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Der Auftakt der Eira-Sjödin-Trilogie – ausgezeichnet mit dem Schwedischen Krimipreis 2020 und dem Skandinavischen Krimipreis 2021. Olof Hagström fährt an der malerischen Nordküste Schwedens entlang, als er einem Impuls folgt und in die Kleinstadt abbiegt, in der er aufgewachsen ist. Und in der er seit über zwanzig Jahren nicht mehr war. Vor dem Haus seiner Kindheit überfällt ihn Unruhe. Er findet den Schlüssel, der noch immer unter dem vertrauten Stein liegt. Im Haus erwarten ihn ein panischer Hund, schrecklicher Gestank und Wasser, das sich auf dem Boden sammelt. Im Badezimmer findet er seinen Vater, den er seit fast zwei Jahrzehnten nicht gesprochen hat. Tot. Erstochen mit einem Jagdmesser. Polizistin Eira Sjödin hat Stockholm verlassen und ist in die nordschwedische Region Ådalen zurückgekehrt, um sich um ihre demente Mutter zu kümmern. Als Eira den Tod eines älteren Mannes untersuchen soll, werden die Albträume ihrer Kindheit wieder wach. Sie war erst neun, als der damals vierzehnjährige Olof Hagström gestand, ein Mädchen namens Lina Stavred vergewaltigt und ermordet zu haben. Zu jung, um verurteilt zu werden, wurde Olof in einem Jugendheim untergebracht und nie wieder in der Stadt gesehen. Bis jetzt. Eira Sjödin macht sich auf die Suche nach dem Mörder, die sie zurück zum Fall Lina führt. Und zu Ereignissen in der Vergangenheit und in der Gegenwart, die die Stadt bis ins Mark erschüttern. Inspiriert von realen historischen Fällen, die das Vergewaltigungsgesetz und den Umgang der Polizei mit verdächtigen Kindern veränderten, ist «Sturmrot» ein unerbittlich spannender und großartig geschriebener Kriminalroman über Schuld und Erinnerung. Der erste Fall einer neuen Krimireihe um Polizistin Eira Sjödin – für die Fans von Ragnar Jónasson, Johanna Mo und Åsa Larsson.
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Seitenzahl: 549
Tove Alsterdal
Kriminalroman
Schuld verjährt nicht. Erinnerung stirbt nicht. Familie vergisst nicht.
Olof war erst vierzehn Jahre alt, als er den Mord an der wenig älteren Lina Stavred gestand.
Dreiundzwanzig Jahre später biegt er in Ådalen von der Autobahn ab, auf die kleinen Straßen, die zu seinem Elternhaus führen.
In der Dusche findet er seinen Vater tot auf, ermordet mit einem Jagdmesser.
Die Polizistin Eira Sjödin ist gerade in ihren Heimatort Kramfors zurückgekehrt, um für ihre Mutter da zu sein. Während sie den Mord an Olofs Vater untersucht, holt ihre eigene Vergangenheit sie ein.
Eira war neun Jahre alt, als Lina ermordet wurde.
Olof war der Junge aus ihren Albträumen.
Der erste Fall für Eira Sjödin
Ausgezeichnet mit dem Schwedischen Krimipreis und dem Skandinavischen Krimipreis.
«In der Spannung sticht Alsterdal durch ihre erhellende soziale Perspektive heraus.» Aftonbladet
«Auf dem hohen Niveau von Henning Mankell.» Expressen
«Sie ist einfach fantastisch, Punkt aus.» Folkbladet
Tove Alsterdal, 1960 in Malmö geboren, zählt zu den renommiertesten schwedischen Spannungsautor:innen, ihre Romane erscheinen in 25 Ländern und wurden vielfach ausgezeichnet. «Sturmrot», der Auftakt zu ihrer ersten Krimireihe, avancierte sofort zur preisgekrönten Nummer 1 der schwedischen Bestseller-Liste.
Hanna Granz, geboren 1977, hat in Bonn Skandinavistik und Literaturwissenschaften studiert. Seit 2012 arbeitet sie als freie Übersetzerin und hat u. a. Romane von Sofie Sarenbrant, Patrik Svensson und Alex Schulman ins Deutsche übertragen.
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel «Rötvälta» im Verlag Lind & Co, Stockholm.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2022
Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Rotvälta» Copyright © 2020 by Tove Alsterdal
Redaktion Anja Lademacher
Die Textpassage auf S. 415 f. wurde der Inhaltsbeschreibung von René Girards «Das Heilige und die Gewalt» durch den Patmos Verlag entnommen.
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg
Coverabbildung iStock
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-01174-8
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
STURMROT
Weiter vorn erhob sich der gewaltige Schatten des Skuleberget, des Räuberbergs. Eine Tankstelle tauchte auf, dann wieder Fichten. Schon seit mehr als zweihundert Kilometern musste er pinkeln.
An der nächsten Abzweigung fuhr er rechts ran und stolperte aus dem Wagen, stakste über die blühenden Wildpflanzen am Straßenrand.
Drehte sich zum Wald und gab dem Druck endlich nach.
Irgendetwas war mit diesem Geruch, diesen Blumen. Das feuchte Gras, die neblige Abendluft, die Butterblumen und Weidenröschen und der Wiesen-Kerbel, der hier meterhoch stand. Vielleicht war es auch irgendein Gras, er hatte keine Ahnung, irgendwo hatte er es schon mal gesehen.
Der Asphalt war voller Schlaglöcher und ging allmählich in eine Schotterpiste über. In zwanzig, dreißig Kilometern konnte er links abbiegen und wieder auf die E4 auffahren, es wäre kein großer Umweg. Vor ihm öffnete sich die Landschaft, grüne Hügel und wogende Täler, so schön wie die Rundungen einer warmen, molligen Frau.
Er fuhr an schlafenden Höfen und verlassenen Häusern vorbei, einem Teich so blank, dass das Spiegelbild des Waldes darin wie der Wald selbst erschien. Eine Fichte glich der anderen. Einmal hatte er auf einem Berg gestanden und über die Wälder Ådalens geschaut und begriffen, dass es da kein Ende gab.
Alles war wie ausgestorben. Auch an der Weggabelung in Bjärtrå war weit und breit kein anderes Fahrzeug zu sehen. Er erkannte das gelbe Holzhaus direkt gegenüber wieder. Durch die staubigen Schaufenster war lediglich Gerümpel zu sehen, doch das Schild hing noch da, es war einmal ein Lebensmittelgeschäft gewesen. Olof erinnerte sich an die Süßigkeiten am Samstag, an den Geschmack von Weingummifröschen und Salzigen Heringen. Er bog falsch ab, fuhr weiter Richtung Inland. Auch so würde er es noch schaffen, vor dem Morgen in den nördlichen Vororten Stockholms zu sein. Der Boss schlief um die Uhrzeit noch, niemand schaute so genau auf die Zeit oder auf den exakten Benzinverbrauch. Fünfzig Kilometer mehr oder weniger spielten keine Rolle. Olof konnte es auf die Wohnwagen schieben, auf die vielen Baustellen, jeder wusste, was im Sommer auf den schwedischen Autobahnen los war.
In diesen Wochen. Im späten Juni.
Diese Gerüche, dieses Licht, sein Mund wurde trocken, und die Beine wurden taub, alle Sinne erinnerten sich, dass es genau um diese Zeit gewesen war. Als die Schule aus war und die Langeweile begann, die endlosen Tage, als er aus der Zeit geworfen wurde. Ein fahlgraues Halbdunkel, so erschien es ihm im Nachhinein, obwohl es genauso hell gewesen sein musste wie heute, eine typische Sommernacht, blasse Mitternachtsstunden, in denen die Sonne lediglich kurz unter den Horizont tauchte.
Er kam an Orten vorbei, die er vergessen oder an die er nicht mehr gedacht hatte. Dennoch waren sie die ganze Zeit da gewesen. Das große gelbe Haus, wo die Feriengäste mit den Kindern gewohnt hatten, die nicht auf der Landstraße Fahrrad fahren durften. Das Amerikahaus mit der seltsamen Veranda und den Koppeln, auf denen die Rennpferde in Grüppchen zusammenstanden und auf die Straße glotzten. Die in weißes Plastik eingeschlagenen Heuballen in Lägdorna, auf die man hinaufklettern und König spielen konnte, und die Hängebirke zur Linken, an der er jetzt vom Gas ging und abbog. Sie war wahnsinnig gewachsen. Die Zweige neigten sich tief herab, Wolken aus grellgrünem Laub verbargen die Briefkästen.
Er wusste genau, welcher der richtige war, graues Plastik, der dritte von links. Eine Zeitung ragte aus dem Schlitz. Olof wand sich aus dem Auto und stieg aus, um den Namen zu lesen.
Hagström.
Er wedelte die Mücken fort und zog die Tidningen Ångermanland heraus, darunter lagen zwei weitere Ausgaben der Zeitung, deshalb hatte sie nicht ganz hineingepasst. Ein Blättchen, das für einen Glasfaseranschluss warb, eine Rechnung von der Stadtverwaltung Kramfors. Jemand lebte noch hier, bekam Post, eine Zeitung, jemand bezahlte Wasser- und Abfallgebühren oder was auch immer. Ein Schauer lief über seinen Körper, als er den Namen des Empfängers las.
Sven Hagström.
Olof stopfte alles in den Briefkasten zurück. Wieder im Auto, zog er eine Tafel Schokolade aus der Tüte, die auf dem Boden lag, um etwas zu kauen zu haben. Er stürzte einen Energydrink hinunter und erschlug die Mücken, die hereingeschlüpft waren. Eine hatte sich bereits mit Blut vollgesogen, ein roter Fleck breitete sich auf dem Lederbezug aus. Er rieb ihn mit Speichel und einem Stück Klopapier fort. Dann kroch er langsam weiter über den geschotterten Weg. Das Gras auf dem Mittelstreifen schlug gegen die Stoßdämpfer, und das Auto schaukelte, als er durch das ein oder andere Schlagloch fuhr. Er kam am Haus der Strinneviks vorbei und an der grauen Scheune, die in all dem Grün kaum zu sehen war. Dann ging es einen Hügel hinab und den nächsten hinauf, er erreichte die Kuppe, wo das Fichtendunkel endete und die Natur sich zum Fluss und zur weiten Landschaft hin öffnete. Olof wagte kaum hinzusehen. Aus dem Augenwinkel nahm er das rote Haus wahr. Er wendete am Ende des Wegs und fuhr langsam wieder zurück.
Die Farbe an den Fensterrahmen schien abzublättern. Auch sah er nirgends ein Auto, doch das konnte auch in der Garage stehen. Um den Holzschuppen herum stand das Gras sehr hoch, durchsetzt von Jungbäumen, die sich bald in dichtes Unterholz verwandeln würden.
Olof wusste nicht, was er erwartet hatte. Dass es verlassen oder verfallen sein würde oder verkauft an Fremde, die dort eingezogen waren.
Wahrscheinlich war es einfach nur noch nicht dazu gekommen.
Hinter der Mülltonne hielt er an und schaltete den Motor aus. Löwenzahn leuchtete gelb auf der ganzen Wiese. Er erinnerte sich, wie mühsam es gewesen war, ihn zu bekämpfen. Man musste die Pflanze im Ganzen herausreißen, bevor sie eine Pusteblume wurde, die ihre Samen im Wind verstreute. Man musste sie mit den Wurzeln entfernen, damit sie nicht wiederkam. In der Erinnerung waren seine Hände klein. Er betrachtete die breite Pranke, mit der er jetzt den Zündschlüssel umdrehte.
Über den Fichtenspitzen stand die Sonne. Ihre Strahlen trafen auf den Rückspiegel und blendeten ihn, er schloss die Augen. Und sah sie vor sich, oder in sich, es war nicht ganz klar, wo sie sich befand, doch genau so hatte er sie gesehen, immer wieder, Nacht für Nacht für Nacht in all diesen Jahren, wenn er nicht direkt einschlief, sturzbetrunken, erschöpft, halb tot, dann sah er sie immer, immer wieder, wie sie in den Wald hineinging. Sie ging in ihm ein und aus. Ganz nah, gar nicht weit von hier, zum Fluss hinunter.
Dieser Blick, als sie auf den Waldweg abbiegt. Lächelt sie ihm zu? Winkt sie ihm? Na komm, Olof, komm! Hat sie wirklich ihn gemeint?
Und da sind Stimmen um ihn herum, der Benzingeruch der frisierten Mopeds, eine Zigarette, um die Mücken zu vertreiben.
Mensch, Olof, du bist doch schon fast drin. Los, hinterher! Lina ist nicht so eine Prüde. Mach schon, du siehst doch, dass sie es will. Bist du vielleicht schwul, oder was? Hey, Olof, hast du überhaupt schon mal ein Mädchen geküsst, oder schmust du immer noch mit Mama?
Nun mach schon, Olof! Du hast es noch nie getan, oder? Einfach die Hand unters T-Shirt, das ist das Wichtigste, mach sie geil, bevor sie zu viel nachdenken.
Er hat ihre Stimmen noch im Kopf, als er den Pfad entlanggeht. Da vorne flattert ihr Kleid, ihre gelbe Strickjacke leuchtet zwischen den Bäumen.
Lina.
Samtweiche Arme, lachend, brennnesselduftend, das stechende Unterholz an den Waden, Mückenschwärme und Scheißbremsen und Blut auf ihrem Arm, wo er eine Bremse geklatscht hat, einfach – zack! –, und ihr Lachen, danke, Olof, du bist ja ein richtiger Held. Ihre Lippen sind jetzt ganz nah. Er stellt sich vor, wie weich sie sind, wie Moos, feucht, nachgiebig, wie er hineingezogen wird. Zunge rein, bevor sie anfängt zu quatschen, hört er die anderen sagen, manche wollen die ganze Nacht quatschen, da musst du aufpassen, denn dann bist du nur noch der Kumpel, nein, gleich die Hände auf ihre Brüste und ein bisschen drücken und streicheln, manche mögen es auch, wenn man an ihren Titten saugt. Wenn du das hinkriegst, hast du’s geschafft, ehrlich, aber du darfst nicht zögern, die Mädchen haben da so ihre Tricks: sich weigern und Beine zusammenkneifen, obwohl sie feucht sind und geil wie sonst was und davon träumen, aber man kann nicht einfach gleich mit dem Schwanz rein, du musst dich ihnen anpassen. Finger in die Fotze und erst mal reiben, sie befriedigen, dann hast du anschließend freie Bahn und kannst ficken, was das Zeug hält. Okay?
Und Olof landet kopfüber in den Brennnesseln, und sie ist über ihm, sie ist überall.
Er bekam keine Luft mehr im Auto, es war stickig und heiß, er musste raus.
Der Morgennebel lag in dünnen Schleiern über der Bucht. Auf der anderen Seite des Flusses erhoben sich die ewigen Berge, über der Papierfabrik in Väja stiegen Rauchsäulen auf. In der Stille nahm er das Rascheln der Espen im Wind wahr, der so schwach wehte, dass man ihn kaum spürte. Das Summen der Hummeln, die zwischen Lupinen und Falscher Strandkamille umhertaumelten. Dann hörte er plötzlich das Winseln. Kläglich, wie von einem verletzten oder verängstigten Tier.
Es kam aus dem Haus. Olof versuchte, sich lautlos zurückzuziehen, die paar Schritte bis zum Auto, bevor der Hund seine Anwesenheit bemerkte, doch mit einem Körper wie dem seinen war das nahezu unmöglich, Gras und Zweige brachen unter seinem Gewicht. Sein Keuchen war lauter als das Insektensummen, das hörte natürlich auch der Hund und begann, wie wahnsinnig zu bellen. Er heulte und kratzte, schien sich gegen eine Wand oder eine Tür zu werfen. Er musste an das wilde Bellen der Jagdhunde denken, die an den Gitterstäben der Zwinger hinaufsprangen, wenn man an ihnen vorbeiradelte. An die Polizeihunde. Als sie das Gelände rund um den Fluss abgesucht hatten, um eine Spur von Lina auszumachen, ihr Bellen in der Ferne, als sie ihre Sachen fanden.
Er musste abhauen, schnell, bevor der Alte aufwachte und ihn draußen auf dem Grundstück entdeckte. Würde er das Jagdgewehr rausholen, das Olof hatte halten dürfen, ohne alt genug zu sein, damit auch zu schießen? Möbel und Farben wirbelten in seiner Erinnerung durcheinander, die grün gestrichene Treppe, das Blumenmuster der Tapete, das Bett unter der Dachschräge, sein Bett.
Dann bemerkte er das Wasser, es rann an der Fassade hinunter. War eine Leitung beschädigt? Und warum war der Hund eingesperrt? Olof hörte genau, dass er sich nicht im Flur, in der Nähe der Haustür befand, wie es sich für einen Jagdhund, ja, für jede Art von Hund gehörte. Das Bellen kam von weiter drinnen. Vielleicht aus der Küche, die am Ende des Flurs lag. Olof sah hellblaue Paneele vor sich, weiß gestrichene Schranktüren, ein Eintopf blubberte auf dem Herd.
Der Hund musste allein sein. Niemand konnte so fest schlafen, dass ihn dieses Bellen nicht weckte.
Olof fiel der Stein ein, der runde, an der Hausecke. Ein paar Kellerasseln wuselten davon, als er ihn hochhob. Der Schlüssel lag immer noch da.
Es fiel ihm schwer, ihn ins Schlüsselloch zu stecken, so sehr zitterte seine Hand. Olof hatte kein Recht, diese Tür zu öffnen. Du weißt doch, dass sie jeden Kontakt abgebrochen haben.
Der typische Geruch des Hauses schlug ihm entgegen, und plötzlich war er wieder ein Kind. Von einem Bild schaute ein Mann mit langem Schnurrbart auf ihn herab, ein Ministerpräsident von vor hundert Jahren, inzwischen befanden sie sich auf Augenhöhe. Und dort war die Bank mit der Kissenauflage, auf der man sich die Schuhe auszog, die von der Großmutter gewebten Teppiche. Unter all dem Kram, der im ganzen Flur verstreut lag, waren sie kaum noch zu erkennen, Werkzeug und Gerätschaften, die nur einen schmalen Gang frei ließen, Tüten mit Flaschen und Leergut. Seine Mutter hätte so ein Chaos niemals zugelassen.
Klauen kratzten und schlugen gegen Holz. Olof hatte recht gehabt, der Hund war in der Küche eingesperrt. Ein Besen war unter der Klinke verkeilt. So etwas tat man nicht, so viel war ihm trotz des Durcheinanders, das sich in seinem Kopf abspielte, klar.
Er riss den Besen heraus und suchte beim Öffnen hinter der Tür Schutz, den Besen in der Hand, um sich im Notfall wehren zu können, falls der Hund zuschnappte. Doch der flog an ihm vorbei, ein schwarzer Pfeil ins Freie, der einen Gestank nach Urin und Hundekot hinter sich herzog, es war ekelhaft, er hatte da drinnen alles vollgekackt, der arme Teufel.
Dann entdeckte Olof das Wasser, das unter der Badezimmertür hervorsickerte. Zwischen Türblatt und Schwelle floss es hindurch, über die Teppiche im Wohnzimmer, bildete kleine Rinnsale und Pfützen auf dem braunen Linoleum.
Das kleine Besetztfeld im Türschloss war weiß, nicht rot. Olof hatte gelernt, sich in dieser Toilette einzuschließen, mit seinen Comics, das musste man, wenn man eine nervige große Schwester hatte, die brüllte, sie wolle rein.
Er öffnete die Tür, das Wasser schoss über seine Schuhe.
Ein Badeschwamm trieb darin, Schmutz und Haarreste, tote Fliegen. Der gestreifte Vorhang war zugezogen. Olof spürte, wie das kalte Wasser seine Socken durchnässte. Wenigstens das konnte er tun: das Wasser abstellen, bevor er wieder abhaute, dann würde das Haus nicht vollends zerstört werden. Er riss den Vorhang zur Seite.
Da saß ein Mensch. Ein zusammengekrümmter Körper, vornübergefallen auf einem seltsamen Sitz. Olof begriff, und doch auch wieder nicht. Der Mann hing einfach da, zusammengesunken und vollkommen weiß. Die Haut glänzte in der Sonne, die durchs Fenster schien, sie schimmerte geradezu, wie bei einem Fisch. Haarsträhnen lagen wie angeklebt über dem Schädel. Olof zwang sich, noch einen Schritt näher zu treten, um den Wasserhahn abzudrehen, und endlich hörte es auf zu fließen.
Die einzigen Geräusche waren sein eigener, keuchender Atem und die Fliegen, die gegen die Fensterscheibe prallten. Ein letztes Tropfen. Er wollte nicht mehr sehen und konnte doch nicht aufhören zu starren. Der nackte Körper zog seinen Blick geradezu an und hielt ihn fest. Die Haut war geschwollen und wirkte irgendwie lose, auf dem Rücken hatten sich grünliche Flecken gebildet. Olof hielt sich am Waschbecken fest und beugte sich noch weiter vor. Die Augen des Mannes konnte er nicht sehen, aber die Nase hatte in der Mitte eine Delle von einem Schlag mit einem Hockeyschläger in der Jugend. Olof sah den Penis, krumm wie ein Wurm lag er zwischen den Beinen.
Dann löste sich das Waschbecken aus der Wand. Ein lautes Krachen, als würde das Haus einstürzen, Olof verlor das Gleichgewicht. Er platschte umher und stieß sich den Kopf an der Waschmaschine, rutschte aus, als er sich wieder aufrichten wollte. Auf Händen und Knien kroch er aus dem Badezimmer und kam wieder auf die Füße.
Nur raus hier.
Er schlug die Tür zu und schloss ab. Legte den Schlüssel wieder unter den Stein und ging so schnell und so unauffällig wie möglich zum Auto, startete den Motor und erwischte beim Ausparken die Mülltonne mit der Stoßstange.
Viele alte Menschen sterben so, dachte er, während er davonfuhr und das Herz ihm bis zum Halse schlug. Sie bekommen einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall, und dann brechen sie zusammen und sterben. Die Polizei kümmerte sich nicht darum. Manche von ihnen leben allein, teilweise werden sie erst Jahre später gefunden.
Aber wieso hatte er den Hund eingesperrt?
Olof machte eine Vollbremsung. Da stand er, mitten auf dem Weg, direkt vor ihm. Zehn Meter weiter, und er hätte diesen Schwachkopf überfahren. Das Maul geöffnet, mit heraushängender Zunge, zerzaust und hektisch und vollkommen schwarz. Er sah aus wie das Resultat einer aus dem Ruder gelaufenen Paarung in den Wäldern. Ein Kopf wie ein Labrador, ein Fell wie ein streunender Terrier, hochstehende Ohren.
Olof ließ den Motor kommen. Er musste dieses Auto abliefern, einen schicken Pontiac, ein richtiges Schnäppchen, das sich möglichst bald vor der Garage seines Chefs befinden sollte, und der Schlüssel im üblichen Versteck.
Der Hund rührte sich nicht.
Wenn er hupte, würden es die Nachbarn hören und Verbindungen herstellen, wo keine waren, und so stieg er aus und versuchte, das Tier zu verscheuchen. Der Hund glotzte.
«Jetzt hau endlich ab, du Vieh», zischte Olof und schleuderte einen Stock nach ihm. Der Hund fing ihn in der Luft, kam angerannt und legte ihn Olof direkt vor die Füße, dann wedelte er mit dem ganzen Hintern, als wäre das Leben ein verdammtes Spiel. Olof schleuderte den Stock, so weit er konnte, in den Wald. Der Hund stürzte ihm nach in die Blaubeersträucher. Olof wollte gerade wieder einsteigen, als er Schritte auf dem Kies hinter sich hörte.
«Schicke Karre», rief eine Stimme. «Nicht gerade das, was man in einem so abgelegenen Winkel erwartet.»
Ein Mann näherte sich schnell und mit leichten Schritten. Er trug halblange Shorts und ein Polohemd, dazu weiße Turnschuhe. Tätschelte die schwarze Heckklappe, als wäre es ein Pferd.
«Trans Am, dritte Generation, habe ich recht?»
Olof steckte mit einem Fuß im Auto, der andere war noch draußen.
«Mhm, achtundachtzig», murmelte er in den Lack. «Soll nach Stockholm. Upplands Bro.» Er wollte sagen, dass er es eilig hatte und losmusste, bevor der Urlaubsverkehr dichter wurde, es war Freitag und Mittsommerabend, und bald war überall Stau, und außerdem wurde vor Bauarbeiten und zweispuriger Verkehrsführung zwischen Hudiksvall und Gävle gewarnt – doch er brachte kein Wort heraus. Außerdem war der Hund zurückgekommen, mit dem Stock, und stieß ihn mit der Schnauze an.
«Dann steht er also nicht zum Verkauf?»
«Er gehört mir gar nicht. Ich überführe ihn nur.»
«Und dabei sind Sie hier gelandet?»
Der Mann lächelte, doch Olof registrierte etwas in seiner Stimme, hinter dem Lächeln, immer lag da noch etwas anderes.
«Ich musste mal pinkeln.»
«Und da haben Sie sich ausgerechnet diesen Weg ausgesucht? Entschuldigen Sie die Frage, aber wir haben hier oft Probleme mit Einbrüchen, irgendwelche Banden, die hier reinfahren und alles ausrauben. Dem Nachbarn unten wurde ein Rasenmäher gestohlen. Wir helfen uns gegenseitig, indem wir die Augen offen halten. Nach fremden Autos und so.»
Der Hund witterte anscheinend die Tüte mit dem Essen und versuchte, zwischen Olofs Beinen hindurch ins Auto zu kommen. Das Durcheinander in der Küche blitzte vor Olofs geistigem Auge auf, die Verpackungen, die über den Boden verstreut lagen, der Hund musste die Schränke aufbekommen haben, hatte nach Fressen gesucht.
Olof packte ihn schnell am Nackenfell, der Hund knurrte und versuchte, sich loszureißen.
«Ist das Ihrer?»
«Nein, ich … Er stand plötzlich mitten auf dem Weg.»
«Ist das nicht der von Sven Hagström?» Der Mann drehte sich um und spähte zum Haus hinauf, das durch die Bäume zu sehen war. «Ist er zu Hause?»
Olof rang nach Worten. Die Wahrheit. Die Dusche, die lief und lief, wie sich die weiße Haut vor seinen Augen aufgelöst hatte. Der Schlüssel unter dem Stein. Er räusperte sich und hielt sich an der Autotür fest.
«Sven ist tot.» Etwas verdrehte sich in seinem Innern und schnürte ihm die Kehle zu, wie wenn man einen Knoten in ein Seil macht und zieht. Er musste weiterreden, denn der Mann trat zurück und starrte auf sein Nummernschild, ein Handy hatte er plötzlich auch in der Hand.
«Der Schlüssel lag unter dem Stein», brachte er heraus. «Ich wollte den Hund rauslassen … Ich bin einfach nur vorbeigekommen.»
«Und wer sind Sie?» Der Mann hielt das Handy vor sich hoch. Ein Klicken war zu hören, und dann noch eins. Machte er etwa Fotos, vom Auto? Von Olof?
«Ich rufe an», sagte er. «Ich wähle jetzt den Notruf.»
«Er ist mein Vater. Sven Hagström.»
Der Mann sah erst den Hund und dann Olof an. Sein Blick bohrte sich durch die Schichten dessen, was aus ihm geworden war.
«Olof? Sie sind Olof Hagström?»
«Ich wollte selber anrufen, aber …»
«Ich bin Patrik Nydalen», sagte der Mann und zog sich noch weiter zurück, «wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht mehr an mich. Ich bin der Sohn von Tryggve und Mejan, da oben.» Er deutete den Weg hinauf, in Richtung des Hofs, der weiter oben im Wald lag und den Olof nicht sehen konnte, von dem er aber wusste, dass er auf einer Lichtung auftauchte, wenn man die Abkürzung über die Scooter-Piste nahm. «Ich kann nicht behaupten, dass ich mich an Sie erinnere, ich war wahrscheinlich erst fünf oder sechs, als …»
In dem Schweigen, das entstand, konnte Olof förmlich sehen, wie sich die Gedanken in seinem blonden Kopf überschlugen, das Flackern in den Augen, mit dem die Erinnerungen kamen. An das, was man ihm all die Jahre erzählt hatte.
«Sie können den Leuten von der Sicherheitsfirma selbst sagen, was passiert ist», fuhr er fort. «Ich gebe jetzt die Nummer ein, und dann nehmen Sie das Handy. Okay?» Der Mann streckte den Arm aus, als er es ihm reichte, um ihm nicht zu nahe zu kommen. «Es ist mein Privathandy. Mein Job-Telefon habe ich auch noch dabei, das habe ich immer.»
Dem Hund war es gelungen, ins Auto zu kriechen, er steckte mit der Nase tief im Essen und stöberte darin herum.
«Sonst rufe ich selbst an.» Patrik Nydalen trat zurück.
Olof ließ sich auf den Fahrersitz sinken. Er erinnerte sich jetzt wieder, dass es oben auf dem Nydalen-Hof ein paar Kleinkinder gegeben hatte. Hatten sie damals nicht Kaninchen gehabt? In einem Käfig hinterm Haus, Olof hatte sich mal hingeschlichen, in einer Sommernacht, und ihn geöffnet, hatte die Tiere mit Löwenzahnblättern gelockt, bis sie herauskamen. Vielleicht hatte der Fuchs sie geholt.
Vielleicht aber waren sie auch endlich frei gewesen.
Mittsommer war für die Polizei einer der wohl schlimmsten Tage im Jahr. Hübsche Traditionen wie laubumwundene Stangen und besinnungslose Besäufnisse, Schlägereien und Übergriffe prägten die hellste aller schwedischen Nächte.
Eira Sjödin hatte sich freiwillig gemeldet. Schließlich gab es andere, die einen freien Tag brauchten, die Kinder hatten und so etwas alles.
«Musst du schon los?» Ihre Mutter folgte ihr in den Flur. Mit flatternden Händen griff sie nach diesem und jenem, was auf der Kommode im Flur herumlag.
«Ich muss arbeiten, Mama, das habe ich dir doch gesagt. Hast du vielleicht meinen Autoschlüssel gesehen?»
«Wann bist du denn wieder da?»
Den Schuhlöffel in der einen, einen Handschuh in der anderen Hand.
«Heute Abend spät.»
«Du brauchst nicht ständig vorbeizukommen, um nach mir zu sehen. Du hast bestimmt auch noch anderes zu tun.»
«Mama, ich wohne hier, hast du das vergessen?»
Und dann die Suche nach dem Schlüssel, den Kerstin Sjödin ganz bestimmt nicht angerührt hatte – «du kannst doch nicht behaupten, ich hätte es vergessen, wenn ich mich erinnere, dass ich ihn gar nicht genommen habe» –, bis Eira ihn schließlich in ihrer eigenen Hose vom Vortag wiederfand.
Sie streichelte ihrer Mutter kurz über die Wange.
«Wir feiern morgen, Mama, mit Hering und Erdbeeren.»
«Und mit einem kleinen Schnaps.»
«Ja, auch mit einem Schnäpschen.»
Vierzehn Grad, eine dünne, faserige Wolkendecke. Der Wetterbericht hatte Sonne im gesamten mittleren Norrland versprochen, bestes Trinkwetter zum Nachmittag hin. In jedem Haus, an dem sie vorbeikam, lag garantiert schon der Branntwein kalt, in Lunde und Frånö und Gudmundrå, in den Sommerhäuschen, in denen die Leute seit zwei oder drei Generationen immer wieder ihre Wochenenden verbrachten, und in den Kühlboxen auf den Campingplätzen.
Der Parkplatz am Polizeigebäude in Kramfors war nur zur Hälfte belegt. Die Einsatzkräfte konzentrierten sich ganz auf den Abend.
Im Eingangsbereich traf sie einen jungen Kollegen.
«Wir müssen los», sagte er. «Ungeklärter Todesfall, ein älterer Mann in Kungsängen.»
«Du meinst wohl Kungsgården?»
«Ja, genau, hab ich das nicht gesagt?»
Eira warf einen Blick auf das Namensschild an seiner Brust. Sie hatte ihn letzte Woche schon mal gesehen, aber bisher hatten sie noch nicht in derselben Schicht gearbeitet.
«Offenbar ein älterer Mann, der in der Dusche zusammengebrochen ist», fuhr er mit Blick auf den Bericht von der Einsatzleitstelle in Umeå fort. «Der Sohn hat ihn gefunden, zumindest hat ein Nachbar das so gemeldet.»
«Klingt eher wie ein Fall für den Pflegedienst», sagte Eira. «Warum sollen wir da hinfahren?»
«Es gab wohl Ungereimtheiten. Der Sohn war anscheinend drauf und dran abzuhauen.»
Eira ging sich rasch umziehen. August Engelhardt, genau, so hieß er. Ein weiterer Neuzugang frisch von der Ausbildung, mit an den Seiten kurz geschnittenem Haar und wehender Tolle, sportlich und bestimmt keinen Tag älter als siebenundzwanzig. Fernsehkommissare, die über Jahre zusammenarbeiteten, kamen ihr immer öfter wie Märchenfiguren aus längst vergangenen Zeiten vor.
In Wahrheit absolvierte man die Polizeihochschule in Umeå und prügelte sich dann um die Stellen vor Ort. Bewarb sich in wenig attraktiven Gegenden wie Kramfors, nur um sich zu beweisen, und blieb dort maximal ein halbes Jahr, pendelte am liebsten die zweihundertfünfzig Kilometer, bis sich doch noch etwas in der Landeshauptstadt mit ihren Cafés und veganen Restaurants ergab.
Dieser Typ unterschied sich nur dadurch von den anderen, dass er eine Polizeihochschule weiter im Süden besucht hatte. Aus Stockholm kam selten jemand hierher.
«Meine Freundin ist noch dort», sagte er, als sie durch Nyland fuhren. Eira sah die Uhren im viereckigen Turm des Amtsgerichts, eine in jeder Himmelsrichtung, die zu unterschiedlichen Zeiten stehengeblieben waren. Immerhin viermal am Tag ging die Uhr in Nyland richtig.
«Wir haben uns eine Wohnung gekauft, aber ich würde am liebsten in der Innenstadt arbeiten», fuhr August fort, «mit dem Fahrrad zur Arbeit und so. Keinen Stein an den Kopf bekommen, wenn ich aus dem Auto steige. Da dachte ich, ich könnte genauso gut eine Weile auf dem Land arbeiten, bis etwas Passendes frei wird.»
«Und eine ruhige Kugel schieben?»
«Ja, warum nicht?»
Er bemerkte ihren Sarkasmus gar nicht. Eira hatte nach der Ausbildung vier Jahre in Stockholm gearbeitet, in Västerort, und hatte romantische Erinnerungen daran, wie es war, ständig Kollegen um sich zu haben. Wenn man Verstärkung rief, war sie innerhalb von wenigen Minuten da.
Sie überquerten den Fluss über die Hammar-Brücke und fuhren stromabwärts Richtung Kungsgården. Auf dieser Seite erstreckte sich das ländliche Ådalen. Ohne darüber nachzudenken, hielt sie nach dem Hügel Ausschau, aus dem ein Pfahl aufragte. Ihr Vater hatte ihn ihr vor langer Zeit gezeigt. Dort hatte im vierzehnten Jahrhundert der nördlichste Königshof gelegen. Als der Meeresspiegel noch sechs Meter höher lag als heute und die Hügel noch Inseln waren. Manchmal entdeckte sie den Pfahl, manchmal ging er in der Landschaft unter, so wie heute. Bis hierher und nicht weiter hatte die königliche Macht sich erstreckt, der Vogt von Ångermanland hatte als verlängerter Arm des Königshauses regiert.
Nördlich davon begannen die Wildnis und die Freiheit.
Beinahe hätte Eira diese Geschichte erzählt, doch sie besann sich rechtzeitig. Es reichte vollkommen, dass sie sich mit zweiunddreißig ständig in der Position der älteren Kollegin wiederfand, da brauchte sie nicht auch noch diejenige zu sein, die alte Geschichten zu jedem Stein oder Pfahl zum Besten gab.
Ihr Vater hatte ihr auch den Mittelpunkt Schwedens gezeigt, in Ytterhogdal, auch wenn andere felsenfest behaupteten, er liege in Kårböle.
Gerade noch rechtzeitig bemerkte sie die Briefkästen am Straßenrand und bog schnell von der Straße ab, bremste auf dem Kies.
Irgendetwas an diesem Ort kam ihr bekannt vor, unmittelbar vertraut. Ein für Autos befahrbarer Schotterweg, wie Hunderte andere auch, auf dessen Mittelstreifen Unkraut wucherte. Löchrige Spuren, die vor langer Zeit mit Kies und gepresstem Lehm aufgefüllt worden waren, platt gefahrene Kiefernzapfen und Vorjahreslaub. Etwas verborgen stand ein unansehnliches Haus zwischen den Bäumen, Reste einer ehemaligen Scheune am Waldrand.
Sie hatte plötzlich das unbestimmte Gefühl, hier schon einmal mit dem Fahrrad entlanggefahren zu sein, mit einer Freundin, wahrscheinlich mit Stina. Eira hatte seit Jahren nicht mehr an sie gedacht, doch jetzt war es, als befände sie sich direkt neben ihr. Das angespannte Schweigen, während sie zu diesem verwilderten Waldstück hinauffuhren, atemlos, als wäre es etwas Verbotenes.
«Ich habe den Namen vorhin nicht mitbekommen», sagte sie. «Wie hieß der Mann noch mal?»
«Patrik Nydalen.» August schaute auf sein Handy und scrollte. «Das war der, der angerufen hat. Der Tote heißt Sven Hagström.»
Dort, hinter den ersten Fichten, hatten sie damals die Fahrräder versteckt. Mächtige Bäume. Dieser Wald war noch nie abgeholzt worden. Eine fast unerträgliche Spannung, das Herz hatte ihnen bis zum Halse geklopft.
«Und der Sohn», fragte sie, ohne zu atmen, «der abhauen wollte?»
«Tja, wie hieß der noch … Warte mal kurz … Nein, das steht hier gar nicht.»
Eira schlug mit der Faust aufs Lenkrad, einmal, zweimal.
«Wieso ist das niemandem aufgefallen, verdammte Scheiße, erinnert sich denn niemand mehr daran?»
«Wieso? Was hätte mir denn auffallen sollen?»
«Nicht dir. Dass du keine Ahnung hast, ist mir schon klar.» Eira ließ das Auto wieder anrollen, unendlich langsam, während der Fichtenwald näher kroch, ein dumpfes, urzeitliches Dunkel. Der Mann neben ihr hatte wahrscheinlich noch in die Windeln gemacht, als es passiert war. Sämtliche Blaulichteinsätze in ganz Norrland wurden seit ein paar Jahren von der regionalen Einsatzleitstelle, der RCL, in Umeå gesteuert. Man konnte wohl kaum erwarten, dass sie dort Ereignisse auf dem Schirm hatten, die vor mehr als zwanzig Jahren in Ångermanland geschehen waren.
Zumal der Name nie veröffentlicht worden war.
«Vielleicht spielt es auch gar keine Rolle.»
«Was? Was spielt keine Rolle?»
Eira spähte in den Wald hinein. Moosbewachsene Felsen, Blaubeersträucher, sie und Stina waren gebückt hier entlanggelaufen, über Wildpfade bis zum Haus. Hatten sich unter den Zweigen versteckt und hinübergeschaut. Um zu sehen, wie so jemand lebte.
Die Jahre ratterten durch ihren Kopf, Mathematik. Zwanzig Jahre war es jetzt her. Olof Hagström musste also inzwischen siebenunddreißig sein und wartete irgendwo auf der Kuppe dieses Hügels – wenn die Angaben tatsächlich stimmten.
Eira wich einem Schlagloch aus und stieß stattdessen gegen einen Stein.
«Olof Hagström hat vor vielen Jahren ein schweres Verbrechen begangen», sagte sie. «Er hat eine Vergewaltigung und einen Mord gestanden.»
«Oh», sagte August Engelhardt. «Und die Strafe hat er jetzt abgesessen? Das hätte denen beim RLC aber tatsächlich auffallen können.»
«Es steht in keinem Register. Er wurde nie verurteilt. Die ganze Angelegenheit ging noch nicht einmal vor Gericht. Sein Name wurde nirgendwo veröffentlicht, so was haben die Medien damals noch nicht gemacht.»
«Wann war das denn? In der Steinzeit?»
«Er war noch nicht strafmündig», sagte Eira. «Er war erst vierzehn.»
Die Ermittlungen waren eingestellt und anschließend als Verschlusssache behandelt worden, dennoch wusste man natürlich in ganz Ådalen, wahrscheinlich hinauf bis Höga Kusten und noch weiter, bis Skellefteå, um wessen Sohn es sich bei dem Festgenommenen handelte, der in den Medien nur «der Vierzehnjährige» genannt wurde. Es war alles untersucht, erwiesen und vorbei. Die Kinder durften wieder alleine draußen spielen. Konnten unter Zweigen hocken und den Ort ausspionieren, an dem er gewohnt hatte, jetzt, da er fortgeschickt worden war. Seine Schwester sonnte sich auf dem Grundstück, ein Herrenfahrrad, es musste ihm gehört haben. Das Fenster im Haus des Mörders. Was da drinnen wohl vor sich ging?
Und stell dir vor, das Haus sieht aus wie jedes andere.
Eira parkte auf dem Grundstück.
Ein Holzhaus wie tausend andere, Wind und Regen ausgesetzt und nicht in der Lage, dem Wald zu trotzen, ein Rot, das in Grau überging, an den Giebeln abblätternde, weiße Farbe.
«Vielleicht hat es gar keine Bedeutung», sagte sie. «Vielleicht handelt es sich um einen ganz natürlichen Todesfall.»
Ein kleines Grüppchen hatte sich bereits neben einem Steinhaufen auf der anderen Seite des Wegs versammelt. Ein relativ junges Paar, etwas über dreißig, vielleicht auch jünger. Der Kleidung nach eher Sommerurlauber, ein bisschen zu viel Weiß, ein bisschen zu teuer für diese Gegend. Die Frau saß auf einem Felsblock, der Mann so nah daneben, wie man es nur tut, wenn man eine intime Beziehung hat. Ein paar Meter entfernt stand ein untersetzter älterer Mann in Fleecejacke und tief hängender Hose, er trat auf der Stelle und schien sich unwohl zu fühlen, weil er herumstehen musste, definitiv jemand, der hier dauerhaft wohnte.
Etwas weiter weg, in der Einfahrt zur Garage: eine schwarze, amerikanische Luxuskarosse. Auf dem Fahrersitz saß ein korpulenter Mann, nach hinten gelehnt, es sah aus, als würde er schlafen.
«Das hat aber lange gedauert.»
Der weiß gekleidete Mann löste sich aus der Gruppe, schüttelte ihnen die Hand und stellte sich vor. Patrik Nydalen. Der, der angerufen hatte. Eira brauchte ihn nicht aufzufordern, alles noch einmal genau zu erzählen – er tat es von selbst.
Sie seien die Nachbarn, zumindest jetzt im Sommer. Patrik deutete den Weg hinauf, er sei dort oben aufgewachsen, kenne Hagström aber nicht näher, seine Frau natürlich auch nicht. Sofi Nydalen stand auf. Eine schmale Hand, ein nervöses Lächeln.
Der ältere Nachbar schüttelte den Kopf. Auch er kenne Hagström nicht gut, also nicht näher, nein, das könne man nicht sagen. Sie wechselten am Briefkasten hin und wieder ein paar Worte, halfen sich gegenseitig beim Schneeräumen.
Wie Nachbarn es taten.
Eira machte sich ein paar Notizen. Sie stellte fest, dass August ebenfalls schrieb.
«Ich glaube, er steht unter Schock», sagte Patrik Nydalen und nickte zu dem Mann in dem amerikanischen Schlitten hinüber. «Ein Wunder wäre es nicht, wenn es denn stimmt, was er gesagt hat.»
Er habe Olof Hagström zunächst nicht wiedererkannt, könne sich aber auch kaum an ihn erinnern. Ein Glück, dass er so früh zum Joggen aufgebrochen sei, weil er habe zurück sein wollen, bevor auf den Landstraßen zu viel los sei, und weil er die Zeitung habe holen wollen, Dagens Nyheter, die sie hierher umbestellt hätten. Wer weiß, was sonst passiert wäre.
Er habe Olof aufgefordert, zum Haus zurückzufahren und auf die Polizei zu warten.
«Es war unangenehm, hier so zu stehen, ehrlich gesagt, aber man hat mich gebeten zu warten, also habe ich es gemacht. Obwohl es sehr lange gedauert hat.» Patrik schaute auf die Uhr, um zu zeigen, was er davon hielt, dass die Polizei so langsam war.
Eira hätte ihm erklären können, dass es lediglich zwei Einsatzfahrzeuge für ein Gebiet gab, das sich von der Küste bis zu den Bergen erstreckte, von Härnösand bis zur Grenze von Jämtland, sie hätte von kilometerlangen Strecken erzählen können und einer Besetzung, die sich auf den Abend konzentrierte, weil heute Mittsommer war, der einzige Tag im Jahr übrigens, an dem in Härnösand zusätzlich ein Helikopter zur Verfügung stand, weil es geografisch unmöglich war, zu irgendwelchen Partys in Junsele und Norrfällsviken gleichzeitig auszurücken.
«Und von Ihnen ist keiner im Haus gewesen?», fragte sie.
Die drei verneinten das.
Ehefrau Sofi in ihrem wehenden Sommerkleid hatte sich zu Patrik gesellt und ihm Kaffee und ein Brot mitgebracht, damit er etwas in den Magen bekäme, er sei schließlich noch vor dem Frühstück zum Laufen aufgebrochen. Anders als ihr Mann sei sie nicht aus der Gegend. Sie komme aus Stockholm, erklärte sie, liebe aber die Landschaft hier. Sie hoffe, jetzt nicht plötzlich Angst vor der Einsamkeit und Stille haben zu müssen, die sie eigentlich so sehr genieße. Sie hätten geplant, fast die gesamten Ferien hier zu verbringen, auf dem kleinen Hof, auf dem Patrik aufgewachsen sei, nichts Besonderes, überhaupt nicht, aber so authentisch. Die Schwiegereltern seien noch sehr fit und für die Sommermonate ins Backhaus gezogen, damit sie als Familie mehr Platz hätten. Im Moment seien sie zum Glück mit den Kindern am Strand.
Sofi griff nach der Hand ihres Mannes.
Dem älteren Nachbarn, der sich als Kjell Strinnevik vorgestellt hatte und der in dem Haus wohnte, das näher an der Landstraße stand als die anderen, war bereits gestern aufgefallen, dass Hagström seine Zeitung nicht reingeholt hatte. Viel mehr konnte er ihnen aber auch nicht sagen. Soweit er sich erinnerte, hatte er den Alten die ganze Woche nicht gesehen, aber er sei auch niemand, der hinter der Gardine stehe und rumspioniere, er habe genug anderes zu tun.
«Und Sie sind doch die Tochter von Veine Sjödin aus Lunde, oder? Ja, das hat sich herumgesprochen, dass die Polizistin geworden ist.» Kjell Strinnevik kniff die Augen zusammen, missbilligend vielleicht, aber auch bewundernd.
Eira bat ihren Kollegen, die Personalien aufzunehmen. Nicht unbedingt, weil es seine Aufgabe war, sondern weil es wichtiger war, Olof Hagström anzuhören, und deshalb gut, wenn sich die Erfahrenere von ihnen darum kümmerte.
Das neunjährige Mädchen in ihr sah das genauso.
Sie ging zum Auto hinüber. Ein Pontiac Firebird Trans Am, Modell 1988, laut Patrik Nydalen, dessen Stimme leiser wurde, während sie sich über die Abkürzung durch die Wiese entfernte.
«Etwas seltsam, dass er über Fahrzeugmodelle sprach, wo er doch gerade seinen Vater tot aufgefunden hatte. Aber klar, wer weiß, wie man selbst reagieren würde. Wobei wir eine gute Beziehung haben, meine Eltern und ich, mein Vater würde niemals so allein irgendwo liegen bleiben …»
Der Garten war ungepflegt, aber nicht verwildert. Das Gras gelb von der frühen Trockenheit dieses Sommers. Allem Anschein nach hatte sich bis vor Kurzem noch jemand um alles gekümmert und es erst im letzten Jahr oder so aufgegeben.
Ein schwarzer Hund legte von innen die Vorderpfoten an die Autoscheibe und bellte. Der Mann blickte auf.
«Olof Hagström?»
Sie hielt ihre Dienstmarke so, dass er sie sehen konnte. Eira Sjödin, Polizeimeisterin in Kramfors, Ångermanland, südlicher Polizeidistrikt.
Sein Arm schien schwer, als er die Scheibe herunterkurbelte.
«Können Sie mir erzählen, was passiert ist?», fragte sie.
«Er saß einfach da.»
«In der Dusche?»
«Mmh.» Olof Hagström sah auf den Hund herab, der in einer zerrissenen Hamburgertüte auf dem Boden herumwühlte. Eira musste sich anstrengen, um zu hören, was er murmelte. Dass er überlegt habe, einen Krankenwagen zu rufen. Schlechter Empfang hier. Er habe nicht abhauen wollen, er habe nur zur Straße gewollt.
«Lebte Ihr Vater allein hier?»
«Keine Ahnung. Er hatte den Hund.»
Vielleicht lag es am Geruch, dass ihr plötzlich übel wurde. Es war der Gestank von jemandem, der lange nicht geduscht hatte, dazu der verdreckte Hund, der in den Essensresten im Fußraum wühlte, oder es war der Gedanke, dass sich unter den Fettwülsten und den Jahren, die seitdem vergangen waren, ein Mann verbarg, der ein sechzehnjähriges Mädchen vergewaltigt und mit einer Weidenrute erwürgt hatte, bevor er ihre Leiche in den Fluss geworfen hatte.
Damit sie mit der Strömung davontrieb, in das gewaltige Bottenmeer und ins Vergessen.
Eira richtete sich auf und machte sich Notizen.
«Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?»
«Das ist schon eine Weile her.»
«War er irgendwie krank?»
«Wir haben uns lange nicht gesprochen … Ich weiß gar nichts über ihn.»
Er hatte kleine Augen, die tief in seinem runden Gesicht lagen. Wenn er sie ansah, hob er den Blick nicht weiter als ungefähr auf Höhe ihres Kinns. Es störte sie, dass sie sich dadurch ihrer Brüste bewusst wurde.
«Wir müssten ins Haus», sagte sie. «Ist die Tür offen?»
Die Autotür flog auf, und sie trat rasch zurück. Der Kollege bemerkte die veränderte Situation und war sofort bei ihr, doch Olof Hagström stieg nicht aus, lehnte sich nur halb aus dem Wagen, sodass er besser zeigen konnte.
Ein runder Stein neben dem überdachten Hauseingang, anders geformt als die anderen Steine. Eira zog sich Handschuhe an. Das war ein etwa ebenso einfältiges Versteck wie eine Hängeampel auf der Veranda oder ein kaputter Schuh. Die Leute mussten Einbrecher wirklich für Idioten halten, was sie ja auch tatsächlich nicht selten waren.
«Was hältst du von ihm?», fragte ihr Kollege leise.
«Erst mal noch gar nichts», sagte Eira und schloss auf.
«Oh, mein Gott.» August hielt sich beim Eintreten die Hand vors Gesicht. Es stank erbärmlich nach Hundekot. Keine übergroße Ansammlung von Fliegen, nur jede Menge Krempel im Flur, der sich weiter bis in die Kammer erstreckte, Tüten mit Zeitungen und Flaschen, ein Rasentrimmer und Blechschüsseln und reiner Schrott. Eira atmete durch den Mund, sie hatte schon Schlimmeres erlebt. Einmal waren sie zu jemandem reingekommen, der schon ein halbes Jahr gelegen hatte.
Auf Gewalt war sie vorbereitet gewesen, als sie Polizistin geworden war, aber nicht auf die Einsamkeit. Das setzte ihr sehr zu. Häuser wie dieses, in denen das Leben damit endete, dass keiner mehr kam.
Sie trat ein paar Schritte in die Küche, dabei passte sie gut auf, wohin sie ihre Füße setzte. Der Hund hatte in seinen eigenen Exkrementen gewühlt. Herausgerissene und zerkaute Lebensmittelverpackungen.
Eira wünschte sich, sie wäre eine jener Polizistinnen, die einen Tatort sahen und sofort wussten, was passiert war. Doch das war sie nicht. Sie kam durch Sorgfalt zum Ziel. Durch Beobachten, Dokumentieren und indem sie im Anschluss alle Einzelheiten zusammenfügte.
In einem Becher getrockneter Kaffeesatz. Ein leerer Teller mit Brotkrümeln. Die Zeitung, die aufgeschlagen auf dem Tisch lag, war von Montag. Das war vier Tage her. Das Letzte, was Sven Hagström in seinem Leben gelesen hatte, war ein Artikel über Einbrüche in Ferienhäuser hier in der Umgebung. Vermutlich Drogenabhängige aus der Gegend, die nach einem Gefängnisaufenthalt wieder draußen waren. Das war zumindest Eiras Kenntnisstand, und sie wusste auch, dass das Diebesgut wahrscheinlich in irgendeiner Scheune in Lo bei Styrnäs stand, während in den Medien über Diebesbanden von der anderen Seite der Ostsee spekuliert wurde.
August Engelhardt folgte ihr ins Badezimmer. Du gewöhnst dich schon noch dran, dachte Eira. Das geht schneller, als man denkt.
Vor der offenen Tür hatte sich ein kleiner See gebildet.
Der Anblick, der sich ihnen bot, war unfassbar traurig. Der Mann wirkte so schutzlos in seiner Nacktheit. Seine weiße Haut erinnerte an Marmor.
Bevor Eira im letzten Winter nach Ådalen heimgekehrt war, hatte sie einen Einsatz in einer Wohnung in Blackeberg gehabt, wo jemand bereits zwei Wochen in der Badewanne gelegen hatte. Die Haut hatte sich gelöst, als die Techniker die Leiche berührt hatten.
«Wollen wir nicht auf einen Arzt warten?», fragte August hinter ihr.
Sie machte sich nicht die Mühe, etwas zu erwidern. Ja, glaubst du nicht, dass ich das tun würde, wenn es nicht unsere Aufgabe wäre herauszufinden, was hier passiert ist – würde ich dann wohl vornübergebeugt mit der Nase im Gesicht eines vor mehreren Tagen Verstorbenen dastehen? Die Dämpfe einatmen, die aufsteigen während des Zersetzungsprozesses, der begonnen hat, seit das Wasser nicht mehr läuft?
Eira drehte vorsichtig den Stuhl. Es war einer von der Sorte, wie sie im Krankenhaus verwendet werden, um Patienten zu duschen, die sonst fallen könnten, Plastik und Metall. Der Hintern war in den offenen Sitz hineingerutscht.
Sie begab sich ein wenig in die Hocke, um Bauch und Brustkorb der Leiche sehen zu können. Da war kein Blut, obwohl sie eine klaffende Wunde sah. Ein Schnitt quer über die obere Hälfte des Bauches. Sie konnte die Wundränder sehen und einen Teil des Körperinneren.
Leichter Schwindel, als sie sich aufrichtete.
«Was denkst du?», fragte ihr Kollege, als sie wieder im Wohnzimmer standen.
«Nur eine einzige Wunde», sagte Eira, «soweit ich das sehen konnte.»
«Ein Profi, meinst du?»
«Vielleicht.»
Eira musterte die Tür. Es gab keine Spuren von Gewalteinwirkung.
«Meinst du, es war jemand, den er kannte?», fragte August und trat ans Fenster, mit Aussicht auf die Einfahrt, in der das amerikanische Auto stand, «jemand, der einfach reinkonnte? Es scheint keine Einbruchspuren zu geben, aber vielleicht wusste jemand, wo der Schlüssel lag.»
«Wenn es Montag passiert ist, war er auf jeden Fall noch draußen, um die Zeitung zu holen», sagte Eira. «Dabei könnte er die Haustür offen gelassen haben. Und so ein Badezimmerschloss lässt sich ja leicht mit einem Messer oder Schraubenzieher öffnen, falls er überhaupt abgeschlossen hatte. Warum hätte er das tun sollen, wenn er alleine lebte?»
«Verdammt!»
August rannte in den Flur und hinaus. Eira holte ihn am Fuße des überdachten Hauseingangs ein. Olof Hagström saß nicht mehr im Auto. Die Tür auf der Fahrerseite stand sperrangelweit offen.
«Ich habe ihn durchs Fenster nicht mehr gesehen», keuchte August, «nur noch das Auto. Er kann nicht weit sein, nicht in seiner körperlichen Verfassung.»
Hatten sie die Nachbarn nicht gebeten, nach Hause zu gehen? Falls ja, hatte Kjell Strinnevik sich nicht daran gehalten, und dafür konnten sie ihm nur dankbar sein. Er stand ein Stück weiter unten auf dem Weg. Zeigte in den Wald, zum Fluss hinunter.
«Wo ist er hin?»
«Er hat gesagt, er muss mal pinkeln.»
Sie gingen jeweils um eine Ecke des Hauses herum. Olof Hagström war nirgends zu sehen. Ein Fels fiel steil ab, der Wald war dicht und hellgrün, Jungbäume nach einem Kahlschlag vor etwa zwanzig Jahren, Himbeersträucher und Weidenröschen. Eira rief Verstärkung, während sie den kürzesten Weg den Abhang hinunter nahm und so schnell rannte, wie es zwischen Steinhaufen und Unterholz möglich war.
«Mein Fehler», sagte sie. «Ich habe bei ihm keine Fluchtgefahr gesehen.»
«Warum auch, dann hätte er doch gar nicht erst auf uns gewartet.»
Eira fluchte, als die Äste eines umgestürzten Baumes ihre Schienbeine zerkratzten.
«Willkommen in der Wirklichkeit», sagte sie. «Hier ist nicht immer alles logisch.»
Als Erstes sahen sie durch das Birkenwäldchen hindurch den Hund, er stand draußen im Wasser, ein paar Meter vom Ufer entfernt. Dann entdeckten sie auch den Mann. Er saß ganz still auf einem Baumstamm am Ufer. Ihr Kollege bahnte ihnen einen Weg durch die meterhohen Brennnesseln. Ein paar Möwen flogen kreischend auf.
«Wir müssen Sie bitten mitzukommen», sagte August Engelhardt.
Olof Hagström blickte ausdruckslos über den Fluss. Die Spiegelung des Himmels zerbrach in tausend Scherben, wo der Wind über das Wasser fuhr.
«Das Boot lag immer hier am Ufer», sagte er. «Aber jetzt ist es anscheinend fort.»
«Nein, Mama, eigentlich war gestern schon Mittsommer», wiederholte Eira zum dritten Mal, während sie die Heringsgläser aufschraubte. «Ich habe doch gesagt, wir feiern stattdessen heute.»
«Ja, ja, es macht ja auch keinen Unterschied.»
Eira riss die Plastikfolie von den Lachsscheiben und streute ein wenig Schnittlauch darüber, deckte den Tisch. Sie hatte ihre Mutter dazu überreden können, die Kartoffeln zu schälen. Teilhabe. Vertraute Umgebung. Dinge, die wichtig waren, um am Leben festzuhalten.
«Haben wir wirklich nicht mehr Kartoffeln im Garten?», murrte Kerstin Sjödin. «Wie soll denn das für alle reichen?»
«Wir sind doch nur zu zweit», sagte Eira. Durchs Fenster sah sie den zugewucherten Kartoffelacker, das Kraut, das schlaff herabhing. Sie sagte ihrer Mutter nicht, dass die frischen Kartoffeln aus dem Supermarkt stammten.
«Und was ist mit Magnus? Und den Kindern?»
Die Wirklichkeit in Watte zu packen und zu verfälschen, war wohl kaum der richtige Weg, um einer zunehmenden Demenz zu begegnen.
«Ich habe ihn eingeladen», sagte Eira, «aber er kommt nicht. Magnus geht es gerade nicht so gut.»
Ersteres war gelogen. Sie hatte ihren Bruder nicht angerufen. Der Rest stimmte. Sie hatte ihn vor ein paar Wochen von Weitem in Kramfors gesehen.
«Dann hat er dieses Wochenende die Kinder gar nicht?»
Das energische Schrubben hörte auf. Der Blick ihrer Mutter wurde trüb. Die Hände erschlafften im erdigen Kartoffelwasser.
«Nein, dieses Wochenende nicht.»
Ihre Schatten fielen auf den Tisch, der nur für zwei gedeckt war. Der Strauß mit den Mittsommerblumen und den Butterblumen sah so kindlich aus. Aber ich bin hier, wollte Eira sagen, obwohl sie wusste, dass es nichts helfen würde.
«Erinnerst du dich an Lina Stavred?», fragte sie stattdessen, während die Kartoffeln kochten und sie von den Erdbeeren naschten. Sie schenkte ihnen beiden ein Glas Bier ein, ihrer Mutter ein normales Folköl, sich selber ein IPA von der neuen Hofbrauerei in Nässom. Man musste tun, was man konnte, für die Tapferen, die sich in dieser Gegend an die Gründung eines Start-ups wagten. «Du weißt schon, das Mädchen, das damals verschwunden ist?»
«Nein, weiß ich nicht …»
«Doch, Mama. Du erinnerst dich. Sommer 1996, sie war erst sechzehn. Drüben bei Marieberg ist es passiert, auf dem Weg, der am Fluss entlangführt, unterhalb von Borgen und dem Holzlager des Sägewerks, wo auch das Arbeiterbadehaus lag.»
Sie benannte die Orte bewusst. Das Signifikante und Konkrete, Dinge, die ihre Mutter von früher kannte, sodass sie daran anknüpfen konnte. Ihr Vater hatte in den Sechzigerjahren in dem Sägewerk gearbeitet, bevor es geschlossen wurde. Das Haus ihrer ersten Kindheitsjahre lag ganz in der Nähe. Eira fiel plötzlich auf, dass fast alles in diesem Milieu als alt und ehemalig beschrieben werden musste. Als Erinnerungen an etwas, das einmal war.
«Du hattest eine Freundin dort, Unni, die in einer Wohnung in den ehemaligen Arbeiterkasernen namens Paradis wohnte. Ich erinnere mich, dass sie damals für ein paar Tage zu uns kam, sie wohnte allein und wollte lieber bei uns schlafen.»
«Ja, ja, ich bin ja nicht senil, auch wenn du das zu denken scheinst. Sie ist später weggezogen – wann war das? Hatte in Sundsvall einen Jazzmusiker kennengelernt. Manche Frauen können einfach nicht allein sein.»
Kerstin stach eine Kartoffel an. Sie war perfekt, weich, ohne zu zerfallen, es war, als hätte sie einen inneren Timer für so etwas. Es gibt sie noch, diese Momente, dachte Eira, noch so viel, was von ihr übrig ist.
«Der Vierzehnjährige», fuhr sie fort, «du weißt schon, der es getan hatte. Er ist zurück in Kungsgården, ich habe ihn dort gesehen.»
«Gruselig.» Ihre Mutter ließ Butter auf den Kartoffeln schmelzen und zerdrückte sie, dann rührte sie saure Sahne unter, nahm viel zu große Bissen. Mischte Hering und Lachs und schaufelte alles gierig in sich hinein. Es gehörte zur Krankheit, dieses Verlangen nach Nahrung. Vielleicht hatte sie vergessen, dass sie erst vor ein paar Stunden etwas zu sich genommen hatte, oder sie fürchtete, nie wieder etwas zu bekommen, nichts mehr für ihr eigenes Überleben tun zu können. «Wie kann man so jemanden wieder freilassen.»
«Kennst du Sven Hagström?»
Schweigen. Kauen.
«Bitte, wen?»
«Den Vater von Olof Hagström, dem Lina-Mörder. Anscheinend ist er all die Jahre in Kungsgården wohnen geblieben.»
Ihre Mutter schob den Stuhl zurück und stand auf, begann, im Kühlschrank nach etwas zu suchen.
«Ich weiß, dass ich eine Flasche kalt gestellt hatte, und jetzt ist sie nicht mehr da.»
«Mama.» Eira winkte mit dem Schnaps, der auf der Anrichte stand, Wermut, sie hatten sich bereits einen kleinen genehmigt. Eira schenkte ihnen nach.
«Hej und zum Wohl», sagte Kerstin und kippte ihren hinunter.
Es kam Eira vor, als würde sich die Augenfarbe ihrer Mutter mit der Krankheit verändern, das Blau wurde blasser, wenn sie sich in der Zeit verlor, und leuchtete auf, wenn sie wieder etwas zu fassen bekam. Jetzt gerade waren sie sehr blau.
«Sven Hagström wurde gestern tot aufgefunden», sagte Eira. «Ich frage mich, was er für ein Mensch war. Wie man sich durch so etwas verändert. Wenn der eigene Sohn …»
«War er mit Emil Hagström verwandt?»
«Keine Ahnung. Wer ist das?»
«Der Dichter!» Erneut leuchteten Kerstins Augen im tiefsten Blau. Für einen Moment klang sie so barsch und selbstbewusst wie früher. «Den musst du doch kennen, auch wenn du so gut wie keine Bücher liest.»
Sie streckte die Hand nach der Flasche aus und schenkte sich noch einen Schnaps ein. Eira hielt die Hand über ihr Glas. Am liebsten hätte sie gesagt, dass sie sehr wohl Bücher las, oder zumindest hörte, manchmal beim Laufen, und dann gerne in einem etwas höheren Tempo, damit es nicht so langweilig war.
«Sven Hagström», wiederholte sie stattdessen und memorierte die grundlegenden Fakten, die sie über ihn herausgefunden hatten, während sie auf den Kollegen warteten, der die Ermittlungen leitete. «Geboren 1945, genau wie Papa. Zog in den Fünfzigerjahren mit seinen Eltern nach Kungsgården, also wäre es nur wahrscheinlich, dass ihr euch mal kennengelernt habt. Er hat in der Holzsortieranlage in Sandslån gearbeitet, bevor sie mit dem Flößen aufgehört haben, war eine Weile auch in der Hockeymannschaft …»
«Nein, den kenne ich nicht.» Erneut kippte Kerstin den Schnaps in einem Zug herunter, hustete und tupfte sich den Mund sorgfältig mit der Serviette ab. Ihr Blick irrte unruhig umher. «Und dein Papa auch nicht, keiner von uns kannte ihn.»
«Ich war in seinem Haus», fuhr Eira fort, ohne recht zu wissen, warum sie so darauf beharrte. Es war sowieso aussichtslos und polizeilich betrachtet äußerst grenzwertig. Vielleicht, weil sie sich ärgerte, schon wieder keine Antworten zu bekommen, als eine Art Rache für alles, worüber in ihrer Kindheit geschwiegen und getuschelt worden war. Und selbst wenn sie damit das Verschwiegenheitsgebot verletzte, ihre Mutter würde es ohnehin bald wieder vergessen.
«Ich muss daran denken, dass er so viele Bücher hatte, fast eine ganze Wand voll. Vielleicht hat er sich am Bücherbus welche ausgeliehen. Du erinnerst dich doch immer, wer was gerne las. Du hast immer alles herausgesucht und genau das mitgenommen, was sie haben wollten, wenn du den Bus beladen hast. Oder Gunnel Hagström, seine Frau. Später haben sie sich scheiden lassen. Nach dem Mord an Lina, nachdem Olof weggeschickt worden war …»
Ihr Handy unterbrach sie. Die Arbeit, endlich. Sie ging zur Küchentür hinaus. Während der Vorbereitungen für das Essen hatte sie permanent mit sich gerungen, ob sie anrufen und fragen sollte. Die ersten vierundzwanzig Stunden waren verstrichen, über die Anordnung der Untersuchungshaft musste jetzt entschieden worden sein. Olof Hagström konnte wieder auf freiem Fuß sein. Oder auch nicht.
«Hallo», sagte August Engelhardt. «Ich dachte, du möchtest vielleicht auf den neuesten Stand gebracht werden. Es sei denn, deine Freizeit ist dir heilig.»
«Ist er in Untersuchungshaft?»
«Ja, ich habe es gerade erfahren. Uns bleiben also drei Tage.»
«Wir?», rutschte es ihr heraus. Eine Morduntersuchung blieb normalerweise nicht einfach bei ihnen auf dem Schreibtisch, sondern flog in Windeseile nach Sundsvall, in die Abteilung für Gewaltverbrechen. Zu Beginn wurden immer noch alle Ressourcen herangezogen, diensthabende Kriminalbeamte, die örtliche Polizei, Zivilfahnder, sogar Polizeimeisteranwärter, die Überstunden machen konnten, um die wichtigsten Dinge zu sichern, doch das meiste von Gewicht wurde hundert Kilometer weiter südlich abgehandelt. Sie selbst hatte an jenem Morgen einen Augenblick zu lange gezögert, mit dem Telefon in der Hand. Sie wollte sich gerade freiwillig für Überstunden melden, als in der Küche der Timer losging und sie das Handy fallen lassen musste, um den Västerbotten-Pie aus dem Backofen zu ziehen, und dann hatte sie den Blumenstrauß gesehen, den ihre Mutter gepflückt hatte, und es nicht über sich gebracht, die Mittsommerfeier noch einen weiteren Tag zu verschieben.
«Haben sie noch mehr?», fragte sie und ließ sich auf die Hollywoodschaukel fallen. Die Schaukel quietschte, und Eira stellte die Füße auf den Boden, um sie anzuhalten.
«Nicht viel mehr als gestern», sagte August. «Sie warten auf die Auskunft des Mobilfunkanbieters und die Aufnahmen der Überwachungskameras in der Bahn und so was alles. Doch es reichte gut und gerne, um ihn festzunehmen. Fluchtgefahr und mögliche Behinderung der polizeilichen Ermittlungen.»
«Hat er geredet?»
«Er streitet weiterhin alles ab. Morgen früh bringen sie ihn nach Sundsvall und befragen ihn dort.»
Damit der Vernehmungsleiter rechtzeitig zum Mittagessen wieder bei Frau und Kindern sein kann, dachte Eira.
Sie sah Olof Hagström vor sich, in dem engen Vernehmungszimmer, wo sie ihn gestern einer ersten Befragung unterzogen hatte. Er hatte den Raum beinahe komplett ausgefüllt.
Die Anspannung, weil sie ja wusste, was er getan hatte. Ein Mörder konnte im Zorn handeln oder in Panik. Vergewaltigung jedoch war etwas anderes. Sie durfte sich durch seinen Blick nicht provozieren lassen, als er sie endlich ansah. Seinen Atem. Die feisten Hände, die auf dem Tisch lagen. Eira hielt den Blick auf seine dicke Armbanduhr gerichtet, analog, mit Kompass und allem möglichen Drum und Dran, wie man sie heute kaum noch zu Gesicht bekam, sah den Sekundenzeiger Runde um Runde drehen, während sie darauf wartete, dass er etwas sagte.
Die Vernehmung folgte strengen Richtlinien. Wenn der Verdächtige frei zu reden begann, sollte sie ihn unterbrechen, damit er nicht zu viel sagte, bevor der Anwalt eintraf. Bei Olof Hagström war das kein größeres Problem gewesen. Er schwieg, während Eira ihn über seine Rechte unterrichtete, ihm erklärte, warum er hier war und wessen man ihn verdächtigte. Und dann die einzige Frage: Was er dazu zu sagen habe?
Sie hatte sein Schweigen als störrisch empfunden, beinahe aggressiv, sah sich gezwungen, die Frage zu wiederholen. Das Murmeln, das er daraufhin von sich gab, war unverständlich und leiernd gewesen, wie ein Gebet.
Ich war es nicht.
Ich war es nicht.
Wie oft hatte er das wiederholt?
«Danke, dass du angerufen hast», sagte Eira und schlug eine Mücke tot, die sich an ihrem Knöchel gütlich getan hatte.
Sie schaukelte noch eine Weile in der Hollywoodschaukel. Lauschte auf das Quietschen und den Wind, das gedämpfte Murmeln von einer Nachbarterrasse. Die Mutterstimme drinnen, beunruhigt und schwach.
«Hallo? Ist da draußen jemand?»
Die Worte hallten in ihm nach. Stimmen drängten sich in seine Zelle, sie schnitten in seinen Schädel, vor allem die Stimme der Frau, böse und aufdringlich, eine Stimme, die in ihn hineinwollte.
In Dingen graben, die sie nichts angingen.
Was haben Sie dazu zu sagen?
Bla, bla, bla.
Olof ging in der Zelle auf und ab, fünf Schritte hin, fünf zurück, er war nicht mehr als ein Tier in einem Käfig. Er fühlte sich in der Zeit zurückversetzt, obwohl es so lange her war. Damals hatte er eher so etwas wie ein normales Zimmer gehabt, an diesem Ort, wo Jugendliche eingesperrt wurden, dennoch war es dasselbe gewesen. Er war eingesperrt. Bekam Mittag- und Abendessen auf einem Tablett gebracht. Am Essen war an sich nichts auszusetzen, Fleisch mit Soße und Kartoffeln. Es war die Luft, die nicht ausreichte, die Wärme, in der er noch stärker schwitzte als sonst. Das Loch, von dem sie gesagt hatten, dass er sich dort Wasser holen könne, stank nach Urin. Sie wollten ihn wohl dazu bringen, Pisse zu trinken. Sie behaupteten, er habe seinen eigenen Vater erschlagen.
Als hätte er einen Vater gehabt.
Dem männlichen Polizisten aus Sundsvall gegenüber zu schweigen, war fast einfacher. Männer verstanden etwas davon. Sie wussten, dass es eine Stärke war, nicht unnötig zu quatschen. Ein Wettkampf, wer zuerst nachgab. Ein Kräftemessen. Wer stärker und wozu man in der Lage war.
Olof legte sich wieder auf den Boden. Es war nicht bequem, aber er lag lieber dort. Die Pritsche war einfach zu schmal. Er starrte an die Decke. Sah durch das Fenster ein Stückchen Himmel. Wenn er die Augen schloss, tauchte der gealterte Körper seines Vaters auf, und er wurde sich der vielen Jahre bewusst, die vergangen waren.
Sein Vater, der aufstand und aus der Dusche auf ihn zukam.
In meiner Familie lügt man nicht, habe ich dir das nicht beigebracht? Ein Mann steht zu dem, was er getan hat.
Und dann die Ohrfeige.
Sag endlich die Wahrheit, du kleiner Dreckskerl.
In seinem Kopf war die Vaterstimme nicht alt, es lag nichts Gebrechliches oder Schwächliches darin.
Sie warten draußen auf dich. Gehst du raus wie ein Mann, oder soll ich dich tragen? He? Wie lange muss sich deine Mutter noch für dich schämen? Hast du Beine zum Gehen? Raus mit dir, verdammte Scheiße noch mal!
An die Stimme seiner Mutter konnte er sich gar nicht erinnern. Er wusste aber noch, wie er auf der Rückbank eines Autos gesessen und sich umgedreht hatte, sein Zuhause durch die Heckscheibe verschwinden sah. Und dass niemand winkte.
Olof hielt die Augen geöffnet, so lange er konnte.