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Ein Vierteljahrhundert nach der Unabhängigkeit steckt Eritrea in einer Krise. Zehntausende junge Menschen verlassen das Land, dem Regime werden Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen, periodisch kommt es zu Scharmützeln mit Äthiopien. Was steckt dahinter? Hans-Ulrich Stauffer kennt Eritrea noch aus der Zeit des Unabhängigkeitskriegs. Die beunruhigenden Entwicklungen haben ihn dazu bewegt, sich vor Ort erneut einen Eindruck zu verschaffen. Mehrfach war Hans-Ulrich Stauffer in den letzten Jahren in Eritrea. Über hundert Gespräche hat er geführt, Hintergründe recherchiert. In seinem Buch geht er auf die wechselvolle Geschichte des Landes ein, den dreißigjährigen Befreiungskampf und die goldenen Jahre nach der Unabhängigkeit. Er schildert die Auswirkungen des erneuten Kriegs von 1998–2000 und der Weigerung Äthiopiens, das Schiedsurteil des Internationalen Gerichtshofs zu akzeptieren. Er zeigt, wie die Jahre von "no war – no peace" zu einer innenpolitischen Lähmung und internationalen Isolation geführt haben. Gelingt dem Land der Schritt aus der Kälte? Welches sind die Schwierigkeiten, welches die Chancen? Mit diesem Buch liegt ein hochaktueller Beitrag zu einer kontrovers geführten Debatte vor.
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Seitenzahl: 367
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Hans-Ulrich Stauffer
Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
© 2017 Rotpunktverlag, Zürich
www.rotpunktverlag.ch
Umschlagbild: Asmara, Herbst 2015.
Foto: Helmut Wachter, www.wachter-fotografie.com
eISBN: 978-3-85869-747-9
2., aktualisierte Auflage 2020
Einmal sehen ist besser als hundertmal hören
Wie es zu diesem Buch kam
Endlich Frieden!
Vorwort zur 2. Auflage
Eritrea 2015
Erste Eindrücke
Spielball der Großmächte
Die verweigerte Unabhängigkeit
Mit Dampf durch ein Jahrhundert
Die Erschließung des Hochlands
Italianità
Reminiszenzen einer vergangenen Zeit
Dreißig prägende Jahre
Der längste Befreiungskampf in Afrika
1991–1998
Die sieben goldenen Jahre
1998–2000
Der verhängnisvolle Krieg
2000–2018: No war, no peace
Die verlorenen Jahr
Förderung der Landwirtschaft
Schlüssel zur Nahrungssicherheit
Kleiner Input, große Wirkung
Wie Mikrokredite Leben verändern können
Das große Rohstoffpotenzial
Umsichtiger Umgang mit Bodenschätzen
Frauen in Eritrea
Zwischen Tradition und Emanzipation
Bildung für alle
Solide Grundausbildung, fehlende Berufsausbildung
Zehntausende haben Eritrea verlassen
Flucht oder Emigration?
Berichterstattung
Fakten oder Vorurteile?
Eritrea nach dem Friedensschluss
Dynamik und Stagnation
Eritrea im Überblick
Chronologie
Glossar
»Was ist los in Eritrea? Du warst doch schon dort.« Immer wieder die gleiche Frage von Bekannten, politisch Interessierten oder Medienschaffenden. Eritreas Regierung und die von ihr verfolgte Politik stehen unter Beschuss. Zehntausende meist junge Eritreer und Eritreerinnen haben das Land verlassen und suchen in Europa und Nordamerika ein anderes Leben. Als Gründe nennen sie die Pflicht, einen oft jahrelangen, unbefristeten National Service leisten zu müssen, in ihrer Religionsausübung eingeschränkt zu sein sowie keine berufliche und wirtschaftliche Perspektive zu haben. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder der UN-Menschenrechtsrat kritisieren politische Verfolgung und das Fehlen demokratischer Rechte. Weshalb wurde eine moderne, demokratische Verfassung ausgearbeitet, aber nie in Kraft gesetzt? Und warum wurde die Pressefreiheit aufgehoben? Warum sitzen ehemalige Führungskräfte nun im Gefängnis? Und das in einem Land, das einst als Hoffnungsträger galt. Ein Land, das in einem jahrzehntelangen Befreiungskampf Exemplarisches geleistet hatte.
Einzelne westliche Regierungen kritisieren die mangelnde Kooperationsbereitschaft Eritreas in internationalen Belangen; Entwicklungshilfeorganisationen sind düpiert, weil Eritrea deren Arbeit stark reguliert. Die Medien zeichnen unterschiedliche Bilder des Landes. Die Fundamentalkritik an der Menschenrechtslage kontrastiert mit anerkennenden Berichten über Erreichtes: die Ernährungssicherheit, der Aufbau des Gesundheitswesens, die Bildungspolitik, das umsichtige Vorgehen beim Rohstoffabbau. Doch die Berichte vermögen kein umfassendes Bild zu zeichnen.
Wer sich mit dem Land oder den nach Europa geflüchteten Eritreerinnen und Eritreern befasst, ist verunsichert und sucht nach Antworten auf die drängenden Fragen. »Was ist los in Eritrea? Du warst doch schon dort.« Ja, ich war mehrfach in Eritrea. Seit 1970 interessiere ich mich für die dortige Entwicklung, habe ich mich intensiv mit Land und Leuten befasst. Von 1972 an korrespondierte ich mit der eritreischen Befreiungsbewegung, später auch mit äthiopischen Oppositionsparteien und Befreiungsbewegungen. 1973, in der Zeit der Hungerrevolten und des Sturzes von Kaiser Haile Selassie, beteiligte ich mich an der Herausgabe einer ersten kleinen Publikation: Äthiopien – Eritrea: Der Kampf der Völker gegen Hunger, Feudalismus und Imperialismus. Das war die Zeit meiner universitären Ausbildung – und die Zeit der Post-68er-Drittwelt-Solidaritätsarbeit, in der ich mich während all der nachfolgenden Jahre weiter engagierte.
1987 bereiste ich auf Einladung der Eritreischen Volksbefreiungsfront (EPLF) während mehreren Wochen das Basisgebiet der Befreiungsfront in den Sahelbergen. In jenes Gebiet, in das sich die Guerilla während des Strategischen Rückzugs 1978 zurückgezogen hatte, gelangte ich vom Sudan über die »Never-kneel-down-Road«, eine der beiden von der Front angelegten Nachschublinien. Einmal in den Sahelbergen, konnten wir nur noch nachts reisen. Tagsüber beherrschte die äthiopische Luftwaffe den meist wolkenlosen eritreischen Himmel, nachts jedoch bewegten sich Hunderte von Lastwagen, Pickups, Panzern und Kamelen im Mondschein in der meist kargen Landschaft. Tagsüber standen Besuche und Gespräche auf dem Programm, so etwa in Orotta, dem Zentralspital im Basisgebiet, das in einem steinigen, engen Talboden lag und mit über einem Kilometer Ausdehnung das weltweit wohl längste Krankenhaus war. Getarnt unter mächtigen Akazienbäumen, eingegraben in den Boden und in die Bergflanken, war alles vorhanden: Krankenstationen, Gebärsäle, Operationsräume, in denen sogar Herzoperationen durchgeführt wurden, eine kleine Fabrik, in der ein paar Dutzend Basismedikamente hergestellt wurden. Hier sah ich die Kriegsversehrten, die Opfer von Napalmverbrennungen, die unter möglichst sterilen Bedingungen auf Genesung hofften. Ich besuchte die Radiostation, die Druckerei, Garagen, Schlossereien und Schreinereien, sah versteckte Tankstellen und Einkaufsläden, in denen die Bevölkerung das Nötigste kaufen konnte. Ich besuchte die unterirdische Fabrik, wo aus Plastikgranulat die »Fighter Sandals« gepresst wurden, und nahm gerührt ein Paar in Größe 41 als Geschenk an. Ich besuchte die Fabrik für Hygienebinden – ein Drittel der Mitglieder der Front waren Frauen. Ich besuchte Schulen, von der Primarschule bis zum Technischen College von Wina, und das Solomona-Waisenlager. Ich sah, wie unter schwierigsten Bedingungen eine Verwaltung aufgebaut worden war, die für die Mitglieder der Front wie auch für die Zivilbevölkerung eine Grundversorgung sicherstellte, und dies weitgehend ohne Hilfe ausländischer Staaten.
Ein paar Tagreisen später an der Front von Nakfa, jenem Provinzhauptort, der von der äthiopischen Luftwaffe in Grund und Boden gebombt worden war: Nur das Minarett der Moschee stand noch, das zum Symbol des Widerstands geworden war. Zwischen all den zerstörten Häusern und Ställen: ein Feld mit Tomaten und Auberginen, angelegt von Verantwortlichen der Landwirtschaftsabteilung, bestimmt für die Selbstversorgung. Nachts dann im unterirdischen Guesthouse: An Schlaf war aufgrund des Beschusses durch die äthiopische Artillerie nicht zu denken. »Keine Sorge, das ist Routine, und sie wissen nicht, wo wir sind«, meinte unser eritreischer Begleiter. Am Tag in den vordersten Schützengräben, oben auf der Bergkrete. Zwei-, dreihundert Meter weiter unten im Tal die äthiopischen Stellungen. Vor dem Schützengraben die verwesten Leichen äthiopischer Soldaten, die zum Frontalangriff bergaufwärts befohlen worden waren. Bauernsöhne, deren Mütter, Väter, Frauen und Kinder wohl nie Genaueres über die Umstände ihres Todes erfahren würden.
Über diese spektakuläre Reise berichtete ich in mehreren Tageszeitungen, Zeitschriften und an Veranstaltungen.
Vier Jahre später, 1991, war Äthiopien, mit der größten Armee Subsahara-Afrikas, geschlagen. Der Befreiungskampf war nach dreißig Jahren zu Ende. Ein paar Wochen nach dem Einzug der Eritreischen Volksbefreiungsfront in Asmara besuchte ich das Land erneut. Es herrschte Hochstimmung, die Leute waren optimistisch. Die vom Krieg in Mitleidenschaft gezogene Infrastruktur – die Strom- und Wasserversorgung sowie das Transportwesen in Form der Überlandbusse – funktionierte ansatzweise. Die Melotti-Brauerei braute wieder Bier. Das Firmenschild der lokalen Niederlassung der Ethiopian Airways wurde mit Eritrean Airways überpinselt. Ich reiste in die Hafenstadt Massawa am Roten Meer, wo die Folgen der Luftangriffe unübersehbar waren, nach Keren, wo die Silberschmiede auf dem Markt ihre Arbeit wie eh und je verrichteten. Auf der Fahrt nach Dekemhare suchte ich einen idealen Standort für ein paar Panoramafotos … Panik beim Begleiter: Hier liegen Minen!
Ausgerüstet mit einem Passierschein der EPLF, bestieg ich den Überlandbus und fuhr nach Zalambessa an der äthiopischen Grenze, überquerte diese zu Fuß und fand nach langem Warten am nächsten Tag eine Fahrgelegenheit nach Mekelle, der Hauptstadt von Tigray, wo ich Gast der Relief Society of Tigray (REST) war. Ich durchreiste als einer der ersten Ausländer die jahrelang hermetisch abgeschottete äthiopische Nordprovinz, in der die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) – damals eine Verbündete der EPLF – aktiv gewesen war und die nun nach dem Zusammenbruch der äthiopischen Militärjunta die Macht ausübte. Der Passierschein öffnete mir alle Straßensperren bis in die äthiopische Hauptstadt, wo ich eine Woche später eintraf.
Zwei Jahre später, im April 1993, wurde in ganz Eritrea das Referendum über die Unabhängigkeit des Landes abgehalten. Ich nahm als offizieller Beobachter daran teil und besuchte Wahllokale in Asmara, Nefasit und Massawa. Die Verkündung des Ergebnisses – 98,8 Prozent aller Stimmen für die Unabhängigkeit des Landes – erlebte ich in Asmara. Die ganze Stadt feierte die Nacht durch, die Independence Avenue wurde spontan zu einer riesigen Tanzfläche – Emotionen pur.
1998 das Unbegreifliche: der Krieg zwischen Äthiopien und Eritrea. Auslöser war der umstrittene Grenzverlauf in der Ebene von Badme im Südwesten Eritreas. Doch bereits zuvor hatte sich der Himmel zwischen den beiden Staaten verdunkelt: Revanchistische Forderungen nach einem direkten Meereszugang Äthiopiens durch Abtrennung der eritreischen Hafenstadt Asab hatten ebenso zur Eskalation beigetragen wie die Neuorganisation des bisherigen gemeinsamen Wirtschaftsraums und die Einführung einer eigenen eritreischen Währung. Unmittelbar nach dem Waffenstillstand besuchte ich im Herbst 2000 erneut das Land. Die Reise führte von Asmara nach Nakfa – ein Wiedersehen nach dreizehn Jahren. Die Gegend war nicht wiederzuerkennen: Ein neues Verwaltungszentrum war entstanden, eine großzügige Anlage rund um einen Verkehrskreisel enormen Ausmaßes, an dem wohl jeder europäische Stadtplaner seine Freude hätte. Das unterirdische ehemalige Gästehaus wurde nun von einer eritreischen Bauernfamilie bewohnt, für uns stand ein neues Hotel zur Verfügung. Ein anschließender Abstecher – für den keinerlei Bewilligungen notwendig waren – führte in die vordersten Linien der Waffenstillstandszone am Mereb-Fluss. Beim gemeinsamen Injera-Essen die Frage, ob denn der Besucher aus Europa schon früher einmal in Eritrea gewesen sei? Zwei Worte genügten, und die Konversation kippte vom distanziert Interessierten ins Freundlichste: »1987. Nakfa.« »So you are a Fighter too!«, war die Reaktion.
Anfang der 2010er-Jahre veränderte sich die Berichterstattung über Eritrea. Vom »Nordkorea Afrikas« war in den Medien die Rede, von politischer Repression, Verfolgung, Zwangsarbeit. Konnte ich mit meinem Erfahrungsschatz eine halbwegs vernünftige Erklärung zur Lage im Land geben? Eritrea war in der Defensive. Was war geschehen? Mehr als zwölf Jahre lang hatte ich die Entwicklung Eritreas und Äthiopiens nur aus der Ferne verfolgt: Zeitungsberichte, ein paar vertiefte Abhandlungen gelesen, Gespräche mit Eritreerinnen und Eritreern, die auf der Durchreise waren, geführt. Überlagert wurden diese bruchstückhaften Informationen jedoch von der Berichterstattung über die große Flüchtlingsbewegung, die Europa erreichte. Berichte über eine miserable Menschenrechtssituation, einen unbefristeten Einzug in den National Service, ein wirtschaftliches Desaster, eine diktatorische Führung – kurzum über ein Land am Rande des Abgrunds. Was sollte ich dazu sagen? Was war aus den hoffnungsvollen Ansätzen aus der Zeit des Befreiungskampfs geworden? Waren die immensen Anstrengungen, all die Opfer umsonst gewesen?
Einmal sehen ist besser als hundertmal hören oder lesen, sagte ich mir. Im Januar/Februar 2014 kehrte ich zum ersten Mal nach vierzehn Jahren nach Eritrea zurück. Das Visum erhielt ich durch Vermittlung der Nationalen Konföderation der Eritreischen Arbeiter (NCEW), dem eritreischen Gewerkschaftsbund. Gespräche vereinbarte ich im Voraus keine, ich wollte einfach Eindrücke sammeln und soweit möglich im Land reisen. Rasch konnte ich die ersten Kontakte knüpfen. Meine früheren Erfahrungen – »1987. Nakfa.« »So you are a Fighter too!« – erwiesen sich auch dieses Mal als Türöffner. Im kleinen Kreis konnte ich Fragen nach dem Zusammenzug der Jugendlichen im 12. Schuljahr in Sawa stellen, der zentralen Schule in der Barka-Provinz für alle Schülerinnen und Schüler des ganzen Landes, in der nebst klassischen Schulfächern auch eine militärische Grundausbildung erfolgt. Zwei Stunden später diskutierte ich mit dem Erziehungsminister über das Bildungswesen. Ich reiste ans Rote Meer nach Massawa und Gurgusum – dazu benötigte ich eine Reisebewilligung, die über Nacht ausgestellt wurde. Die Fahrt im Minibus kostete 53 Nakfa, das ist der staatlich vorgeschriebene Preis. Der schlaue Chauffeur wusste jedoch, wie er sich ein Zusatzeinkommen verdienen konnte: Der Koffer musste auf das Dach, das kostete nochmals 50 Nakfa. Im Hotel wurde ich erst bei der Abreise nach der Reisebewilligung gefragt. Ich fragte, was wäre, wenn ich eine solche nicht hätte? Oh, das wäre kein Problem, lautete die Antwort. Daraus schloss ich, dass die Reisebewilligung – die im Übrigen nur für ausländische Besucher verlangt wird – eher ein bürokratischer Leerlauf als eine effiziente Überwachungsmaßnahme ist.
Mehrfach wurde ich während dieses Besuchs gebeten, ja sogar aufgefordert, zu Hause zu erzählen, was ich in Eritrea gesehen hatte. Vielleicht könne ich dazu beitragen, an der verfahrenen Situation etwas zu ändern? So entstand die Idee, meine Erfahrungen und Eindrücke in Form eines Buches zusammenzutragen. Doch dazu reichten die vielfach spontan geführten und später transkribierten Gespräche sowie die tagebuchartig niedergeschriebenen Reiseeindrücke nicht aus. Ich beschloss deshalb, weitere Recherchen zu tätigen, und unternahm eine weitere Reise im Juli/August 2014. Mit mehr als zwei Dutzend Gesprächen mit Vertretern und Vertreterinnen von Regierung und Organisationen der Zivilgesellschaft, aber auch mit Gewerbetreibenden und Bauern, war die Agenda vollgepackt, dazu kam eine weitere Reise in den Süden. Vor und nach dieser zweiten Reise recherchierte ich in verschiedenen Archiven und im Netz und frischte mein Wissen auf. Dabei kam mir auch das über Jahre vom Afrika-Komitee in Basel aufgebaute Archiv sehr zugute.
Im Oktober 2015 unternahm ich eine weitere Reise. Im Zentrum stand die Frage, was die jungen Menschen dazu bewegt, in Scharen das Land zu verlassen. Diese Reise führte mich in den Süden, an die Grenze zu Äthiopien, und erstmals ins westliche Tiefland, an die Grenze zum Sudan. Dies sind die Routen, die die jungen Eritreerinnen und Eritreer nehmen, wenn sie das Land verlassen. In Tessenei wie auch in Adi-Quala sprach ich mit Jugendlichen über ihre Beweggründe, das Land zu verlassen; in Asmara unterhielt ich mich mit Flüchtlingen, die freiwillig aus Israel zurückgekehrt waren.
Die vorerst letzte Reise unternahm ich im Februar 2016. Während meines Aufenthaltes begleitete ich eine Gruppe schweizerischer Politikerinnen und Politiker. Wiederum kam es zu zahlreichen Gesprächen mit Ministern, lokalen Verantwortlichen, Vertreterinnen und Vertretern von Nichtregierungsorganisationen und Zufallsbekanntschaften. Dabei konnte ich viele neue Einsichten gewinnen. So stieß ich beispielsweise unterwegs auf Dorfversammlungen, in denen die Dorfbevölkerung kommunale Anliegen diskutierte und entschied – Demokratie auf unterer Stufe? Während dieses Aufenthalts vertiefte ich Einschätzungen früherer Reisen und verifizierte Namen und Schreibweisen.
Insgesamt habe ich während all diesen Reisen gut hundert Gespräche geführt. Alltägliches aus dem Familienleben habe ich erfahren, allerlei aus dem Alltag, von der Schwierigkeit des Imports eines Autoersatzteils bis zu den Auswirkungen der Stromunterbrüche. Aber auch, dass Azemol als Generikum von Paracetamol im Land selbst hergestellt wird. Spontane Gespräche mit Passanten auf der Straße oder beim Einkauf eröffneten Einblicke in das tägliche Leben und die Alltagssorgen. Gespräche mit Angehörigen der Regierung waren meist leicht zu arrangieren, verliefen dann in der Regel aber etwas formeller. Nie hatte ich den Eindruck, dass sich Gesprächspartner vor dem Gespräch oder gar dem Kontakt mit mir fürchteten. Sicherlich, Fragen zu demokratischen Rechten, der demokratischen Legitimation der Regierung oder zur künftigen politischen Entwicklung wurden eher ausweichend beantwortet. Regierungsmitglieder umschifften heiklere Fragen nach dem partizipativen Einbezug der Bevölkerung in die politische Willensbildung oder nach dem Meinungspluralismus mit Hinweis auf die noch immer herrschende latente Kriegsgefahr. Intellektuelle übten durchaus Kritik an der gegenwärtigen Lage, baten aber, nicht zitiert zu werden. Manchmal blieben Fragen aber auch einfach unbeantwortet im Raum stehen.
Ich habe recherchiert und versucht, mir ein Bild zu machen. Zu vielen Aspekten, so wage ich zu behaupten, ist mir dies gelungen; zu anderen verbleiben Fragen, Ungewissheiten. Die damalige UN-Koordinatorin in Eritrea, Christine Umutoni, äußerte bei einem Treffen Anfang 2016 eine interessante Einschätzung: Eritreerinnen und Eritreer hätten Schwierigkeiten, zu kommunizieren, was sie gut machten. Das deckte sich mit meinen Eindrücken, die ich während der verschiedenen Reisen gewonnen habe, und es mag mit ein Grund dafür sein, warum es so schwierig ist, ein differenziertes Bild in den Medien zu vermitteln. Die hiesige Berichterstattung zu Eritrea ist durch die Flüchtlingsbewegung geprägt, für die zuallererst die Pflicht zum Ableisten des National Service und fehlende demokratische Rechte verantwortlich gemacht werden. Ausgeblendet wird jedoch die unbequeme Situation, in der sich Eritrea befindet, da Äthiopien das Schiedsgerichtsurteil des Haager Gerichtshofs über den Grenzverlauf nicht akzeptiert und damit weiterhin eine latente Kriegsgefahr besteht. Ebenso wird ausgeblendet, dass Eritrea am Horn von Afrika eine stabile Größe darstellt. Zwei gleich große religiöse Glaubensgemeinschaften – Muslime und Christen – leben friedlich miteinander. Dieses Faktum darf nicht gering geschätzt werden und sollte auf keinen Fall durch destabilisierende internationale Aktionen gefährdet werden.
Eritrea lag nach einer kurzen Aufbruchstimmung nach dem Ende des Unabhängigkeitskampfs wirtschaftlich in den letzten fünfzehn Jahren in einem Dornröschenschlaf. Doch heute betritt es als Rohstofflieferant die Weltbühne: Der Abbau von reichen Vorkommen an Kupfer, Zink, Gold und Kali läuft an. Als Investitionsland ist das Land bis jetzt uninteressant. Zu klein der Markt, zu limitierend die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen. Rechtfertigt das das Abseitsstehen und die Isolationspolitik westlicher Staaten? China und Russland warten nur darauf, weiter Fuß fassen zu können. Im gegenwärtigen geopolitischen Prozess der Gewichtsverlagerung von Europa nach Asien müsste sich eigentlich der Westen darum bemühen, Eritrea enger in seine Interessenssphäre einzubinden.
Die vorliegende Publikation ist eine Sammlung von Erfahrungen, Eindrücken, erlebten und recherchierten Entwicklungen. Bei der Darstellung historischer Abläufe oder gegenwärtiger Entwicklungen habe ich mich auf Quellen gestützt, die ich als vertrauenswürdig erachte. Spekulative oder nicht belegbare Aussagen habe ich vermieden. Ich habe versucht, ein Bild zu zeichnen, das auf eigenen Wahrnehmungen beruht. Politische Stellungnahmen bette ich ein in den Kontext der geschichtlichen Entwicklung des Befreiungskampfs und der Erkenntnisse, die ich daraus gewonnenen habe. Ortsnamen habe ich soweit wie möglich anhand der International Travel Map überprüft, Personennamen wurden rückbestätigt. Zahlenangaben, beispielsweise bezüglich Produktion, Einnahmen etc. haben ich mehrfach zu verifizieren versucht. Es ist durchaus möglich, dass andere Quellen andere Zahlen nennen. Mit diesen Diskrepanzen muss leben, wer sich zu Eritrea ein genaueres Bild machen will.
Dieses Buch wäre ohne die Mithilfe zahlreicher Personen nicht entstanden. Ein Dank geht an alle meine Gesprächspartner. Wie oft öffneten sich Türen dank einer kurzen Empfehlung, wie oft kam es durch einen Verweis auf meine früheren Beziehungen zu Eritrea zu langen, offenen Gesprächen. Auch ohne große Vorankündigung hatte ich stets das Gefühl, in den verschiedenen Ministerien, Ämtern, Büros oder Werkstätten willkommen zu sein. Meine Gesprächspartner nahmen sich Zeit und gingen auf meine Fragen und Anliegen ein. Sie wünschten sich nicht mehr oder weniger als: Schreib, was du gesehen hast!
Basel, im Januar
Juni 2018: Der neugewählte äthiopische Präsident Ahmed Abiy kündigt überraschend an, dass Äthiopien das Urteil des Internationalen Gerichtshofs zum Grenzstreit mit Eritrea anerkenne. Die 18-jährige bleierne Periode von »no war, no peace« endet, nicht nur zwischen Eritrea und Äthiopien. Eine unvorstellbare Dynamik setzt ein, die die ganze Region erfasst: In Somalia, Dschibuti, Sudan, Südsudan, ja selbst ins international isolierte Somaliland kommt Bewegung. Das UN-Embargo über Eritrea wird aufgehoben. In wenigen Monaten ist die Geschichte am Horn von Afrika neu geschrieben worden.
In dieser vollkommen neuen Situation reiste ich im März 2019 erneut nach Eritrea. Ich wollte wissen, ob und was sich für das Land und die Bevölkerung verändert hat. Gibt es neue, hoffnungsvolle Entwicklungen? Wie wirkt sich der Friede auf die Bevölkerung aus? Zeigen sich bereits erste wirtschaftliche Ergebnisse? Wiederum standen zahlreiche Gespräche auf der Agenda. Und ich wurde nicht enttäuscht: Die Menschen blickten hoffnungsvoller in die Zukunft. Viele sprachen davon, dass eine zentnerschwere Last von ihnen gefallen sei, dass sie jetzt mit Familienmitgliedern jenseits der Grenze, in Äthiopien, nach schmerzvollen Jahren der Trennung wieder zusammentreffen können.
Bereits bei einem vorherigen Besuch, im Februar 2018, konnte ich einen lang gehegten Reisewunsch realisieren: Ich konnte den Entwicklungstreiber Eritreas schlechthin, die Bisha-Mine, besuchen. Neben dieser Reise in den Südwesten des Landes konnte ich wiederum zahlreiche Gespräche führen. So kehrte ich von beiden Reisen mit zahlreichen neuen Eindrücken und Erkenntnissen zurück.
Diese wie auch zahlreiche weitere Informationen sind in diese Neuauflage eingeflossen. Beobachtungen und Analysen von damals, die von der Zeit eingeholt worden sind, wurden für diese Aktualisierung entweder weggelassen, oder es wurde eine zeitliche Einbettung vorgenommen, sodass sie aus der damaligen Situation heraus verständlich werden.
Die erste Auflage des im Frühjahr 2017 erschienenen Buchs ist auf ein erfreuliches Echo gestoßen. Vom Berner Oberland bis nach Hamburg und Berlin wurde ich zu Diskussionsveranstaltungen eingeladen. Das Thema der Massenemigration einerseits, andererseits die Hintergründe des nicht alltäglichen Entwicklungswegs, den Eritrea eingeschlagen hat, interessieren viele Menschen. So bleibt zu hoffen, dass auch diese erweiterte und aktualisierte Auflage Leserinnen und Lesern, die sich mit der Entwicklung Eritreas befassen, neue Erkenntnisse bringt.
Basel, im Februar 2020
Das Leben erwacht auf dem kleinen Asmara International Airport meist mitten in der Nacht. Dann kommen die Flüge von Kairo, Doha oder Istanbul an; eine Stunde später heben die Maschinen wieder ab und fliegen zurück. Die Passkontrolle verläuft so wie in anderen Ländern, für die ein Einreisevisum nötig ist: Schlange stehen, warten, während die Daten im Computer erfasst werden. In Eritrea kann niemand verlorengehen. Die wichtigste Klippe, die es im kurzen Wortwechsel zu umschiffen gilt: In welchem Hotel werden Sie sich aufhalten? Der Empfang ist weder herzlich noch unfreundlich. Nach einer Viertelstunde ist alles erledigt – ein erster Kontakt mit Verpflichteten, die hier ihren National Service leisten. Eine Zollkontrolle findet für ausländische Besucher nicht statt, wie viele Devisen eingeführt werden, will niemand wissen.
In Asmara, der sauber herausgeputzen Hauptstadt, beginnt der Tag mit dem Gebetsruf des Muezzins am frühen Morgen. Schon bald herrscht Betriebsamkeit auf dem großen Markt an der Gondarstraße, der bisweilen immer noch mit dem alten Namen Mercato Torino genannt wird. Hier werden Nahrungsmittel und Gegenstände des täglichen Bedarfs verkauft, von der Seife über die Zahnbürste bis zur Glühbirne. Frisches Obst liegt sorgfältig dargeboten zum Kauf auf: Papaya, Mango, Orangen, Bananen, Limonen. Gemüse ist reichhaltig vorhanden: Kohl, Tomaten, Zwiebeln, Kartoffeln, Rüben, Kürbis, grüne Peperoni, Lattich, Salat, Zucchetti, Krautstiel. Getrocknete Datteln, Mais, Weizen, Sorghum, Durrah, Linsen. Gewürze in allen Formen, vor allem die gemahlenen Paprikaschoten zur Zubereitung von Berbere, werden im Büchsenmaß verkauft – eine Messerspitze allein ist schon scharf genug. Zahlreiche Käuferinnen prüfen die Ware, diskutieren mit den Verkäuferinnen und Verkäufern, machen einen Witz und lachen, man scheint sich zu kennen.
Zwischen den Handelskontoren mit ihrem museumsreifen Mobiliar liegt ab und zu eine kleine Bar, eine Teestube oder ein Bäcker. Der Tee wird mit einem kleinen Zitronenschnitz serviert. Der Kaffee braucht keinen Vergleich zu scheuen: Espresso, Macchiato, alles schmeckt. Obwohl Kaffee in Eritrea am regenreichen Abhang des Hochplateaus zum Roten Meer angebaut wird, stammen die meisten Bohnen aus Äthiopien. Das Glas Tee kostet 7 Nakfa, der Kaffee 15 Nakfa. Vom nahen Bäcker stammen die Minipizzen, die gerne zu Kaffee und Tee verzehrt werden, 10 Nakfa das Stück. Beim Bäcker liegen unterschiedliche Brote auf, doch am begehrtesten sind die großen Wecken. Neuerdings wird auch ein Sorghum-Brot angeboten. Damit soll die Abhängigkeit vom importierten Weizen verringert werden.
7 Nakfa für einen Tee, 10 Nakfa für einen Kaffee, 25 Nakfa für eine 1,5-Liter-Flasche Mineralwasser, abgefüllt in Eritrea. Eine Flasche des guten eritreischen Rotweins »Shaleku« kostet 240 Nakfa, ein Kilo gerösteter äthiopischer Kaffee 250 Nakfa. Dies bei einem Monatslohn von 1500 bis 2000 Nakfa für städtische Angestellte. Das Leben im städtischen Eritrea ist nicht billig. Ein Hauptgang in einem der meist freundlichen Restaurants kostet rasch einmal 200 Nakfa oder mehr. Und doch: Die meisten Restaurants sind voll besetzt. Wie ist das möglich, wenn doch der Lohn nicht mehr als ein Trinkgeld ist? Die Erklärung: Wer Zugang zu Devisen hat, kann sich das alles leisten. Verwandte auf Besuch oder Überweisungen aus dem Ausland öffnen die Türen und den Zugang zu ansonsten unerreichbaren Gütern.
Um den Markt sind die Handelskontore der Getreidehändler angelegt. Mit Pickups, Transportfahrrädern und Schubkarren werden 50 Kilogramm schwere Getreidesäcke angeliefert oder abgeholt. Ein Blick in die Lager zeigt prallvolle Säcke, bis unter das Dach gestapelt. Die Versorgungslage scheint gut zu sein, auch wenn in den letzten beiden Jahren die Regenfälle unregelmäßig waren. Doch auf dem Markt haben die Getreidepreise in den letzten Jahren spürbar angezogen. Darunter leiden alle, die keine Überweisungen von Familienmitgliedern aus dem Ausland erhalten. Die Löhne sind seit Jahren eingefroren, die Nahrungsmittelpreise haben sich vervielfacht. Das erfüllt viele mit Sorgen. Die Ernteaussichten sind 2015/16, als ich das Land nach jahrelangem Unterbruch erstmals wieder besuche, nicht rosig. Doch anders als das benachbarte Äthiopien hat Eritrea deshalb nicht gleich um internationale Hilfe gebeten. Das mag auf eine Mischung aus Stolz und der Erfahrung, auch mit wenigen Ressourcen irgendwie über die Runden zu kommen, zurückzuführen sein.
Für Basisgüter besteht die Möglichkeit, diese in speziellen Läden zu herabgesetzten Preisen einzukaufen. Diese Verkaufslokale gehören nicht etwa dem Staat, sondern der Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit (PFDJ). Zum Bezug berechtigen Coupons, die der Bevölkerung unabhängig von der Zugehörigkeit zur Volksfront abgegeben werden. Mit diesen Coupons besteht ein monatlicher Anspruch auf die verbilligte Abgabe von 5 Kilo Zucker, 5 Liter Öl, einem halben Kilo Tee. Vier Stück Seife können zu je 12 Nakfa gekauft werden, auf dem Markt würden sie das Doppelte kosten. Ein Kilo ungerösteten Kaffee gibt es für 120 Nakfa, auf dem Markt kostet er 250. Ein 20-Kilo-Sack Sorghum wird zu 200 Nakfa abgegeben, auf dem Markt liegt der Preis bei 800.
Die Stadtbewohner haben ihre Sorgen, die Landbevölkerung hat ihre eigenen. Gemüse und Korn sind dort nicht das Problem. Für die Landbevölkerung steht die Abgabe von verbilligtem Zucker und Öl im Vordergrund. Doch es wäre eine falsche Auffassung, dieses Couponsystem als Rationierung von Lebensmitteln zu bezeichnen. All die verbilligten Lebensmittel sind auch auf dem offenen Markt in der Landeswährung zu haben. Mit den Intershop-Läden der ehemaligen DDR hat dies nichts zu tun. Vielmehr werden durch das Couponsystem einzelne Schlüsselgüter in limitiertem Umfang unter dem Marktpreis abgegeben.
Zum Jahreswechsel 2015/16 wurde eine kleine Währungsreform durchgeführt. Der Wechselkurs beträgt wie bisher 15 Nakfa für 1 US-Dollar. Die im Umlauf befindlichen 100-Nakfa-Noten wurden jedoch durch neue ersetzt. Alte Noten konnten während kurzer Zeit umgetauscht werden, heute sind sie wertlos. Der Hintergrund: Millionen von Nakfa waren dem Geldkreislauf entzogen und wurden irgendwo gehortet, nicht zuletzt auch, infolge der Migrationsbewegung, in Äthiopien und im Sudan. Auf dem Schwarzmarkt konnte man für Devisen mühelos das Dreifache des offiziellen Wechselkurses eintauschen. Mit der Währungsreform und dem Zwangsumtausch sollten einerseits die dem Kreislauf entzogenen Noten weder ins System zurückgebracht, andererseits die permanent leicht steigenden Preise unter Kontrolle gebracht werden. Bis 20’000 alte Nakfa konnten gegen neue Noten im gleichen Betrag getauscht werden. Höhere Beträge mussten auf einem Bankkonto deponiert werden. Für Beträge über 100’000 Nakfa wurde eine Herkunftserklärung verlangt, etwa um auszuschließen, dass es sich um Erlöse aus dem Menschenschmuggel handelte. Alleine aus dem Sudan wurden lastwagenweise Noten im Betrag von 44 Milliarden Nakfa nach Eritrea gebracht. Schlagartig endete die Währungsspekulation und der Schwarzmarkt der Geldwechsler.
Für Barbezüge ab Bank wurde neu eine Bezugslimite eingeführt. Damit wurde aber ein neues Problem geschaffen: Die Bezugslimite wurde mehrfach gesenkt und beträgt heute für Private nur noch 3000 Nakfa pro Monat, was 200 US-Dollar entspricht. Die Idee dahinter: Der Handel soll vermehrt auf ein Zahlungssystem mit Schecks oder Banküberweisungen wechseln. Im Kleingewerbe kam es aufgrund des limitierten Bargeldbezugs zu Engpässen: Die Kundschaft fehlt, Aufträge und Absatz sind eingebrochen. Waren konnten nicht mehr gekauft und bezahlt werden. Immerhin: Die Preise für landwirtschaftliche Produkte sind seit der Währungsreform wieder leicht gesunken. Einzelne Restaurants weisen auf den Speisekarten die alten und die neuen, gesenkten Preise transparent aus. Andere wiederum haben die Preise nicht gesenkt und fahren Extraprofite ein.
Mit dieser kleinen Währungsreform versucht Eritrea, das bis anhin außerhalb des Geldkreislaufs liegende Vermögen unter Kontrolle zu bringen und so für die Entwicklung des Landes verfügbares Kapital zu schaffen. Der private Sparprozess soll offizialisiert werden durch die Eröffnung von Sparkonten bei Banken – der Beginn der Tätigkeit als Spar- und Leihkassen. Die Gründe für die Währungsreform sind nachvollziehbar, doch die Umsetzung ist nicht reibungslos verlaufen. Hat sich die Regierung damit ein neues Problem aufgeladen?
Eritreas Entwicklung beruht nach offizieller Verlautbarung auf fünf Pfeilern: Erste Priorität hat, das mag erstaunen, die Nahrungssicherheit. Wie soll Eritrea seine Unabhängigkeit erhalten, wenn das Volk hungert? Deshalb die Bodenreform, der Anspruch auf Zuteilung von Ackerland – nicht zuletzt auch an Frauen, die bis anhin keinen Anspruch auf Bodenbesitz hatten –, die Förderung von Bewässerungssystemen, der Bau von Dämmen. Die zweite Priorität liegt auf dem Zugang zu sauberem Wasser. Hier hat das Land in den Jahren seit dem Kriegsende die größten Fortschritte erzielt. Dritter Pfeiler ist die Gesundheitsversorgung. Sie ist gewährleistet und zum größten Teil kostenlos. Medikamentenengpässe und Mangel an ausgebildetem Personal schränken die Möglichkeiten jedoch ein. Die Ausbildung von medizinischem Personal wird forciert. An der Orotta School of Medicine, die in der ehemaligen Universität von Asmara untergebracht ist, werden jährlich Hunderte Hebammen, Anästhesiepfleger, Pflegefachleute ausgebildet. Im Juni 2015 beispielsweise wurden 416 Studenten und Studentinnen promoviert. Vierter Pfeiler ist das Bildungssystem. Hunderte von Schulen sind im ganzen Land gebaut worden. Die Ausbildung dauert zwölf Jahre und ist obligatorisch. Junge Eritreer und Eritreerinnen sind in der Regel gut ausgebildet. Einen Tag nach den Absolventen der Orotta School of Medicine erhielten im Juni 2015 446 Absolventen und Absolventinnen der Denden-Handelsschule ihre Diplome für die erfolgreich abgeschlossene kaufmännische Ausbildung. Der fünfte Pfeiler ist die eritreische Diaspora, die vor allem in Nordamerika, Europa und im arabischen Raum lebt. Sie stellt eine stabile finanzielle Basis für die Regierung dar. Ironischerweise tragen auch die geflüchteten Eritreer und Eritreerinnen mit ihren auch noch so kleinen Überweisungen an ihre Familien zu Hause dazu bei.
2014 lag Eritrea in punkto Wirtschaftswachstum mit 8 Prozent weltweit auf dem 11. Rang. In den vorangegangenen Jahren 2009 und 2010 betrug das Wirtschaftswachstum 4 Prozent, 2011 8,5 Prozent, 2012 7 Prozent. Dieses Wachstum wird nach Schätzung der britischen Wirtschaftszeitung The Economist in den nächsten Jahren anhalten. Die Stützen dieses Wachstums sind die Rohstoffförderung, die landwirtschaftliche Produktion und die Entwicklung der Infrastruktur. Dabei stehen gewichtige Rohstoffprojekte erst an der Schwelle zur Produktionsaufnahme. Die Gold- und Kupfermine von Bisha produziert und befindet sich im Ausbau, die Zara-Mine ist in Produktion gegangen, die Kupfermine von Dubarwa/Embaderho steht vor der Produktionsaufnahme, das Asmara-Minenprojekt der kanadischen Sunridge Gold Corporation hat eben erst die Projektierung abgeschlossen. Der Abbau von Kali im gigantischen Colluli-Projekt, einem eritreisch-australischen Joint Venture, soll nach einem Jahrzehnt der Prospektierung und der Vorbereitung 2020 beginnen. Mit den ersten Erträgen soll der Bau eines eigenen Tiefseeverladehafens in Anfila am Roten Meer finanziert werden.
Aber auch Massawa scheint aus dem Dornröschenschlaf zu erwachen. Der Hafen im Roten Meer ist erweitert worden, neue Krananlagen zeugen davon. Ein neuer Terminal mit einer Kapazität von 70’000 Tonnen für Handelsgüter und ein weiterer Terminal für 50’000 Tonnen mit Mehrfachnutzung sind im Bau. Damit sollen die Einfuhr, die meist mit Containern erfolgt, und die Ausfuhr von Kupfer, das seit 2016 gefördert wird, erleichtert werden. Die geschätzten Kosten: 400 Millionen Dollar.
Die Förderung von Gold, Kupfer, Eisenerz, Kali und anderen Rohstoffen gewinnt an Bedeutung. Alle diese Projekte beruhen auf Partnerschaften zwischen dem eritreischen Staat und ausländischen Investoren. Mit Anteilen von 40 oder 50 Prozent an den gemeinsamen Minengesellschaften behält Eritrea die Kontrolle über den Abbau und die Erträge – etwas, was in den meisten Ländern des Globalen Südens überhaupt nicht der Fall ist. Diese Einnahmen dürften zu einer weiteren Beschleunigung des wirtschaftlichen Wachstums führen. Und sie werden die wirtschaftliche wie auch politische Unabhängigkeit stärken.
Nicht nur wirtschaftlich macht Eritrea nach langen Jahren der Stagnation und der Suche nach einem eigenen Weg Fortschritte. Gegenüber 1991, der »Stunde Null« nach dem Befreiungskampf, haben sich zahlreiche Indikatoren drastisch verbessert. Hatten 1991 erst 14 Prozent der Bevölkerung Zugang zu sauberem Wasser, sind es heute 80 Prozent. Von 2800 eritreischen Dörfern haben 60 Prozent Zugang zu sauberem Wasser. Zugang zu Elektrizität hatten 1991 20 Prozent der Bevölkerung, heute sind es immerhin 38 Prozent. Die Einschulungsrate stieg von 30 auf 80 Prozent. Die Todesfälle während der Schwangerschaft sanken gemäß UNICEF von 1700 pro 100’000 auf 380, die Kindersterblichkeit bis zum 5. Lebensjahr von 151 pro 1000 auf 45. Mit der drastischen Senkung der Kinder- und Müttersterblichkeit ist Eritrea eines der wenigen afrikanischen Länder, das die von der UNO im Jahr 2000 beschlossenen Millenniumsziele fast vollständig erreicht hat. Die Millenniumsziele beinhalten die Ausrottung des Hungers, die Entwicklung der Gesundheitsversorgung und der Bildung, die Verbesserung der Lebensbedingungen von Frauen und der Kinder und anderes – eine hehre Zielsetzung, an deren Erfüllung, wie sich heute zeigt, in den meisten Ländern gar nicht zu denken ist. Im gleichen Zeitraum sank die HIV-Ansteckungsrate von 2,94 auf 0,93 Prozent. Die Impfrate für Kinder stieg auf 98 Prozent. Masern, Polio und Malaria gelten als ausgerottet. Eritrea hat heute die tiefsten Raten an Malaria-, HIV- und TB-Erkrankungen in Afrika. »Es gibt eine Reihe von Errungenschaften, die Eritrea in relativ wenigen Jahren erreichen konnte. Eritreer mag das nicht überraschen, aber für mich, die ich aus einem fremden Land komme, ist es faszinierend, und ich wünsche mir, dass Menschen anderer Länder kommen und sehen, was hier gemacht wird, und sich inspirieren lassen«, meint Dr. Josephine Namboze, die für Eritrea zuständige WHO-Vertreterin.
Diese Zahlen und Entwicklungen entspringen nicht einer zurechtgebogenen Statistik, sie sind vielmehr durch unabhängige Spezialisten etwa im Auftrag von UNO-Unterorganisationen verifiziert worden, und sie können einschlägigen Publikationen internationaler Organisationen entnommen werden. Aber werden sie auch zur Kenntnis genommen? Eritrea hat in drei Jahrzehnten mit minimalen finanziellen Ressourcen viel erreicht. Damit unterscheidet es sich von zahlreichen anderen afrikanischen Staaten. Dessen ist sich die Regierung bewusst. »Fünfzig Jahre seit der Unabhängigkeit und Milliarden an internationaler Hilfe haben sehr wenig dazu beigetragen, dass sich Afrika aus seiner chronischen Armut hätte befreien können. Die afrikanischen Gesellschaften sind gelähmte Gesellschaften geworden«, zitiert der belgische Journalist Michel Colon den eritreischen Präsidenten Isaias Afewerki.
Während viele afrikanische Staaten unter Korruption leiden, gilt Eritrea im Urteil internationaler Organisationen oder ausländischer Repräsentanten als weitgehend korruptionsfrei. Beklagt wird jedoch mangelnde Transparenz. Die frühere UNO-Koordinatorin in Eritrea, Christine Umutoni, weist jedoch darauf hin, dass sie aufgrund ihrer Tätigkeit für das Entwicklungsprogramm der UNO (UNDP) sicher sei, dass das Geld richtig investiert werde. Als Beispiel weist sie darauf hin, dass Impfkampagnen sauber und transparent durchgeführt würden. Sie äußert den Wunsch, dass vermehrt in Eritrea investiert wird, um das Land stabil zu halten.
Eritrea verkauft sich nicht für kurzfristigen Gewinn an ausländische Investoren und setzt nachvollziehbare Prioritäten in der nationalen Entwicklung. Man kann also durchaus sagen, dass das Land entwicklungspolitisch einiges richtig macht. Politisch prallen hingegen zwei unterschiedliche Konzepte aufeinander. Die Regierung wird vom innersten Kern der Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit (PDJF) gestellt, wobei dem Präsidenten und seinem Umfeld überragende Bedeutung zukommt. In den Köpfen dieses Machtzirkels hallt offensichtlich das leninistische Konzept nach, nach dem die Partei über dem Staat steht. Wenn Präsident Afewerki 2014, am 23. Jahrestag des Endes des Unabhängigkeitskampfs, überraschend verkündete, man werde sich nun an die Ausarbeitung einer Verfassung machen, ist das Ausdruck dieses Ansatzes. Eine westlichen Demokratievorstellungen entsprechende Verfassung ist nämlich schon vor mehr als einem Jahrzehnt erarbeitet und vom Verfassungsrat verabschiedet, aber nie in Kraft gesetzt worden.
Die Volksfront dominiert auch heute noch verschiedene staatliche Bereiche. Sie versteht sich als die leitende Kraft für Staat und Gesellschaft. Diesem politischen Führungsanspruch der »Befreiungsbewegung an der Macht« steht das westliche Demokratieverständnis gegenüber: Meinungsfreiheit, Mehrparteiensystem, Parlamentarismus. Das alles kennt Eritrea nicht. Diese Tatsache, verbunden mit der massenhaften Absetzbewegung vor allem junger Eritreer und Eritreerinnen, stellt eine ideale Gemengelage dar, um die politische Lage in Eritrea als hoffnungslos zu brandmarken.
Im Herbst 2015 ist Eritrea aus westlicher Sicht isoliert. Doch Eritrea liegt an strategisch wichtiger Lage. Instabile Staaten wie Somalia und Jemen sind direkte oder indirekte Nachbarn. In beiden Gebieten haben sich islamistische Terrorgruppen mit Verbindung zur Al-Qaida festgesetzt. Äthiopien selbst ist als Vielvölkerstaat mit sezessionistischen Bewegungen konfrontiert, sein demokratischer Leistungsausweis ist zweifelhaft. Der Sudan ist in islamistischem Fahrwasser, Saudiarabien als westlicher Verbündeter setzt auf Härte und Repression und nährt mit seiner Unterstützung islamistischer Fundamentalisten verschiedene Unruheherde. Eigentlich müsste es im Interesse des Westens liegen, das bisher in Eritrea herrschende Gleichgewicht zwischen den Ethnien und Religionen als positiven Faktor anzuerkennen und zu versuchen, Eritrea »aus der Kälte« zu bringen.
Iqbal Jhazbhay, der in Asmara tätige südafrikanische Botschafter, äußerte in einem 2013 veröffentlichten Artikel die Einschätzung, dass sich Eritrea in den nächsten drei Jahrzehnten dramatisch verändern werde; er traue dem Land zu, am Horn von Afrika eine wichtige Rolle zu spielen. Er verweist auf die strategische Rolle am Roten Meer und die enormen, noch nicht erschlossenen Bodenschätze. Doch weshalb komme das Land nicht schneller voran? Weil es sich auf der »falschen Seite der Liste« befinde: Das Land werde als unberechenbar eingeschätzt, weil es eine eigene Politik verfolge und sich nicht für die Interessen der Großmächte habe einspannen lassen. Dass 2015, nach über einem Jahrzehnt, der Schiedsspruch des Internationalen Gerichtshofs durch Äthiopien noch immer nicht umgesetzt sei und sich die Garanten des Schiedsgerichtsverfahrens wie auch die internationale Gemeinschaft darum foutieren, sende wiederum falsche Signale an die beiden verfeindeten Nachbarn.
Es ist nicht leicht, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Der Zugang zu Informationen ist ein mühsames Unterfangen. Während im Ausbildungswesen die Zahlen der eingeschulten Kinder und im Gesundheitswesen die aufgetretenen Krankheiten bis in die letzte Provinz statistisch ausgewiesen werden, besteht ein totales Informationsdefizit hinsichtlich allem, was mit Finanzen zu tun hat: Steuern, Einnahmen aus dem Export von Bodenschätzen, Investitionen in die Entwicklung der Infrastruktur oder die Entwicklung von Schlüsselprojekten. Durch Beharrlichkeit in der Recherche oder auch durch Zufall werden Einzelheiten bekannt, doch für eine verlässliche Aussage reicht das nicht.
Der Staatshaushalt? Geheim. Geschätzt wird das Budget auf 2 Milliarden Dollar. Die Einnahmen aus der Gold- und Kupferproduktion der Bisha-Mine? Geheim. Geschätzt werden sie für die Jahre um 2015 auf 900 Millionen Dollar – fast die Hälfte des Budgets. Dies die Makroebene. Fragen stellen sich aber auch im Kleinen: Der Besuch eines Volksladens mit verbilligten Produkten ist dem Besucher nur mit Bewilligung möglich, Fotografieren ist verboten; und leider ist die für die Bewilligung zuständige Person gerade nicht in Asmara. Ein Besuch im touristisch beworbenen Kloster von Debre Bizen? Das ist schwierig zu erreichen, der Aufstieg dauert mindestens zwei Stunden. Und auch dieser Besuch muss bewilligt werden, allerdings werden zurzeit keine Bewilligungen an Ausländer abgegeben – ach, wären wir doch einfache eritreische Pilger!
Was mag der Grund für diesen äußerst zurückhaltenden Umgang mit Informationen sein? Weshalb müssen für Reisen außerhalb von Asmara Reisebewilligungen eingeholt werden, die jedoch kaum einmal kontrolliert werden? Ein Grund dafür mögen die nach wie vor wirkenden Denkmuster aus der Zeit des Befreiungskampfs sein. Die Abschottung wird zudem genährt durch die reale Bedrohungslage durch Äthiopien. Dass der äthiopische Premier Hailemariam Desalegn auch noch im Herbst 2015 im Wahlkampf ankündigte, Eritrea wieder heimzuholen, ist eine Drohung und bestärkte die Machthaber in ihrer Geheimniskrämerei. Und auch die Aussage des Regierungssprechers Getachew Ruda im Juni 2016, Addis Abeba schließe einen totalen Krieg gegen Eritrea nicht aus, trägt nicht zur Beruhigung bei.
Ein weiteres Mysterium: Wasser ist der Schlüssel für die Entwicklung der Landwirtschaft. Überall im Land sind kleine Dämme gebaut worden, die eine Bewässerung von Feldern erlauben. 1000 Dämme sollen es im ganzen Land sein, die seit der Unabhängigkeit gebaut wurden, kleine Dämme, die gerade für die Bewässerung von ein paar Feldern ausreichen, aber auch große. Dank Bewässerung sind heute im »Brotkorb von Eritrea« in der fruchtbaren Provinz Debub zwei Ernten möglich. Abgeschirmt vor den Augen der ausländischen Öffentlichkeit und auch weitgehend ohne Internetpräsenz entstanden jedoch auch gigantische Stauanlagen. In der Nähe von Asmara wird der Adi-Halo-Damm gebaut, der die Wasserversorgung der Hauptstadt sichern wird. Hunderte von Menschen arbeiten im Rahmen eines National-Service-Einsatzes auf dieser Baustelle. Weiter im Süden, in der Nähe von Dekemhare, entsteht der Gergere-Damm, der größte Damm Eritreas. Der Stausee wird eine Länge von zwanzig Kilometer haben und 45 Millionen Kubikmeter Wasser fassen; zu zwei Dritteln ist der Stausee Anfang 2016 bereits gefüllt. Doch über diese Schlüsselprojekte für die Entwicklung sind keine Informationen erhältlich, Internetlinks zu einer früheren eritreischen Berichterstattung führen heute ins Leere. Diese Geheimniskrämerei hat einen handfesten internationalen Grund. Man wolle die Nil-Anrainerstaaten nicht vor den Kopf stoßen, indem bekannt würde, dass Eritrea das Wasser zurückhalte und nicht in den Sudan abfließen lasse, heißt es hinter vorgehaltener Hand.
Diese Geheimniskrämerei macht es nicht leicht, sich ein umfassendes Bild über das Land, seine Entwicklung und seine Bevölkerung zu verschaffen. Verliert ein Land, das sich so stark abschottet, nicht den Anschluss an die rasante weltweite Entwicklung? Nimmt man den Globalisierungsindex 2015 als Maßstab, so ist Eritrea ein hoffnungsloser Fall: Von 191 bewerteten Ländern liegt Eritrea auf Platz 187. Doch Abschottung hat zwei Seiten: Im Ausland ist die Informationsbeschaffung über Eritrea schwierig. Besteht umgekehrt in Eritrea Zugang zu ausländischen Informationen? Ausländische TV-Stationen können ungehindert mit Satellitenschüsseln empfangen werden. Davon, dass das auch genutzt wird, zeugen die unübersehbaren Schüsseln im ganzen Land. Internetzugang gibt es, wenn auch mit tiefen Übertragungsraten und zum Verzweifeln langsam. Telefonverkehr ist uneingeschränkt möglich. Eritreer und Eritreerinnen sind nicht schlecht informiert, nur fällt es ihnen oft schwer, die Informationen richtig einzuordnen. So wissen sie zum Beispiel, dass ein Asylsuchender in der Schweiz ca. 900 Franken Taschengeld erhält – eine unvorstellbare Summe in Eritrea –, doch sie wissen nicht, wie hoch die Lebenshaltungskosten hierzulande sind.
Eritrea, ein hoffnungsloser Fall? Immer wieder hört man resignierte Aussagen über die bis anhin kaum vorhandenen Aussichten auf eine wirtschaftliche Entwicklung. Der Privatsektor dümpelt vor sich hin. Der Devisenmangel und eine strikte Devisenbewirtschaftung lassen keine Neuinvestitionen zu und verhindern die Einfuhr dringend notwendiger Ersatzteile für Reparaturen. Fabriken arbeiten mit technologisch seit Jahrzehnten veralteten Maschinen, die Auslastung liegt vielfach weit unter den Kapazitäten. In der Asmara Textile Factory werden die in den 1960er-Jahren aus Italien importierten Textilmaschinen sorgfältig gewartet, doch nur ein Bruchteil der damaligen Belegschaft ist heute beschäftigt. 2500 bis 3000 T-Shirts und 300 Hemden werden pro Tag produziert, die Kapazitäten würden für ein Mehrfaches ausreichen. Es fehlt an Rohstoffen und Ersatzteilen. Einfuhren für den privaten Sektor sind nahezu unmöglich. Und wo nicht produziert wird, werden auch keine Arbeitsplätze geschaffen. Offen wird über die schlechten bis nicht vorhandenen Berufsaussichten gesprochen, die für viele jugendliche Schulabgänger den Weggang ins Ausland als einzige mögliche Perspektive erscheinen lassen.
Und noch etwas ist zu spüren: Niemand, seien es Intellektuelle, Staatsbedienstete oder Funktionäre auf einer mittleren Stufe, exponiert sich. Kritik ja, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Viele haben sich in eine Art innere Emigration begeben. Das Leben scheint wie aus der Zeit gefallen. Die Nähe zur vergangenen italienischen Grandezza, die beispielsweise in der städtebaulichen Architektur immer noch sichtbar ist, verleiht dem täglichen Leben etwas Unwirkliches. Die Menschen scheinen in Wartestellung zu verharren, in Wartestellung auf eine bessere Zukunft, die irgendwann vielleicht einmal kommen wird. Irgendwann einmal wird es Veränderungen geben, werden wichtige Exponenten der Macht abtreten, werden neue Kräfte und neue Ideen aufkommen. Irgendwann einmal wird ein frischer Wind wehen. Aber eines wird in den Gesprächen auch klar: Niemand will zurück zu einem Eritrea unter äthiopischer Kontrolle oder Herrschaft. Eritreer und Eritreerinnen sind Patrioten. Sie sind stolz auf ihr Land und ihre Geschichte. Über die Vergangenheit wird ausgiebig geredet, über das Heute nur ab und zu – über das Morgen jedoch spricht man nur selten und wenn, dann eher hinter vorgehaltener Hand.
Eritrea: ein kleiner Vielvölkerstaat, die Bevölkerung zudem aufgeteilt in die zwei nahezu gleich großen Glaubensgruppen der Christen und der Muslime. In der Nachbarschaft Staaten, die entweder nicht besonders stabil, religiös exponiert oder ethnisch zerrissen sind. Eritrea hat sich aus solchen Konflikten bisher heraushalten können. Christentum und Islam lebten während Jahrhunderten neben- und miteinander. Im Hochland leben die christlichen Tigrinya, an der Küste zum Roten Meer die Afar, und im westlichen Eritrea, Richtung Sudan, die Hidareb, Kunama, Nara, Rashaida und Tigre, die dem sunnitischen Islam angehören. In den Ethnien der Saho und Bilen gibt es beide Glaubensrichtungen.
»Muslime, Orthodoxe, katholische und evangelische Christen leben in diesem Land friedlich und harmonisch zusammen. Das ist ein Geschenk Gottes und eine wichtige Errungenschaft in diesem Land, die wir sehr schätzen. Die Harmonie unter den Religionen ist auch Garant für den inneren Frieden, und wir tragen unseren Teil dazu bei, dieses harmonische Zusammenleben zu erhalten«, wird Temesgen Berhane, der Generalsekretär der Evangelisch-Lutherischen Kirche von Eritrea, in einem Brief des Eritrea-Hilfswerks in Deutschland zitiert. Zeugnisse des gelebten Glaubens gibt es auf Schritt und Tritt. Christlich-orthodoxe Kirchen stehen neben Moscheen; in größeren Orten mit ehemaliger italienischer Bevölkerung stehen römisch-katholische Kirchen, in Asmara die Kathedrale, daneben gibt es protestantische Kirchen, die auf das Wirken von Missionaren aus Nordeuropa zurückgehen. Und in Asmara steht schließlich noch die jüdische Synagoge. Die eritreische Regierung ist stolz auf diese Vielfalt, kennt aber auch die Gefahren. Fundamentalistische islamische Strömungen wie auch neue christliche Strömungen werden nicht toleriert. Das fragile Gleichgewicht zwischen den Religionen soll auf jeden Fall gewahrt werden. Deshalb schränkt der eritreische Staat die Tätigkeit von freikirchlichen Vereinigungen ein. Freikirchliche Vereinigungen wie die Adventisten dürfen aktiv sein, wenn sie sich registrieren lassen; aggressive missionsorientierte Freikirchen sind unerwünscht. Kritiker sehen in dieser Haltung eine staatliche Restriktion der Religionsfreiheit. »Wir garantieren in diesem Land die Glaubensfreiheit, aber Religion ist eine individuelle Angelegenheit. Wer zu einer anderen Religion konvertieren will, der kann dies tun. Wir dulden aber keine Missionstätigkeit und keine religiöse Manipulation, die mittels ausländischer Gelder finanziert wird. Dies würde unsere Gesellschaft zerstören«, so Informationsminister Yemane Gebremeskel. Damit sollen der religiöse Friede und die schleichende Einflussnahme extremistischer Strömungen vermieden werden. Vor dem Hintergrund einer Region im Strudel religiöser und ethnischer Konflikte gewinnt die Haltung Eritreas anderes Gewicht. Und wo sonst in der Region genießen islamische, orthodoxe, katholische und evangelische Glaubensgemeinschaften staatliche Anerkennung?
Editorische Anmerkungen
Die Ausführungen beruhen auf den 2015/16 vorgenommenen Recherchen und sind nur geringfügig überarbeitet worden.