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Die Bestseller-Trilogie aus Schweden erobert Deutschland: der dritte Fall für Polizistin Eira Sjödin! Als im Frühling das Eis zu schmelzen beginnt, nehmen Taucher im Hafen von Ådalen ihre Arbeit auf. Auf dem Grund des Ångermanland-Flusses gibt es viel zu untersuchen: Schiffswracks, die Überreste einer Kleinstadt aus dem Industriezeitalter und die Trümmer der Sandö-Brücke, die vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs einstürzte und zahlreiche Menschen in den Tod riss. Als die Taucher in der Nähe der Brückenreste ein Skelett finden, vermuten sie sofort, dass es sich um eines der nicht geborgenen Unglücksopfer handelt. Doch es stellt sich heraus, dass die Leiche jüngeren Datums ist: ein Mann, der ermordet wurde, vermutlich erschossen. Eira Sjödin und ihre Kollegen beginnen zu ermitteln. «Ich will einfach mehr von Eira – so schnell wie möglich.» Skånska Dagbladet
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Seitenzahl: 441
Tove Alsterdal
Kriminalroman
Eigentlich ist die Stockholmer Polizistin Eira Sjödin in ihre Heimat Ådalen zurückgekehrt, um ihre demenzkranke Mutter zu pflegen. Doch inzwischen musste sie Kerstin in einem Heim unterbringen. Und Eiras Bruder sitzt noch immer unschuldig im Gefängnis – ihn gegen seinen Willen zu entlasten, scheint unmöglich. Eira treiben noch andere Sorgen um: Sie erwartet ein Kind und weiß nicht, wer der Vater ist. Ihr Kollege? Ihr Ex-Freund?
Während Eira die Tage bis zur Geburt zu zählen beginnt, wird sie mit einem Cold Case betraut, der wenig Aufregung verspricht:
Ein Toter wurde aus dem Ångerman-Fluss geborgen. Die Spuren führen zurück in die 1960er-Jahre in Ådalen, aber auch hinaus in die weite Welt: zu heftigen politischen Konflikten und der Sehnsucht nach Freiheit.
Während ihrer Ermittlungen stellt Eira fest, wie eng die große Geschichte mit ihrer eigenen privaten verknüpft ist.
«Ein neuer Stern am Ermittler-Himmel.» Ruhr Nachrichten
«Polizistin Eira ist eine großartige neue Bekannte, und Alsterdal ist unglaublich geschickt darin, sowohl Milieus als auch die menschliche Psyche zu porträtieren.» Tara
Tove Alsterdal, 1960 in Malmö geboren, zählt zu den renommiertesten schwedischen Spannungsautor:innen, ihre Romane erscheinen in 25 Ländern und wurden vielfach ausgezeichnet.
Mit der Trilogie um Ermittlerin Eira Sjödin gelang ihr in Schweden ein Riesenerfolg, für «Sturmrot» erhielt sie den Schwedischen Krimipreis 2020 und den Skandinavischen Krimipreis 2021. Ebenso wie «Erdschwarz» stand der Roman wochenlang auf Platz 1 der schwedischen Bestsellerliste. Auch in Deutschland stiegen die Romane sofort in die Top 10 der Spiegel-Bestsellerliste ein. Die Filmrechte sicherte sich eine Hollywood-Produktionsfirma.
Hanna Granz, geboren 1977, hat in Bonn Skandinavistik und Literaturwissenschaften studiert. Seit 2012 arbeitet sie als freie Übersetzerin und hat u. a. Romane von Sofie Sarenbrant, Patrik Svensson und Alex Schulman ins Deutsche übertragen.
Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel «Djuphamn» im Verlag Lind & Co, Stockholm.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2023
Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg «Djuphamn» Copyright © 20XX by Tove Alsterdal
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Redaktion Anja Lademacher
Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg
Coverabbildung Keibr/Wikimedia CC BY-SA 4.0; Shutterstock
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-01177-9
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Die letzten Eisschollen des Winters waren geschmolzen oder ins Meer getrieben. Der Wind wehte schwach aus Südost. Sie wechselten noch ein paar Worte, bevor sie ihren Tauchgang begannen.
«Da unten müssen wir zusammenhalten. Wenn was ist, gibst du mir sofort ein Zeichen, okay?»
«Ja, natürlich, okay.»
Ihr Tauchpartner bewegte sich in seinen Flossen genauso mühelos wie in normalen Schuhen. Ylva hatte ihn erst am Abend zuvor kennengelernt, nachdem sie mit dem Bus in Lunde angekommen war und in der Pension eingecheckt hatte.
Dankbar, so unendlich dankbar, dass sie mit rausdurfte, dass dieses Frühjahr anders werden würde als das letzte.
Ja, sie war sich der Gefahren bewusst, ja, sie hatte das entsprechende Zertifikat, achtzehn Meter tief durfte sie tauchen, hatte die entsprechenden Tauchstunden absolviert.
Nein, ihr war nicht klar gewesen, wie kalt es Ende April früh um fünf Uhr morgens sein konnte, doch das sagte sie nicht.
Ylva schnallte sich die Tarierweste mit der Tauchflasche um. Zog die Maske an und nahm das Mundstück des Atemreglers in den Mund, kontrollierte den Druck. Dann begann das wortlose Zusammenspiel, das sie so sehr liebte. Das Zeichen, dass alles okay war: Ich bin bereit, ich gehe zuerst runter, du folgst, wir verlassen uns aufeinander, ich bin für dich da, was auch immer geschieht.
Unter der Oberfläche wurde die Sicht trüb, sie ließ ein wenig Luft aus der Weste, um zu sinken, langsam, nicht zu schnell. Atmete tief und ruhig. Das Wasser hatte die Farbe von nicht fermentiertem Bier, Myriaden Partikel tanzten in der Strömung. Trotz des Neoprenanzugs spürte Ylva die Kälte.
Es hatte wenig mit den exotischen Abenteuern zu tun, mit denen die Leute in den sozialen Medien prahlten, mit fremdartigen bunten Fischen wie aus einem Disneyfilm.
Während des Abschlusstauchgangs ihres Kurses vor zwei Jahren in freiem Gewässer hatte sie erlebt, wie die Welt sich plötzlich weitete. Es gab noch so viel zu entdecken, zukünftige Dimensionen, mit denen sie nicht gerechnet hatte.
Ein Mann, natürlich hatte es mit einem Mann begonnen. Sie waren ein paar Monate zusammen gewesen und hatten ihre Träume geteilt, wie sie den Rest des Lebens verbringen wollten. Ylva wollte ihre Stunden reduzieren und vielleicht ein Wochenendhäuschen kaufen, irgendetwas Einfaches, während der Mann, dessen Namen sie vergessen wollte, vor Tahiti zu den Korallenriffen tauchen und um die Inseln am Great Barrier Reef segeln wollte, er kannte Orte, die der Massentourismus noch nicht erreicht hatte. Wenn Ylva alleine gewesen war, hatte sie Tauchkurse gegoogelt, weil sie Angst hatte, es sonst nicht zu schaffen. Panik zu bekommen, nicht atmen zu können. Das durfte ihr auf dem Segelboot in Australien nicht passieren, und so tauchte sie in jenem Winter heimlich donnerstags im Schwimmbad.
Acht Meter, neun Meter, und noch immer war es ein ganzes Stück bis zum Grund. Ylva konnte nicht mehr erkennen, dass ihre Handschuhe rot waren, in dieser Tiefe lösten sich die Farben auf.
Sie ließ sich noch ein Stück tiefer hinabsinken.
Der letzte Tauchgang in freiem Gewässer hatte noch ausgestanden, als der Mann sich plötzlich nicht mehr bei ihr meldete. Es sei alles ein bisschen zu schnell gegangen, schrieb er, als er endlich auf ihre unzähligen SMS reagierte, sie sei eine tolle Frau, aber er brauche Zeit. Habe mit der vorherigen Beziehung noch nicht abgeschlossen.
Jemanden nicht halten zu können, die Einsamkeit, die sich vor ihr ausdehnte. Außerdem hatte sie Tausende von Kronen investiert, die ihr niemand erstatten würde, sie hatte gelernt, unter Wasser zu atmen, und sich das Haar in dem vielen Chlor kaputt gemacht.
Zumindest würde sie ein Zertifikat bekommen, das sie auf Facebook posten konnte: Guckt mal, was ich geschafft habe!
Und dann kam der Abschlusstauchgang, sie entdeckte eine andere Welt, und die hatte nichts mehr mit ihm zu tun. Anschließend hatte sie jede Gelegenheit genutzt, um im Stockholmer Schärengarten zu tauchen, und sie hatte von den vielen unerforschten Wracks in Ångermanland gehört.
Am Rand des Lichtkegels ihrer Stirnlampe tauchte etwas auf. Pfähle oder was immer es war, mächtige Holzstämme, die ihr entgegenragten. Sie kontrollierte die Tiefe, vierzehn Meter, und wusste plötzlich, was es sein musste.
Die versunkene Brücke.
Unmittelbar vor ihnen waren Teile der zerbrochenen Konstruktion zusammengeschoben worden und bildeten ein spitzes Gewölbe, wie der Eingang zu einer Kathedrale.
Unter Tauchern nannte man es «die Kirche».
Ylva drehte sich um, wollte Kontakt mit ihrem Tauchpartner aufnehmen, der mit der Filmkamera hantierte. Sie gab ihm ein Zeichen: Ich schwimm da jetzt hin, ist das okay? Der andere hob die Hand, sie interpretierte es als das Zeichen für «Okay».
Ein feierliches Gefühl überkam sie, als sie durch die Öffnung schwamm. Die Stille. Das große Dunkel umgab sie und ließ die Welt auf den Strahl ihrer Lampe zusammenschrumpfen. Unglaublich, dass sie die ganze Zeit dort gelegen hatte, die Sandö-Brücke, die vor so langer Zeit noch während des Baus eingestürzt und in den Tiefen des Vergessens versunken war, während das zwanzigste Jahrhundert verstrich und das nächste seinen Anfang nahm. Ylva berührte mit dem Handschuh fast die zerbrochene Holzkonstruktion, folgte ihr auf der anderen Seite ein Stück. Die Vergangenheit verschwand nicht, sie war real.
Als sie zurückwollte, war sie sich auf einmal nicht mehr sicher, wohin sie musste. Die kompakte Dunkelheit, ihre Lampe, die nur ein paar Meter weit reichte.
Die Brücke war plötzlich nicht mehr da, sie war zu weit geschwommen. Ylva wurde eiskalt und heiß zugleich, sie spürte es nicht mehr richtig, alle Empfindungen waren hier unten anders. Wenn man seinen Tauchpartner nach zwei Minuten nicht wiederfand, musste man an die Oberfläche zurückkehren, so lautete die Regel. Ylva wusste nicht, wie viel Zeit bereits vergangen war. Sie begann aufzusteigen, als sie etwas großes Dunkles neben sich wahrnahm und innehielt.
Sofort bekam sie Angst, auch wenn das dumm war, es gab hier unten nichts, wovor man sich fürchten musste. Als sie die Lampe auf das Objekt richtete, machte sie die Längsseite eines Schiffs aus. Langsam schwamm sie wieder hinab und näher heran, mit Froschbewegungen, um so wenig Sand und Lehm wie möglich aufzuwirbeln. Unmöglich zu sagen, wie lange das Wrack schon dort lag. Im Brackwasser der Ostsee gab es keinen Schiffswurm, wie in salzigeren Gewässern, das Holz etwa blieb beinahe unversehrt. Ylva versuchte sich daran zu erinnern, was sie über die Schiffsüberreste hier unten gelernt hatte. Die Wracks auf dieser Seite der Brücke waren erst im vergangenen Sommer kartiert worden, ein schwindelerregender Gedanke: Vielleicht war sie die Erste, die das hier nach hundert Jahren oder mehr aus der Nähe sah. Sie blickte durch ein Loch im Rumpf, ein Stuhl lag umgestürzt auf dem Boden, etwas Zerbrochenes, vielleicht Geschirr, ein an die Wand geschraubtes Bett. Langsam folgte sie dem Steven. Da lag etwas auf dem Grund, sie schwamm drum herum und bekam plötzlich Atemnot, als hätte jemand den Schlauch zur Sauerstoffflasche blockiert.
Sie griff nach dem Mundstück, atmete, atmete.
Ein Schädel. Ein menschliches Skelett, halb im Schlamm versunken. Ihr wurde schwindlig, als sie an die Gegenstände dachte, die sie dort drinnen gesehen hatte: das Bett, in dem ein Mensch geschlafen hatte, die Schüsseln, die beim Sinken des Schiffs zerbrochen waren, alles wurde plötzlich so real. Das Leben, der Tod, sie gingen ineinander über, wurden eins. Ein Pfeifen in den Ohren, das sie sich vielleicht nur einbildete, Ylva blies und schluckte, um den Druck auszugleichen, doch es half nichts. Wieso fühlte es sich an, als könnte sie nicht atmen, obwohl der Sauerstoff doch noch für viele Stunden reichte? Sie suchte nach dem Knopf am Inflatorschlauch, mit dem die Weste gefüllt werden und ihr Auftrieb verleihen konnte, behutsam und nicht zu schnell, denn das schadete der Lunge, aber sie konnte den roten Knopf nicht vom grauen unterscheiden, mit dem man die Luft abließ, wo war oben und wo unten, sie strampelte wie wild, Schlamm wirbelte auf, der Boden, keine Richtung, kein Ende.
Jedes Mal, wenn Allan Westin sich der Hafengegend näherte, vermisste er den Teergeruch von früher. Noch immer konnte er die Pfeife hören, die damals jeden Morgen kurz vor sieben schrillte, wenn die Fahrräder die Hügel bei Lunde zur Werft hinuntersausten.
Terpentin und Diesel, die dumpfen Schläge und das Scheppern, das Klatschen der Wellen, wenn die Schlepper eintrafen, damit nach dem Winter der Rumpf frisch gestrichen werden konnte. Er sah sie ganz deutlich vor sich, da waren die Stufvaren sowie die ehemaligen Walfänger Björn und Backe, die umgebaut worden waren, um Holzstämme zu ziehen, und die Dynäs II, die ein klein wenig vornehmer war als die anderen, mit ihrem Kapitänssalon, Samtsofas wie im Orient-Express, Gustaf VI. Adolf höchstselbst war auf ihr mal mitgefahren. In der Frühjahrsluft lag eine Vorfreude, die immer noch anregend wirkte, auch wenn es das alles nicht mehr gab und der Fluss leer und verlassen dalag.
Schattenbilder und Gespenster, wohin er auch ging. Keine Ingenieursvilla am Fuße des Hügels, wo die kleinen Mädchen auf dem Steg gesessen und Papierpüppchen ausgeschnitten hatten, ganz zu schweigen von der Bierstube, in der die Männer Karten spielten und wo der Junge, der er selbst gewesen war, sich fünf Öre verdienen konnte, wenn er der Alten zu Hause erklärte, ihr Mann müsse leider Überstunden machen.
Die Hügel hier waren beschwerlich für alte Knie und Hüften, vor allem das letzte steile Stück zum Fluss hinunter, wo Patrask an der Leine zerrte. Der Hund hatte wirklich keinerlei Erziehung genossen, das zumindest hatten sie gemeinsam.
Das Verlangen nach Freiheit, dorthin gehen zu können, wohin man wollte.
Nicht auf die Betriebsdirektoren hören zu müssen, wie die Sägewerksbesitzer sich nannten, wenn ihnen dies oder jenes nicht passte, sogar Titel wie Vizekonsul von Venezuela hatten sie sich gekauft, um vornehmer zu erscheinen, als sie waren.
Allan ließ den Hund von der Leine und setzte sich auf seine übliche Bank, in den schwachen Salzgeruch vom Fluss, der jetzt wieder offen dalag. Im Winter war er zugefroren und stumm, im Frühling strömte das Leben herein. Ganz leise hatte er vor ein paar Wochen gehört, wie das Eis zu knacken und zu singen begann. Wie es widerstandslos gelockert und aufgebrochen wurde, nicht mit der gewaltsamen Kraft, an die er sich noch aus seiner Jugend erinnerte, als das Eis donnernd herangerollt war und sich an den Ufern aufgetürmt hatte.
Patrask sprang durchs eiskalte Wasser, das aus den Bergen kam, bellte und schnappte nach Stöcken, die darin trieben.
Moment, war das nicht ein Boot da draußen?
Ja, natürlich!
Ein motorbetriebenes, kleineres Schiff näherte sich von der südlichen Landspitze Sandöns, schien direkt Kurs auf Lunde zu nehmen.
Allan kniff die Augen zusammen, obwohl das bei seinem altersschwachen Blick nicht viel half. Erst als es in den ehemaligen Hafen einbog, konnte er ein paar Gestalten an Deck ausmachen.
Leinte den widerstrebenden Hund an und erhob sich.
Ein junger Mann sprang geschmeidig von Bord und machte das Boot fest. Er konnte irgendwas zwischen zwanzig und fünfzig sein, so wie die Leute heute trainierten. Da waren auch noch ein etwas älterer, ebenso sportlicher Typ, sowie eine Frau, die reglos im Heck saß. Sie war nicht mehr ganz jung, aber auch noch nicht alt. Trug noch den Tauchanzug, wenn auch bis zur Taille heruntergezogen, sie hatte sich eine Jacke um die Schultern gelegt, Allan sah allerlei Schläuche und andere Gerätschaften an Deck.
«Schönes Tauchwetter habt ihr», sagte er.
Die beiden Männer grüßten höflich und schüttelten ihm die Hand. Stellten sich auch mit Namen vor, klar, aber die speicherte sein Gehirn nicht mehr ab. Zu viele Namen in all den Jahren, die konnte man sich ja verdammt noch mal nicht alle merken. Allan verstand zunächst, sie wären Meeresbiologen, aber sie korrigierten ihn. Meeresarchäologen. Tauchten nach Wracks und hatten von Sandslån bis zur Höga-Kusten-Brücke bereits mehr als dreihundert kartografiert.
«Jesses», sagte Allan, «dreihundert?»
Klar wusste er, dass eine Menge Schrott auf dem Grund lag. Aber dass ausgebildete Leute sich dafür interessierten! Nach Holz zu fischen, war immer etwas für arme Leute gewesen, die ihre Häuser aus versunkenen Balken und solchem Zeug bauten.
«Soso», brachte er heraus. «Habt ihr denn was Brauchbares entdeckt?»
Der jüngere Mann wechselte einen Blick mit seinem Team, als könnte er nicht für sich selbst sprechen. Allan meinte, Gemurmel zu hören, als würden sie Alkohol schmuggeln. Die Frau saß immer noch an Deck, das Gesicht in den Händen vergraben, sie sah aus, als wäre sie seekrank.
«Ich weiß nicht, ob wir darüber sprechen sollten», sagte der etwas ältere Typ, «nicht dass jemand auf die Idee kommt, da runterzutauchen … bevor die Polizei kommt, meine ich. Wir kennen uns ja aus und fassen nichts an, aber bei Freizeittauchern kann man nie wissen.»
«Freizeittaucher?» Allan sah sich um. Dachten die wirklich, es wimmele hier von Leuten, die Ende April im Fluss tauchen wollten? Nur so zum Spaß? Ein paar verrückte Eisbader hatte er in den letzten Monaten gesehen, mit so was hatte man sich in den Corona-Wintern vergnügt, aber da sprang man kurz rein und kam nach wenigen Sekunden wieder raus, mit einer Mütze auf dem Kopf.
«Was habt ihr denn gefunden?»
Immer noch dieses Gemurmel. Aber er wollte sich keine Blöße geben und nachfragen, um was genau es ging. Sie schienen eine Leiche gefunden zu haben – so viel zumindest war klar.
«Ach du Schande. Ein Mensch?»
Sie nickten.
Einen Schädel, halb im Bodensediment versunken und teilweise unter dem Bug eines Schiffs verborgen, von dem sie glaubten, dass es aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert stammte.
«Dann stammt er wohl auch aus dieser Zeit», meinte Allan, «also der Mensch?»
«Das lässt sich mit bloßem Auge nicht erkennen», sagte der eine, «wir ziehen keine vorschnellen Schlüsse, das muss erst untersucht werden, wir arbeiten wissenschaftlich …»
Sie wollten es der Polizei melden, hatten das Handy bereits gezückt und diskutierten nun, ob sie die Küstenwache oder die 112 anrufen sollten. Es handelte sich ja nicht wirklich um eine Notsituation. Weiter im Süden hätten sie wahrscheinlich die Wasserpolizei angerufen, aber so eine Einheit gab es nördlich von Stockholm gar nicht.
«Und wenn man die 112 wählt, landet man heute in Umeå», mischte Allan sich ein, «das ist zweihundertfünfzig Kilometer von hier. Diese bescheuerte Zentralisierung!»
Er nahm ein Ziehen im Bauch wahr, als er über den Fluss blickte, da war wirklich schon so mancher ertrunken.
«Aber wir haben hier eine Polizistin, ganz in der Nähe.»
Eira Sjödin schlüpfte rasch aus der Trainingshose, wechselte die Unterwäsche und zog sich etwas an, das besser zu einer Ermittlerin passte, die in der Abteilung Gewaltverbrechen arbeitete. Der Pullover war fleckig, roch wahrscheinlich auch ein wenig nach Schweiß – darüber dachte sie nicht groß nach, wenn sie zu Hause vor dem Bildschirm saß und sogenannten Innendienst schob.
Sie setzte Kaffee auf, nahm Toastbrot aus dem Gefrierfach. Ein Mensch im Fluss, hatte ihr Nachbar am Telefon gesagt.
«Habt ihr den Rettungsdienst gerufen?» Eira war schon halb in den Schuhen und zur Tür hinaus gewesen, als Allan Westin erklärte, der Mensch sei mausetot.
«Okay», sagte Eira. «Bring die Leute her.»
Ein frischer Wind zog durch die Küche, als sie die Fenster zum Querlüften öffnete. Genau genommen war ein Leichenfund im Fluss keine Angelegenheit für ihre Abteilung, solange es dabei nicht um Mord ging. Das war Aufgabe der Kommunalpolizei, und zu der gehörte sie nicht mehr. Wenn Eira daran dachte, wurde sofort die Sehnsucht in ihr wach, wieder auf der Straße zu sein, die endlosen Entfernungen, nie zu wissen, was sich hinter der nächsten Kurve verbarg.
Sie stellte den Laptop beiseite und schob die Ermittlungsunterlagen zusammen, die auf dem ganzen Küchentisch verteilt lagen. Notizen über Bankkonten, Namen, Telefonnummern, so etwas. Ein größeres Drogennetz, das sie zu entwirren versuchten und das ständig wuchs. Eine absolut wichtige Polizeiaufgabe, und entscheidend, um unten in Sundsvall Anklage gegen den Hauptverdächtigen erheben zu können, aber Eira war nicht Polizistin geworden, um vor dem Rechner zu sitzen. Es machte sie müde und rastlos, egal, ob sie sich in einem engen Büro in Sundsvall oder am heimischen Küchentisch befand, was seit der Pandemie vollkommen normal war.
Zwar konnte auch eine schwangere Frau ab und zu rausfahren und am Rande der Ermittlungen mit Zeugen sprechen, die als harmlos galten, aber oft war das Risiko nur schwer einzuschätzen, und ihre Vorgesetzten waren sehr auf ihre Sicherheit bedacht.
Innendienst also, von Tag eins an, weil Eira bereits schwanger gewesen war, als man ihr den Job angeboten hatte.
Damals war alles noch ganz neu und aufregend für sie gewesen, in der Zeit zwischen Spätherbst und Winter. Man konnte noch nichts sehen, aber sie hatte es natürlich unverzüglich angeben müssen.
In Momenten des Zweifels kam es ihr vor, als hätte sie die Kollegen betrogen, als hätte sie das hier nur dem Antidiskriminierungsgesetz zu verdanken, obwohl alle beteuerten, sie wollten sie unbedingt haben und dass eine Schwangerschaft ja etwas Vorübergehendes sei. Die Gewerkschaftsbeauftragte hatte selbst drei Kinder und konnte das bestätigen.
«Hallo», rief jemand auf der Vortreppe.
Allan Westin trat ein, wie immer ohne zu klopfen, sie waren schließlich Nachbarn. Patrask purzelte hinterher, verteilte Schmutz und Feuchtigkeit auf dem Boden.
Ihm folgten drei Personen in Freizeitkleidung, die ihr die Hand schüttelten, zwei Männer und eine Frau. Jesper, Lars und Ylva, die Nachnamen konnte sie sich später noch notieren.
Eira bat sie, sich zu setzen. Allan blieb am Herd stehen. Ein Duft nach getoastetem Brot und Kaffee breitete sich in der Küche aus, während die Frau erzählte, wie sie beim Tauchen plötzlich dem Wunsch, unter der Sandö-Brücke hindurchzuschwimmen, nicht widerstehen konnte, und wie sie dabei die Orientierung verloren hatte. Sie war um die fünfzig, graues Haar mit blonden Strähnen.
«Es war wie in einem Nebel», sie rührte das Brot nicht an, ließ den Kaffee in der Tasse kalt werden, «oder eher wie in einem Traum. Ich habe den Schädel angestarrt und alles andere vergessen. Da unten verliert man das Zeitgefühl, ich kann gar nicht sagen, wie lange ich dort war.»
«Neun Minuten», sagte Jesper, der jüngere der beiden Männer, im värmländischen Dialekt. «Ich war gerade dabei, die Überreste der Brücke zu filmen, und hatte Ylva aus den Augen verloren. Das ist nicht ungewöhnlich. Es ist dunkel, die Sicht beträgt nur wenige Meter. Wenn wir uns verlieren, suchen wir zwei Minuten nacheinander, dann steigen wir auf. Als ich sie oben auch nirgendwo gesehen habe, sind Lars und ich noch mal runter, um sie zu suchen.»
«Es war meine Schuld», sagte Ylva, «ich war total fasziniert von dem, was ich da unten gesehen habe, alles andere habe ich völlig vergessen. Ich dachte, ich bin vielleicht diejenige, die …» Ihr Blick flackerte, sie wusste nicht weiter.
«Erzählen Sie, was Sie gesehen haben», bat Eira.
Es dauerte ein wenig, die Frau vermischte Fakten und Gefühle, meinte, dass sie da unten den Tod selbst gesehen habe.
«Es kommt eher selten vor, dass wir menschliche Überreste in der Nähe von gesunkenen Schiffen finden», mischte Lars sich ein, «seltener, als man vielleicht denkt. Meistens gelingt es den Menschen, von Bord zu kommen. Ihre Leichen werden von der Strömung weggetrieben. Wenn wir jemanden finden, dann oft tief im Inneren des Wracks, wenn die Person im Schlaf überrascht worden ist.»
Bilder aus dem Film Titanic tauchten in Eiras Kopf auf, die Passagiere in der dritten Klasse, die man eingesperrt hatte, Leonardo DiCaprio, unter Deck angekettet. Die Ballade über die Brigg Blue Bird av Hull, der Schiffsjunge an die Ruder gezurrt und an Bord vergessen, solche Bilder. Ertrinken, ohne jede Möglichkeit, sich zu retten.
Nachdem sie die Kollegin gefunden und sich vergewissert hatten, dass es ihr gut ging, war einer von ihnen noch mal hinuntergetaucht, um alles zu dokumentieren. Eira beugte sich über die Kamera. Verschwommene Umrisse von etwas Hellerem im Sand, oder woraus auch immer das Sediment bestand. Blaulehm vielleicht, das wusste sie noch von früheren Funden, der hatte in Kombination mit dem leicht salzigen Wasser des Binnenmeers eine konservierende Wirkung.
«Wissen Sie schon, um was für ein Schiff es sich handelt?»
«Nein, bisher sind wir da noch nie getaucht», sagte Jesper. «Aber es ist groß, größer als die meisten anderen, die dort liegen.»
Vielleicht eine Dampfbarkasse, eine Fähre, ein größerer Schlepper – die meisten Funde im Ångermanälven seien noch unerforscht. Erst vor wenigen Jahren habe man damit begonnen, die Überreste per Sonartechnik zu kartieren; von der Oberfläche aus könnten die Schallwellen Bilder von Gegenständen bis in einer Tiefe von dreißig Metern erstellen. Jesper zog einen Laptop heraus, um es ihr zu zeigen.
Die Fotos ähnelten eher Kunstwerken als etwas Realem. Brauntöne, fast sepiafarben, die Schatten und Umrisse verstreut daliegender Schiffe.
Es sei eine Art Weltrekord, dass innerhalb so kurzer Zeit dreihundert Wracks gefunden worden seien. In Ufernähe sehe es da unten aus, als hätte jemand ein Kartenspiel ins Wasser geworfen, Vierkantprahme, die benutzt worden seien, um das Holz zu den Schiffen zu transportieren. Als die Dampfschiffkais gebaut wurden, seien sie plötzlich überflüssig geworden, am einfachsten sei es gewesen, sie zu versenken. Ein Teil der Funde sei als «wrackähnliche Objekte» kategorisiert worden, die müsse man noch näher untersuchen. Ein paar könnten der Größe und Form nach sogar aus dem siebzehnten Jahrhundert stammen, am Fluss entlang habe es Schiffswerften gegeben, die während des Dreißigjährigen Krieges Schiffe gebaut hätten.
Eira zeigte auf ein gelb eingefärbtes Band, das sich von Lunde nach Sandö erstreckte, es sah aus wie ein Streichholz, das jemand in der Mitte durchgebrochen hatte.
«Ist das die Brücke?»
«Das ist die Brücke.»
Eira hatte nie darüber nachgedacht, dass sie ja tatsächlich da unten liegen musste. Der schreckliche Brückeneinsturz war eine der vielen Wunden dieser Gegend, die nie richtig verheilt waren. Mit dem Finger zog sie eine Linie zu der Stelle, an der sie die Leiche gefunden hatten.
«Die Strömung kann hier ziemlich stark sein …» Eira war mit solchen Warnungen aufgewachsen: Bleibt nah am Ufer, wenn ihr badet, geht niemals alleine rein.
«Ja, die Leiche kann tatsächlich ziemlich weit abgetrieben worden sein, wenn es das ist, woran Sie denken.»
Sie wechselte einen Blick mit Allan, der an den Holzofen gelehnt dastand, die Kaffeetasse in der Hand, wahrscheinlich beschäftigten ihn ähnliche Gedanken. Die Verschollenen.
Deren Namen in keinen Grabstein eingraviert worden waren, die verunglückt oder in den Fluss gegangen oder hineingeworfen worden waren, Namen, die sich in ihren Köpfen sofort zu Listen gruppierten.
Eira schob Patrask beiseite, der sich an sie drängte und gestreichelt werden wollte, sein Fell stank nach allem Möglichen, was nach der Schneeschmelze wieder zutage gekommen war. Sie schrieb sich die genauen Koordinaten des Funds auf. Sechzehn Meter Tiefe, das war gar nicht so viel, es gab Stellen, an denen der Fluss hundert Meter tief war.
«Entschuldigen Sie die Frage, aber können wir dann wieder rausfahren?», fragte Jesper. «Ich weiß, dass es unsensibel erscheint, aber wir wollen möglichst wenig Zeit verlieren.»
Marinearchäologie war ein unterfinanziertes Geschäft, deshalb fuhren sie auch so frühmorgens schon raus: um den Tag so gut wie möglich zu nutzen.
Das nahende Sommerlicht, die Nächte, die sich bald kaum mehr vom Tag unterscheiden würden.
«Kein Problem, solange Sie Abstand halten.» Eira zeichnete mit dem Finger einen Kreis auf der Seekarte, die sie ihr vorgelegt hatten, ein gutes Stück um das Wrack und beinahe die gesamte Fahrrinne zwischen Sandö und Lunde herum. «Das hier müssen Sie als Tatort betrachten.»
Sie begegnete dem entsetzten Blick der Frau.
«Das ist bloß Routine», fügte sie schnell hinzu, «zur Sicherheit, bis wir mehr wissen.»
Während die Männer sich auf den neuerlichen Einsatz vorbereiteten, fragte Ylva, ob sie die Toilette benutzen dürfe.
«Wann glauben Sie, wissen Sie mehr?», fragte sie.
Die Arbeitsbelastung im Nationalen Forensischen Zentrum war wahnsinnig hoch, es kam vor, dass Mordermittler fünf Wochen auf die Auswertung einer DNA-Probe warteten, selbst wenn es um kürzlich abgefeuerte Schusswaffen ging.
«Keine Ahnung», antwortete Eira wahrheitsgemäß. «Kommt ganz darauf an, was wir noch rausholen. Wenn wir beispielsweise keine Kleidung mehr finden oder irgendwelche Gegenstände, kann es dauern, selbst bis wir sagen können, um welches Jahrhundert es sich handelt.»
«Ich werde bestimmt nie mehr aufhören können, darüber nachzudenken, wer er war.» Ylvas Blick wanderte über den Fluss. «Vielleicht gibt es noch jemanden, der ihn vermisst.»
Oder sie, dachte Eira.
Es dauerte drei Tage, bis die Polizeitaucher eintrafen. Die Aktivitäten am Flussufer zogen sofort Leute an; in Lunde passierte inzwischen selten etwas so Aufsehenerregendes.
Ein Idyll, konnte man meinen, wenn man nicht wusste, was die Menschen alles verschwiegen.
Die Stimmen umgaben Eira, als sie zur Fahrrinne hinüberspähte, die Menschen fielen einander ins Wort.
Was haben sie denn gefunden?
Ja, sie haben einen gefunden. Auf dem Grund. Könnte das …?
Es ist wohl noch zu früh, das zu sagen. Sie haben ihn ja noch gar nicht rausgeholt.
Aber wenn.
Ja, Jesses. Wenn es so wäre.
Dazwischen Pausen des Schweigens und Gemurmel, Unausgesprochenes, das jeder wusste, aber nicht beim Namen zu nennen wagte. Eira meinte auch, ein Gebet zu hören, von einer der Frauen, die noch immer der Freikirche angehörten: Schenke Frieden den Ungläubigen, erlöse uns von unseren Ängsten; Betschwestern hatte ihr Großvater sie genannt.
Für jede Person, die dazukam, wurde wiederholt, was bereits erklärt worden war: weswegen fremde Autos auf dem Hafengelände standen und wer die Leute in den Overalls waren, die an der Kaikante Tische aufgeklappt und ein weißes Zelt errichtet hatten.
Niemand hatte Einspruch erhoben, als Eira sich angeboten hatte, die Bergung der Leiche zu organisieren. Das hier war Norrland, knappe Ressourcen und endlose Entfernungen, man half sich aus und hielt nicht so sehr an Reviergrenzen fest. In Kramfors waren sie für jede Unterstützung dankbar, sie hatten auch so genug zu tun, und die Teamleiterin in Sundsvall stellte sie gerne für einen halben Tag frei, wenn sie schon vor Ort war.
Vielleicht ein bisschen zu gerne.
Ein harmloserer Auftrag lässt sich kaum finden, dachte Eira. Aber immerhin verschaffte er ihr die Möglichkeit, rauszukommen und sich ein bisschen zu bewegen. Sie hörte Motorgeräusche, die sich näherten, das Boot hielt auf das Ufer zu. Die Küstenwache hatte es zur Verfügung gestellt, im Gegenzug durfte deren Personal auf der Schießbahn der Polizei trainieren.
Wie gesagt, man war in Norrland.
«Würden Sie bitte zurücktreten», rief Eira den Schaulustigen zu, «und keine Handys bitte, zeigen Sie Respekt.»
Eira nahm die verschämten Bewegungen wahr, mit denen zumindest ein paar der Handys in den Taschen verstaut wurden. Die meisten, die sich hier eingefunden hatten, waren Rentner, hatten montagvormittags frei, bestimmt waren sie auf Facebook aktiv, auf den Seiten der Kommune, unterhielten Gruppenchats mit den Enkeln.
Der Fluss war ruhig, kein Wind rührte sich, als die Taucher ihre Fracht behutsam an Land hievten. Aus den Löchern der Leichensäcke für Unterwasserbergungen rann Wasser. Die Zuschauer verstummten und reckten die Hälse. Ein älterer Mann nahm seine Kappe ab und drückte sie an die Brust. Eira hätte sich nicht gewundert, wenn eine der Betschwestern ein Lied angestimmt hätte, Herrlich ist die Erde oder etwas in der Art, doch das passierte nicht.
Die Kriminaltechnikerin nahm die Bergungssäcke entgegen und trug sie zu dem Zelt ein paar Meter weiter. Eira hatte explizit Shirin Ben Hassen angefragt, die dabei gewesen war, als sie vor ein paar Jahren in Lockne eine skelettierte Leiche geborgen hatten. Shirin hatte Archäologie studiert, bevor sie gemerkt hatte, dass sie eigentlich Kriminaltechnikerin werden wollte, hatte daraufhin an der Polizeischule weitergemacht und in den USA studiert. Darüber hinaus war sie Osteologin, Knochenexpertin. Und trotz dieser langjährigen Ausbildung sah sie unbegreiflicherweise aus wie siebenundzwanzig.
Vorsichtig öffnete sie den ersten Leichensack. Blickte in den leeren Totenschädel, in dem keine Augen mehr saßen.
«Was ist bloß mit dir passiert, mein Lieber?»
Genau das war es, was Eira an Shirin mochte: dass sie sich immer sofort auf die Seite der Toten stellte. Es sei ihre Aufgabe, denjenigen eine Stimme zu geben, die zum Schweigen gebracht worden waren, hatte sie einmal gesagt.
Der Welt erzählen: Das ist mir passiert.
«Ist es euch gelungen, alles hochzuholen, was ihr vor Ort gefunden habt?»
«Wir sind uns nicht ganz sicher», sagte eine der Polizeitaucherinnen, Mira, die aus Umeå heruntergekommen war. «Die einzelnen Teile lagen verstreut, kann gut sein, dass noch etwas im Schlamm steckt oder weiter abgetrieben wurde.»
Der andere Taucher hieß Valentin, er kam aus dem Kommunaldistrikt Sundsvall, beide waren ganz gewöhnliche Polizisten, die eine Tauchlizenz hatten und bei Bedarf gerufen wurden.
Sie hatten sich bereits mit Kaffee und Käsebrötchen versorgt.
«Wir haben einen Großteil des Rumpfs», sagte Valentin und deutete auf die Bergungssäcke, die noch nicht geöffnet worden waren, «vermutlich auch einen Arm und das Becken.»
«Irgendwelche Kleidungsstücke?»
«Leider nein.»
Eira dachte an den Doc-Martens-Stiefel, den sie in Lockne im Wasser gefunden hatten. Wie der geschnürt gewesen und wo er vermutlich gekauft worden war – so etwas konnte den Prozess um Wochen verkürzen. Mit etwas Glück würden sie einen Treffer bei den Zähnen landen, die sahen noch ziemlich intakt aus.
Shirin strich beinahe zärtlich über den Schädelknochen.
«Was hattet ihr da unten für einen Eindruck», fragte sie, «könnte er mit dem Schiff untergegangen sein?»
«Er?»
Shirin nickte und zeigte auf die gerade Kante zwischen Stirn und Augenhöhlen, drehte den Schädel vorsichtig um, die abfallende Linie.
Zweifellos ein Mann.
«Wenn er beim Untergang über Bord gegangen wäre», meinte Mira, «dann hätte der Körper da landen können, wo er lag, oder wenn er dorthin getrieben wurde, von weiter stromaufwärts, und das Wrack ihn gestoppt hätte.»
Shirin nahm vorsichtig die anderen Skelettteile aus den Leichensäcken und betrachtete jedes Knochenstück. Die Sonne wärmte, frühlingsstark und hell, unter der Plane wurde die Luft stickig. Alles dauerte unglaublich lange.
«Das ist jetzt nur eine erste Einschätzung», meinte Shirin mit Blick auf die Reste des Oberkörpers, Schulterblätter, Oberarmknochen, die Unterarmknochen hatte sie bereits herausgenommen. «Ich würde sagen, er war erwachsen, aber noch ziemlich jung.»
Sie zeigte und erklärte, das schwertähnliche Brustbein, «ein aufschlussreicher Knochen, was man gerne vergisst», sowie die Unterarmknochen, wo sich die Wachstumsfugen bereits schlossen, was in einem Alter um die zwanzig passierte, während das Schlüsselbein noch nicht fertig entwickelt war, also noch keine dreißig.
Eira warf einen Blick auf den gewaltigen Bogen der Sandö-Brücke, fünfzig Meter hoch. In ihrer Kindheit war es ihr vorgekommen, als reiche sie bis in den Himmel. Es war die größte Bogenbrücke Europas, ein modernes Meisterwerk, das nach seiner Errichtung die Fähren ersetzen und Schweden zusammenfügen sollte. Sie wusste, dass es zu früh war, das zu fragen, konnte es aber dennoch nicht lassen.
«Wenn jemand von der Brücke gestürzt ist», fragte sie, «meinetwegen unter Gewalteinwirkung – könnte er dann dort gelandet sein, wo ihr ihn gefunden habt?»
«Ich nehme mal an, du denkst an etwas Bestimmtes?»
«Den Einsturz der Brücke.»
«Welchen Einsturz?», fragte Valentin, der zu jung war, um es zu wissen, nicht jünger als sie, aber er kam nicht von hier, hatte nicht – wie Eira – von Kindesbeinen an die Erzählungen der Alten gehört. Wahrscheinlich stand es nicht einmal in den Geschichtsbüchern, ein Denkmal für die Toten war ja auch nie errichtet worden.
«Am letzten Tag im August 1939, nachmittags, sie hatten die Holzkonstruktion bereits errichtet und wollten gerade mit dem Betongießen beginnen, da ist die Brücke eingestürzt. Bis heute weiß niemand, wieso.»
An das Donnern erinnerten sich die Alten, und an die Schreie; wie die Leute gerannt und mit dem Fahrrad davongefahren waren und gerufen hatten: Sie ist eingestürzt, die Brücke ist eingestürzt!, und das Chaos, als Brückenteile und Menschen durch die Luft gewirbelt wurden, der brodelnde Fluss, in den alles hineinfiel, und die gigantische Welle, die über Sandö hereinbrach. Wie jeder, der ein Boot besaß, sich hinausbegeben und in der Strömung zwischen den herumwirbelnden Teilen sein eigenes Leben riskiert hatte, um diejenigen zu retten, die in den Wellen kämpften und untergingen.
Am darauffolgenden Tag, dem ersten September, fiel Deutschland in Polen ein, und der schlimmste Arbeitsunfall in der schwedischen Geschichte verschwand von den Titelblättern der Zeitungen.
Achtzehn Menschen waren an jenem Tag gestorben. Zwei von ihnen wurden nie gefunden.
«Einer war sehr jung», fuhr Eira fort, «ich glaube, um die zwanzig.» Sie wartete, bis die anderen ihren Gedanken folgen konnten. «Der Vater war auch unter den Arbeitern, war aber an dem Nachmittag früher von der Schicht nach Hause gefahren. Als mit dem Bau der neuen Brücke begonnen wurde, war er wieder dabei, um fertigzustellen, was seinen Sohn das Leben gekostet hatte.»
«Wie furchtbar», sagte Valentin, der sich mit einer Cola Zero auf einem Campingstuhl niedergelassen hatte, «man kann sich gar nicht vorstellen, wie sich das anfühlt.»
«Vielleicht war es wichtig für ihn.» Eira konnte noch die Stimme ihres Vaters hören; die Bedeutsamkeit der Arbeit, nie aufgeben, abschließen, was man begonnen hat.
«Es ist natürlich noch zu früh, um das genau sagen zu können», erklärte Shirin, und das wusste sie ja auch, dass man nicht erkennen konnte, ob Teile eines Skeletts achtzig Jahre alt waren oder nur zwanzig, oder sogar viel, viel älter. Shirin zog den letzten Leichensack zu, während oben schon das schwarze Auto auftauchte, das den Toten abholen sollte. «Schickt uns am besten so bald wie möglich alle Aufnahmen zu, die ihr da unten gemacht habt.»
Irgendjemand hatte doch sein Handy rausgeholt, ein Foto, das sich über die sozialen Medien verbreitet hatte oder direkt an die Lokalzeitung verkauft worden war, auf deren Titelseite es zwei Tage später erschien. Eira schnappte sich die Sundsvall Tidning im Wartezimmer der Hebammenpraxis. Aß einen Keks und trank etwas Wasser, während sie das Foto betrachtete.
Es war weder besonders reißerisch noch aufschlussreich. Keine Leichenteile. Dafür konnte man sie selbst deutlich erkennen. Das Foto war in dem Moment geknipst worden, als sie sich umgedreht hatte, vielleicht, um die Schaulustigen zu bitten, ihre Handys wegzustecken.
«Polizeimeisterin Eira Sjödin überwacht die Bergung der Leiche», stand in der Bildunterschrift. Es war ihr immer unangenehm, so in der Öffentlichkeit sichtbar zu werden, aber der Grund, weshalb sie sich fast an ihrem Keks verschluckte, war die Schlagzeile darüber: LEICHENFUNDINLUNDE – ISTESDIEVERMISSTELINA?
Eira hustete, bis die Blicke der übrigen Frauen im Wartezimmer von Irritation in Verärgerung übergingen und sie ihnen erklären musste, dass sie kein Covid hatte und noch nicht einmal erkältet war, sondern sich einfach nur verschluckt hatte.
Lina Stavred lächelte auf einem Schulfoto ihr unschuldiges Sechzehnjährigen-Lächeln, es war das letzte Bild von ihr, ehe sie Anfang Juli 1996 spurlos verschwand.
Ermordet, so die Schlussfolgerung der Polizei nach endlosen Vernehmungen eines Vierzehnjährigen, der schließlich auch schuldig gesprochen wurde.
Natürlich hatten sich die Medien darauf gestürzt.
Eira überflog den Artikel, in dem das Altbekannte zusammengefasst wurde; die Theorie, dass ein Junge namens Olof die Leiche von Lina Stavred in den Fluss geworfen hätte, sowie das Geständnis, das sie ihm am Ende abgerungen hatten. Wie er aus der Gegend vertrieben worden, vor drei Jahren zurückgekehrt war und alles wieder ans Tageslicht gezerrt wurde.
Ihre Leiche, die nie gefunden wurde.
Eira war sich nicht sicher, ob es eine Kontraktion im Unterleib war, die sie zwang, sich vorzubeugen und tief durchzuatmen, wie man es ihr empfohlen hatte, oder ob es die Angst war, die sich für sie mit der Geschichte um Lina Stavred verband, all das Verdrehte und Verschwiegene, das nie aufgeklärt wurde.
Sie wünschte sich, sie hätte dort am Kai in Lunde etwas lauter gesprochen.
Die Leute nicht gebeten, respektvoll Abstand zu halten, sondern sie mithören lassen, was Shirin nur leise zu ihr gesagt hatte. Der Pressesprecher der Polizei wiederholte in dem Artikel, völlig zu Recht, dass sie die gerichtsmedizinischen Untersuchungen abwarten müssten, bevor sie irgendwelche Antworten geben konnten. Eine korrekte Vorgehensweise war wichtig, es ging um Rechtssicherheit und Integrität.
Und deshalb war die Erkenntnis, dass es sich bei dem Toten um einen Mann handelte, noch nicht an die Öffentlichkeit gedrungen.
Es genügte, dass ein Reporter eine Idee gehabt oder einen unbegründeten Tipp bekommen hatte – schon setzte die Maschinerie sich wieder in Gang. Ein wenig Recherche zu den Schlagwörtern «Lina, vermisst, Vergewaltigung, Mord, Marieberg, 1996» genügte, und der Artikel schrieb sich quasi von selbst. Jeder Mensch in Ådalen und Umgebung würde natürlich die Überschrift anklicken, und in den Redaktionen konnten sie ein Klickfest mit Torte feiern.
«Eira Sjödin?»
Sie stopfte die Zeitung in ihre Tasche und ging hinein.
Es klang wie ein Wäschetrockner in ihrem Bauch. Lautes Klopfen und Brausen, Disharmonie. Ein Autobahntunnel war eine weitere Assoziation, die ihr kam, während die Schwester über die gespannte Haut ihres Bauchs fuhr und plötzlich innehielt.
Da war es.
Ein Klopfen, schnell und ausdauernd, wie ein eifriger Specht. Ganz ohne Zweifel ein Leben.
Die Übelkeit und die körperlichen Veränderungen, selbst die Bilder des Ultraschalls, auf denen die Umrisse des Fötus zu erkennen gewesen waren, wirkten irgendwie abstrakt.
Ein Herz, das in seinem eigenen Rhythmus schlug, war etwas anderes. Alles Komplizierte, was daraus folgte, musste sie irgendwie in Angriff nehmen und lösen, es war nicht so wichtig. Das Klopfen war wichtiger, der hitzige Galopp des Kindes zur Freiheit.
Es lebte.
«Das klingt doch fein, da drinnen.» Das Kinderherz verstummte, als die Schwester den Schallkopf wegnahm und ein Maßband holte, um Eiras Bauch zu messen.
Eira wollte sie bitten, es noch einmal hören zu dürfen, sie musste ihren Gefühlen irgendwie hinterherkommen, doch stattdessen wurden ihr ein paar Papiertücher in die Hand gedrückt, damit sie sich das Gel vom Bauch wischen konnte.
Dreiundzwanzigste Woche, also bald im siebten Monat.
«Ich sehe hier keine Angaben zum Kindsvater», sagte die Schwester, die jetzt die Patientenakte geöffnet hatte, während Eira vom Untersuchungsstuhl stieg und sich wieder anzog. Wieder einmal wollte das jemand wissen, es war nicht das erste Mal, dass ihr diese Frage gestellt wurde. Der Personalmangel in der Schwangerenversorgung und Geburtsmedizin hatte mit dem beginnenden Sommer nahezu katastrophale Ausmaße angenommen, überall im Land war das zu spüren, aber in Västernorrland war es immer am schlimmsten. «Vielleicht ist auch gar kein Papa mit im Spiel gewesen?» Die Frau lächelte angestrengt. Als hätte jeder immer gleich auch einen Vater für sein Kind parat, als gäbe es nicht unzählige andere Dinge zu organisieren.
«Doch, doch», sagte Eira, «ich weiß nur nicht, wer von ihnen es ist.»
Die Polizeidienststelle lag nur zehn Minuten entfernt, deshalb hatte sie diese Praxis damals ausgesucht.
Eira schloss die Tür hinter sich.
Griff nach dem Handy – sie musste August wirklich mal wieder anrufen. Ihm erzählen, dass sie zum ersten Mal das Herz des Kindes hatte schlagen hören, wie stark und gesund es sich angehört hatte, aber wahrscheinlich war er gerade zu einem Einsatz unterwegs, sie wartete besser noch. Eira ahnte, dass er beleidigt sein würde, weil sie ihn nicht mitgenommen hatte, aber dann hätte sie gerechterweise auch den anderen mitnehmen müssen.
Also legte sie das Handy wieder weg und öffnete stattdessen die Datei zu dem Mann aus dem Fluss. Bisher hatte der Zahnstand keinen Treffer erzielt, es gab noch keinen Bericht aus der Gerichtsmedizin. Eira überlegte, ob sie mit ihrer Chefin über die falschen Spekulationen um Lina Stavred sprechen sollte. Da klopfte es an ihrer Tür, ein kleiner Trommelwirbel.
«Hast du Zeit?»
GG stand dort in einem mitternachtsblauen, bis oben zugeknöpften Hemd. Seit er seinen Posten als Teamleiter abgegeben hatte, trug er nur noch selten Jackett.
«Auf jeden Fall», sagte Eira und rollte ihren Stuhl zur Seite, damit er eintreten konnte.
Die Lüftungsanlage im Haus war irgendwann im vorigen Jahrhundert kaputtgegangen, jetzt zirkulierte hier seit Jahrzehnten immer dieselbe Luft. In GGs Gegenwart war der Bauch ihr unangenehm.
«Und, alles in Ordnung?», fragte er.
«Ja, ja.»
Eira war sich nicht sicher, ob er ihre Schwangerschaft oder die Ermittlungen im Drogenmilieu meinte, und zog die Liste heraus, die sie erstellt hatte.
«Es sind kleinere Transaktionen, Bezahlungen per Swish. Ich habe die Personen mit unserem Register abgeglichen, und die hier drauf sind bisher nicht straffällig geworden.»
GG ging die Liste der Namen durch, die Eira anhand der Kontoauszüge zusammengestellt hatte, Personen, die sich wahrscheinlich über das Netzwerk des Hauptverdächtigen Drogen besorgt hatten. In den Randbereichen des Drogenhandels gab es viele Familienväter mit gutem Einkommen, die die Geschäfte am Laufen hielten. Das erinnerte Eira an eine Razzia in einem Wohnungsbordell in ihrer Stockholmer Zeit und an den SMS-Verlauf auf dem Handy einer der osteuropäischen Frauen. «Hej! Geiler, sauberer und garantiert schwedischer Ökonom würde sich freuen, wenn du ihm heute um 17:30 einen bläst. Bussi.»
Manche der Personen auf ihrer Liste wohnten in großen Häusern und hatten Chefposten inne, einer war ein erfolgreicher Einzelunternehmer, ein Student der Technischen Physik. Alles Leute, die etwas zu verlieren hatten und vielleicht zum Reden gebracht werden konnten.
«Perfekt», sagte GG. «Kommst du mit?»
«Darf ich denn?»
«Wenn du nichts anderes vorhast?»
«Ich soll ja hauptsächlich Innendienst schieben.»
«Stimmt ja.» Er warf einen Blick auf ihren Bauch und lächelte, sodass ihr ganz warm wurde.
Eira bückte sich und kramte in ihrer Tasche, wonach auch immer. Vielleicht nach einem Labello. Diese trockenen Lippen immer, nach dem Winter. GG schaute noch einmal auf die Liste.
«Ich glaube, in einer Bank ist die Gefahr eines tätlichen Angriffs relativ gering.»
Es machte ihr nichts aus, dass vom Meer her starker Wind wehte. Eira wickelte sich den Schal ein weiteres Mal um den Hals. Papierfetzen und Sand stoben auf, als sie den Platz überquerten. Bereits an den Frühling zu glauben, erwies sich oft als Fehler, es kam vor, dass es im Mai noch einmal schneite.
«Wie geht es dir denn sonst so?», fragte GG.
«Sehr gut.»
«Gut.»
«Und selbst?»
«Gut.»
Es war seltsam, neben ihm zu gehen. Eira las aus allem, was er sagte oder nicht sagte, immer viel zu viel heraus. Vielleicht ließ sie sich deshalb ein wenig zurückfallen – oder waren einfach nur seine Schritte länger als ihre?
Ihm so nah gewesen zu sein wie im Herbst, als sie ihn an der Grenze zwischen Leben und Tod gefunden hatte, eingesperrt in einen Erdkeller draußen an der Küste. Eira hatte ihn mit ihrem Körper gewärmt, hatte versucht, ihm etwas von ihrem Leben abzugeben, bis endlich Rettung eintraf, sie hatte Worte geflüstert, die sie noch nie zuvor zu jemandem gesagt hatte. So etwas tat man in ihrer Familie nicht. Nie hatte sie ihre Eltern «ich hab dich lieb» sagen hören, weder zueinander noch zu ihren Kindern. Das Gegenüber musste erst bewusstlos, dem Tode nahe sein, damit sie so etwas über die Lippen brachte. Als GG wieder zu sich gekommen war, hatte er sich bei ihr bedankt, konnte sich aber an nichts erinnern. Es stand immer zwischen ihnen, und dennoch war es nicht da.
«Hast du gesehen, was heute in der Zeitung stand?», fragte sie und zog im Gehen den Artikel über Lina Stavred aus ihrer Tasche. GG blieb stehen. Er hielt ihre Hand ein paar Sekunden, während er las.
«Sieh mal einer an», sagte er dann, «da hat sich wohl jemand inspiriert gefühlt.»
«Es stimmt, dass die gerichtsmedizinischen Untersuchungen noch nicht abgeschlossen sind», sagte Eira, «aber wir wissen, dass der Tote männlich ist. Sollten wir das der Öffentlichkeit kommunizieren?»
GG las den nichtssagenden Kommentar des Pressesprechers, der mit Sicherheit nicht vollständig über die Hintergründe informiert war.
Es gab Informationen, die nicht alle bei der Polizei kannten, Ermittlungen, die zu keiner Anklage geführt hatten und deshalb nicht an die Öffentlichkeit gelangt waren, Wahrheiten, die bewusst im kleinen Kreis gehalten wurden.
Wie etwa, dass Lina Stavred noch am Leben war. Sie war in jener Nacht vor sechsundzwanzig Jahren nicht gestorben, sie war geflohen und lebte seitdem unter dem Radar, wechselte häufig ihre Identität und ließ sich von verschiedenen Männern aushalten.
GG war einer der wenigen, die Bescheid wussten. Auch das war etwas, das sie miteinander teilten.
«Leben ihre Eltern noch?», fragte GG.
«Keine Ahnung. Soweit ich weiß, sind sie zu Verwandten nach Finnland gezogen, wollten wohl nicht hierbleiben. Ein Jahr nach Linas Verschwinden haben sie sie für tot erklären lassen. Den polizeilichen Ermittlungen zufolge herrschte ja auch kein Zweifel daran, dass sie tot war.»
GG faltete die Zeitung zusammen und gab sie ihr zurück.
«Lass sie schreiben», meinte er. «Wenn wir bekanntgeben, dass es ein Mann ist, kramen sie nur irgendjemand anderen aus dem Archiv hervor, und das Ganze geht von vorne los.»
Sie waren bei einem der großen Bankgebäude angekommen, einer Prachtfassade mit steinernen Säulen und Löwenköpfen.
«Echt nobel geworden, die Quartiere der Drogenabhängigen», sagte GG.
Kramfors war früher als Pulver-City bekannt gewesen, aber das beschrieb kaum noch, wie verbreitet der Drogenkonsum inzwischen war. Es zog sich durch alle Generationen und Gesellschaftsschichten und hatte nichts mehr mit dunklen Hinterhöfen zu tun. Im Laufe der letzten Jahre war Postnord, der führende Kommunikations- und Logistikanbieter Nordeuropas, zum größten Drogenlieferanten aufgestiegen, man bestellte im Netz oder per Handy und bekam die Lieferung in einem gefütterten Briefumschlag an seine Wohnadresse.
Eira und GG wurden in einen der Räume geführt, in denen Kredite bewilligt oder abgelehnt wurden. Der Mann im glänzenden Anzug hieß Rasmus.
«Das müssen die Schlittschuhe gewesen sein, die ich den Kindern gekauft habe», sagte er, als sie ihn mit dem Zahlbetrag konfrontierten. «Über eine Anzeige – ich weiß nicht mehr, wie der Verkäufer hieß.»
«Ganz schön teure Schlittschuhe», meinte GG.
«Ja, es war eher eine ganze Hockeyausrüstung.»
«Für einen Vierjährigen?», fragte Eira.
«Man muss frühzeitig anfangen. Sie glauben ja gar nicht, was für ein Druck da herrscht, schon in dem zarten Alter.» Der Bankangestellte hatte seinen Schlips ein wenig gelockert. «Ich unterstütze das nicht, aber man möchte ja schon, dass das eigene Kind eine Chance hat.»
«Wo haben Sie die Anzeige gefunden?»
«Das weiß ich nicht mehr, Blocket oder Marketplace, keine Ahnung. Die Kinder werden größer, man kauft und verkauft ständig irgendwelche Sachen.»
«Nehmen Sie auch während der Arbeitszeit Kokain?»
Eira merkte, wie sich die Stimmung im Raum veränderte, als GG sich vorbeugte, etwas unterschwellig Aggressives. Er war größer und kräftiger als der andere Mann. «Oder nur an Freitagabenden», fuhr er in immer kühlerem Tonfall fort, «wenn Sie sich ablenken und ein bisschen entspannen wollen? Wie geht es Ihnen damit, dass Sie kriminelle Netzwerke unterstützen? Was sagt Ihre Bank dazu?»
Die Reaktion des Mannes war schwer zu deuten, seine Gesichtszüge starr wie bei einem Filmstar, der sich gerade Botox hatte spritzen lassen, sein Blick ausweichend.
«Vielleicht haben Sie es ja im Fernsehen gesehen, da erschießen Kinder andere Kinder.» GG machte weiter. «Finden Sie nicht, dass die Leute, die sie rekrutieren und ihnen Waffen besorgen, dafür in den Knast wandern sollten?»
«Doch, klar.»
«Dann sind Sie also bereit, als Zeuge auszusagen? Uns zu erzählen, was Sie gekauft haben und von wem? Und da rede ich jetzt nicht von Schlittschuhen.»
Der Bankangestellte warf einen Blick auf die Uhr. Ein teures Teil, wie die Polizei sie inzwischen bei den Bandenbossen beschlagnahmte.
«Haben Sie irgendetwas gegen mich in der Hand? Ich glaube, ich würde gerne meinen Anwalt anrufen.»
Ein paar Stunden später hatten sie auch den Studenten der Technischen Physik abgeklappert, der plötzlich in Tränen ausgebrochen war; ob sie denn nicht wüssten, unter welchem Druck er stehe? Wie er die Prüfungen schaffen solle, wenn er sich nachts nicht wach halten könne? Und auch den CEO eines Start-up-Unternehmens in der IT-Branche hatten sie aufgesucht, der tief in einem breiten Sofa versunken war.
«Mann, es ist ja jetzt nicht so, dass ich drogenabhängig bin», hatte er gesagt, «und es ist weniger gefährlich als Alkohol, das ist doch reine Heuchelei.»
«Würden Sie das als Zeuge in einer Gerichtsverhandlung aussagen?»
«Das mit der Heuchelei, oder was?»
«Dass das Geld, dass Sie mit Ihrem Unternehmen verdienen, direkt in die organisierte Kriminalität fließt.»
Als sie wieder draußen waren, zündete GG sich im Schutz des Hauseingangs und direkt neben dem Schild, das darauf hinwies, dass Rauchen hier verboten war, eine Zigarette an.
«Was ist bloß mit den Leuten los?», sagte er und blies den Rauch von Eira weg. In der Luft wechselte er die Richtung und hüllte sie in sein Ausatmen ein. «Wann hat der Einzelne aufgehört, sich als Teil eines größeren Zusammenhangs zu sehen? Die erschießen Kinder, verdammte Scheiße.»
Shirin rief an, als Eira auf dem Heimweg war, sie hatte gerade an der Älands-Brücke gehalten, weil sie plötzlich wahnsinnig Lust auf einen Wurstteller mit Kartoffelbrei und eingelegten Gurken vom Sibylla-Grill gehabt hatte.
«Ich habe ein paar Neuigkeiten zu unserem Freund aus der Tiefe.»
«Was denn?»
«Ich bin in Umeå, die Gerichtsmedizinerin wollte ein paar Details mit mir besprechen.»
«Und da bist du dreihundertfünfzig Kilometer gefahren, nur wegen eines möglicherweise Ertrunkenen?»
«Ich hatte ohnehin noch etwas zu erledigen», sagte Shirin. «Sitzt du gerade am Rechner?»
«In zwanzig Minuten.»
Auf den letzten Kilometern vor Lunde gab Eira noch mal richtig Gas. Sie rief Shirin an, sobald sie sich eine Packung Kekse aus der Vorratskammer geschnappt und an den Küchentisch gesetzt hatte, während die Fotos hochgeladen wurden.
Rippen, ein Teil der Wirbelsäule.
«Er ist anscheinend nicht ertrunken», sagte Shirin, «und auch nicht von der Brücke gesprungen.»
«Was soll hier zu sehen sein?»
Eira klickte zwischen den Fotos hin und her, während Shirin über einen zertrümmerten Halswirbel sprach, der die Aufmerksamkeit der Gerichtsmedizinerin erregt hatte. Dass es da eine winzig kleine Kerbe gebe, die unter dem Mikroskop eindeutig zu erkennen sei. Eira krümelte auf die Tastatur, als sie heranzoomte und das Bild vergrößerte, eine Vertiefung, ein kleiner Einschnitt?
«Wir sind uns einig, dass es eine Patrone gewesen sein könnte», sagte Shirin. «Sie scheint beim Austreten auch das Brustbein verletzt zu haben. Der Winkel stimmt.»
Das schnelle Herzklopfen des Babys in Eiras Bauch – oder war es ihr eigenes, das im selben Tempo schlug?
«Ein Genickschuss?»
Vor dem Folkets Hus an der Straße, die am Denkmal für die Schüsse in Ådalen vorbeiführte – einem wiehernden Pferd, das sich aufbäumte, kurz bevor das Militär zu schießen begann –, hatten sich ein paar Menschen versammelt. Allan kannte einige von ihnen und musste stehen bleiben.
Da war Bettan Ljung, die Alte, die im Lotto gewonnen und nie verraten hatte, was sie eigentlich mit all dem Geld machte, für teure Klamotten gab sie es jedenfalls nicht aus, sie trug denselben Mantel, der schon immer durch die Straßen von Lunde geflattert war, und Kalle Molin, mit dem Allan sich in jungen Jahren oft über die Betrügereien und das Machtstreben der Politiker gestritten hatte, und dann noch ein paar Sommergäste, die dieses Jahr früh dran waren.
Sie würden von hier aus arbeiten, hatte Allan sie erzählen hören, könnten schließlich genauso gut hier sitzen wie in Stockholm, einer von ihnen lehnte an der Wand des Café 31 und starrte auf sein Handy.
«Man fragt sich ja, ob es dieses Mädel ist, das sie gefunden haben, diese Lina, man kann ja an gar nichts anderes mehr denken», sagte Bettan.
«Hat deine Nachbarin nichts dazu gesagt, Veine Sjödins Mädchen?», fragte Kalle Molin und wandte sich Allan zu. «Die Polizei muss uns doch Bescheid sagen, wenn sie was wissen, oder?»
Allan räusperte sich, um kurz zu überlegen, ob es dumm war, überhaupt etwas zu sagen. Eira war mit der Zeit immer mehr zu einer Art Ersatztochter geworden. Wenn er eines Tages in seinem Bett starb, wäre sie die Erste, die es merken würde, dachte er oft. Wenn er den Hund nicht zurückbrachte. Die Zeitung nicht hereinholte. Deren Auflage sollte jetzt auf drei Ausgaben pro Woche reduziert werden, hatte er neulich gehört, da konnte man schon eine Weile tot herumliegen.
«Es stimmt jedenfalls nicht, was sie schreiben», sagte er, damit sie nicht dachten, er wüsste nicht Bescheid. «Sie sind sich sicher, dass es nicht Lina Stavred ist.»