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"Älter werden ist nicht schwer, älter sein dagegen sehr." Einen guten Start in die reiferen Jahre - wünschen Sie sich das auch? Wir wissen, dass Gott mit uns geht, doch wie kann unser Lebensweg genau aussehen, wenn sich das Leben ändert? Wolfgang Kraska gibt auf sehr persönliche Weise Einblicke in seine eigenen Erfahrungen und thematisiert die ganz praktische Gestaltung des Alters genauso wie die geistliche Seite. Themen wie Ruhestandsplanung, das Miteinander der Generationen, Tod und Ewigkeit u.v.m. kommen nicht zu kurz. Ein Buch, mit dem das Älterwerden und Ältersein leicht fällt.
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Seitenzahl: 275
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»Schon viele Bücher übers Älterwerden hatte ich in der Hand, aber noch nie eins mit einem solchen Themenspektrum. Und das in einem Stil, wie er für Wolfgang Kraska typisch ist: tiefgründig, herausfordernd und dabei so konkret, dass man einer persönlichen Stellungnahme kaum ausweichen kann.«
PETER STRAUCHehemaliger Präses des Bundes FeG und erster Vorsitzender der Evangelischen Allianz Deutschland
»Ich bin begeistert von diesem lebensnahen Buch über das Altwerden. Ehrlich, offen und selbstkritisch werden viele Facetten des Älterwerdens beleuchtet. Ein Buch, das ermutigt, die letzten Lebensjahre bewusst zu gestalten und zu genießen.«
DANIELA KNAUZMitglied im geschäftsführenden Vorstand der Evangelischen Allianz Deutschland und Leiterin des Arbeitsbereich Ältere Generationen in der Vereinigung Evangelischer Freikirchen
SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-7751-7548-7 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-6067-4 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck
© der deutschen Ausgabe 2022
SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]
Liedzitat auf Seite 13 von Udo Jürgens/Wolfgang Hofer aus der Single: Mit 66 Jahren, Ariola 1978.
Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:
Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
Des Weiteren wurden verwendet:
Gute Nachricht Bibel, durchgesehene Neuausgabe, © 2018 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. (GNB)
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002/2006/2017 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Witten/Holzgerlingen. (NLB)
Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. (Lut.1984)
Lektorat: Dr. Ulrike Schilling
Umschlaggestaltung: Jan Henkel, www.janhenkel.com
Titelbild: narvikk, istockphoto.com
Autorenfoto: © Wolfgang Kraska
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach
Für Dorotheazum– Kann das denn wahr sein? –70. Geburtstag
Einen Menschen lieben, heißt einwilligen, mit ihm alt zu werden.
Albert Camus1913–1960
»Es kommt nicht darauf an,dem Leben mehr Jahre zu geben,sondern den Jahren mehr Leben.«
Alexis Carrel
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WOLFGANG KRASKA (Jg. 1952) lebt in Rheinstetten bei Karlsruhe. Nach 42 Jahren als Pastor arbeitet er im Ruhestand als Referent, Buchautor sowie Verfasser von Zeitschriftenartikeln und SWR-Andachten. Außerdem engagiert er sich ehrenamtlich in seiner letzten Gemeinde, der FeG Karlsruhe. In der Freizeit unternimmt er gerne Wanderungen und Radtouren.
Über den Autor
Alt wird man doch von selbst, oder?Vom Sinn, Anliegen und Nutzen dieses Buches
Teil 1 | Pläne – Fragen – Hoffnungen:Die Gestaltung des Alters
1 Das Alter willkommen heißen
2 Wir lassen alles auf uns zukommen!
3 Achtung vor dem Alter – wieso eigentlich?
4 Was bleibt von den Mühen des Lebens?
5 Wunderbar, dass Sie so begabt sind
6 Alter schützt vor Anfechtung nicht
Teil 2 | Sünde – Zweifel – Heilsgewissheit:Das Fundament des Alters
7 Zweifel – unangenehm, aber normal
8 Nur Gottes Gnade zählt am Ende
9 Jesus Christus und das Buch über ihn – die Bibel
10 Wenn das Gewissen uns verklagt
11 Geklärte Fragen oder geklärte Beziehung?
Teil 3 | Schmerzen – Sorgen – Einsamkeit:Die Last des Alters
12 Vorbereitungen für den großen Umzug
13 Die Einschläge rücken näher
14 Vorsorge treffen
15 Am Tropf der Fürsorge Gottes
16 Ein geistlicher Notfallkoffer für den Ernstfall
Teil 4 | Besserwisser – Vorbilder – Lernende:Das Miteinander im Alter
17 Alte mit den Jungen?
18 Förderer der nächsten Generation
19 Als Paar miteinander alt werden
20 Eltern, Kinder und Enkel
21 Alte Freunde und neue Bekannte
22 Seniorenkreis? Die sind mir zu alt
Teil 5 | Älter – alt – ewig:Die Zukunftshoffnung im Alter
23 Was erwartet uns, wenn wir sterben?
24 Auferstehung – mehr als ein Wunschtraum?
25 Ein letztes Mal umziehen
26 Werden wir uns wiedersehen?
27 Im Wartesaal der Auferstehung
28 Endlich am Ziel!
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Älter werden wir seit unserer Geburt. Doch ehe wir uns versehen, ist der Prozess so weit fortgeschritten, dass wir zur Gruppe der Senioren gehören. Unfassbar! Wo sind nur all die Jahre geblieben? Wie viel Zeit bleibt mir jetzt noch? Und wie mache ich das Beste daraus? Gerade weil die Zeit so kostbar ist, möchte ich mir nicht nur irgendwie die Zeit vertreiben oder mein Leben mit irgendwelchen Aktivitäten anfüllen. Ich möchte mein Alter erfüllt erleben. Beachten wir: Das Wort ist ein Passiv. Wir werden erfüllt. Erfüllung kommt von außen, ist ein Geschenk – Gottes Geschenk. Ich verstehe darunter, dass ich mit meiner Vergangenheit versöhnt bin, die Gegenwart mit Gottes Hilfe und an Gottes Seite gestalte und eine tragfähige Hoffnung habe, die über den Tod hinausgeht. Wie kann das konkret werden?
Obwohl Erfüllung von außen kommt, fällt uns ein erfülltes Alter nicht einfach in den Schoß. Ganz bewusst ist im Buchtitel vom Älterwerden und nicht vom Ältersein die Rede. Das ganze Leben ist ein Prozess. Wir können uns auch im Alter nicht einfach auf dem Erreichten ausruhen in der Hoffnung, dass jetzt alles so bleibt. Ob es uns gefällt oder nicht: Unser Leben wird sich weiterhin verändern und uns herausfordern. Wir finden uns in immer neuen Situationen vor, die es verantwortlich zu gestalten gilt. Das nimmt uns Gott nicht ab, so wenig wie er es in früheren Jahren getan hat. Insbesondere die Herausforderung zu lernen hört niemals auf. Wir lernen unser ganzes Leben lang, mit neuen Situationen und Aufgaben umzugehen. Deswegen ist das Älterwerden ein anspruchsvoller Prozess, der unsere ganze Aufmerksamkeit erfordert, wenn wir nicht einfach vor uns hin dümpeln wollen.
Das Gute ist: Wir müssen nicht alleine alt werden, sondern Gott ist mit uns unterwegs. Und das nicht weniger als in unseren besten Jahren, in denen wir vielleicht vital und voller Tatendrang waren. Das Alter ist nicht die Restlaufzeit, sondern es hat einen eigenen Wert und eine besondere Bedeutung. Es ist Teil des Planes Gottes mit uns Menschen: Geboren werden hat seine Zeit. – Bauen hat seine Zeit. – Abbrechen hat seine Zeit. – Sterben hat seine Zeit. Diese und viele ähnliche Aussagen lesen wir in Prediger 3. Aber was ist Gottes spezifische Absicht mit uns im Alter? Was hat Gott in diesen Jahren mit uns vor? Was sollen wir lernen, aufarbeiten und neu entdecken? Um solche Fragen wird es im Buch gehen.
Die beschriebenen Aspekte haben zum Titel dieses Buches geführt: »Erfüllt älter werden an Gottes Seite«. Ich verstehe es als ein Glaubensbuch – vorrangig für Senioren, aber auch für alle, die es einmal werden. Dabei verfolge ich drei Ziele, die ich für wichtig halte: Klärung für den Verstand, Vergewisserung für die Seele und Hoffnung aufgrund des Glaubens. Das ist es, was jeder von uns gerade im Alter braucht. Ich will Ihnen an dieser Stelle etwas Persönliches verraten: Ich habe dieses Buch in erster Linie für mich selbst geschrieben. Ich bin es, der Klärung, Vergewisserung und Hoffnung braucht. Das Schreiben hilft mir, mir meine Fragen bewusst zu machen, tragfähige Antworten zu finden und die Hoffnungsperspektive der Bibel neu zu entdecken. Ich freue mich, wenn es Ihnen ähnlich geht und Sie sich mit mir gemeinsam auf den Weg machen wollen. Als Hilfe dazu finden Sie am Ende der einzelnen Kapitel Fragen und Anregungen im Hinblick auf Ihre persönliche Situation.
Wenn der Glaube auch in schwierigen Zeiten tragen soll, braucht er eine verlässliche Grundlage. Vielleicht haben Sie sich nie näher damit beschäftigt – dann ist es ganz wichtig, es jetzt zu tun. Aber auch langjährige, bewusste Christen hatten während ihrer aktiven Berufsphase oft nicht die Zeit und die innere Ruhe, biblische Grundfragen zu Ende zu denken. Doch jetzt, wo sie älter werden, stellen sich die Fragen mit neuer Dringlichkeit: Bin ich nur mitgelaufen, weil ich im christlichen Umfeld groß geworden bin und mich dort wohlgefühlt habe? Wie lässt sich das, was ich selbstverständlich übernommen habe, von der Bibel her begründen? Die Klärung der eigenen Grundlage ist deshalb ein wichtiger Aspekt im Buch.
Es geht aber nicht nur um Klarheit im Denken und Wissen. Manche Wahrheiten, an die ich immer geglaubt habe, können im Laufe der Jahre in Vergessenheit geraten oder auch fragwürdig werden. Bin ich wirklich Gottes geliebtes Kind, oder ist das nur ein Wunschdenken? Meine Erfahrungen der letzten Monate fühlen sich so gar nicht nach Gottes Liebe an. Warum lässt Gott mich so hängen? Habe ich etwas falsch gemacht, oder ist alles am Ende nur eine große Illusion, ein kollektiver Selbstbetrug? Wird Gott wirklich bei mir sein, wenn mein Leben noch schwieriger wird und die Tage kommen, die mir nicht gefallen? Mein Herz ist unruhig und braucht neue Gewissheit. Die eigene Vergewisserung ist das zweite Anliegen des Buches.
Bei aller Dringlichkeit, theologische Fragen von der Bibel her zu klären und persönlich Gewissheit darüber zu bekommen, geht es letztlich doch noch um etwas anderes: um eine lebendige Hoffnung, mit der ich leben und sterben kann. Ich will meinen Weg gemeinsam mit Gott gehen und jeden Tag aus seiner Hand nehmen. Sein Heiliger Geist soll mir immer wieder neu die Augen für seine Liebe und Gegenwart öffnen. Und am Ende darf ich mich auf Gottes neue Welt freuen. Aber ich bin ein Mensch mit Zweifeln und Anfechtungen und brauche deshalb auch immer wieder den Zuspruch von außen und von anderen, damit meine Hoffnung lebendig bleibt. Auch dazu will das Buch beitragen.
Unter der Überschrift »Pläne – Fragen – Hoffnungen« werden wir uns zunächst der Gestaltung des Alters zuwenden. Dazu gehört auch die Frage, was aus biblischer Sicht eigentlich die Würde des Alters ausmacht. Gottes Wort erspart uns nicht die Einsicht, dass sich vieles, was wir uns als selbstverständlich vorgestellt und zurechtgelegt haben, als nicht tragfähig erweist. Das führt dann im zweiten Hauptteil zu den Fundamenten des Glaubens: »Sünde – Zweifel – Heilsgewissheit«. Es geht darum, sich die Grundlagen des Glaubens noch einmal klarzumachen. Schließlich soll auch die Last des Alters nicht verheimlicht werden. Der dritte Teil ist deshalb überschrieben mit »Schmerzen – Sorgen – Einsamkeit«. Wie kann man damit umgehen, und kann man sich vielleicht sogar innerlich darauf vorbereiten? Ein wichtiges Thema ist auch das Miteinander im Alter. Die Frage ist nicht nur, wie wir als Senioren mit den Jüngeren klarkommen, sondern auch, was andere mit uns erleben und wie wir angenehme Zeitgenossen bleiben können. Im Privaten, aber auch in der Gemeinde. Deshalb trägt der vierte Teil die Überschrift »Besserwisser – Vorbilder – Lernende«. Nachdem wir all diese Fragen bedacht haben, soll zum Schluss im fünften Teil die Zukunftshoffnung im Alter besonders thematisiert werden. »Älter – alt – ewig« ist ein Wortspiel, das ich noch erläutern werde. Dahinter verbirgt sich die zentrale Frage: Was mache ich, wenn ich tot bin? Was kann ich aus der Bibel eigentlich über das wissen, was mich nach dem Sterben erwartet?
Wichtige und spannende Fragen erwarten Sie also beim Lesen. Vielleicht kennen oder finden Sie ja auch Gleichgesinnte, mit denen Sie sich über das Gelesene austauschen können. Es wird den Gewinn voraussichtlich noch einmal erhöhen. Das Buch eignet sich auch sehr gut zum Durcharbeiten in einer Seniorengruppe oder im Hauskreis. Dazu können Sie auch die Anregungen zum eigenen Nachdenken am Ende der Kapitel verwenden.
Wie auch immer Sie das Buch nutzen, ich wünsche Ihnen von Herzen, dass es Ihnen Gewinn bringt und Gott Sie beim Lesen segnet.
Wolfgang Kraska
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Es war kaum anders zu erwarten. Als ich 66 Jahre alt wurde und meinen Geburtstag feierte, bekam ich von einem Freund eine Musikdatei mit dem bekannten Song von Udo Jürgens zugeschickt: »Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an. Mit 66 Jahren, da hat man Spaß daran. Mit 66 Jahren, da kommt man erst in Schuss. Mit 66 ist noch lang noch nicht Schluss.« Ich mag das Lied, vor allem wegen der positiven, lebensbejahenden Aussage. Das gilt, obwohl ich nicht zu den Männern gehöre, die Udo Jürgens in den Strophen seines Liedes karikiert: der heiße Typ, der sich die Haare föhnt und ein Motorrad kauft, um im Lederdress mit 110 PS durch die Gegend zu fegen. Ich bin ich, und ich will auf eine mir gemäße Weise alt werden und das Leben gestalten und genießen. Aber ich will – darin bin ich mir mit Udo Jürgens einig – das Alter positiv sehen.
Zu einem mir gemäßen Weg gehört, dass ich mich mit dem Alter auseinandersetze und es willkommen heiße. Ich bin nämlich überzeugt, dass das Gelingen des Alters ganz entscheidend davon abhängt, dass man es nicht als Feind oder Bedrohung abwehrt, sondern sich ihm als neuem Weggefährten und Freund zuwendet. Deshalb will ich die Tatsache, dass ich inzwischen im Ruhestand bin, nicht ignorieren, als bliebe im Wesentlichen alles wie bisher. Das ist einfach nicht wahr. Aber noch weniger möchte ich mich vom Älterwerden einschüchtern und deprimieren lassen.
Lassen Sie es mich mit einem Bild beschreiben. Das Alter und ich, wir werden von nun an wie zwei Wanderer gemeinsam unterwegs sein. Am Anfang werde ich selbst noch die Strecken vorgeben, aber im Laufe der Zeit kann sich das zunehmend ändern. Auf jeden Fall gilt: Ich bin niemals mehr ohne meinen Begleiter unterwegs. Da ist es gut, den anderen zu kennen und ihn einschätzen zu können. Denn wie ich die Wanderung erlebe, wird mehr und mehr von ihm abhängen. Weil aber das Alter Gottes Zeit ist, glaube ich, dass es letztlich Gott selbst ist, der mich im Alter begleiten wird. Was kann mir Besseres passieren? Deshalb möchte ich das Alter willkommen heißen und eine möglichst gute Zeit mit ihm verleben. Das Alter soll mein Wanderfreund, ja mehr noch, mein Wanderbruder sein. Und das gerade bei den schwierigen Etappen. Also: Brechen wir auf!
Die erste Lektion, die ich auf meiner Wanderung mit Beginn des Ruhestands zu lernen hatte, lautete: aufräumen – loslassen – frei werden. Auf meinem Schreibtisch stand ein Stempelhalter für 10 Stempel. Er hatte es tatsächlich geschafft, am Ende meiner Dienstzeit mit umzuziehen, und nun tat er so, als habe er Anspruch auf den Platz, den er belegt. Ein Stempel fehlte bereits: das runde Dienstsiegel, mit dem ich gelegentlich Urkunden beglaubigt und auf offiziellen Schriftstücken deren und meine Wichtigkeit bestätigt hatte. Die anderen waren private und dienstliche Adressstempel – aber die Angaben stimmten seit meinem Umzug gar nicht mehr. Zwei Drehstempel mit Datumsangaben waren auch dabei. Ich merkte, dass das späteste einstellbare Datum lange vorüber war. Keine Frage, jetzt war die Stunde der endgültigen Trennung gekommen. Vieles hatte ausgedient und gehörte jetzt – auch wenn es wehtat – in den Müll.
Es sind ja nur alte Büroutensilien und unglaublich viel Krempel, der sich im Laufe der Jahre in den Schränken, im Keller und auf dem Dachboden angesammelt hat. Doch beim Anschauen erlebe ich immer wieder, dass sich mit den Gegenständen Geschichten, Erinnerungen und Emotionen verbinden. Deshalb geht das Aufräumen nicht so schnell, wie ich gedacht hatte. Manchmal halte ich inne und hänge meinen Gedanken nach. Und manchmal weine ich sogar. Vielleicht bin ich ja ein besonders sentimentaler Hund. Aber in jedem Fall gilt: Solch ein grundlegendes Aufräumen ist immer auch ein Stück Trauerarbeit. Das Abschiednehmen kostet Kraft und tut manchmal weh. Ich merke, es geht nicht um irgendwelche Sachen. Ich bin dabei, mein Leben aufzuräumen. Was aus meiner Vergangenheit hat wirklich bleibende Bedeutung? Und spannender noch: Was ist in Zukunft für meine Frau und mich eigentlich noch hilfreich und wichtig? Mir scheint, eine erste spezifische Aufgabe des Alters besteht darin, aufzuräumen und loszulassen.
Diese Aufgabe wird nicht theoretisch am Schreibtisch und auch nicht in der Stillen Zeit gelöst. Das Leben und mit ihm Gott selbst legen uns die Lektionen zu seiner Zeit vor. Wer hätte nicht schon einige Zeit vor der Pensionierung immer wieder einmal feststellen müssen, dass er schneller müde wird, anfälliger für Krankheiten und langsamer im Denken geworden ist? Wer hätte im Laufe der Jahre nicht auch Enttäuschungen und Rückschläge hinnehmen müssen? Bei meiner Frau und mir waren das schwere Erkrankungen und der Tod unseres jüngsten Kindes. Unserem Leben hat das die Leichtigkeit, aber auch die Oberflächlichkeit genommen, als ginge alles immer nur fröhlich weiter.
Solche Erfahrungen lassen einen ganz neu fragen nach dem, was wirklich trägt und zählt. Was bleibt denn, wenn wir jene andere Welt betreten, in die wir nichts mit hinübernehmen können aus dieser Zeit: keine Titel und Diplome, keine Leistungen und Verdienste, keine Guthaben und Erfolge. Niemanden, wirklich niemanden interessiert dann noch, was uns so wichtig war, und Gott wohl auch nicht, wie wir noch sehen werden (1. Korinther 3,11–17). Ich frage mich manchmal, ob es nicht Gottes Weisheit ist, die uns im Alter ein paar Trainingseinheiten zur Vorbereitung auf seine neue Welt verordnet. Ist es wirklich nur negativ, wenn das Altwerden einen Menschen nötigt loszulassen?
Aber nicht nur Schönes und Liebgewordenes gilt es loszulassen. Auch das Dunkle und Belastende soll zurückbleiben. Im Alter haben wir in der Regel mehr Zeit. Gleichzeitig geschieht weniger Neues. Das kann dazu führen, dass die Vergangenheit wieder sehr lebendig wird. Lange Zeit verdrängte Erlebnisse melden sich wieder zu Wort. Manchmal ist das mit negativen Gefühlen verbunden. Menschen von damals werden wieder wichtig, gerade auch solche, die vermeintlich oder tatsächlich an uns schuldig geworden sind und versagt haben: Eltern, Lehrer, Partner, oder auch die Gesellschaft, die Umstände … Da kann sich das Gefühl einschleichen: Ich bin unfair behandelt worden, ich habe noch Rechnungen offen, die ich nun einfordern werde. Oder ich werde wegen meiner Ohnmachtsgefühle verbittert und griesgrämig und bin für andere nur schwer zu ertragen.
Vielleicht bricht aber auch eigene Schuld wieder auf. Immer wieder kreisen die Gedanken darum, und alle Versuche, sich selbst davon freizusprechen, wollen einfach nicht gelingen. Wie will ich damit umgehen? Was kann ich im Gespräch mit Gott und mithilfe eines Seelsorgers aufarbeiten und zu einem guten Ende bringen? Noch ist Zeit dazu. Oder richtiger: Jetzt ist die Zeit dazu. Gerade jetzt! Jetzt habe ich genug Abstand, um die Dinge noch einmal anzuschauen und eine Neubewertung vorzunehmen. Jetzt habe ich vielleicht die Lebenserfahrung, Zusammenhänge zu verstehen und nachzuvollziehen, was die Beteiligten damals bewegt hat. In einem längeren Glaubensleben könnte Gott mich auch so geprägt haben, dass ich jetzt vergeben und barmherzig sein kann.
Sicher gehört zum Aufräumen auch, eine vorläufige Lebensbilanz zu ziehen: Was ist aus mir geworden? Was hätte ich gerne erreicht, und was davon habe ich tatsächlich geschafft? Was bleibt unter dem Strich? Was war mein Leben? – Wer darüber nachdenkt, entdeckt natürlich auch, wo er seine Ziele verfehlt, entscheidende Chancen verpasst hat oder auch einfach nur zu kurz gekommen ist im Vergleich zu anderen. Auch darüber dürfen und sollten wir unbedingt mit Gott reden, um Heilung für unsere Wunden zu erbitten und zu erfahren.
Von Abraham heißt es, dass er »alt und lebenssatt« starb (1. Mose 25,8). Mir gefällt das altmodische Wort gut. »Lebenssatt« ist etwas anderes, als das Leben satt zu haben, als lebensmüde zu sein. Nehmen wir das Bild ruhig wörtlich: Das Leben ist wie ein gutes Essen. Ich habe zugelangt, es hat geschmeckt, und nun bin ich satt. Da ist zwar noch mehr auf dem Tisch, aber es reizt nicht mehr. Ich will es nicht gierig auch noch in mich hineinstopfen. Übertragen heißt das: Ich habe gelebt. Es war alles in allem in Ordnung, vielleicht sogar gut und schön, wenn auch nicht immer leicht. Ich danke Gott dafür, aber nun ist es genug und ich bin bereit aufzustehen und in Gottes andere Welt zu gehen.
Das Gegenteil einer solchen Haltung wäre der ungebremste Lebenshunger bis zum letzten Augenblick, die Lebensgier. Wer so stirbt, muss den Eindruck haben, ihm werde alles genommen. Er fühlt sich vom Tisch weggerissen: Oh Jammer, was bleibt mir noch? Was soll nun aus mir werden? – Ich denke, um einmal »lebenssatt« wie Abraham sterben zu können, darf man sich den beschriebenen Herausforderungen nicht entziehen, sondern muss sich ihnen stellen.
Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: … pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit.
Prediger 3,1.2b
• Wie leicht oder schwer fällt es Ihnen, etwas wegzuwerfen, was früher einmal Wert und Bedeutung für Sie hatte? Warum ist das so?
• Haben Sie mit dem inneren Aufräumen Ihres Lebens bereits begonnen? Wie weit sind Sie in diesem Prozess vorangekommen?
• Was löst der Gedanke, aufzuräumen, loszulassen und Abschied zu nehmen bei Ihnen aus? Denken Sie, dass Sie diesbezüglich mutig und auf einem guten Weg sind?
• Welche Lebensthemen müssen Sie noch einmal angehen, um unbeschwert alt werden zu können?
• Was wollen Sie sich konkret für die nächste Zeit vornehmen?
• Wie real ist für Sie die Vorstellung, dass Gott Sie auch im Alter begleiten wird?
• Können Sie die Lebensphase des Alters als Freund und Weggefährte willkommen heißen? Oder empfinden Sie das Alter vor allem als Feind und Bedrohung?
• Versuchen Sie, Ihre Situation auf der folgenden Skala zu bewerten. Wenn die Aussage im linken Kasten uneingeschränkt zutrifft, markieren Sie die 1. Trifft hingegen die Aussage im rechten Kasten genau Ihre Situation, kreuzen Sie die 10 an. Und wenn Sie – was meistens der Fall ist – irgendwo dazwischen liegen, wählen Sie den Wert, der Ihre Situation am besten beschreibt.
Ich empfinde das Altwerden als brutale Bedrohung, die mir die Kehle zuschnürt.Ich freue mich auf die vor mir liegenden Jahre und vertraue darauf, dass sie richtig gut werden.12345678910• Gibt es etwas, was Sie aufgrund Ihrer Einsichten mit Gott besprechen wollen?
Ist es wirklich nötig, sich so bewusst und konkret mit dem Altwerden auseinanderzusetzen? Reicht es nicht, oder ist es vielleicht nicht sogar besser, abzuwarten und alles auf sich zukommen zu lassen? Für mich persönlich wäre das kein guter Weg. Ich möchte mein Alter nicht passiv erleben und erleiden. Vielmehr wünsche ich mir, auch in den späten Jahren so weit wie möglich aktiv zu entscheiden und zu gestalten.
Wie kann das gelingen? Wie kann ich mich darauf vorbereiten, und was kann ich dazu beitragen? Anstatt alles »noch wie früher« machen zu wollen, sollten wir überlegen: Was ist jetzt dran und wo gilt es, neues Land einzunehmen? Wo kann ich gerade jetzt und nur jetzt ein Segen für andere sein? Welche Chancen gibt es, die ich bisher nicht hatte? Aber auch: Welchen schmerzhaften Lektionen darf ich mich einfach nicht entziehen? Und selbstverständlich dürfen wir dann auch fragen: Was kann und sollte weiterlaufen wie bisher, damit ich emotional hinreichend stabil bleibe?
Aber geht das überhaupt im Blick auf das Alter? Gehört zu dieser Phase nicht ganz wesentlich die Passivität gemäß dem Wort Jesu an Petrus: Als du jünger warst, gürtetest du dich selbst und gingst, wo du hinwolltest; wenn du aber alt bist, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und führen, wo du nicht hinwillst (Johannes 21,18). – Ja, ich stelle mich diesem Wort, zumal es zum Predigttext bei meiner Verabschiedung gehört hat. Und doch denke ich, dass Gottes Führung im Alter nicht anders vor sich geht als im übrigen Leben. Wir sind keine Marionetten, deren Leben von Gott ferngesteuert wird und die ohnehin nichts selber entscheiden können. Vielmehr sind wir als lebendige Menschen unterwegs, die Freiräume zur Gestaltung haben und Verantwortung wahrnehmen müssen. Immer im Gespräch mit Gott und in der Rückbindung an ihn, der das letzte Wort spricht.
Insofern hat es mich nie überzeugt, wenn alte Menschen sich weigerten, rechtzeitig die Frage zu stellen, welche Wohnung und Versorgung für sie im Alter angemessen sind. Begründungen wie »Wir überlassen das alles dem Herrn« oder »Wir nehmen alles aus des Herrn Hand« empfand ich selten als besonders geistlich. Nach meiner Einschätzung waren sie meist weniger aus einem tiefen Glauben als vielmehr aus der Angst vor Veränderung und Entscheidungen geboren.
Ich gebe zu, diese Einschätzung ist wahrscheinlich auch ein Stück weit Typsache. Ich selbst bin nicht gerne das Opfer von Prozessen, die von außen auf mich zukommen. Ich habe die Dinge gerne im Griff. Ich agiere lieber im Vorfeld, als einfach nur zu reagieren. Allerdings beanspruche ich für mich, dass auch diese Prozesse im Glauben, im Dialog mit Gott und unter der Führung des Heiligen Geistes geschehen. Ich denke, darauf kommt es an, wie immer wir von Natur aus – und somit von unserem Schöpfer – gestrickt sind. Selbstverständlich muss sich nicht alles von heute auf morgen total ändern. Aber ich darf mich auch nicht der Tatsache verschließen, dass Gott mich mit der Lebensphase des Alters nun einmal in einen starken Veränderungsprozess gestellt hat, den ich mit seiner Hilfe gestalten soll.
Wo das Loslassen und Aufräumen angepackt werden, entstehen Freiräume für Neues. Dabei darf die Frage nicht lauten: Was kann ich weiterhin tun wie bisher? Wie weit kann ich das Altwerden ignorieren? Vielmehr muss sie lauten: Was kann ich gerade jetzt tun? Wie kann ich als alt gewordener Mensch im Heute leben, anstatt nur der Vergangenheit nachzutrauern? Dankbares Erinnern ist sicher etwas ganz Wichtiges und Wertvolles. Aber vielleicht hat Jesus mit mir noch Neues vor, gerade jetzt. Mein Weg wird für mich deshalb von zwei Bibelworten begrenzt: Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat (Psalm 103,2). Auf der anderen Seite gilt aber auch das Wort von Jesus: Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes (Lukas 9,62). Selbstverständlich kann und will uns Gott auch in Zukunft gebrauchen. Das bekannte Gleichnis von den anvertrauten Pfunden (Matthäus 25,14–30) gilt ja auch für Senioren. Dabei werde ich allerdings akzeptieren müssen, dass mir keine Zentner, sondern vielleicht nur noch ein paar Kilo oder Gramm anvertraut sind. Aber aus denen will ich etwas machen und sie keineswegs vergraben.
Die Lebensumstände im Alter sind sehr unterschiedlich. Politiker von Konrad Adenauer bis Joe Biden haben der Welt vorgeführt, welche Energie manche alten Menschen noch haben. Aber das ist nicht die Regel – und wir sollten diese Erwartung auch nicht an uns selbst haben. Es geht im zitierten Gleichnis nicht um Leistung, sondern immer nur um den treuen Umgang mit dem, was Gott uns jeweils anvertraut hat. Das bedeutet für den einen, noch mal so richtig durchzustarten und Verantwortung zu übernehmen, jetzt, wo er die Freiräume dafür hat. Für den anderen beinhaltet es ein paar kleine, begrenzte Aktivitäten hier und da. Und bei einem dritten wird es sich auf das treue Gebet im still gewordenen Kämmerlein beschränken. Immer geht es um das eine, wie Jesus über das urteilt, was ich aus dem mir Anvertrauten gemacht habe.
Da sprach sein Herr zu ihm: »Recht so, du guter und treuer Knecht, du bist über wenigem treu gewesen, ich will dich über viel setzen; geh hinein zu deines Herrn Freude!
Matthäus 25,21
• Was für ein Typ sind Sie? Was liegt Ihnen näher: alles auf sich zukommen zu lassen oder die Dinge selbst anzupacken und zu regeln?
• Was hat Sie so geprägt? Wie sind Sie so geworden?
• Wie wirkt sich Ihre Prägung jetzt im Alter aus, wenn neue Situationen auf Sie zukommen? Ist sie hilfreich oder eher hinderlich?
• Wie weit kommt Gott bei Ihren Entscheidungen überhaupt dazwischen? Was bestimmt Sie mehr: das Hören auf Gott und der Gehorsam ihm gegenüber oder Ihre alte, eingeschliffene Art?
• Gibt es Bereiche, in denen Gott Sie gerade jetzt im Alter herausfordert und in denen Sie etwas Neues lernen sollen?
• In welche Richtung möchten Sie sich weiterentwickeln? Unten finden Sie die schon bekannte Skala, in der Sie sich einordnen können, um ein differenziertes Bild zu bekommen.
Ich brauche viel mehr Mut und Eigeninitiative.Ich muss Gott mehr vertrauen und einfach ihn machen lassen.12345678910• Worüber möchten Sie mit Gott an dieser Stelle ins Gespräch kommen?
Es ist beeindruckend, wie solidarisch sich die jüngere Generation in der Corona-Pandemie gegenüber den Alten verhalten hat. Gerade im ersten Jahr haben sie, die weit weniger gefährdet waren, auf vieles verzichtet und schwere Einschränkungen und Verluste weitgehend ohne zu murren ertragen. Als Senioren sollten wir das nicht gering schätzen, auch wenn der Grund dafür wohl eher in den gesetzlichen Bestimmungen und den medizinischen Notwendigkeiten zu suchen ist. Ich fürchte aber, aufs Ganze gesehen wird sich am Umgang der Gesellschaft mit den Alten nicht wirklich etwas ändern. Wenn Senioren miteinander darüber reden, sind sie sich in der Regel schnell einig: Es ist schlimm bestellt um die Achtung vor dem Alter.
Viele Beispiele können wir nennen, wie es früher war und was einem heute alles passieren kann. Sicher gibt es hier wie auch in anderen Bereichen Entwicklungen, vor denen man als Christ nur erschrecken kann. Ohne Frage werden diejenigen, die heute Wind säen, in ihrem eigenen Alter Sturm ernten. Junge Leute übersehen zu leicht, dass sie selbst auch älter werden. Und doch reicht es nicht aus, nur über den allgemeinen Verfall der Sitten und Werte in unserer Gesellschaft zu lamentieren. Denn das, was heute nicht mehr funktioniert, ist lediglich die weltliche, bürgerliche Begründung für die Achtung vor dem Alter. Für diese Begründung ist aus durchaus nachvollziehbaren Gründen die Basis weggebrochen. Das Einzige, was weiterhin tragen kann, ist eine biblische Begründung. Die aber sieht ganz anders aus.
In früheren Zeiten ergab sich die Achtung vor dem Alter vor allem aus der Lebensleistung und der Erfahrung des alten Menschen. Die jüngere Generation lebte davon, dass die ältere Generation ihr Wissen, insbesondere auch das berufliche Know-how weitervermittelte. Das ist weitgehend vorbei. Im Zeitalter der Digitalisierung erleben viele in ihrem Beruf, dass ihre Ausbildung und ihr Wissen bereits nach wenigen Jahren überholt sind. Bisher bewährte Techniken erweisen sich als unproduktiv und hinderlich. Völlig neue Berufsbilder entstehen, während andere verschwinden. Wer sich nicht ständig weiterbildet oder auch nur ein paar Jahre aus seinem erlernten Beruf ausscheidet, wird schon sehr bald von der Entwicklung überrannt. So bitter es ist: Das Sachwissen und die Berufserfahrung der Älteren stellen für die Jüngeren in vielen Fällen kein Kapital mehr dar, das für sie wertvoll wäre.
Auch im gesellschaftlichen und sozialen Bereich haben die letzten 50 Jahre gewaltige Umbrüche mit sich gebracht. So hat sich zum Beispiel das Rollenverständnis von Mann und Frau sehr stark verändert. Ob es uns gefällt oder nicht, die Berufstätigkeit beider Eltern ist inzwischen zum Normalfall geworden, auch in christlichen Familien. In der Kindererziehung erscheinen Jüngeren die Konzepte und Ratschläge ihrer Eltern für den ganz anderen Lebensrahmen der eigenen Kinder nicht mehr geeignet. Die Enkel haben die Mangelsituation der Nachkriegszeit nicht mehr erlebt, sondern sind von der Konsum- und Mediengesellschaft geprägt. Zwischen dem 17- und dem 67-Jährigen liegen, gemessen an früheren Zeiten, ganze Jahrhunderte.
Und noch etwas Drittes, vielleicht besonders Schmerzliches, muss man bedenken, um die Situation zu verstehen. Wenn die Achtung vor dem Alter angemahnt wird, wird oft so getan, als sei jeder alte Mensch eine Art Mose: eine gereifte, weise und überzeugende Persönlichkeit, der ruhende Pol in seiner Umgebung. Das ist jedoch eine schöne Illusion, und jüngere Menschen wissen da durchaus auch anderes zu berichten. Geiz, Zanksucht, Rechthaberei, ja alle denkbaren Sünden machen offenbar auch vor dem Alter nicht halt. Nein, wir reise- und lebenslustigen Senioren von heute sind eben auch nicht mehr das, was unsere eigenen Großeltern einmal waren. Das bedeutet: Ein Vorbild werden wir nicht automatisch dadurch, dass die Haut schrumpelt und unsere Haare weiß werden.
Das Problem liegt nun darin, dass wir in der Regel die Achtung vor dem Alter als eine Art Rendite auf das bisherige Leben verstehen. Sie ist auf jeden Fall etwas, was wir uns verdient haben mit unserer Lebensleistung, ein Anspruch, den wir erarbeitet haben. Was aber, wenn der Ertrag unseres Lebens für die nachfolgende Generation wie oben beschrieben nun einmal nicht mehr den Wert hat, den er zu unserer Zeit hatte?
Längst haben wir uns daran gewöhnt, dass teure Softwareprogramme, Elektronikprodukte, aber auch Bücher und Garderobe nach einem Jahr für einen Bruchteil des ursprünglichen Preises verschleudert werden. Nun sind Menschen selbstverständlich keine Ware, aber oft verstehen sie ihre Leistung als solche, und das hat fatale Folgen. Wer in der Blütezeit auf seinen eigenen gesellschaftlichen Marktwert setzt, muss in unserer sich rasant ändernden Welt damit rechnen, am Ende von einer bösen Inflation enteignet zu werden. Christen sollten es besser wissen. Und doch verhalten sie sich oft nicht anders als der Rest der Gesellschaft.
Natürlich kann man zu Recht die Undankbarkeit der heutigen Gesellschaft beklagen. Ändern wird man an den Fakten dadurch nichts. Bestenfalls wird ein bisschen Rücksicht, Höflichkeit und Mitleid herauskommen. Das wäre ja schon etwas, aber wirkliche Achtung ist das wohl nicht. Wie kommen wir also hier weiter? Aus christlicher Sicht ist die Achtung vor dem Alter schließlich ein hohes Gut. So heißt es in 3. Mose 19,32: Vor einem grauen Haupt sollst du aufstehen und die Alten ehren und sollst dich fürchten vor deinem Gott; ich bin der Herr. – Aber schauen wir genau hin!