Ergotherapie bei Autismus - Meike Miller - E-Book

Ergotherapie bei Autismus E-Book

Meike Miller

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Beschreibung

AutistInnen leiden häufig unter Veränderungen der Wahrnehmung, die sie in ihrer Teilhabe einschränken. Ergotherapie bietet Strategien, mit denen sie gezielt auf Wahrnehmungsüberempfindlichkeit und Reizüberflutung einwirken und dadurch ihre Lebensqualität deutlich steigern können. Das Buch vermittelt autistischen Menschen, Angehörigen und Fachleuten Wissen und praxisnahe Anregungen, wie Stress reduziert werden kann, um ausgeglichener und leistungsfähiger zu werden. Als Erweiterung findet sich in dieser Auflage ein Kapitel zur Unterstützung von AutistInnen im beruflichen Kontext.

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Inhalt

Cover

Titelei

Abkürzungs- und Fachwortverzeichnis

Geleitwort

Vorwort

Danksagung

1 Einleitung

2 Wahrnehmung und Autismus

2.1 Wahrnehmung als Prozess

2.2 Wahrnehmung bei Autismus (Diskrimination und Modulation)

2.3 Über- und Unterempfindlichkeit der Wahrnehmung

2.3.1 Sensorische Dormanz

2.3.2 Sensorische Defensivität

2.4 Folgen von Wahrnehmungsveränderungen bei Autismus

2.4.1 Wahrnehmungsveränderungen und Motorik

2.4.2 Wahrnehmungsveränderungen und Verhalten

2.4.3 Wahrnehmungsveränderung und Kognition

2.5 Aktivitätskurve

2.5.1 Wahrnehmung und Aktivierungsniveau bei Autismus

2.6 Wahrnehmung und Stress

2.6.1 Reizüberflutung anhand des Vulnerabilitäts-Stress-Modells

2.7 Reizüberflutung bei Autismus

2.7.1 Meltdown und Shutdown

2.7.2 Soforthilfe bei Reizüberflutung

2.7.3 Langfristige Hilfe gegen Reizüberflutung

3 Lebenspraktische Hilfe – die therapeutische Perspektive

3.1 Der besondere Klient/Die besondere Rolle des Therapeuten

3.1.1 Besonderheit der Kontaktaufnahme

3.1.2 Die ersten Termine

3.1.3 Inhalte in therapeutischen Sitzungen

3.2 Abgrenzung Zwänge – wahrnehmungsbedingtes Verhalten

3.3 Therapeutische Distanz

3.4 Die Rollen des Therapeuten

3.4.1 Experte für Wahrnehmung

3.4.2 Unterstützer bei den Aktivitäten des täglichen Lebens (AdtL's)

3.4.3 Dolmetscher und Anschauungsobjekt

3.4.4 Lebenscoach

4 Strategien und Methoden bei Wahrnehmungsveränderungen

4.1 Prinzip Hemmung

4.1.1 Kognitive Hemmung

4.1.2 Hemmung durch Autonomie

4.1.3 Hemmung durch Kälte

4.1.4 Hemmung durch Tiefdruck

4.1.5 Hemmung durch Rhythmus

4.1.6 Fazit (Hemmung)

4.2 Sensorische Diät

4.2.1 Sensorische Diät – visuell (Sehen)

4.2.2 Sensorische Diät – auditiv (Hören)

4.2.3 Sensorische Diät – taktil (Tastsinn/Oberflächenwahrnehmung)

4.2.4 Sensorische Diät – vestibulär (Gleichgewicht)

4.2.5 Sensorische Diät – propriozeptiv (Körperwahrnehmung)

4.2.6 Sensorische Diät – gustatorisch (Geschmack)

4.2.7 Sensorische Diät – olfaktorisch (Riechen)

4.2.8 Sensorische Diät – viszeral (Wahrnehmung der inneren Organe)

4.3 Wie lässt sich im Alltag Reizüberflutung vermeiden?

4.3.1 Zuhause

4.3.2 Schule

4.3.3 Mobilität

4.3.4 Freizeit

4.3.5 Bekanntschaften, Freundschaften, Beziehungen

4.3.6 Berührungen

5 Die Aktivitäten des täglichen Lebens (AdtL)

5.1 Die Bedeutung von Betätigung

5.1.1 Der Umweltaspekt

5.2 Die Aktivitäten des täglichen Lebens

5.2.1 Selbstversorgung

5.2.2 Schule/Ausbildung

5.2.3 Mobilität

5.2.4 Freizeit

5.2.5 Wohnen

5.2.6 Schlafen

5.2.7 Termine/Arztbesuche/Telefonate

5.2.8 Hygiene

5.2.9 Freundschaft/Kontakte

5.3 Weitere Hilfsangebote

6 Arbeit

6.1 Einleitung

6.2 Der autistische Arbeitnehmer – eigentlich ein Jackpot

6.2.1 Der autistische Mitarbeiter – Bedeutung und Potential für Unternehmen

6.3 Die derzeitige Arbeitssituation für Autisten

6.4 Fallstricke für den beruflichen Erfolg autistischer Mitarbeiter

6.4.1 Übergangssituationen

6.4.2 Bewerbung

6.4.3 Vorstellungsgespräch

6.4.4 Kommunikation

6.5 Best-Practice für autistische Mitarbeiter

6.5.1 Umgang des Unternehmens mit Autismus – Unternehmenskultur

6.5.2 Soziale Interaktion

6.5.3 Arbeitsplatz und besondere Wahrnehmung

6.5.4 Allgemeines Stressmanagement

6.6 Der autistische Mitarbeiter – Fazit

7 Autismus in der Ergotherapie – Fallbericht einer Mutter zweier autistischer Kinder

8 Übersicht: Typische Anzeichen und Hilfsmaßnahmen

8.1 Propriozeption (Körperwahrnehmung)

8.2 Taktile Wahrnehmung (Berührungsempfinden)

8.3 Vestibuläre Wahrnehmung (Gleichgewichtsempfinden)

8.4 Olfaktorische Wahrnehmung (Geruchsempfinden)

8.5 Gustatorische Wahrnehmung (Geschmacksempfinden)

8.6 Viszerale Wahrnehmung (Wahrnehmung der inneren Organe)

8.7 Auditive Wahrnehmung (Hörempfinden)

8.8 Visuelle Wahrnehmung (Sehempfinden)

Literaturverzeichnis

Register

Die Autorin

Meike Miller ist Ergotherapeutin und Coach und nutzt seit vielen Jahren die Sensorische Integrationstherapie für die Arbeit mit autistischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Gemeinsam mit Christine Preißmann hält sie regelmäßig Weiterbildungsseminare zum Thema Wahrnehmung, Ergotherapie und Autismus.

Seit 2024 ist Meike Miller als Personalreferentin tätig. Angetrieben von der Überzeugung, dass autistische Arbeitnehmer die gleichen Chancen verdienen wie Menschen jenseits des Spektrums, widmet sie in der Neuauflage ihres Buches dem Thema Arbeit ein eigenes Kapitel.

Meike Miller

Ergotherapie bei Autismus

Förderung durchSensorische Integrationstherapie

Mit einem Geleitwortvon Christine Preißmann2., erweiterte und aktualisierte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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2., erweiterte und aktualisierte Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Umschlagabbildung: iStock.com/blyjak

Print:ISBN 978-3-17-045010-3

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-045011-0epub:ISBN 978-3-17-045012-7

Abkürzungs- und Fachwortverzeichnis

Active-noise-Cancellingsog. Antischall, der unerwünschte Geräusche aus der Umwelt überlagert und auslöscht. Das Ergebnis ist (fast) absolute Ruhe. Erhältlich als Kopfhörer oder in-ear-Variante

AdtLAktivitäten des täglichen Lebens

ASSAutismus-Spektrum-Störung; die Diagnose ermöglicht viele Hilfen und Nachteilsausgleiche

COPMCanadian Occupational Performance Measure

DEI – BDiversity, Equity, Inclusion and Belonging: Unternehmensabteilung für Vielfalt, Gleichberechtigung, Integration und Zugehörigkeit; wird inzwischen als »Erfolgsfaktor« in Unternehmen propagiert

DefensivitätÜberempfindlichkeit bei zu geringer Filterung; auch irrelevante Reize gelangen ins Bewusstsein

DiversityVielfalt

Dormanzsiehe Hyporeaktivität

Double-Empathy-Problemerschwertes gegenseitiges Erkennen des Befindens anhand der Mimik; gilt gleichermaßen für Autisten und Nicht-Autisten

HyperfokusZustand höchster Konzentration unter Ausblenden der äußeren und inneren Reize; v. a. bei ASS und ADHS

HyporeaktivitätUnterempfindlichkeit gegenüber Reizen

MaskierenFähigkeit von Autisten, ihre Mimik durch Lernen dem anzupassen, was die Umwelt in bestimmten Situationen erwarten würde

NachteilsausgleichMöglichkeit, einen Ausgleich in Schule und Ausbildung zu erhalten, um Chancengleichheit herzustellen

Neurodivergenzbeschreibt neurobiologische Unterschiede. Reize werden anders verarbeitet als bei der Mehrzahl der Menschen

Neurodiversitätinklusiver Begriff, der alle neurologischen Varianten umfasst

Neurotypischtypische Reizverarbeitung der Mehrzahl der Menschen

Resilienzseelische Widerstandskraft

Responsivitätsichtbare Reaktion auf Reize (Handlung, Verhalten)

SISensorische Integrationstherapie

SMART‍(-Ziele)spezifisch, messbar, attraktiv, realistisch, terminiert

SprungbereitschaftReaktion des Abfangens beim Sturz

TonusSpannungszustand der Muskulatur

VulnerabilitätVerletzlichkeit (durch Stress)

Geleitwort

»Ergotherapie? Was macht man denn da?« – dieser Reaktion begegne ich sehr oft, wenn ich von den therapeutischen Maßnahmen bei Menschen mit Autismus berichte. Und ich muss gestehen, auch ich wusste lange nicht, auf welch vielseitige und effektive Weise Ergotherapeuten unterstützen können. Nach über einem Jahrzehnt ambulanter Psychotherapie, durch die ich vieles gelernt habe, hatte ich das Gefühl, dass mich eine zusätzliche Unterstützung im Hinblick auf meine Wahrnehmungsbesonderheiten einerseits und die Anforderungen des Alltags auf der anderen Seite deutlich voranbringen könnte. Dass gerade dies die beiden Domänen der Ergotherapie sein würden, wusste ich damals noch nicht.

Ich schrieb also eine lange Mail an eine ergotherapeutische Praxis in meiner Nähe, da mir das Telefonieren schwerfällt, und erhielt umgehend eine Antwort mit Erläuterungen und der Ermutigung, einen Ersttermin zu vereinbaren. So kam es, dass ich Frau Miller kennenlernen durfte.

Autismus – Definition und Gliederung

Erst im Erwachsenenalter hatte ich die Diagnose Asperger-Syndrom erhalten und dadurch endlich Antworten auf viele Fragen in meinem Leben gefunden. Ich informierte mich ausführlich über meine Besonderheiten, um besser darüber Bescheid zu wissen:

Derzeit wird noch unterschieden zwischen den einzelnen Formen1

Asperger-Syndrom (F84.5),

Frühkindlicher Autismus (F84.1),

Atypischer Autismus (F84.0).

Auch für Fachleute ist jedoch die Abgrenzung nicht immer leicht, deshalb spricht man heute meist von einer Autismus-Spektrum-Störung, um zu verdeutlichen, dass die Auffälligkeiten in jedem Einzelfall unterschiedlich sind und eine sehr große Bandbreite besteht. Es gibt also ein breites Spektrum an typischen Merkmalen, die sowohl Schwierigkeiten als auch Fähigkeiten umfassen. Während einige autistische Menschen nur leicht betroffen zu sein scheinen, besteht bei anderen eine schwere Mehrfachbeeinträchtigung.

Ein Kind mit frühkindlichem Autismus zeigt bereits vor dem dritten Lebensjahr Auffälligkeiten

im sozialen Umgang mit anderen,

in der Kommunikation,

durch sich wiederholende stereotype Verhaltensweisen.

Das Asperger-Syndrom dagegen lässt sich von den anderen Formen abgrenzen durch eine mindestens durchschnittliche Intelligenz und das Fehlen einer sprachlichen bzw. kognitiven Entwicklungsverzögerung. Es zeigen sich jedoch Auffälligkeiten in der psychomotorischen Entwicklung und in der sozialen Interaktion.

Der atypische Autismus kann diagnostiziert werden, wenn nicht alle Diagnosekriterien (s. u.) vorliegen, gleichzeitig aber keine andere Diagnose in Betracht kommt.

Die nicht selten verwendete Formulierung »autistische Züge« sollte allenfalls dann ihre Berechtigung haben, wenn zusätzliche Beeinträchtigungen im Sinne einer autistischen Symptomatik bei vorbestehenden anderen Formen der Behinderung verdeutlicht werden sollen.

Symptome und Auffälligkeiten

Schaut man sich die Kernsymptome von Autismus-Spektrum-Störungen an, so kann man in fast jedem Fall eine Verbindung zur Wahrnehmungsproblematik herstellen. Daher ist es eigentlich naheliegend, an eine ergotherapeutische Maßnahme zu denken.

Allen Autismus-Spektrum-Störungen gemeinsam sind

Beeinträchtigungen in der sozialen Interaktion,

Beeinträchtigungen in der Kommunikation,

eingeschränkte und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten.

Weitere häufige Auffälligkeiten bestehen z. B. in

motorischer Ungeschicklichkeit (insbesondere beim Asperger-Syndrom),

isolierten speziellen Fertigkeiten und ungleichen Kompetenzen,

dem Bedürfnis nach Gleicherhaltung der Umwelt sowie großer Angst vor Veränderungen und allem Unerwarteten,

dem Bedürfnis nach strikten Routinen, täglich wiederkehrenden Ritualen und Struktur (eingespielte, immer gleiche Tätigkeitsabläufe oder bestimmte Speisen, Kleidung etc.),

einer auffälligen Detailwahrnehmung (Kleinigkeiten, winzige Fehler etc. können rasch entdeckt werden, das Erkennen übergreifender Zusammenhänge fällt dagegen oft schwer).

Überempfindlichkeiten hinsichtlich verschiedener Sinnesreize (z. B. können leichte Berührungen, Sonnenlicht, Geräusche oder Gerüche manchmal Schmerzen bereiten),

dagegen evtl. Unempfindlichkeiten gegenüber Schmerz- oder Temperaturwahrnehmung,

eingeschränktem Fantasiespiel,

Schlafstörungen (Ein- oder Durchschlafstörungen, verschobener Tag-Nacht-Rhythmus etc.).

Häufigkeit und Verlauf

Die Häufigkeit von Autismus-Spektrum-Störungen liegt bei etwa 1 %, es ist also von mehreren Hunderttausend unmittelbar betroffenen Menschen in Deutschland auszugehen. Die deutliche Zunahme an Autismus-Diagnosen lässt sich nach Ansicht von Experten aber eher nicht durch eine Zunahme des Autismus als solchem erklären, sondern vielmehr durch die besseren Kenntnisse der Fachleute. Das Bewusstsein für den Autismus hat also zugenommen, vor allem eben auch das Wissen, dass bei einer entsprechenden Diagnose auch Hilfen möglich sind.

Früher wurden Autismus-Spektrum-Störungen als typische Störungen des Kindesalters angesehen, heute jedoch ist man sich ihrer Bedeutung auch im Erwachsenenalter bewusst. Das findet seinen Ausdruck u. a. in der Namensänderung des größten deutschen Selbsthilfeverbandes. 1970 wurde der Bundesverband unter dem Namen »Hilfe für das autistische Kind« von betroffenen Eltern gegründet, seit 2005 heißt er »autismus Deutschland – Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Autismus«, um auch betroffenen Jugendlichen und Erwachsenen gerecht zu werden.

Der Autismus wächst sich eben nicht aus, sondern besteht lebenslang. Durch eine gute Unterstützung sind aber viele Verbesserungen möglich, auch noch jenseits des Jugendalters.

Meine Erfahrung mit Ergotherapie

In einer Zeit, als ich sehr belastet war durch auch bereits geringe Sinnesreize, kam die Unterstützung im Sinne der Sensorischen Integrationstherapie gerade recht. Ich lernte, meine Grenzen besser wahrzunehmen, die Beeinträchtigungen zu benennen und Maßnahmen zu erlernen, einige belastende Sinnesreize zu vermeiden bzw. für die Situationen, in denen sie sich nicht vermeiden ließen, Strategien zu erlernen, um besser damit umgehen zu können. Das war extrem wichtig für mich, denn die körperliche wie psychische Belastung durch Zustände der Reizüberflutung war enorm. Ich bemerkte, wie sehr sich nun durch die Aufklärung über Wahrnehmungsauffälligkeiten und die passenden Strategien auch mein Befinden insgesamt besserte.

Anschließend konnten Frau Miller und ich uns mit den Anforderungen des Alltags beschäftigen. Anhand von Fragebögen ermittelten wir meinen Bedarf im Hinblick auf meine Wünsche und Lebensziele. Alle Maßnahmen wurden stets mit mir und auf meine Bedürfnisse abgestimmt und im Verlauf angepasst. Frau Miller besprach mit mir hilfreiche Maßnahmen für Arbeit und Beruf, sie begleitete mich zu Arztterminen und stellte dafür manchmal, wenn mir das allein nicht gelang, in meinem Beisein und nach Absprache mit mir auch dort den Kontakt für mich her. Sie unterstützte mich beim Einkaufen und beim Einrichten meiner Wohnräume nach meinen Wünschen und Bedürfnissen. Sie besprach mit mir Maßnahmen, um mit anderen Menschen in Kontakt kommen zu können, und nannte mir Ansprechpartner für weiterführende Hilfen. Mit welchem Thema ich auch zu ihr kam, sie war stets bereit, mit mir gemeinsam nach Lösungen zu suchen.

Ein Buch zum Thema

Ich durfte erleben, wie vielseitig und wie ungemein hilfreich eine solche ergotherapeutische Behandlung für Menschen mit Autismus sein kann, und ich begann damit, diese Erfahrung auch anderen Betroffenen zu vermitteln. In vielen Fällen haben auch therapeutische, medizinische oder pädagogische Fachkräfte noch keine Erfahrung mit Ergotherapie bei Autismus, daher war es mein Anliegen, diese Möglichkeit bekannter zu machen.

Glücklicherweise zeigte sich Frau Miller offen dafür, sodass wir inzwischen gemeinsam Seminare gestalten für Fachleute genauso wie für Betroffene und Angehörige. In einem Buchbeitrag erläuterte Meike Miller zudem erstmals schriftlich die Konzepte und Besonderheiten der ergotherapeutischen Behandlung bei Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen (Meike Miller: Ergotherapie bei Frauen mit Autismus. In: Christine Preißmann: Überraschend anders: Mädchen und Frauen mit Asperger. Stuttgart: Trias 2013).

Rasch wurde mir jedoch deutlich, dass eine detailliertere Beschreibung auch in einem eigenen Buch notwendig sein würde, da bislang keine Literatur zu diesem Thema im deutschen Sprachraum zu finden war. Erfreulicherweise zeigten sich die Mitarbeiter des Kohlhammer-Verlags offen für diese Anregung und erkannten ebenso wie wir diesen Bedarf.

Ja – und wer sollte wohl ein solches Buch schreiben, wenn nicht Meike Miller? Sie hat inzwischen noch viele weitere Menschen mit Autismus in allen Altersstufen in Therapie genommen, mit denen sie erfolgreich arbeitet, und sie verfügt über zahlreiche Zusatzausbildungen (wie Sensorische Integrationstherapie, Cranio-Sakral-Therapie und eine abgeschlossene Coaching-Ausbildung, um nur die wichtigsten zu nennen).

Es freut mich sehr, dass nun also ihr Buch vorliegt, in dem sie sowohl die Besonderheiten der Wahrnehmung bei Menschen mit Autismus als auch die ganz unterschiedlichen Aktivitäten des täglichen Lebens ausführlich erläutert und vor allem viele ganz konkrete Hilfen für die Praxis beschreibt, die sich an den jeweils individuellen Erfordernissen eines jeden einzelnen Menschen orientieren und ihn dazu befähigen, die eigene Therapie mitzugestalten – in Würde und Respekt.

Die Publikation stellt eine wertvolle Hilfe dar für Ergotherapeuten, die sich der Herausforderung einer Arbeit mit autistischen Menschen stellen möchten und die ich dazu sehr ermutigen möchte. Sie können mit Ihrer Arbeit so vieles für uns bewirken. Gleichzeitig ist das Buch aber so geschrieben, dass auch Fachleute aus anderen therapeutischen Bereichen ebenso wie Pädagogen, Ärzte, Sozialarbeiter etc. es mit Gewinn lesen werden. Und nicht zuletzt finden Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung, deren Angehörige und Freunde viele hilfreiche Anregungen, wie ein leichteres und schöneres Leben gelingen kann – und wie auch sie selbst von einer ergotherapeutischen Maßnahme profitieren können.

Ich bedanke mich sehr für die Unterstützung, die ich bislang durch Frau Miller erhalten durfte, und wünsche ihr mit diesem Buch viel Erfolg.

Christine Preißmann

Endnoten

1Obwohl die ICD-11 bereits 2022 in Kraft getreten ist, wird derzeit noch überwiegend die ICD-10 verwendet. Voraussichtlich wird es erst 2027 zur vollständigen Ablösung durch die neue Version kommen.

Vorwort

Fast zwanzig Jahre arbeitete ich in einer ergotherapeutischen Praxis mit Menschen aus dem autistischen Spektrum. Als Therapeutin der Sensorischen Integration (SI-Therapie) erschien mir dieser Ansatz geeignet, da im Zentrum dieser Therapieform die Wahrnehmung mit ihren möglichen Veränderungen steht.

Bereits die ersten Versuche zeigten Erfolge: meine Patienten2 konnten mit Hilfe der SI Sinnesreize besser verarbeiten. Bei einigen Klienten konnte ich sogar eine »Gewöhnung« (Desensibilisierung) an bestimmte Reize feststellen.

Ängstliche Kinder entwickelten neues Selbstbewusstsein. Sie wurden mutiger im Umgang mit schwierigen Sinnesreizen und blieben in neuen Situationen entspannter. Als mich am Ende einer Behandlung ein taktil überempfindliches Mädchen aufforderte, zu ihr ins Schwungtuch zu steigen, war das überwältigend.

Eltern der betroffenen Kinder erlebten die Erklärungsmodelle der SI als entlastend. Sie konnten das z. T. extreme Verhalten ihrer Kinder in bestimmten Situationen besser verstehen und zuordnen. Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern entspannte sich, wovon beide Seiten profitierten.

Eltern wie betroffene Kinder lernten Möglichkeiten kennen, aktiv auf die (Wahrnehmungs-) Besonderheiten einzuwirken und Reizüberflutungen vorzubeugen. Der Alltag wurde entspannter. Zugleich erreichten die Kinder einen Zustand, der ihnen z. T. erstmals ermöglichte, ihre Potenziale auszuschöpfen. Längerfristig veränderte dies das defizitäre Selbstbild der Kinder und die Hilflosigkeit der Eltern. Sich als selbstwirksam und handlungsfähig zu erleben und Reizüberflutungen nicht mehr hilflos ausgeliefert zu sein, führte zu mehr Lebenszufriedenheit.

Nach einigen Jahren fanden immer mehr erwachsene autistische Klienten den Weg in die Ergotherapie. Während ich mit den Kindern klassisch spielerisch vorwiegend im Turnraum arbeitete, beinhaltete die Arbeit mit Erwachsenen zunächst die Aufklärung über Zusammenhänge der Wahrnehmungsbesonderheiten. Die Erklärungsmodelle der SI wurden dabei als äußerst entlastend erlebt, da sie Erklärungen für objektiv unangemessenes Verhalten in bestimmten Situationen liefern. Gleichzeitig bietet die Therapie Strategien, um den Wahrnehmungsbesonderheiten Rechnung zu tragen. Der hierdurch verringerte Stresspegel ermöglicht es, die eigenen Potenziale besser auszuschöpfen. Diese Selbstwirksamkeit zu erleben, führt auch bei Erwachsenen zu neuem Selbstbewusstsein.

Frau Dr. Preißmann, mit der ich seit 2009 zusammenarbeite, hat mich ermutigt, dieses Buch zu schreiben.

Es ist gleichermaßen an Menschen mit und ohne Autismus gerichtet und soll erklären, welchen Einfluss die Wahrnehmung hat und über welche Mechanismen Erleichterung und eine bessere Leistungsfähigkeit im Alltag zu erreichen sind.

In den letzten Jahren durfte ich viele autistische Klienten im beruflichen Kontext unterstützen. Das Thema »Arbeit« wurde im gleichen Zuge für mich und mein Wirken immer wichtiger, weshalb ich mich zur Personalreferentin weiterbildete.

Inspiriert von meinen beruflichen Veränderungen, verleihe ich dem Thema Arbeit mehr Gewicht und widme ihm nun ein ganzes Kapitel.

Endnoten

2Zugunsten einer lesefreundlichen Darstellung wird in der Regel die neutrale bzw. männliche Form verwendet. Diese gilt für alle Geschlechtsformen (weiblich, männlich, divers) gleichermaßen und soll keinem bestimmten Geschlecht den Vorzug geben.

Danksagung

Ein herzliches Dankeschön an Frau Dr. med. Christine Preißmann, die mich ermutigte, dieses Buch zu schreiben, meiner Familie, die mir den Rücken freihielt, so dass ich Zeit zum Schreiben hatte, meiner Freundin Frau Dr. Henriette Heidbrink, die mir immer wieder half, Struktur in meine Gedanken zu bringen und meinem Vater, der das Buch in jeder Version las und mir hilfreiche Rückmeldungen gab.

Außerdem danke ich Frau Dipl.-Psych. Annika Grupp vom Kohlhammer-Verlag, die mich sicher durch die mir neuen Gewässer der Buchentstehung manövrierte, mir wertvolle Tipps und Rückmeldungen gab und stets meine Interessen hinterfragte und berücksichtigte.

Vielen Dank auch an Herrn Florian Rotberg, der mich bei der Gestaltung der 2. Auflage so wertvoll beriet und unterstützte.

Zuletzt ein ganz herzliches Dankeschön an meine Klientinnen und Klienten, deren Geschichten ich hier erzählen darf.

1 Einleitung

»Die Autismus-Spektrum-Störung wird heute als ein bestimmtes Cluster an Persönlichkeitseigenschaften angesehen, das mit Stärken und Schwächen einhergeht« (Schildbach, 2019, S. N1).

Wenn autistische Menschen lernen, kompetent mit ihren Wahrnehmungsbesonderheiten umzugehen, gelingt es ihnen oft erstmals, ihre Potenziale auszuschöpfen. Sie entdecken ihre Stärken und können sie selbstbewusst den Schwächen entgegensetzen.

Die Sensorische Integrationstherapie (SI-Therapie) wird zunehmend bei Autismus-Spektrum-Störungen eingesetzt.

Liegen Wahrnehmungsveränderungen vor, verbessert SI-Therapie bei positivem Verlauf:

motorische Koordination,

Auge-Hand-Koordination,

Aktivierungsniveau,

Konzentrationsfähigkeit,

Handlungsplanung,

Lernschwierigkeiten,

sprachliche und kommunikative Fähigkeiten,

Verhaltensprobleme sowie

Selbst- und Fremdwahrnehmung.

Die amerikanische Psychologin und Ergotherapeutin Dr. A. Jean Ayres entwickelte in den 1970er-Jahren den therapeutischen Ansatz »Sensorische Integrationstherapie«. Nachdem sie in den 1950er-Jahren als Teil einer Forschungsgruppe Kinder mit Lernschwierigkeiten untersuchte, kam sie zu dem Schluss, dass neuronale Dysfunktionen die Ursache ihrer Schwierigkeiten waren. Ihre Idee war es, »hirnfunktionale Störungen durch gezielte Nachentwicklung zu verbessern« (Schaefgen, 2007, S. 5).

»Die Sensorische Integration ist ein normaler neurologischer Prozess, bei dem das Gehirn eingehende Sinnesreize aus der Umwelt ordnet, und dem Menschen ermöglicht, sich in seiner Umwelt angemessen zu verhalten. Die Sinnesreize werden organisiert und verarbeitet, verknüpft und interpretiert. Auf diese Art und Weise werden die Sinnesinformationen für den Menschen bedeutsam und nutzbar. Diese Nutzung kann in einer Wahrnehmung oder Erfassung des Körpers oder der Umwelt bestehen, aber auch in einem angepassten Verhalten oder einem Lernprozess. Durch die Sensorische Integration wird erreicht, dass alle Abschnitte des Zentralnervensystems, die erforderlich sind, damit ein Mensch sich sinnvoll und emotional zufrieden mit seiner Umgebung auseinandersetzen kann, aufeinander abgestimmt werden.«