schloss aus Eisen. Eira war auf den üblichen Kellergeruch gefasst, nach Feuchtigkeit und Erde, doch ein ganz anderer Gestank drang ihnen entgegen, als sie die steile Treppe hinunterstiegen. Urin und Kot. August blieb abrupt stehen, als er den Fußboden erreichte, weshalb Eira nur seinen Nacken und seinen Rücken sehen konnte, den Arm, der die Taschenlampe hielt.
«Oh, verdammt.»
Er trat ein klein wenig zur Seite, sodass Eira ebenfalls etwas erkennen konnte. Das Bündel lag in der Ecke, unmittelbar neben der Treppe. Im Licht schien ein Teil eines Gesichts auf, halb unter der Decke verborgen, unter wirrem Haar, ein Auge, das sie anstarrte und durch sie hindurch und weiter durch die mächtigen Mauern, ein Blick, der nicht mehr von dieser Welt war.
Eira machte zwei weitere Schritte hinein.
Ein Fuß ragte heraus. Schwer zu sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, das Gesicht wirkte eingefallen, vielleicht sogar ausgemergelt.
«Der Arme», sagte August hinter ihr, er hielt sich am Geländer fest und wirkte, als müsste er sich übergeben, leichenblass auch er, vielleicht lag es aber auch an der Taschenlampe. «Glaubst du, er hat sich hier hingelegt und ist irgendwann einfach nicht mehr aufgewacht?»
Eira kontrollierte die Kellertür oben.
«Auf der Innenseite steckt kein Schlüssel», sagte sie.
«Vielleicht hat die Person ihn in der Tasche», sagte August.
«Ja, das könnte natürlich sein.»
Eira ging ihm voraus an die frische Luft. August lehnte sich an die Überreste eines alten Backhauses. Es war vollkommen windstill, sternenklar, hinter dem Wald stand der Mond hoch am Himmel und schickte sein Licht zwischen den Bäumen hindurch. Eira selbst machten die Gerüche an einem Tatort meist nichts aus. Sie blieb fokussiert und handlungsfähig, machte ihre Arbeit, und erst hinterher kroch es wie ein dumpferer Ton in sie hinein, das Bewusstsein, dass das Böse anwesend war, in den Menschen und überall, und dazu das Wissen darum, was so ein Fall für die anderen Menschen bedeutete, an Trauer und Verlust. Sich gegen diese Gefühle abzuschirmen, war viel schwerer für sie.
In der Mitte des überwucherten Hofs hatte sie nur schwachen Handyempfang, lediglich zwei Balken, doch es reichte, um anzurufen und Verstärkung anzufordern.
«Es kann dauern, bis jemand kommt», sagte Eira und ließ das Handy sinken. «Wir können genauso gut schon mal anfangen, alles abzusperren.»
Es knackte und wisperte in der Nacht rund um das Haus. Eira hatte sich erlaubt, einen Moment einzuschlafen, in der ehemaligen Kammer auf dem Boden sitzend. Es gab nichts, was sie im Dunkeln tun konnte, außer ihre Gedanken um den Mann da unten kreisen zu lassen.
Sie waren noch einmal hinuntergegangen, hatten vorsichtig die Decke angehoben und auch den unteren Teil seines Gesichts entblößt, was genügt hatte, um festzustellen, dass es sich um einen Mann handelte. Ein Bartwuchs von einigen Wochen, einem Monat? Er lag zusammengekrümmt wie ein Embryo.
Als hätte er sich hingelegt, um zu schlafen, als wäre er in etwas hineingekrochen, das es vor dem Leben gab, die Decke ein Kokon. Angenagt von irgendwelchen Tieren, hatte sie ihm kaum Schutz geboten.
Zwei Finger auf seiner Haut.
Der Körper hatte dieselbe Temperatur wie die ihn umgebende Luft. Das bedeutete, dass er seit mindestens vierundzwanzig Stunden tot war. Ein Keller, eine Nacht im Oktober, wenn die Temperatur noch nicht unter den Gefrierpunkt sank, ihrer Einschätzung nach waren es vier bis sechs Grad. Eira hatte mit der diensthabenden Gerichtsmedizinerin in Umeå telefoniert. Die Körpertemperatur konnte ihnen keine Auskunft mehr über den eventuellen Todeszeitpunkt geben, deshalb gab es keinen Grund für die Ärztin, mitten in der Nacht die zweihundertfünfzig Kilometer bis zu ihnen hinunterzufahren. Es gab andere Methoden, um festzustellen, wann der Tod ungefähr eingetreten war, doch das konnte ebenso gut untersucht werden, wenn die Leiche in der Gerichtsmedizin in Umeå lag.
Der zuständige Ermittlungsleiter in Härnösand war zu einem ähnlichen Schluss gekommen. Falls es sich wirklich um ein Verbrechen handelte, waren mögliche Spuren ohnehin nicht mehr frisch. Eira und August sollten dableiben und Wache halten, den Tagesanbruch abwarten.
Die zweite Streife, die in dieser Nacht im Einsatz war, musste an ihrer Stelle die achtzig Kilometer von Härnösand zu dem Autotreffen in Sollefteå fahren, das um Mitternacht auszuarten begann.
In der ersten Stunde waren sie und August damit beschäftigt gewesen, das Gebiet rund um das Haus abzusperren. Sie hatten Decken aus dem Auto geholt, sich beim Wachehalten abgewechselt.
Die Nacht um sie herum war still geworden, die Zeit unmerklich vergangen. Eine leichte Veränderung in der Dunkelheit, bald würde die Sonne aufgehen. August saß auf der Treppe, als sie hinaustrat. Jetzt würde es keine Stunde mehr dauern, dann würden sie abgelöst werden.
August brach einen Proteinriegel in zwei Stücke und gab ihr die eine Hälfte.
«Ich habe einen Fuchs gesehen», sagte er. «Er stand einfach da, neben dem Schuppen, hat mich angestarrt. Ich hatte es rascheln gehört und dachte erst, es wäre ein Bär. Er ist nicht mal abgehauen, als ich ihn angeleuchtet habe, völlig angstfrei.»
«Einen Bär hättest du besser nicht mit der Taschenlampe angeleuchtet», sagte Eira.
«Sondern?»
«Du musst mit ihm sprechen.»
«Ernsthaft?»
«Du darfst ihm niemals den Rücken zukehren, musst langsam rückwärtsgehen, und wenn gar nichts hilft, musst du dich auf den Boden werfen.»
In der aufgehenden Sonne konnte sie sehen, wie aufgewühlt er war. Und wie müde. Er hatte auch noch eine halb ausgetrunkene Cola, die er ebenfalls mit ihr teilte. Eira hätte gern seine Hand genommen, seinen Kopf, den angespannten Nacken auf ihren Schoß gebettet, doch sie tat es nicht. Sie war in Uniform, ebenso wie er, und außerdem hatten sie einander noch nicht berührt, seit er von der Westküste zurückgekehrt war.
«So einen Ort findet man kaum zufällig», sagte August.
«Das stimmt.»
«Also muss der- oder diejenige, die diesen Mann hier abgelegt hat, das Haus gekannt haben.»
«Mhm.»
Ein Mäusebussard stieg über dem Wald auf und stieß kurz darauf herab. Eira dachte an all die leerstehenden Häuser, an die sie sich selbst erinnerte und in die sie sich früher hineingeschlichen hatte. So etwas machte die Runde, das Verlassene zog die Leute an, der Sog der Vergangenheit und die Hoffnung, etwas Wertvolles zu entdecken. Hunderte Menschen konnten von diesem Haus hier wissen, alle, die in der Gegend aufgewachsen oder einfach nur vorbeigekommen waren. Ein Specht hämmerte neben ihnen an einem Baum, entfernte Stimmen näherten sich. Eira strich sich den Staub und die Späne von der Uniform und ging den Kollegen entgegen.