Erste Familie - Die Amtrak-Kriege 2 - Patrick A. Tilley - E-Book

Erste Familie - Die Amtrak-Kriege 2 E-Book

Patrick A. Tilley

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Beschreibung

Hunderte von Jahren, nachdem die Erde von einem schrecklichen Atomkrieg verwüstet wurde, herrscht auf der Welt ein Zweiklassensystem: Die unterirdisch lebenden, hochkultivierten Amtraks kämpfen erbittert gegen die sogenannten Stummen an der Oberfläche, die in den Augen der Amtraks kaum mehr als Barbaren sind. Als der Kampfpilot Steve Brickman nach monatelanger Gefangenschaft bei den Stummen nach Hause zurückkehrt, hat er mit allem gerechnet, nur nicht damit, dass er der Spionage verdächtigt wird. Er wird vor die Erste Familie gebracht und verhört. Und tatsächlich hat ihn seine Zeit bei den Stummen stärker verändert, als er geglaubt hatte ...

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Seitenzahl: 680

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Das Buch

Tausende Jahre nach dem Atomkrieg lebt das, was von der Menschheit übrig ist, in unterirdischen Bunkern. Die sogenannte Amtrak-Föderation kennt nur ein Ziel: die Oberwelt zurückzuerobern. Dort leben die Mutanten, die in den Augen der Amtraks kaum mehr als Barbaren sind. Kampfpilot Steve Brickman weiß es besser. Nachdem er abgeschossen wurde, lebte er monatelang als Gefangener bei den Mutanten und lernte sie und ihre Gebräuche kennen. Ihm gelang die Flucht, aber sein Empfang in der Föderation fällt frostig aus. Man verdächtigt ihn der Spionage, und so muss Steve die Erste Familie, die Amtrak-Exekutive, vom Gegenteil überzeugen. Doch seine Zeit bei den »Wilden« hat den jungen Piloten stärker verändert, als er geglaubt hätte …

Die Amtrak-Kriege:

Wolkenkrieger

Erste Familie

Eisenmeister

Der Autor

Patrick A. Tilley, 1928 in Essex geboren, studierte am King’s College der University of Durham Kunst und arbeitete nach seinem Abschluss 1955 als Grafikdesigner in London. 1968 gab er diese Laufbahn auf, um sich dem Schreiben zu widmen: Er begann mit dem Verfassen von Drehbüchern für Filme und TV-Serien und zog in die USA. 1975 erschien sein erster Roman Fade-Out, 1981 folgte Mission, der schnell Kultstatus erlangte. Die »Amtrak-Kriege«, deren erster Band Wolkenkrieger 1983 erschien, ist seine erfolgreichste Science-Fiction-Romanserie.

Mehr über Patrick Tilley und seine Romane erfahren Sie auf:

PATRICK TILLEY

DIE

AMTRAK

KRIEGE

ERSTE FAMILIE

Zweiter Roman

Aus dem Amerikanischen übersetzt

von Ronald M. Hahn

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

THE AMTRAK WARS – BOOK 2: FIRST FAMILY

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da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf

deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Taschenbuchausgabe 04/2020

Copyright © 1985 by Patrick Tilley

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe

und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,

unter Verwendung eines Motivs von

Shutterstock/Tithi Luadthong

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-25041-6V001

www.diezukunft.de

Für meine Söhne

Pierre-André, der das Problem

der Wagenzüge gelöst hat,

und

Bruno-Christian, dessen Fotos

mir den Schlüssel zur Oberwelt gaben.

Das Wagner-Gebet

(Dreimal täglich unter dem Bild des

General-Präsidenten aufzusagen)

Heil dem Lenker!

Allessehender Vater, Führer und Weiser

Mit der Hand auf dem Herzen

Preisen und grüßen wir dich.

Ehre sei der Ersten Familie!

Geschenk vergangener Zeitalter,

Herrscher bis ans Ende der Zeit,

Muttergestein der Amtrak, Gründer der Föderation,

Wächter des Erdschildes,

Erwählte Retter der Blauhimmelwelt,

Schöpfer des Lichts, der Arbeit und des Weges,

Hüter allen Wissens, der Weisheit und Wahrheit,

In der die Sieben Großen Tugenden enthalten sind,

Und aus deren heiligem Lebensblut

Unser Leben entspringt.

Allessehender Vater, Führer und Weiser,

Erster der Erwählten, Schöpfer des Lebens,

Diesen Tag, den du uns geschenkt hast,

Widmen wir dir.

Lass deine weisen Ratgeber unsere Gedanken leiten,

Lass deine Stärke unsere Hände und Herzen stärken,

Damit wir jene zerschmettern,

Die gegen deinen Willen sind.

Lehre uns, dem glorreichen Beispiel zu folgen

Der Minutemen und Foragers,

Damit unser Dasein dir noch besser dienen kann.

Das Leben, das du uns geschenkt hast,

Geben wir gern für dich hin.

Verwende es nach deinem Willen, sodass wir,

Wenn wir sterben, ihr großes Opfer ehren,

So wie du das unsere ehren wirst,

Wenn wir den Endsieg erringen.

Amen.

1

Deke Haywood lehnte sich in seinen Sitz zurück, faltete die Hände über dem Kopf und gähnte wie ein Raubtier. Dann warf er durch halb zusammengekniffene Augen einen Blick auf den digitalen Zeit- und Datumsanzeiger der ihn umgebenden Bildschirme. Es war 17.20 Uhr am 14. November 2989, und er hatte noch vierzig Minuten vor sich, bis Glen Wyler seine Wache übernahm. Bis zum Ende des Jahrtausends blieben noch elf Jahre. 3000 nach Christus war der seit Langem erwartete Augenblick, in dem die Amtrak-Föderation laut der Ersten Familie wieder die Blauhimmelwelt übernahm. Deke würde es persönlich nicht mehr erleben, denn der von allen gehegte Traum lag, wie viele gegenwärtige Unternehmungen, weit hinter seinem Zeitplan zurück.

Doch Deke war sorgfältig darauf bedacht, solche Gedanken für sich zu behalten. Es zahlte sich nicht aus, irgendwelche Misslichkeiten im Vorankommen der Föderation zu kommentieren. Wie alle Wagner hatte man auch ihm vom Tag seiner Geburt an eine ständig wiederholte, fundamentale Wahrheit eingebläut: »Nur Menschen versagen, nicht das System.«

Die Steuerkonsole an Dekes Arbeitsplatz, die seine dienstliche Beachtung verlangte, bestand aus vierundzwanzig TV-Monitoren in zwei Reihen, die in Hufeisenform angeordnet waren. Die Bildschirme waren mit ferngesteuerten Kameras verbunden, die an der höchsten Stelle des fensterlosen Wachturms montiert waren. Sie waren die stets wachsamen Augen der Zwischenstation. Durch sie hielten Deke und die anderen VidKomTech das sie umgebende Gelände – das Stationsrevier – unter ständiger Beobachtung. Vierundzwanzig Stunden täglich, 365 Tage im Jahr. Ihr Zweck bestand darin, eine Frühwarnung abzugeben, sobald feindliche Kräfte in das Stationsrevier eindrangen – bewaffnete Mutantenbanden, die ewigen Feinde der Föderation. Es war allerdings nicht notwendig, ständig vor den Schirmen zu sitzen. Alle Kameras verfügten über Bildanalysatoren und waren so programmiert, dass sie auf bestimmte Formen und Bewegungen reagierten. Die Kameras kannten das Gebiet, das sie beobachteten; sie kannten jeden Kieselstein. Wenn sie etwas sahen, das nicht an seinem Platz war, alarmierten sie die Mannschaft mithilfe eines audiovisuellen Alarms.

Normalerweise freute sich Deke auf die vierstündige Schicht als VidKomTech vom Dienst, aber heute schien die Oberwelt nicht willens zu sein, ihm die spezielle Action zu liefern, die ihm gefiel. Na, wenn schon. Wenn es sein musste, konnte Deke sich auch selbst unterhalten. Er schwenkte mit seinem Drehstuhl herum, öffnete die unterste Schublade des kleinen Regals unter der linken Seite seines Arbeitstisches, schob den Unterarm tief hinein und holte eine Videokassette hervor, die in dem toten Raum zwischen der Unterseite der Schublade und dem Regalboden lag.

Deke schob die Videokassette in einen Recorderschlitz, setzte einen Ultraleichtkopfhörer auf, drückte die Play-Taste und holte das Bild auf einen der Schirme. Die Szene, die er sah, spielte im Morgengrauen. Da war ein tiefdunkelroter Himmel, an dem gezackte Ansammlungen blassvioletter Wolken hingen. Eine weiche Linie aus sattem Gelb tauchte auf, breitete sich am Horizont schnell nach Norden und Süden aus und begrüßte die aufgehende Sonne. Die deutlich hörbaren Klänge der illegal produzierten elektronischen Hintergrundmusik durchschnitten die Langeweile, die Dekes Hirn verstopfte und kitzelte sein Rückgrat mit ihren verbotenen rhythmischen Schlägen.

Deke war in Nixon/Fort Worth aufgewachsen und ursprünglich als Stürmer auf dem Rio-Bravo-Wagenzug gewesen. Dann war er bei seinem dritten Einsatz in einen Hinterhalt der Mutanten geraten und hatte eine schwere Beinverletzung davongetragen. Obwohl ihn das automatisch für eine Arbeit in einer Heimatbasis qualifizierte, hatte er sich für eine Umschulung als VidKomTech beworben und zur Bahnbrecher-Zwischenstation Pueblo versetzen lassen. Seine Vorgesetzten hatten seine Bereitwilligkeit, in die Nähe des Einsatzgebietes zurückzukehren, mit großem Wohlwollen unterstützt und ihm zehn Pluspunkte für die nächste vierteljährliche Bewertung gutgeschrieben. Die wiederum hatten einen willkommenen Schub für seine Kreditwürdigkeit gebracht. Die neuen Privilegien, die man mit einer aufgewerteten ID-Karte bekam, waren zwar nicht zu verachten, doch am meisten freute Deke das Wissen, dass er das System hintergangen hatte. Hätten die Sachverständigen den wirklichen Grund für seinen Wunsch erfahren, an die Oberwelt zurückzukehren, wären sie zweifellos weniger großzügig mit ihm verfahren.

Deke war ein heimlicher Wolken-Freak. Er war während seiner ersten Fahrt auf dem Rio-Bravo-Wagenzug süchtig geworden, und seit er in Pueblo lebte, hatte er die Ausrüstung des Wachturms heimlich dazu benutzt, spektakuläre Sonnenauf- und Sonnenuntergänge aufzuzeichnen. Natürlich konnte er so etwas nur tun, wenn er allein war. Obwohl die meisten Wagner sein Tun mit Sicherheit für eine äußerst bizarre Art von Zeitvertreib gehalten hätten, verletzte das Ansehen von Wolken allein noch keine der von der Ersten Familie erlassenen gesetzlichen Vorschriften. Doch das Aufzeichnen unautorisierter Videos war eindeutig verboten.

Deke war sich zwar nicht ganz sicher, ob er ein Verbrechen der ersten oder zweiten Kategorie beging, aber wenn man ihn erwischte, erging es ihm schlecht, da die Videobänder mit einer Hintergrundmusik versehen waren, die sich eines geächteten musikalischen Genres bediente. Musik dieser Art war als Blackjack bekannt. Deswegen brauchte Deke auch einen sicheren Platz für die Lagerung seines Videos, und den fand man in einer Wagnerstation, in der es nur wenige Türen gab – und noch weniger, die man abschließen konnte – ebenso schwer wie überall sonst auch. Die Föderation legte größten Wert auf Gruppenidentität, gemeinsame Aktivitäten und Gemeinschaftsbesitz. Intimsphäre – im normal verstandenen Sinn des Wortes – wurde als unnötig angesehen, und persönlicher Besitz war unwichtig.

Deke war anders als die Mehrheit der Wagner in Pueblo, die in kleinen, dicht gedrängten Gruppen lebten, aßen, vögelten, kämpften, schliefen und begierig auf den nächsten Einsatz an der Oberwelt oder feindliche Überfälle warteten. Die anderen brauchten die Extradosis Adrenalin, die man im Kampf bekam, um sich wirklich lebendig zu fühlen. Zwar hatte auch Deke während seiner Zeit auf dem Wagenzug Vergnügen daran gehabt, aber wirklich high wurde er nur, wenn er sich die sonnenfleckigen Kumulustürme, die dunklen, drohenden Massen von Gewitterwolken oder das fein gesponnene Flechtwerk von Altozirren ansehen konnte, die wie die Schweife von Pferden – Pferde waren eine der vielen ausgestorbenen tierischen Spezies – im Wind flogen. Die vierstündige Einzelschicht im Wachturm war ihm lieb und teuer geworden. Deke mochte das Alleinsein und die Privatheit, selbst wenn der offizielle Wagner-Wortschatz keins dieser Worte enthielt. Das Videoband mit der illegalen Musik gehörte ihm allein und war sein kostbarster Besitz. Eine Horde krakeelender Beulenköpfe war das Letzte, was er während des Dienstes sehen wollte. Ein Alarm füllte den Turm mit Menschen und machte seine Chancen zunichte, seiner Sammlung eine weitere Wolkenformation hinzuzufügen.

Obwohl Deke ein Gesetzesbrecher war, war er ein guter Soldat. Seine Beinverletzung hätte eigentlich zu einer Degradierung führen müssen, aber er trug sein Bahnbrecher-Abzeichen noch immer mit Stolz. Die Mutanten waren der ewige Feind. Nachdem er den ersten Sonnenaufgang gesehen hatte, hatte er einfach das Interesse am Leichenzählen verloren. Dennoch hatte er seine Pflicht an der Waffe getan, und am Ende der zweiten Fahrt hatte man ihn sogar zum Sergeanten befördert – doch von diesem ersten herrlichen Augenblick an hatten für ihn nur noch die Wolken gezählt. Es war wirklich eine fast fatale Besessenheit. Irgendwie wurde Deke den Verdacht nicht los, dass er, wenn er dem Boden mehr Beachtung geschenkt hätte als dem Himmel, seine Schwadron vielleicht nicht in den Hinterhalt geführt hätte, aus dem nur er entkommen war.

Heute hatte es, wie meist, keine außergewöhnlichen Vorkommnisse gegeben. Was Deke anbetraf, so waren dies gute Nachrichten. Schlimm war nur, dass es diesmal wenig zum Anschauen und absolut nichts gegeben hatte, was sich aufzuzeichnen lohnte. Der Himmel auf den Bildschirmreihen vor ihm war deprimierend wolkenfrei. Die fliegenden Drifter, deren bunte, sich stets verändernde Formen seine Fantasie unter Strom setzten, waren über den fernen Horizont gewandert und hatten eine fade und dunstige Leinwand zurückgelassen; eine glatt abgestufte Farbmischung, die auf der rechten Schirmseite als blasses Blauviolett begann und zur linken hin schrittweise zu einem blassen Gelb wurde.

Deke griff über die Rückenlehne seines Sitzes und langte nach der Javatasse, die hinter ihm auf dem Tisch stand. Java war das synthetische Äquivalent eines unter dem Namen Kaffee bekannten Getränks; ein kleines historisches Faktum, das Deke während seiner gelegentlichen Expeditionen in die Videoarchive entdeckt hatte. Als er in den Java blies und einen Probeschluck nahm, sah er aus den Augenwinkeln in der rechten oberen Ecke des von Kamera Eins versorgten Bildschirms einen kurzen Lichtblitz. Die Kamera war mit einer 600-mm-Telelinse ausgerüstet und in den Reihen der Wachturmmannschaft als Zoomer bekannt.

Zwar wusste Deke, dass der nadelspitze Lichtblitz, den er auf dem Schirm gesehen hatte, nur vom Sonnenlicht erzeugt werden konnte, wenn es von den Schwingen eines Föderations-Himmelsfalken abprallte, aber er wunderte sich dennoch darüber, da man ihn nicht angefunkt hatte. Die Wagenzüge, vor denen Luftpatrouillen herflogen, informierten die Zwischenstation immer, wenn eine Möglichkeit bestand, dass eine Maschine in ihr Revier eindrang. Reviere gingen vom Mittelpunkt der Oberweltstation aus und umfassten einen Kreis von fünfzehn Kilometern. Es war nicht nur eine Frage der Freundlichkeit. Wenn die Wachturmmannschaften von einem Überflug in Kenntnis gesetzt wurden, lösten sie die sogenannte Luftrevierverbindung aus und hörten den passenden Funkkanal nach etwaigen Notrufen ab, und indem sie für die Dauer der Patrouille den Himmel überwachten, konnten sie für wertvolle Unterstützung eines jeden eventuell nötigen Such- und Rettungseinsatzes sorgen.

Genau in dem Augenblick, als Deke annahm, er müsse sich irgendetwas eingebildet haben, richtete sich der Zoomer automatisch auf ein kleines, verwischtes bläuliches Objekt. Was es auch war, nun befand es sich innerhalb der Reichweite der Linse. Deke setzte sich an die Tastatur und verlangte eine Maximalauflösung. Er rechnete fest damit, dass der verwaschene Fleck gleich die vertraute Form eines Himmelsfalken annehmen würde, doch zu seiner Überraschung wies das Objekt weder die normale, mit drei Rädern versehene Cockpitschale auf noch das verkleidete Propellertriebwerk und die aufgeblasenen Deltaschwingen mit den farbig codierten Spitzen, die auswiesen, zu welchem Wagenzug es gehörte. Nein … das Ding da mochte zwar ein Flugzeug sein, aber es war nicht in Reagan/Lubbock vom Fließband gerollt. Was er entdeckt hatte, war ein GeBe-Drachen mit einer einzelnen Faltenschwinge, die von einem Gewirr aus Drähten und Verstrebungen zusammengehalten wurde. Der Pilot hing in einem Riemengeschirr unter dem Ding, die Beine gerade ausgestreckt, und der Wind blies um seine Eier. Seine Hände hielten eine große dreieckige Strebe umklammert.

Deke drückte mehrere Knöpfe, um den optischen Entfernungssucher mit dem Zoomer zu synchronisieren, und schaute sich die Messungen an. Entfernung: 4,8 Kilometer. Höhe: 365 Meter. Geschätzte Fluggeschwindigkeit: 25 bis 30 Stundenkilometer. Deke kehrte an die Tastatur zurück und instruierte den Zoomer, auf dem sich nähernden Drachen zu bleiben und ihn im Bildmittelpunkt zu halten. Während er ihn beobachtete, wurde ihm klar, dass der Pilot ihn lenkte, indem er seinen in der Luft hängenden Körper von einer Seite zur anderen schwang und die seitliche Sektion der dreieckigen Strebe drückte oder zog. Der Pilot war noch zu weit entfernt, um deutlichere Einzelzeiten zu erkennen, aber Deke sah nun seinen rotweißen Helm mit dem dunklen Visier. Das Flugzeug selbst war unbewaffnet, aber schließlich konnte man nicht ahnen, was sein Insasse vielleicht im Ärmel hatte.

Deke wusste, dass rotweiße Helme von den Piloten der Louisiana Lady getragen wurden, einem Wagenzug, der eine Versorgungsfahrt nach Pueblo gemacht hatte und später in Wyoming in schwere Kämpfe verwickelt worden war. Außerdem wusste er, dass auch Bahnbrecher-Renegaten – kleine Banden diebischer Räuber, die an der Oberwelt herumstrolchten und nach weggeworfenen Ausrüstungsgegenständen und Lagern suchten – diese Helme trugen: kranke Individuen, die von der tödlichen Strahlung verseucht waren. Deserteure, die ihre Verwandten und Kameraden verlassen, ihren Treueeid auf die Föderation gebrochen und das Vertrauen der Ersten Familie betrogen hatten. Ein Verbrechen erster Kategorie; das größte Verbrechen überhaupt. Es war kaum verwunderlich, dass man diese asozialen Elemente, wenn man sie schnappte, meist ohne Gerichtsverhandlung kurzerhand vor laufenden Fernsehkameras exekutierte.

In der von den Wagnern verwendeten Abkürzungssprache wurden Renegaten als GeBes bezeichnet – abgeleitet von Gesetzesbrecher, womit jedes Individuum gemeint war, das durch seine Handlungen dem Verhaltenscodex widersprach, den die Erste Familie im Föderationshandbuch erlassen hatte.

Über eins war Deke sich im Klaren: Wenn der Pilot wirklich ein Renegat war, musste er verrückt sein, wenn er sich einer Zwischenstation so dicht näherte. Freilich musste man, um überhaupt Renegat zu werden, von vornherein wahnsinnig sein. Doch um das Warum musste Deke sich keinen Kopf machen. Er betätigte mit einer schnellen Bewegung die Auswurftaste, nahm seine Videokassette an sich, verstaute sie wieder unter der untersten Schublade und drückte dann den Knopf, der ein Eindringen ins Revier meldete. Die Taste leuchtete rot unter seinem Finger auf, und fünf Etagen unter ihm im Wachlokal ertönte ein schrilles elektronisches Piepsen.

Kopf und Schultern von Lieutenant Matt Harmer – er war Offizier vom Dienst – tauchten auf dem Visikomschirm auf. »Okay, her mit dem Lagebericht!« Harmer war ein streitsüchtiger Bursche mit fliehendem Kinn. Um die Tatsache auszugleichen, dass er nicht eben wie ein heroischer Typ aussah, hatte er hart gearbeitet, um den Rest seines Körpers und die weniger attraktive Seite seines Charakters zu entwickeln. Er war, mit anderen Worten, ein hagerer, tückischer Schweinehund und Kommisskopf, der mit den Fäusten Nägel in Felsen schlagen konnte.

Deke meldete den sich nähernden unidentifizierten Flieger und überspielte das Zoomerbild auf den Bildschirm im Wachlokal, damit Harmer über eine passende Maßnahme entscheiden konnte.

Harmer musterte den Flieger, dann wandte er sich wieder an Deke. »Sieht so aus, als käme er direkt auf uns zu.«

»Diesen Kurs hält er, seit ich ihn zum ersten Mal gesehen habe«, erwiderte Deke.

»Glauben Sie, er gehört zu irgendeiner Renegatenbande?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung, wozu er sonst gehören könnte. Aber ich weiß noch weniger, warum er direkt auf uns zuhalten sollte, wenn er wirklich ein Renegat ist.«

»Vielleicht hat er sich verflogen.« Der Offizier vom Dienst lachte grob. »Macht nichts. Wenn er erst mal gelandet ist, wird er schnell feststellen, dass er es nicht weit bis zur nächsten Wand hat. Haben Sie seine Zeit gemessen?«

»Ja. Wenn er weiter auf uns zufliegt, ist er in acht bis zehn Minuten hier.«

Harmer wandte sich zur Seite und sprach schnell mit jemandem, den die Kamera nicht aufnahm. »Jake? Wir haben einen einzelnen feindlichen Eindringling. Unidentifiziert – könnte aber ein GeBe sein. Kommt von Nordwesten rein. Aus der Luft. Frag jetzt nicht wie, hör mir bloß zu! Ich möchte die Gruppen Drei und Vier in fünf Minuten startklar auf der Rampe sehen. Du nimmst die Drei und gehst nach Süden. Ich nehme die Vier und gehe nach Norden. Mach dich auf die Socken!« Harmer wirbelte auf dem Absatz herum, legte die rechte Hand auf ein Kontrollbord neben dem Visikomschirm und betätigte den Knopf, der Alarmstufe vier auslöste – den vorletzten Bereitschaftsstatus.

Im Wachturm stieß ein Horn eine Reihe lang gezogener Töne aus. Da Deke als diensthabender VidKomTech bereits auf seinem Posten war, war es nicht erforderlich, dass er irgendwelche Maßnahmen ergriff, aber anderswo hielten sämtliche Wagner mit ihrer Arbeit inne und reagierten auf das überall ertönende Blöken, indem sie durch unterirdische Gänge rannten, um die Geschützstellungen rund um die Zwischenstation und an anderen Schlüsselstellungen ihres Innern einzunehmen.

Harmer schaute zu Dekes Bildschirmgesicht hinauf. »Haben Sie noch was auf Lager, das ich wissen muss?«

»Nur eins – dass Sie vielleicht versuchen sollten, ihn in einem Stück runterzuholen«, schlug Deke vor. »Das Hauptzentrum wird gern wissen wollen, ob er ein irrer Einzelgänger ist oder ob die Knallköpfe jetzt eine eigene Luftwaffe haben. Harte Fakten wie diese könnten unserer Station ein Lob eintragen.«

»Ganz meine Meinung«, sagte Harmer. »Schalten Sie mich auf Kanal fünf, und legen Sie mir Mary-Ann auf den Schirm. Ich melde mich wieder bei Ihnen, wenn ich ein paar lockere Zähne habe. Und verlieren Sie den Burschen bis dahin nicht.«

»Geht klar«, erwiderte Deke.

»Ein paar lockere Zähne« war Bahnbrecherslang für ein Syndrom, das man sich in der Oberwelt holen konnte; ein makabrer Bezug auf die letzten Phasen der Strahlenkrankheit, bei denen einem der Gaumen anschwoll, sich mit Geschwüren bedeckte und fortwährend blutete. Mary-Ann war der Spitzname für Colonel Marie Anderssen, die fünfunddreißigjährige Kommandantin der Zwischenstation.

Die in der Nähe der Prä-Holocaust-Siedlung Pueblo erbaute Zwischenstation, die den Arkansas River überschaute und unter Anderssens Kommando stand, war die nördlichste Oberweltbasis der Föderation und das unterirdische Heim eines tausend Mann starken Pionierbataillons, das je zur Hälfte aus Männern und Frauen bestand. Das Alter des Personals begann bei zwölf Jahren. In ihrer äußeren Form ähnelte die Station einem Eisberg aus Beton: Ein Zehntel der Anlage war über der Erde sichtbar, die restlichen neun lagen sicher unter dem Erdschild. Die frei liegende Sektion bestand aus einem stufenförmigen, achteckigen Bunker. Schießscharten, die sich in kurzen, doch massiven Verstärkungsvorwerken an allen Ecken befanden, sorgten dafür, dass man sämtliche Ein- und Ausgänge mit Sperrfeuer belegen konnte.

In einem Umkreis von rund hundert Metern um die Station befand sich ein Ring aus niedrigen Waffentürmen wie eine Miniatur-Maginot-Linie – mit einem wichtigen Unterschied: Die Geschütze der Verteidigungslinie hatten ein Schussfeld von 360 Grad. Jetzt, wo Harmer den Alarm ausgelöst hatte, wurden die Türme, die fast wie eingegrabene Panzertürme des 20. Jahrhunderts wirkten, von je vier Mann starken Geschützmannschaften besetzt.

Aus dem Bunkerdach erhob sich ein kreisrunder Wachturm. Mit seiner Höhe von fünfundzwanzig und einem Durchmesser von neun Metern sah er wie ein unfertiger, auf einem Felsen stehender Leuchtturm aus, der von einem ihn umgebenden Meer roten Grases bedrängt wurde. Das obere Stockwerk, in dem Deke Haywood saß und auf das Colonel Anderssen gerade ihre Schritte richtete, war als Taktisches Kommandozentrum bekannt. Wie alle externen Gebäude hatte auch der Turm drei Meter dicke, bleiverkleidete Wände. Es gab keine Fenster. Die Außenbeobachtung erfolgte durch ferngesteuerte TV-Kameras, und außerdem gab es Periskope, die man im Falle eines Stromausfalls hochkurbeln konnte. Solche Ereignisse wurden zwar für unwahrscheinlich gehalten und galten als unvorstellbar, aber dennoch hatte man ausgeklügelte Vorsichtsmaßnahmen dagegen ergriffen.

Unterhalb der Bodenebene, wo die Erde und das Muttergestein für einen zusätzlichen Schutz gegen die tödliche Strahlung sorgten, waren die Hauptmauern nur halb so dick, und auf die Bleiummantelung – Blei war stets knapp – hatte man verzichtet. Hier befanden sich, auf fünf Stockwerke verteilt, die Unterkünfte, Messen, Generatorräume, Luftfilter- und Ventilationsanlagen sowie alle anderen Service- und Technikbereiche, die man brauchte, um das Leben im Innern der Zwischenstation aufrechtzuerhalten und ihr eine fortschreitende Expansion zu ermöglichen.

Wie in allen Zwischenstationen und sonstigen Basen der Föderation war das allgemeine technische Niveau auf eigenartige Weise unausgeglichen. Die elektronische Ausrüstung war von sehr hoher Qualität und stand in absolutem Kontrast zur Unterbringung und dem spartanischen, äußerst arbeitsorientierten Lebensstil. Das vorherrschende Bild war das einer geschlechtlich gemischten Einheit der Green Berets, die mit Waffen und Kommunikationsanlagen des späten 20. Jahrhunderts ausgerüstet in die Vergangenheit transportiert worden waren, um in der Ära vor dem amerikanischen Bürgerkrieg in einem Fort an der mexikanischen Grenze Stellung zu beziehen. Mit einem wichtigen Unterschied: Sauren Schweinebauch und schwarze Bohnen hatte man durch eine auf Soja basierende Verpflegung ersetzt.

Die Tür des kleinen Turmlifts glitt auf. Colonel Marie Anderssen trat ins Freie, gefolgt von einem Junioradjutanten und drei VidKomTechs. Deke Haywood beugte sich über den Tisch, hievte sich von seinem Stuhl und unternahm eine deutliche Anstrengung, seinem Rückgrat die Krümmung zu nehmen. Anderssen begegnete seiner Geste mit einem Nicken und begab sich zu ihrem Hochsitz. Glen Wyler – Dekes Ablösung – und die vier anderen Wagner, die zur Besatzung des Taktischen Kommandozentrums gehörten, kamen mit quietschenden Schritten auf gummibesohlten Stiefeln die Treppe herauf, salutierten kurz vor ihrer Vorgesetzten und nahmen ihre Positionen ein.

Anderssen legte ihre gelbe Schirmmütze beiseite, fuhr sich mit beiden Händen durch das ergrauende, wellige Haar und musterte das Bild, das Deke auf ihren Schirm geholt hatte. Das unidentifizierte Flugobjekt bewegte sich noch immer geradewegs auf den Wachturm zu.

»Ist er das?«

»Yes, Ma’am«, erwiderte Deke. »Hab ihn bei 4,8 aufgenommen. Er hat seither keine Kursänderung vorgenommen, verliert aber ständig an Höhe.«

Anderssen wandte sich an ihren Junioradjutanten. »Wer ist heute Offizier vom Dienst? Harmer?«

»Jawohl!«, stieß dieser eifrig hervor. Ein dienstgeiles Kerlchen.

Anderssen wandte sich wieder zu Deke um. »Was ist nach Auslösung des Alarms unternommen worden?«

Deke berichtete von den beiden Schwadronen, mit denen Harmer und der Wachhabende, Stürmer-Sergeant Jake Nolan, an die Oberwelt unterwegs waren.

»Sie werden auf Kanal fünf gerufen.«

Einer der VidKomTechs, der sich um die Nordkameras kümmerte, meldete sich. »Harmer ist gerade die Rampe hoch.«

Deke legte eine seitliche Bildmontage auf Anderssens zweiten Schirm, der zeigte, wie die beiden Schwadronen um die Nord- und Südflanke des Bunkers hervorkamen; sie hatten die Finger auf den Abzügen ihrer dreiläufigen Luftgewehre.

Anderssen setzte ihren Kopfhörer auf und schob den dünnen Mikrofonarm vor den Mund. »Blue One, hier ist Sunray. Was ist Ihr GTV? Ende.«

GTV war die Abkürzung für Geplantes Taktisches Vorgehen – Hauptzentrumskauderwelsch für das, was die Bahnbrecher-Veteranen in der Hitze einer Schlacht meist als »Plan X« bezeichneten.

Harmers Stimme erklang aus den Lautsprechern. »Ich habe die Randgeschütze auf ihn gerichtet. Beide Schwadronen haben ihn im Visier. Er braucht nur zu niesen, dann …«

»He, Matt, zügeln Sie sich ein bisschen«, sagte Anderssen liebenswürdig. »Vielleicht müssen wir ihn zu einem Verhör ins Hauptzentrum schicken.«

»Das dachte ich mir schon, Ma’am. Ich habe vier Himmelshaken fertigmachen lassen. Wenn er weit genug runterkommt, versuchen wir, seine Schwingen zu schnappen, wenn er an uns vorbeikommt. Aber es könnte riskant werden. Das ist der erste fliegende Eindringling.«

»Stimmt«, gab Anderssen zurück. »Deswegen macht es auch nichts, wenn Sie ihn ein bisschen verbeulen. Aber bringen Sie ihn nicht so runter, dass er aussieht wie durch den Fleischwolf gedreht, okay?«

»Blue One, verstanden, Ende«, bestätigte Harmer.

Du dienstgeiler Hundesohn, dachte Anderssen. Irgendeines schönen Tages grille ich deine Eier, und dann werde ich dich häppchenweise damit füttern …

Die von Harmer erwähnten Himmelshaken waren Greifklauen mit Leinen, die man mithilfe von Luftrammen, die wie kleine Infanteriemörser aussahen, siebzig bis achtzig Meter hoch in die Luft schießen konnte. Man hatte sie zwar zum Erklimmen glatter Felswände konstruiert, aber von ein paar Probeschüssen abgesehen waren sie praktisch noch nicht zum Einsatz gekommen. Das, dachte Harmer, könnte der Moment sein. Und wenn es funktioniert, wird es sich für die verdammte grauhaarige Bestie im Wachturm schwierig erweisen, mir eine gute Bewertung für meinen Erfindungsreichtum zu versagen.

Harmer hatte seine beiden Himmelshakenpaare an der Ost- und der Westseite des Zwischenstationsbunkers postiert. Wenn das seltsame Flugzeug auf Kurs blieb, musste es an der einen oder anderen Seite vorbeikommen. Und dann würde er es festnageln. Zwei Himmelshaken, die sieben Meter auseinanderstanden, würden auf das Ding zufliegen, wenn es ankam; sie würden sich über seine Schwingen legen, und wenn es weiterflog und die Leine zu Ende war, bissen die Haken zu. Und dann … Ende Gelände.

Der fliegende Eindringling verlor weiter an Höhe. Er umkreiste die Randverteidigungslinie bei hundertfünfzig Metern, und dann – anscheinend beeindruckt durch die acht sechsläufigen Geschütztürme, die ihn verfolgten – tauchte er auf die Nordwand des Wachturms zu. Als er auf die sich duckenden Stürmer zukam, ging er noch tiefer und gelangte somit in die Reichweite der Haken.

Lieutenant Harmer konnte den Piloten nun deutlich erkennen. Sein Drachen mochte zwar selbst gebastelt sein, aber der Mann war in das rotschwarzbraune Tarndrillich gekleidet, das die Bahnbrecher bei Oberwelteinsätzen trugen – es sah aus wie das, das Harmer und seine Stürmer trugen. Der blau beschwingte Drachen schwenkte Richtung Westseite des Turms. Komm nur näher, Blödmann, dachte Harmer triumphierend, gleich kriegst du was auf den Sack. Er benutzte sein Helmfunkgerät, um die beiden Stürmer zu alarmieren, die die Haken auf dieser Seite des Bunkers bemannt hielten. Sie richteten die schlanken Mörserläufe, in denen die Haken steckten, auf das näher kommende Flugzeug und schossen sie fast gleichzeitig ab. Ein explosives Zischen wurde hörbar, als die Greifklauen in den Himmel hinaufschossen, dann erklang ein wütendes, peitschendes Geräusch, als die Leinen, die neben den Rammen in offenen Behältern lagen, sich mit der Geschwindigkeit zustoßender Kobras entrollten.

Der Eindringling leitete auf der Stelle ein Ausweichmanöver ein. Als die beiden Leinen sich in einem parallelen Kurs nach oben schlängelten, kippte er sein Gefährt auf die rechte Schwingenspitze, flog elegant zwischen ihnen durch und bog in einer engen Schleife um den Wachturm.

Harmer bellte in sein Kinnmikrofon. »Brennan! Powers! Zielt die Leinen kreuzweise über ihn weg! Schnappt ihn, wenn er an eurer Seite vorbeikommt!«

Doch auch diesmal entging der Eindringling den fliegenden Seilen. Er sauste gewandt höher, ließ eine Schwinge sinken, um auf dem Schwanz zu wenden, und flog am engsten Punkt des X einen engen Kreis um die Seile.

Trotz seines Zorns war Harmer beeindruckt. Der Bursche konnte wirklich fliegen – und das auch noch ohne Motor. »Okay, du flinker Schweinehund«, murmelte er zähneknirschend, »bis jetzt hast du es geschafft. Aber der Wind nimmt ab, und die Sonne geht unter. Das heißt, dass es bald nichts mehr gibt, was dich in der Luft hält. Also genieße es, solange du noch kannst, Freundchen, denn ich werde dabei sein, wenn du runterkommst. Und ich schwöre dir, du wirst dich noch vollscheißen, wenn wir dich nach Pueblo zurückbringen.«

Der Eindringling schwebte rund um den Wachturm. Er flog jetzt nur noch dreißig Meter hoch. Harmer sah, dass das dunkle Visier des rotweißen Fliegerhelms hochgeschoben war und ein sonnenbraunes Gesicht enthüllte. Er war allerdings nicht fähig, individuelle Gesichtszüge zu erkennen oder auszumachen, ob das Gesicht aggressive Absichten verkündete. Der Mann, dem das Gesicht gehörte, winkte den Bewaffneten zu, die sich paarweise unter ihm aufhielten, dann zog er etwas aus der Brusttasche und ließ es mit der rechten Hand fallen.

Zwei kleine dunkle Gegenstände, die dicht nebeneinanderschwebten und mit einem flatternden blauen Wimpel versehen waren, fielen vom Himmel und sanken zu Boden.

Harmers Abzugsfinger juckte unerträglich, als der blau beschwingte Drachen lautlos über ihnen dahinflog. Er fluchte lautlos und bellte in sein Helmmikrofon: »Nicht schießen! Nicht schießen!«

Der Eindringling flog über sie hinweg und umkreiste den Turm erneut; sein Gesicht war den auf dem Dach montierten ferngesteuerten Kameras zugewandt.

Im Innern des Taktischen Kommandozentrums schaute sich Colonel Anderssen das Manöver auf den großen Bildschirmen an, die die Wände wie Fenster umgaben. Sie sah, dass der Pilot im Vorbeiflug erneut winkte.

»Sunray an Blue One«, sagte sie in ihr Mikrofon. »Was hat er abgeworfen?«

Harmers Stimme kam durch ihren Kopfhörer und durch die Lautsprecher. »Nolan holt es gerade.«

Eine der kleinen Telefotokameras war bereits auf Nolan gerichtet. Deke Haywood legte das Bild auf Anderssens Schirm.

»Ein flacher Stein, ein Stück Holz und ein Streifen blaues Solarzellengewebe von einem Himmelsfalken«, meldete Nolan. Moment mal … Da ist was eingekratzt … 8902 Brickman, S.R.« Nolan drehte das kleine, primitiv bearbeitete Holzstück um. »Nicht schießen.«

Deke drehte sich zu Anderssen um. »Auf der Louisiana Lady war ein Flieger, der so hieß. Ich habe ihn ein paar Mal gesehen, als sie uns im Frühjahr Material gebracht haben. Ich erinnere mich an ihn, weil meine Wächtermutter auch aus Roosevelt Field kommt, und …« Statt weiterer Erklärungen winkte er ab. »Was ich damit sagen will: Wenn das der Bursche ist, dann ist er verwandt mit dem MP-Marshal von New Mexico.«

Anderssen wusste genug über die Realitäten des Lebens in der Föderation, um zu wissen, dass es unklug war, einen irreparablen Fehler zu machen, wenn es um einen Verwandten eines MP-Marshals ging. Sie sprach in das Schwenkmikrofon vor ihrem Mund. »Sunray an Blue One. Matt, sagen Sie den Leuten, sie sollen die Kanonen wegstecken und ihn reinwinken.«

Als Reaktion auf ihre Zeichen löste der fliegende Eindringling die Beine aus den Riemen seines Rückgeschirrs, schwebte über die Köpfe von Harmers Männern hinweg, vollführte eine enge Wende und landete vor ihnen auf den Beinen. Harmer befahl seinen beiden Schwadronen, die Waffen wieder aufzunehmen. Er hielt sein Gewehr schussbereit, setzte einen grimmigen Gesichtsausdruck auf und rannte im Laufschritt auf das blau beschwingte Flugzeug zu.

Der Flieger hielt es mithilfe des Gestänges aufrecht. Als er die Riemen um seine Brust löste, war er entweder nicht in der Lage, Harmers unheilverkündende Miene hinter der Plexiglasscheibe seines Helmes zu sehen oder er ließ sich einfach nicht davon beeindrucken. Als Harmer sich näherte, grinste er breit und hielt ihm eine Hand entgegen. »Hallo, wie geht’s? Ist das hier Pueblo?«

Harmer blieb einen Schritt vor der ausgestreckten Hand stehen und widerstand dem drängenden Impuls, den Lauf seiner Flinte in das grinsende Gesicht zu dreschen. Er reagierte mit einem schweigenden Nicken.

Der Flieger trat aus dem Drachen, riss einen Arm so schwungvoll hoch in die Luft, dass er ein paar Zentimeter nach oben sprang, und stieß einen lauten Rebellenschrei aus. »Yeee-aaahh! Ich hab’s geschafft!« Dann fragte er: »Welchen Tag haben wir heute?«

»Donnerstag, den 14. November«, erwiderte Harmer, bevor er sich zurückhalten konnte. Genieße ihn, dachte er, es könnte dein letzter sein.

Stürmer-Sergeant Nolan kam näher und baute sich neben Harmer auf. Er war ein grauhaariger Pistensucher – so nannten die Bahnbrecher jene Pioniere, die das Gelände erkundeten und die ersten Grabungen für Zwischenstationen vornahmen. Mit achtunddreißig Jahren war er zehn Jahre älter als der Lieutenant. Er hängte sich das Gewehr zwar über seine Schulter, hielt die Finger jedoch um den Griff seiner Pistole und den Abzug gelegt. In der linken Hand hielt er das kleine, mit einem Stein beschwerte Holzplättchen mit dem blauen Wimpel. Er musterte den Flieger. Sein Tarndrillich war so geflickt und ungeschickt vernäht wie die Schwingen seines Gefährts. »Unser Freund sieht ja recht zufrieden aus …«

»Yeah«, grollte Harmer. »Wahrscheinlich hat er eine matschige Birne.« Er redete über sein Helmfunkgerät mit den Stürmern, die den nun bewegungslosen Drachen umringten. »Okay, schafft das Ding hier weg. Nehmt die Frachtrampe.«

Als der Flieger die Stürmer sah, die nach den zusammengestückelten Drachenschwingen griffen, rief er ihnen zu: »He, Jungs, geht bitte nett damit um, ja? Es könnte sein, dass das Weiße Haus die Kiste gern im Hauptzentrums-Museum ausstellen möchte.«

Harmer packte sein Gewehr so fest, dass er beinahe die Läufe verbog. Er wünschte sich plötzlich, Mary-Anns Befehl, ihrem Besucher keinen Schaden zuzufügen, nicht gefolgt zu sein. »Es ist nicht zu fassen«, sagte er leise zu Nolan. »Der Bursche hat wirklich Nerven, finden Sie nicht auch?«

»Jedenfalls macht er viel Wind«, erwiderte Nolan. Dann wandte er sich an den Flieger, wobei seine Stimme durch den kleinen externen Lautsprecher seines Helms kam. »Okay, Mister, es scheint so, dass wir ein kleines Identitätsproblem haben. Auf Ihrem Knitterfreien steht Fazetti, aber auf dem Stück Holz hier steht Brickman. Wer von den beiden sind Sie?«

Der Flieger nahm den rotweißen Helm ab und nahm Haltung an. »8209 Brickman, Sir! Am 20. April auf die Louisiana Lady versetzt und bei einem Einsatzflug am 12. Juni östlich von Cheyenne abgeschossen. Melde mich zurück!« Jetzt, wo er keinen Helm mehr trug, fiel das wellige goldene Haar des jungen Mannes herunter und legte sich um seinen Hals und seine Schultern.

Lieutenant Harmer stierte die sieben dünnen Zöpfe an, die mit blauem Band zusammengebunden waren – drei über dem einen und vier über dem anderen Ohr –, dann wechselte er mit Nolan einen ungläubigen Blick. Noch nie zuvor in all den Jahren seit Harmer als Dreijähriger seine Uniform angelegt hatte, hatte er einen so unpassenden Anblick erlebt. »Gütiger Columbus! Schauen Sie sich sein Haar an! Er sieht aus wie ein verfluchter Mutant!«

Nolan reichte Harmer das beschwerte Holzstück, nahm sein Gewehr von der Schulter und zielte auf Brickmans Brustkorb. »Okay, Mister, schnallen Sie das Messer ab, das an ihrem Bein hängt, und legen Sie es langsam vor sich auf den Boden.«

Brickman hockte sich auf die Knie und öffnete die Schnallen, die in Schleifen um sein Hosenbein liefen.

Harmer warf einen Blick auf die in das Holz geschnitzten Worte und warf es dem Stürmer zu, der ihm am nächsten stand. »Bringen Sie das zum Colonel, Kotcheff!«

Der Stürmer eilte im Laufschritt zum Bunker. Brickman stand auf und ließ das Messer und die Scheide vor Nolans Füßen auf den Boden fallen. Harmer hielt ihn in Schach, während Nolan es aufhob und den Namen las, der in den Griff graviert war. »Naylors Messer und Fazettis Helm. Was haben Sie auf Ihren Ausflügen sonst noch gefunden?«

»Nichts.«

Nolan schob das Messer in eine Seitentasche seiner Hose und richtete den Gewehrlauf auf Brickman. »Okay, beide Hände hinter den Kopf und die Finger verschränken.«

Brickman hob die Hände, bis sie auf einer Höhe mit seinen Schultern waren, dann zögerte er. »Wollen Sie gar nicht wissen, was mir passiert ist?«

Stürmer-Sergeant Nolan deutete mit dem Gewehrlauf auf den Bunker. »Halten Sie die Schnauze und tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe!«

Jeder in Pueblo hatte gelernt, wie man mit Renegaten verfahren musste: Es war dem Delinquenten nicht gestattet, mit denen zu reden, die sie festnahmen. Sobald die Identität eines Delinquenten festgestellt war, durfte man ihn nur noch mit klaren, eindeutigen Anweisungen ansprechen. Sobald man einen Delinquenten festgenommen hatte, musste man ihn durchsuchen, fesseln, ihm die Augen verbinden und in Einzelhaft verbringen, bis man ihn dem ranghöchsten Offizier der festnehmenden Einheit vorstellen konnte. War es nicht möglich, den Delinquenten auf diese Weise unterzubringen, musste man dafür Sorge tragen, dass er keine Gelegenheit zum Reden erhielt. Mit anderen Worten: Er war zu knebeln. Befolgte der Delinquent die Befehle, die ihm gegeben wurden, nicht auf der Stelle, war er körperlich zu verwarnen. Wurde der Delinquent gewalttätig oder machte er einen Versuch, aus der Haft zu entfliehen, war er mit allen Mitteln zu stoppen – also zu erschießen.

Brickman hob die Hände ein Stück höher. »He, Jungs, hört mal … Ich muss mal was klarstellen. Ich bin kein Reneg …« Er brach ab und wollte sich abwenden, als Harmer sich mit hochgerissener Waffe auf ihn stürzte.

Der harte Griff des Gewehrs krachte genau unter dem Schultermuskel gegen Brickmans rechten Arm und versetzte seinem Nervenzentrum einen lähmenden Schlag. Die Wucht des Hiebes war so kalkuliert, dass er ein Maximum an Schmerz erzeugte, ohne Knochen zu brechen. Dann versetzte ihm Harmer mit aller Kraft einen Schlag mit dem Lauf auf den Schulteransatz – auch dies ein Nervenzentrum. Als Brickman sich unter dem Aufschlag krümmte, schwang Harmer die Schulterstütze seiner Waffe herum, drosch sie ihm in die Nieren und versetzte ihm einen heftigen Tritt gegen das rechte Schienbein.

»Sachte, Lieutenant«, murmelte Nolan. »Der Colonel möchte den Burschen noch verhören.«

Brickman sank langsam auf die Knie und hielt seinen rechten Arm fest. Er holte keuchend Luft, sein Gesicht war vor Schmerzen verzerrt. Nolan bewunderte ihn. Eine Menge andere Burschen hätten inzwischen schon auf allen vieren gelegen. Harmer machte einen Schritt und trat ihm in den Bauch; die Wucht des Aufpralls warf Brickman zur Seite. Er rollte auf den Rücken. Harmer stellte sich breitbeinig über ihn, ließ den Gewehrgriff auf seine ungeschützte Kehle krachen und nagelte seinen Kopf an den Boden. »Okay, Mister,jetzt wollen wir mal was klarstellen: Nullen wie du reden in Pueblo weder Offiziere noch Unteroffiziere mit ›He, Jungs‹ an! Und zweitens kann ich es nicht leiden, wenn fliegende Scheißkerle mit akademischer Bildung meine Jungs wie eine Bande von Arschlöchern dastehen lassen wollen. Und drittens …«, Harmer grub die Schulterstütze noch fester in Brickmans Kehle, »… kann ich Soldaten mit Bändchen im Haar nicht ausstehen. Verstanden?«

»Laut und deutlich, Sir!«, würgte Brickman hervor. Er lag angespannt, doch ohne Widerstand zu leisten da und versuchte, der Schmerzen Herr zu werden, die durch seinen Körper tobten. Seine Augen waren auf Harmer gerichtet.

Harmer kannte diesen Blick; er wusste, was er bedeutete. Er hatte ihn oft genug im Spiegel gesehen. Solche Blicke setzten nur die Hartärsche auf, die nie wussten, wann sie aufhören sollten. Er löste die Schulterstütze von Brickmans Hals und hoffte darauf, dass er etwas sagte. Er wartete inbrünstig darauf, dass er etwas zu hören bekam, was ihm einen Grund gab, diese Fresse zu Klump zu hauen.

Mary-Anns Stimme meldete sich gelassen in seinem Ohr. »Sunray an Blue One. Okay, Matt, Sie haben sich deutlich genug ausgedrückt. Jetzt stellen Sie ihn wieder hin und bringen ihn rein! Und achten Sie darauf, dass er auf der Rampe nicht ausrutscht.«

Das erste Verhör mit dem fliegenden Eindringling wurde in Mary-Anns unterirdischem Büro abgehalten, einem spärlich möblierten Raum in einer Sektion, die als Zentral-HQ bekannt war. Colonel Marie Anderssen saß hinter ihrem Schreibtisch, und neben ihr standen zwei Kampfoffiziere, Major Roscoe und Major Hiller. Das Stück Holz, das Brickmans Namen trug, lag mitsamt dem Stein und dem blauen Wimpel vor ihr, außerdem das Standard-Kampfmesser, das Brickman bei sich gehabt hatte. Daneben lag der rote Pilotenhelm mit dem hellen weißen Blitz auf beiden Seiten. Auf der Vorderseite, über dem geschlossenen dunkelbronzenen Plexiglasvisier, stand der Name FAZETTI, darüber befand sich das rotblauweiße Sternenbanner, das Zeichen der Föderation. Auf ihrem Schreibtisch gab es keine Unterlage, keinen Notizblock und keine Dokumentenablage. Wagner schrieben nicht auf Papier. Sie tippten auf Tastaturen und lasen von Monitoren. Auf der linken Seite von Anderssens Schreibtisch standen ihr persönlicher Monitor und ihre Tastatur; das unerlässliche Verbindungsglied zum Rest der Pueblo-Zwischenstation und dem Hauptzentrum.

Anderssen drückte einen Knopf, der sie mit dem Adjutanten im Vorzimmer verband. »Okay, schafft ihn rein!«

Lieutenant Harmer und Stürmer-Sergeant Nolan traten ein, salutierten und blieben rechts und links von der Tür stehen, als Brickman, von nur zwei Stürmern eskortiert, hereinkam. Die Fesseln an seinen Handgelenken waren mit Ketten verbunden, die unterhalb seiner Knie an eisernen Schellen endeten. Die Ketten waren zwar lang genug, um es dem Gefangenen zu erlauben, die Arme nach unten hängen zu lassen, wenn er stand, und er konnte, wenn er saß, auch essen oder sich den Hintern abwischen, doch die Kette, die die Handschellen verband, verhinderte, dass er stiften ging. Sein Kopf war von einer schwarzen Haube verhüllt, die mit einem Band eng um seinen Hals verknotet war.

Nolans Stimme schallte durch den Raum. »Delinquent und Eskorte – HALT!« Die Männer knallten die Hacken zusammen. »Eskorte – kehrt Marsch!«

Anderssen nickte, als die beiden Stürmer salutierten, sich auf dem Absatz herumdrehten und aus dem Raum marschierten. Nolan nahm dem Gefangenen die Haube ab, trat wieder zurück und knallte erneut die Hacken zusammen.

»Stehen Sie bequem, meine Herren«, sagte Anderssen. »Sie auch, Brickman.«

Brickman blinzelte in das helle Licht und schnappte nach Luft. Anderssen studierte den jungen Mann eingehend. Wie Harmer war auch sie der Meinung, dass sein langes Haar schwer zu schlucken war. In der Föderation passten Frisuren zur allgemeinen militärischen Atmosphäre: Bürstenhaarschnitte oder kurz geschnittene Bubiköpfe waren die einzigen erlaubten Stile. Nur Mutanten trugen das Haar schulterlang – und GeBes. Aber das war etwas, das der Basenfriseur in fünfzehn Minuten beheben konnte. Anderssen vergaß Brickmans Haar und bemerkte beifällig sein stark gebräuntes, ansehnliches Gesicht mit den kräftigen, langen Kiefern, seine klaren blauen Augen, seine breiten Schultern und seinen schlanken Leib. Er war genau der Mann, mit dem sie sich in den wenigen Freistunden, die sie sich erlaubte, in die Koje geschlagen hätte. Aber er war eindeutig Sperrgebiet. Macht nichts. Es gab auch noch ein paar andere seiner Art in Pueblo; beinharte Ficker, die genau wussten, auf welches Knöpfchen sie drücken mussten. Zwar sahen nicht alle so gut aus wie dieser Junge, aber gut genug, um ihm bei dämmrigem Licht ähnlich zu sein.

Anderssen befingerte das Stück Holz, auf das Brickman seinen Namen gekratzt hatte, dann schaute sie ihn an und nickte zum Video-Monitor hinüber. »Wir haben mit der Lady Verbindung aufgenommen. Man hat uns bestätigt, dass ein 8902 Brickman, S.R., in Nixon/Fort Worth an dem von Ihnen benannten Tag auf den Wagenzug abkommandiert wurde. Der gleiche Pilot wurde außerdem am 12. Juli nach einer bewaffneten Auseinandersetzung mit einer starken Gruppe von Präriemutanten nordöstlich von Cheyenne als im Einsatz gefallen gemeldet. Naylor und Fazetti, zwei Piloten derselben Einheit, wurden an diesem Tag ebenfalls als gefallen gemeldet.«

Anderssen gab über ihre Tastatur eine dreistellige Zahl ein. Deke Haywoods Gesicht erschien auf dem Bildschirm. »Deke, haben Sie das Hauptzentrum schon erreicht?«

»Nein, Ma’am. Wir haben noch immer Probleme mit der Verbindung. Ich habe das Signal über Roosevelt/Santa-Fé umleiten müssen.«

»Okay. Melden Sie sich, sobald die Stimm- und Handabdruckdaten reinkommen.« Anderssen schaltete den Bildschirm ab und schaute zu Brickman auf. »Bis dahin nehmen wir einfach mal an, dass Sie der sind, der Sie zu sein behaupten.« Sie sah an ihm vorbei auf Lieutenant Harmer. »Hat die Leibesvisitation irgendetwas ergeben?«

»Nein, Ma’am. Alles, was er bei sich hatte, liegt auf dem Tisch.«

Anderssen sah Brickman in die Augen. Ihr fiel der aufgeweckte, intelligente Blick auf, der sie traf. Der Mann war direkt und wich nicht aus. »Keine ID-Karte?«

»Nein, Ma’am.« Brickman breitete entschuldigend die Arme aus, soweit die Ketten es erlaubten. »Außer den Kleidern, die ich trage, habe ich alles verloren.«

Anderssen warf einen Blick auf den Monitor, wo nun die Einzelheiten zu lesen waren, die der Wagenzug übermittelt hatte. »Sie sind am 12. Juni abgeschossen worden …«, sagte sie nachdenklich. »Jetzt haben wir den 14. November. Wo sind Sie gewesen, und was haben Sie in den vergangenen fünf Monaten gemacht?«

Das war die Frage, vor der Brickman sich fürchtete, seit er auf dem Flug nach Süden über die Höhen gerauscht war. Er hatte über sie nachgedacht, als er auf das Ende eines Gewitters oder auf vorteilhafte Winde gewartet hatte. Selbst wenn er auf den Bergeshöhen in prekären Situationen gewesen war, hatte er lange und ausgiebig über diesen Moment nachgesonnen und sich genauestens zurechtgelegt, was er sagen und wie viel er enthüllen würde.

Er wusste, dass seine Antwort eine große Menge weiterer Fragen aufwerfen musste; Fragen, die – je nachdem, wie seine Antworten ausfielen – sein Verhör zu einer Angelegenheit machen konnten, bei der es um Leben und Tod ging. Die ganze Wahrheit konnte er nicht erzählen, weil viele Menschen, die in hohen Positionen waren, seine Geschichte nicht nur als unglaublich, sondern auch als völlig unmöglich einstufen würden. Was ihm passiert war, was er gesehen hatte, was er als Wahrheit kannte, stand völlig im Widerspruch zu allem, was man ihn als Kind der Föderation gelehrt hatte. Was er entdeckt hatte, stellte sogar die Weisheit der Ersten Familie infrage.

Anderssen runzelte die Stirn. »Haben Sie meine Frage verstanden?«

»Äh, ja, Ma’am.« Brickman holte tief Luft und stürzte sich ins kalte Wasser. »Die Mutanten haben mich gefangen genommen. Präriebewohner. Der M’Call-Clan.«

Colonel Anderssen wechselte einen Blick mit den beiden Bataillonsoffizieren und wandte sich dann an Lieutenant Harmer und Stürmer-Sergeant Nolan. Die beiden sahen nicht weniger überrascht aus. »Matt, Jake …«

Harmer und Nolan standen stramm.

»Sie haben die Antwort des Delinquenten auf meine Frage nicht gehört. Ist das klar?«

»Jawoll, Ma’am!«, schmetterten die beiden im Chor.

»Okay, dann warten Sie draußen. Wenn wir Probleme haben, rufe ich Sie.«

Harmer und Nolan salutierten und gingen hinaus. Harmer knallte die Tür zwar nicht zu, aber er schloss sie sehr fest, um seine Verärgerung darüber auszudrücken, dass er gerade dann nach draußen geschickt wurde, wenn die Dinge interessant wurden.

Anderssen hatte ihre Gründe dafür. Wenn das, was Brickman gesagt hatte, der Wahrheit entsprach, war es besser, wenn so wenige Menschen wie möglich davon erfuhren. Sie strich mit der Hand über den Wimpel aus blauem Solarzellengewebe, glättete ihn auf der Schreibtischoberfläche und schaute dann wieder zu Brickman auf. »Die Mutanten machen keine Gefangenen.«

»Neuerdings doch«, erwiderte Brickman.

Anderssen wandte sich an Major Hiller. »Jerri, bringen Sie dem jungen Mann einen Stuhl. Und setzt euch auch hin. Ach ja …« Sie reichte Major Roscoe den rotweißen Helm. »Leg diesen Schrott woanders hin.«

Roscoe räumte den Schreibtisch ab und legte die Gegenstände in ein Regal.

Anderssen sah Brickman mit geneigtem Kopf an. »Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf die beiden gerahmten Einheitsbelobigungen richten, die hinter mir an der Wand hängen. Das Bataillon wurde ausgezeichnet, weil wir uns hier in Pueblo nach den Vorschriften richten. Das bedeutet, dass wir Sie, bis Ihre Geschichte geprüft worden ist, als mutmaßlichen GeBe einstufen, was Sie den Bedingungen und Restriktionen unterwirft, die das Handbuch vorschreibt. Mit anderen Worten: Sie werden in Ketten bleiben, in Einzelhaft sitzen und die Haube tragen, sobald man Sie aus der Zelle holt. Der Lieutenant des Empfangskomitees ist zwar ein guter Mann, aber er neigt zu Übereifer. Wahrscheinlich hat ihm irgendetwas nicht behagt, was Sie gesagt haben. Ich lasse zwar keine ungerechtfertigten Misshandlungen zu, aber Sie sollten wissen, dass ich und meine Offizierskollegen Gesetzesbrecher auch nicht gerade mögen. Wenn sich herausstellt, dass Sie ein GeBe sind, werden Sie an die Wand gestellt, entweder hier oder im Hauptzentrum. Wenn es hier dazu kommt, gebe ich persönlich den Feuerbefehl. Haben Sie verstanden?«

»Laut und deutlich, Ma’am!«

»Okay. Setzen Sie sich.« Anderssens Gesicht wurde etwas sanfter. »Sie sehen aus, als hätten Sie eine anstrengende Reise hinter sich.«

»Es war die Sache wert, Ma’am.« Brickman nahm Platz, hielt den Rücken gerade und hob den Kopf wie ein Erstsemester bei der Einweisung in die Flugakademie.

Interessant, dachte Anderssen. Er zeigt zwar die übliche disziplinierte Reaktion auf einen Vorgesetzten, aber ihm fehlt eindeutig die Subordination. Typisch für einen Piloten aus NewMex. Aber da war noch etwas anderes, was den jungen Mann von anderen unterschied. Er war eindeutig ein Gewinnertyp. Und auch das war noch nicht alles. Es fiel Anderssen schwer, es zu definieren, aber hätte man sie unter Druck gesetzt, hätte sie gesagt, dass Brickman eine subtile Aura natürlicher Überlegenheit ausstrahlte – eine latente, unaufhaltbare Kraft. Eine Kraft von der Art, die einen Mann geradewegs an die Spitze bringen konnte.

Das Licht an ihrem Monitor blitzte auf, als Deke Haywood auf dem Schirm erschien. »Brickmans ID-Daten sind gerade aus dem Hauptzentrum eingetroffen. Ich habe sie auf den Konverter gelegt. Wir können ab sofort eine Stimm- und Handabdrucküberprüfung laufen lassen.«

Anderssen drückte den Knopf, der ihr Bild vor Deke auf den Schirm brachte. »Okay, ich melde mich deswegen noch.«

»Da ist noch etwas, Ma’am. Seine Akte enthält einen Eintrag Ebene Neun.«

Anderssen schnappte nach Luft. »Okay, geben Sie durch.«

Die Informationen, die über das von COLUMBUS kontrollierte Bildschirmnetz kamen, waren in verschiedene Vertraulichkeitsstufen eingeteilt. Die Zugriffsebene wurde von den magnetisch codierten ID-Karten kontrolliert, die jeder Wagner bei sich hatte. Mit jeder Beförderung oder wenn ein Individuum besondere Privilegien erhielt oder einen Posten mit besonderer Verpflichtung einnahm, wurde auch die Karte aufgewertet. Als kommandierender Colonel einer wichtigen Zwischenstation hatte Anderssen Zugriff auf Ebene Neun.

Deke überspielte einen Teil der übermittelten Brickman-Akte, die via Roosevelt/Santa Fé von dem gigantischen, alleswissenden Computer COLUMBUS gekommen waren, der als zentrales Nervensystem und Hirn der Föderation fungierte.

Anderssen zog eine Abschirmung aus dem Monitorgehäuse und blockierte so die Einsicht der beiden Bataillonsoffiziere, die rechts und links neben dem Tisch saßen. Dann zückte sie ihre ID-Karte, schob sie in den dafür vorgesehenen Schlitz und sagte in das Gerät: »5824 Anderssen. Information auf den Bildschirm, bitte.«

Eine kurze Pause trat ein, als das System ihre Stimme mit der in ihren Unterlagen verglich, dann erschien auf dem Bildschirm eine neue Information.

Sie bestand aus zwei Buchstaben, einer vierstelligen digitalen Zahl und zwei weiteren Buchstaben: SB-3552-RE. Das war zwar kurz, aber klar. SB stand für Selektive Behandlung; RE für Rückfrage an Exekutive; die Zahl bedeutete lediglich Brickmans Position auf der SB-Liste.

Anderssen betätigte den Knopf, der ihre ID-Karte freigab, und die SB-Codierung verschwand wieder vom Bildschirm. Sie steckte die Karte in ihre Schutzhülle und schob die Monitorabschirmung in das Gehäuse zurück. Noch mal davongekommen! Ein Glück, dass der gute alte Deke den Ebene-Neun-Eintrag entdeckt hatte, bevor sie Brickman näher auf die Pelle gerückt war. Eine RE-Einstufung bedeutete nämlich, dass man ohne Rückfrage im Weißen Haus in Houston/HZ keine administrative Handlung über den Verdächtigen verhängen durfte.

Die Erste Familie hatte mit Steven Roosevelt Brickman etwas Besonderes vor.

2

COLUMBUS war darauf programmiert, das Weiße Haus in jedem Fall zu alarmieren, wenn eine Anfrage nach persönlichen RE-Unterlagen einging. Als er Pueblo die Daten zugänglich machte, meldete der Computer die Anfrage gleichzeitig der Zentralen Aktenkontrolle – einer Einheit, die der direkten Aufsicht von Mitgliedern der Ersten Familie unterstand. Die Zentrale Aktenkontrolle belegte zwanzig Etagen, von denen jede die Ausdehnung eines Fußballplatzes hatte, und enthielt zahllose, rund um die Uhr bemannte Reihen von Monitoren und Tastaturen. Die Ankündigung eines versuchten Zugriffs auf Restriktionen unterliegenden Akten blitzte auf dem Schirm eines in der Abteilung beschäftigten Operators auf, der sich exklusiv mit der SB-Liste beschäftigte.

Das Weiße Haus bestätigte schnell sein noch immer bestehendes Interesse an 8902 Brickman, S.R. Der Überspielung seiner Stimmdaten folgte ein als »Persönlich« eingestuftes Videogramm an Colonel Anderssen. Brickman sollte nicht – Wiederholung: nicht – verhört werden. Es war niemandem aus seiner Heimatbasis erlaubt, in seine Nähe zu gelangen oder von seiner Anwesenheit zu erfahren. Abgesehen von kürzesten Befehlen oder Instruktionen durfte niemand mit ihm reden. Nachdem man ihn positiv identifiziert hatte, sollte er vom Stationsarzt untersucht werden, der einen allgemeinen Bericht über seinen Gesundheitszustand abzuliefern hatte. Dann sollte er in Einzelhaft gehalten werden, bis die Vorbereitungen getroffen waren, ihn zu verlegen. Bis zu diesem Zeitpunkt sollte er als mutmaßlicher Gesetzesbrecher behandelt werden – mit einer Ausnahme: Er sollte unter keinen Umständen körperlich verwarnt werden. Um einen Begriff aus der Vorkriegszeit zu verwenden: Brickman war eindeutig eine heiße Kartoffel – ein Gemüse, das in der Föderation seit tausend Jahren niemand mehr gegessen hatte.

Anderssen war zwar kein nervöser Charakter, aber sie wusste, dass sie erst wieder Ruhe haben würde, wenn sie Brickman abgeliefert hatte. Sie hatte richtig gehandelt, als sie Harmer und Nolan bei der ersten Erwähnung seiner Gefangennahme durch die Mutanten hinausgeschickt hatte. Wenn sich die Nachricht herumsprach, konnte sie eine gegenteilige Wirkung auf die Moral der Kampfeinheiten haben. Sie nahm an, dass es nur natürlich war, dass das Hauptzentrum zunächst alle Implikationen analysieren wollte, aber, verdammt noch mal, sie war schließlich die Kommandantin einer direkt an der Front liegenden Zwischenstation! Wollte man ihr etwa Wissen über das vorenthalten, was dort draußen vor sich ging?

Anderssen ging in ihrem Privatquartier herum und versuchte, ihren Frust zu unterdrücken. Jetzt wunderte es sie nicht mehr, dass Harmer die Tür zugeschlagen hatte. Sie wusste, wie er sich fühlte. Sie drehte sich um und schlug mit beiden Fäusten auf den langen Tisch, an dem sie gelegentlich mit ihren Offizierskollegen tafelte. Es half ihr, um äußerlich einen gelassenen Eindruck zu erwecken. Alles zu seiner Zeit, sagte sie sich. Das Hauptzentrum würde die Fakten bewerten, und dann würde der Außendienst eine Meldung an alle interessierten Parteien schicken. Die Tatsache, dass Brickman behauptete, man hätte ihn vor seiner Flucht fast fünf Monate gefangen gehalten, würde daran nichts ändern. Es hatte auch die Mutantenbanden nicht daran gehindert, im Sommer die Arbeitsgruppen rund um Pueblo anzugreifen und niederzumachen. Und es würde auch die Bahnbrecher nicht davon abhalten, weiterhin Mutanten umzubringen.

Brickmans Talent, aus ausgeschlachteten Flugzeugteilen einen Drachen zu bauen, war zwar bemerkenswert, aber wenn er ihn, wie Marie Anderssen mutmaßte, vor den Augen seiner Häscher gebaut hatte, bedeutete dies, dass die Präriebewohner hier noch dümmer waren als ihre Brüder im Süden – die verstreuten Überreste jener Völker, die man zusammengetrieben und in Arbeitslager gebracht hatte. Dies war die vorletzte Phase des Befriedungsprogramms für die Oberwelt. Die letzte Phase – ihre Ausrottung – würde einsetzen, wenn die Luft kein Mutantengift mehr enthielt und man sie für die Oberflächenarbeiten nicht mehr benötigte.

Anderssen kannte die Worte der Vierten Inspiration auswendig. Es war ein Videofilm, der ihr in Momenten des Zweifels oftmals Stärkung gab; in den Augenblicken der zwielichtigen Düsternis, wenn sie allein in ihrer Koje lag und sich fragte …

Sie schüttelte den Kopf, verdrängte die Erinnerungen, wandte sich dem großen Bild des General-Präsidenten zu, das an der Wand ihr gegenüber hing, und ließ die Botschaft Echos in ihrem Geist werfen. Ja! Der Tag würde wirklich kommen, an dem die Bunker der Zwischenstationen sich leerten und jedermann in der Föderation aus den Basen im Innern des Erdschildes trat, um das wieder in Besitz zu nehmen, was ihnen zustand: die Blauhimmelwelt, die die Mutanten ihnen gestohlen hatten.

Dieses Versprechen hatte die Erste Familie bei der Gründung der Amtrak-Föderation abgegeben. Viele Wagner-Generationen hatten pausenlos hart gearbeitet und geschwitzt, um dabei zu helfen, dass dieser Traum wahr wurde. Sie hatten auf den Oberweltexpeditionen ihr Leben dafür gegeben. Und ihre Anstrengungen waren nicht umsonst gewesen. Der Traum, der jene inspiriert hatte, die vor ihnen gestorben waren, lag nun in greifbarer Nähe. Die Kinder der Kinder, die die Wächtermütter ihrer Generation geboren hatten, würden unter freiem Himmel leben. Sie würden den Sonnenaufgang und das Monddunkel sehen und Regen auf ihren Gesichtern fühlen. Sie würden nicht nur sehen, wie er gegen ihre Visiere klatschte, oder hören, wie er auf ihre Helme trommelte. Sie würden die Oberwelt reinigen; sie würden den letzten Mutanten vom Angesicht der Erde fegen und dann das Neue Amerika aufbauen.

Es war mehr als ein Traum. Es konnte Wirklichkeit werden. Aber erst dann, wenn die Masse der Wagner, die unter dem Erdschild lebten, in der Lage war, ihre Angst vor freien, offenen Räumen zu überwinden. Aber keine Sorge. Auch daran arbeitete die Erste Familie. Die Amtrak-Föderation hatte einen weiten Weg hinter sich gebracht, seit George Washington Jefferson der Erste, ihr Gründervater, die gläubigen Vierhundert um sich gesammelt und durch die Lange Nacht geführt hatte – die traumatischen Nachwehen des Holocaust.

Am Anfang hatte die Föderation nur aus ein paar in der Erde verstreuten Löchern am südlichen Rand eines Landes bestanden, das man einst Vereinigte Staaten von Amerika genannt hatte. Die unaufhaltbaren Mutantenhorden hatten dieses Land bis auf die Grundmauern niedergebrannt und verwüstet – deformierte, halbidiotische Mutierte, die in einer Zerstörungsorgie ohnegleichen eine giftige radioaktive Wolke losgelassen hatten, die Millionen guter alter Jungs – so der liebevolle Spitzname für die Ahnen der Wagner – getötet und die Handvoll Überlebenden zum Rückzug unter den Erdschild gezwungen hatten.

Tief unter der Erde hatte man sich erholt – in einer unterirdischen Basis unter der verwüsteten Stadt Houston, die man konstruiert hatte, um COLUMBUS unterzubringen und mit Energie zu versorgen. George Washington Jefferson der Erste, der erste General-Präsident, hatte die Basis in Hauptzentrum umbenannt und sie zum ständigen Heim der Ersten Familie gemacht. Obwohl heute keiner der Vorkriegsstaaten mehr als legale, soziale oder wirtschaftliche Körperschaft existierte, hatte man ihre historischen Grenzen und Namen beibehalten. Texas, der Kern der Föderation, war nun unter der Bezeichnung Innenstaat bekannt. Im Lauf der Zeit war das Untergrundreich expandiert und hatte Basen in Oklahoma, Arkansas, New Mexico, Louisiana, Mississippi und Arizona errichtet, die als Äußere Staaten bezeichnet wurden. Kansas und Colorado, die neuesten Mitglieder, waren in den Jahren 2886 und 2954 – dem Jahr, in dem Anderssen zur Welt gekommen war – zu Neuen Territorien geworden. Neue Territorien waren Staaten, die noch nicht der Föderationsherrschaft unterlagen. Im Erdschild unter Wichita existierte eine kleine, doch wachsende Wagner-Basis, die irgendwann eine komplette Division aufnehmen würde; in Colorado gab es nur die Zwischenstation Pueblo, die von Anderssens Pionierbataillon bemannt wurde. Zwar hätte die Föderation ganz Colorado beanspruchen können, aber aus praktischen Gründen war Pueblo, das im südlichen Viertel des Staates lag, die Grenzmarkierung und die Nordgrenze des Oberweltlehens der Föderation. Dahinter lagen die Mutantengebiete oder, wie die Eingeborenen es nannten, das Land des Prärievolkes.

Das Unangenehme war, dass die Mutanten keine Grenzen anerkannten. Für eine Spezies, von der man annahm, dass sie unter dem Menschen stand, waren sie listig und hartnäckig und hegten unerschütterlich die Vorstellung, dass die Oberwelt ihnen gehörte. Aus diesem Grund kehrten sie ständig zurück und wurden umgebracht. Anderssen nahm an, dass es an dem Hirnschaden lag, den sie von ihren Vorfahren geerbt hatten. Sie waren zu dumm zum Lernen. Aber so dumm, dachte sie, sind sie auch wieder nicht. Das Unvermögen der Mutanten, sich Dinge zu merken, war zwar ein Bestandteil der langen Liste der Schwächen, die man ihr seit der Grundschule eingebläut hatte, aber trotzdem gelang es diesem Abschaum immer wieder, Erfolge zu erzielen: Gruppen von Beulenköpfen infiltrierten die befriedeten Gebiete der Äußeren Staaten und überfielen an der Oberwelt tätige Arbeitsgruppen, Versorgungszüge und Wachtposten der Werke und Fabriken. Das Netz der Zwischenstationen, die an strategisch wichtigen Stellen angelegt worden waren, war dazu bestimmt, diese Raubzüge zu verhindern.

In den Jahrhunderten nach dem Holocaust hatten die Mutanten sich als völlig immun gegen die Strahlung erwiesen, die die Oberwelt einhüllte. Tatsächlich schien die Strahlung sie sogar zu stärken, wie die jährlich steigenden Zahlen derjenigen bewiesen, die von den Bahnbrecher-Expeditionen zur Strecke gebracht wurden. Die Mutanten lebten im Durchschnitt doppelt so lange wie die Wagner, und ihre Anzahl war angeblich fünfzigmal größer. Bei der letzten Volkszählung im Jahr 2985 hatte die Wagnerbevölkerung knapp unter 450.000 gelegen – was, falls die Daten des Außendienstes stimmten, bedeutete, dass im ganzen Land über zweiundzwanzig Millionen Mutanten lebten!

Anderssen konnte es persönlich kaum glauben. Zwar stand sie bestimmten attraktiven Aspekten der Oberwelt nicht unempfänglich gegenüber, doch im Allgemeinen war sie ein riesiger, leerer, abstoßender Ort. Anderssen war zwar in den vergangenen Jahren sehr oft draußen gewesen, aber sie hatte nie mehr als fünf- oder sechshundert Mutanten auf einem Haufen gesehen. Jemand aus ihrem Stab hatte einen guten Namen für die Oberwelt gefunden: die Große Leere. Denn leer war die Oberwelt. Das war ihr erster Eindruck gewesen, und daran hatte sich bis heute nichts geändert. Ein schweigendes Land, in dem Gefahren lauerten, die stets darauf aus waren, den Unvorsichtigen in die Falle zu locken; ein schlafendes Land, das seit Jahrhunderten geduldig darauf wartete, dass seine rechtmäßigen Besitzer zurückkehrten. Wenn es dort draußen zweiundzwanzig Millionen Mutanten gab, hätte man an sich keine zehn Meter gehen können, ohne über einen zu stolpern.