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Stefan Knobloch liefert einen knappen, mutigen, gut lesbaren Wurf, der sich mit der These der „Erosion des Glaubens“ nicht anfreunden kann. Er argumentiert gegen das Ergebnis einer Befragung des Allensbacher Instituts vom Dezember 2021. Das Glaubenspotenzial des Menschen darf nicht unterschätzt werden, auch wenn sich der Habitus des Glaubens verändert.
Dieses Buch ist eine interessante Lektüre, deren Ziel es ist, den Leser über die Religion nachdenken zu lassen.
Knobloch hatte von 1988-2002 die Professur für Praktische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz inne.
Seine letzten Publikationen waren „Uneindeutig glauben. Von der Vielfalt der christlichen Botschaft“ (Ostfildern 2022); „Grautöne der Transzendenz bei Peter Handke und Martin Walser. Theo-poetische Nachgedanken“ (München 2021).
Stefan Knobloch, geb. 1937, ist Mitglied der Deutschen Kapuzinerprovinz. Von 1988-2002 war er Professor für Praktische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz.
In seinen Publikationen befasst sich Knobloch vor allem mitdenTransformationsprozessenundderPluriformität des christlichen Glaubens. So in den Publikationen „Gottesleere? Wider die Rede vom Verlust des Göttlichen“ (2013); „Wesentlich werden! Für eine Theologie und Kirche an den Brennpunkten des Lebens“ (2018); „Uneindeutig glauben. Von der Vielfalt der christlichen Botschaft“ (2022).
Seinen Ruhestand verbringt Knobloch in Passau.
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Stefan Knobloch
Erosion des Glaubens?
Nichts ist für immer verloren (nothing is ever lost)
© 2023 Europa Buch | Berlin
www.europabuch.com | [email protected]
ISBN 9791220134934
Erstausgabe: Februar 2023
Gedruckt für Italien von Rotomail Italia
Stampato presso Rotomail Italia S.p.A. - Vignate (MI) Erosion des Glaubens?
Nichts ist für immer verloren
(nothing is ever lost)
In mir sträubte sich etwas, dem Ergebnis einer Befragung des Allensbacher Instituts vom Dezember 2021 Glauben zu schenken, wir hätten es in unserem Land mit einer „Erosion des christlichen Glaubens“ zu tun.
Propositionale Sätze des Glaubens abzufragen ist das eine. Mit den Denkpotenzialen des Glaubens der Menschen zu rechnen aber ist das andere. Die Denkpotenziale des Glaubens sind nicht einfach verschüttet, selbst wenn es Menschen subjektiv gar nicht merken, dass sie sich von ihnen in ihrem Leben motivisch leiten lassen. Kein Zweifel, heute spielen die social media eine erhebliche Rolle, deren Informationsflut den Menschen um die Ohren geschlagen wird, in die sich manche aber auch gern verlieren. Nur selten aber dürften die Menschen von ihnen so in Beschlag genommen sein, dass sie für tiefere Sinnkorridore unempfänglich wären.
Sinnkorridore zu erschließen war eine den Kirchen zugetraute Aufgabe. Heute aber kann man den Eindruck haben, als ließen die Kirchen in ihrer institutionellen Befangenheit bzw. Selbstbeschäftigung die Erfahrungen der Menschen unbeachtet liegen, als trauten sie es sich nicht mehr zu, sie in die tieferen Fragen des Lebens hinein zu begleiten. Für viele kommen die Kirchen nicht mehr als gemeinschaftsverbürgende Resonanzräume und als kollektive Deutungsinstanzen in Betracht. Das aber darf nicht als Verlust der personalen Glaubenspotenziale verrechnet werden. Viele leben heute ihr Leben in einer individualisierenden Lebenshaltung, ihre Sozialkontakte beschränken sich auf die Gestalt der „Inklusion“, das heißt auf eine Form, die immer wieder den Rückzug in den eigenen Lebensraum sucht. Aber diese Inklusion entbehrt nicht der Glaubenspotenziale.
Es zeichnen sich Veränderungen und Entwicklungen im Habitus des „Glaubenslebens“ ab. Immer wieder aber bricht es zum Beispiel bei der Verarbeitung aufwühlender Terrorakte hervor, die das Leben erschüttern. Da legen Menschen Blumen nieder, stellen Fotos und Kerzen auf, schreiben Abschiedsworte, Worte der Betroffenheit und Anteilnahme. Der Glaube ist nicht am Ende. Der holländische Theologe Edward Schillebeeckx sprach schon vor Jahren vom Phänomen der unthematischen Rechtgläubigkeit der Menschen, die weithin mit propositionalen Sätzen des Glaubens ihre Schwierigkeit haben.
Dass es vor diesem Hintergrund heute nicht um eine Erosion des Glaubens geht, der der Glaube über kurz oder lang zum Opfer fällt, davon handelt dieses Büchlein. Es will aufbauen, es will ermutigen, aus dem Kapital des Denkpotenzials des Glaubens zu leben und zu glauben.
Passau im Herbst 2022
Der Verfasser
Pünktlich zu Weihnachten 2021 veröffentlichte das Allensbacher Institut für Demoskopie1 eine Umfrage vom Dezember 2021 zur Situation des Christentums in Deutschland.2 Thomas Petersen machte in einem Bericht darüber in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit der Frage auf, ob wir im Jahr 2021 Weihnachten vielleicht zum letzten Mal mit einer christlichen Bevölkerungsmehrheit feiern. Es spreche vieles dafür, dass im Laufe des Jahres 2022 die Christen und Christinnen gegenüber der nichtchristlichen Bevölkerung in Deutschland die Mehrheit verlören. Zugrunde lag eine Umfrage vom 1.15. Dezember 2021 unter 1069 Befragten. Eine gering erscheinende Befragtenzahl. Das Umfrageergebnis aber sei nach dem Institut für Demoskopie Allensbach repräsentativ.
Rekapitulieren wir fürs erste die zahlenmäßigen Ergebnisse der Umfrage, bevor wir auf die Deutung dieser Zahlen durch das Institut kommen. Von den befragten Katholiken und Katholikinnen gaben 23 Prozent an, sie fühlten sich in ihrem Glauben der Kirche eng verbunden. Bei den Protestanten lag deren Anteil bei 12 Prozent. In beiden Kirchen nehmen die meisten Befragten durchaus für sich eine gewisse Bindung an die Kirche in Anspruch, wenn auch nicht ohne kritische Abstriche. Manche äußerten, die Kirche bedeute ihnen nicht viel. Manche wüssten gar nicht, was sie glauben sollten; sie bräuchten
eigentlich keine Religion. Jede dritte Person dachte schon mal daran, aus der Kirche auszutreten. Fasst man zahlenmäßig das Gesamtbild ins Auge, dann machen die Christen und Christinnen der evangelischen Kirche mit 28 Prozent und die der katholischen Kirche mit 25 Prozent zusammen 53 Prozent der Gesamtbevölkerung in Deutschland aus. Sie stellen also noch die Mehrheit gegenüber den 47 Prozent dar, die keiner Kirche oder keiner kirchenähnlichen Vereinigung angehören. Das kann sich in der Tat in 2022 ändern.
Diese Ergebnisse spiegeln sich in den Zahlen der Kirchenaustritte in der katholischen Kirche, die das Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz jährlich veröffentlicht. Fassen wir lediglich die Entwicklung innerhalb der Jahre von 2018 bis 2021 ins Auge.3 Im Zeitraum 2018/19 traten 216.078 Katholiken und Katholikinnen aus der Kirche aus, 2019/20 waren es 272.771 und 2020/21 waren es 221.390. Der vermeintliche Rückgang in 2020/21 gegenüber 2019/20 ist offensichtlich auf die verschiedenen Lockdowns und auf andere Einschränkungen infolge von Sars-CoV-2 zurückzuführen. Er darf nicht für eine Wende auf hohem Niveau gehalten werden. Und für 2021 wurde der bisherige Höchststand von 360.000 Austritten aus der katholischen Kirche gemeldet.
Wie aber deutet nun Allensbach die Umfrageergebnisse vom Dezember 2021? Die Skandale der letzten Jahre in den Kirchen, Finanzskandale, Kindesmissbrauch und
deren zögerliche Aufklärung reichten zur Begründung der nachlassenden Kirchenbindung und der steigenden Zahlen von Kirchenaustritten nicht aus. Es deute sich schon lange eine tieferliegende Problematik an. Es handle sich „um eine zwar schleichende, deswegen im Alltag nicht auffällige, aber dennoch fundamentale Veränderung der Gesellschaft.“4 Allensbach identifiziert diese Entwicklung als „Erosion des christlichen Glaubens.“5 Der Glaube sei nicht mehr tief verankert. Die Dezember-Umfrage bediente sich der Vorlage von Karten, mit deren Hilfe Glaubensinhalte erfragt wurden. Dass Jesus der Sohn Gottes sei, glaubten demnach im Dezember 2021 37 Prozent der Befragten gegenüber 56 Prozent 1986 (in Westdeutschland). An die Dreifaltigkeit glaubten damals in Westdeutschland 39 Prozent, heute seien es 27 Prozent. Die Auferstehung der Toten ist gegenüber früher 38 Prozent heute noch für 24 Prozent der Befragten ein Thema.
Von diesen Ergebnissen her scheint die Rede von der „Erosion des christlichen Glaubens“ gerechtfertigt zu sein. Damit aber reiben sich andere, gewissermaßen offenere Ergebnisse, wie die Frage nach der Seele. 61 Prozent der im Dezember 2021 Befragten glaubten an eine Seele. Für 52 Prozent gibt es Wunder. Ebenso viele glauben, dass in der Natur „alles eine Seele hat, auch Tiere und Pflanzen“. Gefragt, ob sie an Gott glauben – eine Frage, die wie definitionsorientiert einherkommt -, bejahen 46 Prozent diese Frage. Während das irgendwie wabernde Fragen sind, obwohl sie den Eindruck erwecken, mit eindeutigen Sachverhalten zu tun zu haben, ist die
Frage nach der Bedeutung und dem Gewicht der Kirchen eine relativ griffige Frage. Die beiden Kirchen befinden sich in der Reihe von 18 Platzierungen auf den letzten beiden Plätzen. Aber auch da zeigt sich eine gewisse Ambiguitätstoleranz der Befragten. Denn die Frage, ob es wichtig sei, die Kinder religiös zu erziehen, bejahten im Dezember 2021 43 Prozent der Befragten. Das ist exakt dieselbe Prozentzahl wie vor mehr als zwanzig Jahren, im Jahr 1995.
In Summe stehe es heute um die Inhalte des Glaubens schlecht. Immerhin räumt die Auswertung ein, dass „die christliche Tradition zumindest bis zu einem gewissen Grad auch von denen weitergetragen (werde), die mit dem Glauben selbst nicht mehr viel anfangen können.“6 Das ist ein Resümee, bei dem es sich zu verweilen lohnt.
Zur Begründung der Situation des Glaubens und der Kirche heute reiche es nicht aus, allein an die verschiedenen Skandale der Kirche zu denken. Zugrunde läge vielmehr, so Allensbach, eine „fundamentale Veränderung der Gesellschaft“. Damit macht die Auswertung der Umfrage einerseits ein großes Tor auf, dem sie aber, nach meinem Eindruck, in ihren Fragestellungen nicht angemessen gerecht geworden ist. Wonach, nach welchen Kriterien bemisst die Dezemberumfrage die fundamentale Veränderung der Gesellschaft, die sie als Erosion des Glaubens identifiziert? Andersherum gefragt: Welche Antworten darf man heute erwarten, wenn man die Leute danach fragt, ob für sie Jesus der Sohn Gottes sei? Ob sie an die Dreifaltigkeit glauben? Ob sie an die Auferstehung der
Toten glauben? Das waren ja keine Kontrollfragen, ob
die Leute ihren Katechismus kennen. Ich halte den Ansatz bei diesen in eine uneinholbare Abgründigkeit hineinreichenden Fragen für unglücklich.
Welche Aussagekraft über die Glaubenssituation?
Ob Jesus der Sohn Gottes sei? Diese Frage erweckt den Eindruck, als sei das, was dieser Satz sagt, in seiner Abgründigkeit vom Glauben je erfasst. Darüber müsse man nicht weiter nachdenken. Oder andersherum: Wer dabei keinerlei uneinholbare Abgründigkeit erkennt, der kann vollmundig, dabei aber im Grunde in einer dahinmeinenden Oberflächlichkeit sagen, ja, er glaube, dass Jesus der Sohn Gottes sei.
Wir müssen uns im Glauben eingestehen, dass die in menschliche Sprache gefasste Aussage, Jesus sei der Sohn Gottes, das, was sie aussagt, im besten Fall nur approximativ einholt in einer Annäherung, die das, was sie erfassen will, eher verfehlt als trifft. Die Theologie sprach früher von der Analogie der Glaubensrede, die das, was sie erfassen will, nie umfassend und total treffe. Das Zweite Vatikanische Konzil brachte exakt diesen Sachverhalt auf die Formel, dass die Kirche der Fülle der göttlichen Wahrheit im Gang der Jahrhunderte entgegenstrebe (Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei verbum, 8), ohne sie ganz und in der Totale je zu erfassen.
Das Bild der Analogie kann allerdings heute in eine Schieflage geraten und erst recht zu Missverständnissen führen, da wir heute unsere reale gegenständliche Welt als die analoge Welt beschreiben, von der sich die virtuelle bzw. digitale Welt abhebt, welche die Welt in Einsen und Nullen erfasst. Wenn wir also unsere vorfindbare Wirklichkeit als analoge Welt bezeichnen, so dürfen wir nicht die Schlussfolgerung ziehen, als wolle die theologische Rede von der Analogie Gottes Gott sozusagen in den Maßen unserer Welt und in keinen anderen Maßen vermessen. „Ist für Sie Jesus der Sohn Gottes?“, das ist insofern eine heikle Frage, als sie von einem Wirklichkeitsverständnis auszugehen scheint, in dem man die Frage gut und gern mit einem Ja beantworten könne. Dabei hat der, der diese Frage gläubig bejaht, sie eben nicht von einem inneren Gottesstandpunkt her durchschaut.
Ein Zögern in der Antwort bis hin zu einer begründeten zögernden Verneinung lässt also nicht auf eine Ablehnung des mit der Frage angezielten Inhalts schließen. Es lässt eher auf eine Ablehnung der Form schließen, in der die Frage gestellt wurde. Man muss sich nur vor Augen halten, mit welcher Behutsamkeit sich das Neue Testament, dem hier in Rede stehenden Sachverhalt näherte. Da wird von Jesus gesprochen als dem, „mit dem Gott war“ (Apg 10,38), mit dem die Fülle Gottes war (Kol 1,19; 2,9), der der Erstgeborene von den Toten war (Kol 1.18). Die Rede von Jesus als dem Sohn Gottes härtete sich aus in der Begegnung mit dem griechisch-hellenistischen Denken, ohne auch hier in ihrer uneinholbaren Abgründigkeit eingeholt worden zu sein. Mit anderen Worten, es wäre eine unverzeihliche Verkürzung, würden wir die Dezemberumfrage, wer Jesus nicht für den Sohn Gottes halte, so deuten, als lege der die Axt an die Wurzel des Glaubens und beteilige sich an der Erosion des Glaubens.
Von daher nimmt es nicht wunder, dass sich die Befragten der Dreifaltigkeit mit noch größerem Zögern nähern. Es sind 27 Prozent, die mit der Formel der Dreifaltigkeit etwas anfangen können. Aber was das, was die Dreifaltigkeit genannt wird, ist bzw. sein kann für ihr Leben, steht wohl auf einem anderen Blatt. Das bleibt von ihrer Antwort wohl unberührt. Und bei den anderen, die außerhalb der 27 Prozent blieben, muss kein Abbruch der inneren Wirklichkeit Gottes vorliegen, auf die wir keinen gottgemäßen Blick haben. Es dürfte sich hier eher um einen Abbruch des begrifflichen Formats der Frage nach der Dreifaltigkeit handeln als nach einem anmaßenden Abbruch der Dreifaltigkeit selbst.
Und dann die Frage nach der Auferstehung der Toten. Nach der Dezemberumfrage sind es 24 Prozent der Befragten, die an die Auferstehung der Toten glauben. Der Auferstehung der Toten ist es immanent, dass bei ihr alle Vorstellungen eines Wie dieser Auferstehung versagen. Denn im Bereich der Toten sind wir wieder im Bereich jenseits aller ontologischen Kategorien. Dessen sind sich die, die an die Auferstehung der Toten glauben, bewusst. Wer umgekehrt von der Vorstellung ausgeht, bei der Auferstehung müssten sich irgendwie die Gebeine der Verstorbenen wieder zusammenfügen und von dieser Vorstellung Abstand nimmt, der kann dem Verständnis der Auferstehung näher sein als der, der der Formel der Auferstehung sozusagen „naiv“ und unreflektiert zustimmt. Denn der, der naiv zustimmt, befasst sich möglicherweise mit dem Sachverhalt, um den es da geht, weniger als ein anderer. Die Auferstehung ist mit einem „Sachverhalt“ im Grunde falsch benannt, denn die „Sache“ kennen wir ja genau nicht.
Es mag lange Zeit gereicht haben, verführt von der Bildersprache der Auferstehung des Herrn, von seiner Himmelfahrt, erst recht von der Bildersprache der Aufnahme Mariens in den Himmel, sich die Auferstehung der Toten sozusagen „materiell“ vorzustellen. Dabei trifft diese Vorstellung durchaus etwas Richtiges, sie bewahrt etwas unveräußerlich Wesentliches der Auferstehung der Toten. Nämlich dies, dass sie keine „Auferstehung der Seele“ ist, bei der alles Körperliche wie Abfall zurückbleibt, das von der Auferstehung in keiner Weise betroffen sei. Auferstehung der Toten will sagen, dass der Mensch als Leib-Geist-Wesen in seiner leiblich-geistigen Konstitution ins Heil Gottes kommt. „…eine absolute Trennung zwischen einem Schicksal der Leiblichkeit des Menschen und dem Schicksal seiner geistigen Person ist im Grunde genommen weder von einer heutigen noch von der biblischen Anthropologie aus denkbar.“7 Dem widerspricht auch die harte Formel von der Auferstehung des Fleisches nicht. Sie wäre nach der anderen Seite missverstanden, wäre von ihr sozusagen nur das Fleisch betroffen. Das geht allein schon aus der biblischen Formel hervor, dass Jesus als Wort „Fleisch geworden ist“ (Joh 1, 14). Das besagt, dass er Mensch geworden ist. Fleisch bedeutet hier Mensch. Es mag immer wieder erstaunen, dass der Johannes-Prolog vom Fleisch spricht. „Verbum caro factum est.“ Was die leiblich-geistige Einheit des Menschen betrifft, so formt sie Karl Rahner an einer Stelle in einer Gebetsanrede an Gott so aus: „…dass du (sc. Gott) der Materie nicht fremd und […] verneinend gegenüberstehst, sondern sie sogar konstituiert hast als den gemeinsamen Urgrund aller sich entwickelnden
Wirklichkeit bis zum Geist hinauf.“8 Wenig später fügt Rahner an: „Wenn die Vollendung kommt, werden wir überrascht sein, wie ganz anders alles sein wird, als wir es uns vorgestellt haben (und wie weit die Phantasien der Spiritisten unter der wahren Wirklichkeit liegen), aber dieses eben ganz andere wird doch auch überraschend nahe und zu unserem bisherigen Daseinsstand passend sich zeigen.“9
In Summe ist die Auferstehung der Toten eine göttliche
Transformation unseres Menschseins, die unsere gesamte Wirklichkeit umfasst. Eine Transformation, die nicht davon abhängig ist, ob von uns noch sterbliche Überreste da sind oder ob wir in Urnen bestattet wurden. Ebenso unabhängig von der Tragik, dass bei den Bootsflüchtlingen Kinder Frauen und Männer im Mittelmeer ertrinken, von denen keine Spur mehr zu finden ist. Oder um an den schrecklichen Start des Space Shuttle Challenger vom 28. Januar 1986 zu erinnern, bei dem 73 Sekunden nach dem Start die sieben Astronauten und Astronautinnen, fünf Männer und zwei Frauen, im Weltall verglühten. Wie versucht Paulus die unbeschreibbar Transformation des Menschen im Tod zu beschreiben? Er formulierte: Gesät werde in Verweslichkeit, auferweckt werde in Unverweslichkeit (1 Kor 15,42). Diesem komplexen Glaubensinhalt heutzutage nicht einfach zuzustimmen, wie es aus der Allensbacher Dezemberumfrage von 2021 ersichtlich wird, ist einigermaßen weit weg von einer Erosion des Glaubens.
Wenn, dann ist die Veränderung der Gesellschaft, die Allensbach als fundamental beschreibt, treffender an anderen Kernprozessen abzulesen als in einer „Erosion des Glaubens“. Diese wirken sich auf Glaube und Religion in unserem Land aus.
Von den hohen Austrittszahlen aus beiden großen Kirchen war schon die Rede. Mit Blick auf die Gesamtgesellschaft kann man sagen, dass es heute bei den ökonomisch-ökologischen Herausforderungen, bei den Problemstellungen durch die Corona-Pandemie, bei den geostrategisch offenen Fragen, wie es in vielen Ländern, zumal wie es im Verhältnis zu Russland und China weitergeht – mit Blick auf all das kann man sagen, dass all das nicht nur „die Wahrheit des Diesseits“ berührt, sondern auch etwas wie „das Jenseits der Wahrheit“10. Dieses Jenseits der Wahrheit ist keine festlegbare Wahrheit, sie wird aber hintergründig im Leben irgendwie in Anspruch genommen. Das bedeutet, dass die Denkpotenziale des Glaubens heute nicht einfach verschüttet sind, selbst wenn Menschen es subjektiv gar nicht merken, dass sie von ihnen in ihrem Leben motivisch geleitet werden.
Robert N. Bellah, einer der bedeutendsten, vor einem Jahrzehnt verstorbenen us-amerikanischen Religionssoziologen unserer Tage, vertrat die These: Nichts geht jemals verloren: „nothing is ever lost“.11 Das heißt nicht, dass der Glaube eines Menschen in der Form
propositionaler Sätze, also als Frage nach Glaubensinhalten, einfach abfragbar ist. Verlässlicher ist dem gegenüber, sich mit den Symbolen zu beschäftigen, derer wir uns im Leben gern bedienen. Denken wir etwa an die bei uns kaum in Frage gestellte bürgerliche Sitte, uns am Heiligen Abend um den Christbaum zu versammeln. Der Heilige Abend ruft Symbole der Kindheit und Jugendzeit in Erinnerung, die nicht nur die Wahrheit des Diesseits berühren, sondern tiefere Wahrheiten und eine Besinnlichkeit nach oben kommen lassen, die sich schlummernden Denkpotenzialen des Glaubens verdanken. So kann es zu einer Berührung mit der Erfahrung kommen, dass es im Leben nicht nur die tägliche Abhängigkeit von den sozialen Plattformen wie Facebook, Google, Twitter, Instagram, Amazon und anderen gibt, dass wir nicht nur, um es auf eine andere Ebene zu heben, von Technik und Wissenschaft leben. Wir sind offen für tiefere Sinnbezüge, offen für Sinnkorridore, die zum Beispiel die Kirchen in ihren Heilszeichen präsentieren. Ihre Sakramente verweisen auf ein Mehr, auf ein „magis“, das sie in symbolischer Repräsentation feiern.
Freilich kann man sich andererseits an der Beobachtung stoßen, dass heute die Kirchen, in einer gewissen institutionellen Befangenheit lebend, den Eindruck erwecken, sie würden die Erfahrungen des Menschen von heute zu oft unbeachtet liegenlassen. Als trauten sie sich kaum noch die Kreativität zu, den Menschen in die tieferen Fragen des Lebens hinein zu begleiten. Daniel Deckers hat richtig bemerkt, dass die Kirchen für viele kaum noch „als gemeinschaftsverbürgende Resonanzräume und
(als) kollektive Deutungsinstanzen“12 in Betracht
kommen. Die (wenn auch schwindende) Erwartung der Menschen, zum Beispiel in Phasen harter Lockdowns während der Corona-Pandemie durch die Kirchen Trost und Ermutigung zu erfahren, bleibt weithin unbeantwortet. Spricht es nicht Bände, dass es Bundespräsident Walter Steinmeier war, der den Anstoß zu einem staatlichen Trauerakt im Berliner Konzerthaus am 18. April 2021 für die Corona-Opfer gab? Der Trauerakt hatte in seiner Inszenierung religiöse Züge. Man fühlte sich erinnert an Ernst-Wolfgang Böckenfördes These vor mehr als fünf Jahrzehnten, dass der säkulare Staat aus Wurzeln lebe, die er nicht begründen könne.
Zu den Kernprozessen, an denen die Veränderung unserer Gesellschaft zu erkennen ist, zählt auch die zunehmende Individualisierung und Privatisierung heutiger Lebensläufe. So haben wir es zum Beispiel mit einer deutlichen Zunahme von Single-Wohnungen zu tun. Das bedeutet nicht, Singles lebten allein und beziehungslos. Aber ihre Beziehungen wie überhaupt die Teilnahme der Menschen an den Sozialkontakten des Lebens nehmen mehr und mehr den Charakter bloßer „Inklusion“ an. Die Menschen nehmen „inklusiv“ teil, sie ziehen sich jederzeit in den Raum ihres Lebens zurück. Diese inklusive Teilnahme betrifft seit geraumer Zeit auch die Kirchengemeinden und ihre seelsorglichen Angebote.