Wolkenkrieger - Die Amtrak-Kriege 1 - Patrick A. Tilley - E-Book
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Wolkenkrieger - Die Amtrak-Kriege 1 E-Book

Patrick A. Tilley

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Beschreibung

Vor Tausenden von Jahren endete das Leben auf der Erde, wie wir es kennen, in einem gewaltigen Atomkrieg. Nun ist die Menschheit in zwei verfeindete Parteien geteilt: Die Amtrak-Föderation ist eine hochtechnisierte, hochzivilisierte Kultur, die in unterirdischen Metropolen lebt – geschützt vor der tödlichen Strahlung. Und dann gibt es da noch die sogenannten »Stummen« – jene, die sich an die lebensfeindlichen Umweltbedingungen an der Erdoberfläche angepasst haben und die in den Augen der Amtraks keine Menschen mehr sind. So denkt auch der junge Pilot Steve Brickman, der bei seinem ersten Einsatz an der Oberfläche von den »Stummen« entführt wird ...

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Das Buch

Amerika, tausend Jahre nach der atomaren Apokalypse. Das, was von der Menschheit übriggeblieben ist, hat sich in zwei Parteien aufgespalten: Die Amtrak-Föderation ist eine hochtechnisierte Kultur, die in unterirdischen Metropolen geschützt vor der tödlichen Strahlung lebt. Ihre straff organisierte Gesellschaft lässt weder Gefühle noch eigenständiges Denken zu, und sie kennen nur ein Ziel: die Oberwelt zurückzuerobern. Dort leben die Mutanten, die sich an die widrigen Bedingungen angepasst haben. Manche von ihnen sind entstellt, andere paranormal begabt. In den Augen des jungen Piloten Steve Brickman sind sie alle keine Menschen mehr. Als er bei seinem ersten Einsatz abgeschossen und von Mutanten entführt wird, rechnet er mit dem Schlimmsten. Doch nicht alles, was man ihm in der Amtrak-Föderation beigebracht hat, erweist sich als die Wahrheit …

Die Amtrak-Kriege:

Wolkenkrieger

Erste Familie

Eisenmeister

Der Autor

Patrick A. Tilley, 1928 in Essex geboren, studierte am King’s College der University of Durham Kunst und arbeitete nach seinem Abschluss 1955 als Grafikdesigner in London. 1968 gab er diese Laufbahn auf, um sich dem Schreiben zu widmen. Er begann mit dem Verfassen von Drehbüchern für Filme und TV-Serien und zog in die USA. 1975 erschien sein erster Roman Fade-Out, 1981 folgte Mission, der schnell Kultstatus erlangte. »Die Amtrak-Kriege«, deren erster Band Wolkenkrieger 1983 erschien, ist seine erfolgreichste Science-Fiction-Romanserie.

Mehr über Patrick Tilley und seine Romane erfahren Sie auf:

PATRICK TILLEY

DIE

AMTRAK

KRIEGE

WOLKENKRIEGER

Roman

Aus dem Amerikanischen übersetzt

von Ronald M. Hahn

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

THE AMTRAK WARS – BOOK 1: CLOUDWARRIOR

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Taschenbuchausgabe 10/2019

Copyright ©1985 by Patrick Tilley

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe

und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,

unter Verwendung eines Motivs von

Shutterstock/Tithi Luadthong

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-25040-9V001

www.diezukunft.de

Für Nick Austin,

der das alles überhaupt erst ermöglicht hat.

Dieses Buch ist für dich.

1

Cadillac saß neben Mr. Snow auf dem Boden und hörte dem weißhaarigen, bärtigen Alten mit halb geschlossenen Augen zu, als er den nackten Kindern des Clans die Geschichte vom Krieg der Tausend Sonnen erzählte.

Cadillac kannte die Geschichte auswendig. Er hörte sie nun zum hundertundachten Mal. Sie war auch den sechzig kleinen Kindern der Ansiedlung nicht neu, die im Halbkreis um sie herum hockten. Doch es machte ihnen nichts aus. Die Kinder saßen noch ebenso gebannt da wie beim ersten Mal und lauschten jedem Wort. Die meisten von ihnen wussten nicht mehr, dass Mr. Snow die Geschichte schon einmal erzählt hatte. Und ebenso wenig wussten sie, dass sie das meiste vergaßen, was ihnen erzählt wurde; sie behielten selten etwas für längere Zeit – und das würde sich auch nie ändern.

Cadillac hingegen vergaß nichts.

Cadillac behielt alles. Er vergaß nichts, was er je gesehen oder gehört hatte. Er erinnerte sich an die geringsten Details. Aus diesem Grund hatte Mr. Snow ihn auch auserwählt, alles zu lernen, was das Prärievolk seit Anbeginn der Neuen Zeit erlebt hatte. Wenn Mr. Snow sie verließ, um zum Himmlischen Grund zu gehen, würde Cadillac seinen Platz als Clan-Erzähler einnehmen. Und dann war es seine Aufgabe, ein Kleinkind zu finden, das fähig war, sich die vielfältigen Ereignisse einzuprägen, aus denen die neun Jahrhunderte umspannende Geschichte des Prärievolkes bestand.

Vor ihrer Geschichte hatte es eine nicht in Zahlen erfasste Zeitspanne gegeben, die selbst über das Erinnerungsvermögen Mr. Snows hinausging. Sie wurde die Alte Zeit genannt, aber auch damals hatte die Welt vor den Großtaten von Helden mit Vollgasnamen gezittert.

Mr. Snow kannte einige Geschichten über die Alte Zeit. Damals, als es auf der Erde so viele Menschen wie Grashalme gegeben hatte, hatte man die Hütten aufeinandergestellt und Ansiedlungen gebaut, die so hoch in den Himmel ragten wie die fernen Berge. Und die nun zerfallenden Hartwege, die das Land wie Adern durchzogen, waren in einem nie versiegenden Strom von riesigen Käfern erstickt worden. Sie hatten die Menschen von einem Ort zum anderen getragen, und man war nie für sich allein gewesen.

Als Mr. Snow mit den Fingern über seine Arme strich, um zu verdeutlichen, wie die herabstürzenden Sonnen im Krieg das Fleisch aller Lebewesen verbrannt hatten, stand Cadillac auf und ging über einen Abhang zur Ansiedlung hinunter. Die Morgensonne, die seinen nackten Rücken wärmte, malte vor ihm einen schlanken, breitschultrigen Schatten auf den Boden.

Cadillac holte tief Luft, dehnte seinen Brustkorb, breitete die Arme nach beiden Seiten aus und führte sie über dem Kopf zusammen.

Sein Schatten tat das Gleiche.

Es faszinierte Cadillac immer wieder. Er war stolz auf seinen Schatten, denn er unterschied sich von denen der meisten seines Clans. Sein Schatten war ein schlanker, glatter Umriss und wies lange, gerade Arme und Beine auf. Die Hände seines Schattens hatten einen Daumen und vier Finger. Sein Schatten sah aus wie der eines Sandgräbers. Zwar hatte Cadillac noch nie einen Sandgräber gesehen, aber aus Mr. Snows Beschreibungen wusste er, wie sie aussahen.

Der heimliche Feind lebte im fernen Süden, an einem Großen Wasser, und er schickte seine Eisenschlangen und Wolkenkrieger zu ihnen, vor denen man stets fliehen musste.

Cadillac M’Call, nun achtzehn Jahre alt, gehörte zu einem der zahlreichen Clans der She-Kargo-Nachkommen, die durch die mittleren und nördlichen Prärien streiften. Laut Mr. Snow waren ihre Vorfahren am Anbeginn der Zeit auf dem Rücken von Riesenvögeln hier angekommen, deren Flügelschlag das Geräusch gewaltiger Wasserfälle erzeugt hatte.

Sie waren an einem Ort namens O’Haya gelandet, am Ufer eines großen Sees. Dort hatten sie, um das Ende ihrer Reise zu feiern, die Vögel geschlachtet und gebraten und sich einen ganzen Sommer lang von ihnen ernährt. Dann, als der Winter gekommen war, hatten sie das gefrorene Seewasser für den Bau einer riesigen Ansiedlung aus hoch aufragenden Eissäulen verwendet, die in allen Farben des Spektrums geleuchtet hatten und deren Spitzen sich in den Wolken verloren.

Im Krieg der Tausend Sonnen war die Stadt geschmolzen und wieder in den See zurückgeflossen. Dabei waren außer einem alten Mann namens She-Kargo, einer alten Frau namens Me-Sheegun und den Kindern, die sie hatten, alle Lebewesen umgekommen. She-Kargo hatte fünfzehn Söhne gehabt, jeder ein hochgewachsener, tapferer Krieger und stark wie ein Bär, und die alte Frau hatte fünfzehn wunderschöne Töchter gehabt. She-Kargos Söhne und Me-Sheeguns Töchter hatten die Handgelenke gekreuzt und ihre Leiber mit dem Blutkuss verbunden, und ihre Kinder und Kindeskinder waren stark geworden und hatten sich vermehrt. Sie waren nach Westen gezogen, in die Länder Minne-Sota, Io-Wa und Ne-Braska. Sie hatten jeden getötet, der sich ihnen widersetzt, und jeden zu ihrem Seelenbruder gemacht, der ihnen die Hand zur Freundschaft gereicht hatte.

Sie hatten triumphiert, weil ihre Krieger tapferer, ihre Wortschmiede klüger und ihre Rufer stärker gewesen waren. Aus diesem Grund war das Prärievolk immer größer geworden, was man der Muttergöttin Mo-Town ewig dankte.

Cadillac ging an seinen Lieblingsplatz zwischen den Felsen am Rand des Plateaus, wo der M’Call-Clan seine Hütten errichtet hatte, um die Zeit der Ernte abzuwarten. Vor dem gezackten Rand fiel der Boden steil ab. Er war gefurcht und ausgehöhlt, als hätten die Klauen eines Riesenadlers ihn geschlagen. Tiefer unten war der Boden ebener und krümmte sich leicht, bis er in die wellige, von hellrotem Gras bewachsene Prärie überging, die sich bis an den Rand der Welt erstreckte. Hinter der Prärie lag das geheime Tor, durch das die Sonne jeden Morgen in die Welt trat. Je höher sie stieg, desto dunkler wurde das blasse Blau, das die goldenen Feuerwolken der Morgendämmerung löschte. Dann bildeten sich über dem fernen Rand der Prärie allmählich kleine, weit auseinandergezogene Wolken, die wie eine träge in der Ferne grasende Herde weißer Büffel wirkten.

Cadillac lehnte sich rücklings gegen die warme Oberfläche des Felsens und ließ den Blick über den ungebrochenen blauen Himmel schweifen. Er suchte nach dem verräterisch blitzenden Silberlicht, das, wie er wusste, das Auftauchen der Wolkenkrieger ankündigte. Als Mr. Snows auserwählter Nachfolger brauchte er freilich nicht als Wächter tätig zu sein, denn auf den Bergspitzen, die sich rings um die Ansiedlung erhoben, hielten sich über hundert seiner Clan-Brüder auf. Die jungen Krieger, die man Bären nannte, hielten Tag und Nacht Wache. Manche von ihnen suchten den Himmel nach Wolkenkriegern ab, andere hielten am Boden nach herumstreifenden Banden rivalisierender Clans Ausschau, die darauf aus waren, ins Sommerlager der M’Calls vorzudringen. Manche Bären bemannten die geheimen Ausguckposten auf den Höhen, andere streiften in kleinen, beweglichen Gruppen durch das rund um die Ansiedlung liegende Gelände und jagten.

Cadillac suchte den Himmel weiter ab. Nicht weil er sich bedroht fühlte, sondern aus Neugier. Als Mutant hatte er allen Grund, sich vor den Sandgräbern zu fürchten, denn die Angehörigen dieses rätselhaften, unterirdisch lebenden Volkes töteten, wenn sie aus der Finsternis hervorbrachen, jeden, der auf der Erde zu Hause war. Doch ungeachtet – oder vielleicht auch wegen – ihres schrecklichen Rufes sehnte Cadillac sich danach, ihnen zu begegnen, um sie auf die Probe zu stellen.

Bis jetzt hatten sich die Sandgräber noch nicht ins Land der M’Calls vorgewagt. Aber Mr. Snow wusste von den Himmelsstimmen, dass die Zeit ihrer Ankunft bevorstand. Das erste Zeichen würde aus Donnerkeilen am Himmel bestehen – aus den Vogelschwingen, auf denen sich die Wolkenkrieger bei ihren Reisen bewegten. Die Wolkenkrieger waren die scharfen Augen der Eisenschlangen, die hinter ihnen herkamen und in ihren Bäuchen noch mehr Sandgräber mitbrachten. Wenn sie kamen, würde es ein großes Sterben geben. Die Welt würde weinen, und alle Tränen des Himmels würden das Blut des Prärievolkes nicht von der Erde waschen können.

Nachdem Mr. Snow den Kindern seine Geschichte erzählt hatte, kam auch er an den Ort, an dem Cadillac mit zum Himmel gewandtem Gesicht saß. Er hockte sich im Schneidersitz auf einen anderen Felsen. Sein langes weißes Haar war zu einem Schädelknoten nach oben gezogen und wurde von einem Band gehalten; die alternde Haut, die seinen hageren, harten Leib bedeckte, zeigte da und dort willkürlich verteilte Wirbel und schwarzbraune Flecken in drei Nuancen auf – sie reichten von dunkel über hell bis blassrosa.

Laut Mr. Snow war die Haut der Sandgräber überall von der gleichen Farbe. Sie waren blassrosa, vom Scheitel bis zur Sohle. Wie die Haut der Würmer.

Cadillacs Haut zeigte zwar ein ähnlich willkürliches Muster, aber sie war glatt wie eine Rabenschwinge. Ein Teil der Haut Mr. Snows war zwar ebenfalls glatt, aber an manchen Stellen – etwa an der Stirn, an den Schultern und an den Unterarmen – war sie klumpig, als seien unter ihr kleine Kiesel versteckt. An anderen Stellen war sie schrumpelig wie ein totes Blatt oder wie die knorrige Borke eines Baumes.

Die meisten Mutanten kamen so zur Welt. Viele unterschieden sich aber auch auf andere Weise von Cadillac. Als kleines Kind war er sich irgendwann bewusst geworden, dass sein Körper anders war als der seiner Clan-Brüder. Er hatte sich geschämt, weil er ein grotesker Außenseiter war. Manche Kinder hatten ihn verspottet; sie hatten gesagt, er sähe wie ein Sandgräber aus. Cadillac hatte sich im Kreis der Gleichaltrigen nicht mehr wohlgefühlt und war ausgerissen. Doch man hatte ihn zurückgeholt. Er war krank geworden und hatte nicht mehr essen wollen.

Black-Wing, seine Mutter, hatte ihn zu Mr. Snow gebracht, und der hatte ihm erklärt, dass gerade die Dinge, die er an sich hasste, wertvolle Eigenschaften waren, die ihn in späteren Jahren befähigen würden, großartige und tapfere Kunststücke auszuführen. Nur aus diesem Grund war er so gewachsen. Er würde so stark werden wie die Helden der Alten Zeit, deswegen hatte man ihm auch einen Vollgasnamen verliehen: Cadillac, damals vier Jahre alt, hatte mit offenen Augen dagesessen und zugehört, als Mr. Snow ihm unter einem dunklen Himmel voller leuchtender Sterne im flackernden Licht des Feuers von der Talisman-Prophezeiung erzählt hatte.

Seit diesem Zeitpunkt wusste Cadillac mit einer kindlichen Gewissheit, die er nie verloren hatte, dass alles, was ihm passiert war, von Bedeutung war und dass sein Schicksal mit dem zukünftigen Schicksal des Prärievolkes verknüpft war.

Cadillac hörte auf, den Himmel abzusuchen, und drehte sich zu Mr. Snow um. Es drängte ihn nicht, dem alten Mann zu sagen, wonach er Ausschau gehalten hatte. Mr. Snow, seit seiner frühesten Kindheit sein Lehrer und Führer, sprach mit den Himmelsstimmen und kannte diese Dinge. Er wusste alles.

»Ist dies das Jahr des Großen Sterbens?«, fragte Cadillac.

»Es ist das Jahr, in dem es anfängt«, sagte Mr. Snow.

»Wann kommt die Eisenschlange?«

Mr. Snow schloss die Augen, holte tief Luft und wandte das Gesicht der Sonne zu. Der Himmel hatte eine tiefblaue Farbe angenommen. Cadillac wartete geduldig.

Endlich kam die Antwort. »Wenn der Mond das Gesicht dreimal abgewandt hat.«

»Und was ist mit dem Wolkenkrieger, den die Himmelsstimmen auserwählt haben?«

Mr. Snow atmete mit einem langen Seufzer aus und ließ sein Kinn auf den Brustkorb sinken. Seine Augen öffneten sich. »Seine Reise zu uns nimmt gerade ihren Anfang. Er träumt die Träume junger Männer. Er träumt von Heldentaten und Tapferkeit und von Triumph, Macht und Größe.« Mr. Snow hob den Blick und sah Cadillac an. »Und wie alle jungen Männer glaubt er, dass man diese Dinge geschenkt bekommt. Er weiß noch nicht, wie viel die Welt für solche Träume zahlen muss.«

2

Die einhundert Angehörigen des Adler-Geschwaders rissen die Schultern zurück und richteten sich kerzengerade an den Tischen auf, als der Flugprüfer den Einweisungsraum betrat. Er musterte sie kurz mit grauen, ausdruckslosen Augen, dann schaute er auf die Liste auf seinem Videoblock.

»Avery?«

Mel Avery sprang von ihrem Sitz auf, nahm Haltung an und drückte die Daumen an die Nähte ihres blauen Einteilers. »Sir?«

»Flugbahn drei.«

Avery griff nach ihrem Visierhelm, salutierte zackig und eilte zur Tür.

Der Flugprüfer gab hinter Averys Namen einen Vermerk ein und schaute auf. »Ayers?«

Ayers stand auf, biss die Zähne zusammen und blieb steif wie ein Besenstiel stehen. »Sir?«

»Flugbahn fünf.«

Ayers salutierte und lief los.

»Brickman?«

Steve Brickman schoss hoch, setzte die linke Ferse neben die rechte und drückte die Schultern durch.

»Sir?«

»Flugbahn sechs.«

Die Schlangengrube.

Trotz seiner gespannten Hals- und Kinnmuskeln entschlüpfte Brickman kurz ein unfreiwilliges, bestürztes Keuchen.

Die grauen Augen des Prüfers richteten sich auf ihn. »Stimmt was nicht?«

»Nein, Sir!«

»Okay. Abflug.«

Brickman nahm seinen Helm vom Tisch und salutierte zackig.

Die Aufmerksamkeit des Flugprüfers galt schon dem nächsten.

»Bridges?«

»Sir?«

Als Brickman durch den Gang rannte, der zu den Simulatoren und Freiflugvorrichtungen führte, verfluchte er sein Pech. Die Abschlussprüfung bestand aus acht Abschnitten. Wie alle anderen Kandidaten hatte auch er gehofft, sich an einer leichteren Vorrichtung aufwärmen zu können. Doch nun zeigte sich, dass man ihn an der schwierigsten Hürde prüfen wollte.

In den Ausbildungshandbüchern der Akademie wurde die von einer längst nicht mehr existierenden Flugschülergeneration getaufte Schlangengrube offiziell als Doppelhelix geführt. In den Tagesbefehlen hieß sie Flugbahn sechs.

Die Vorrichtung bestand aus zwei kreisförmigen geneigten Flächen, die um massive Mittelsäulen liefen, die nebeneinander in einem wurstförmigen Schacht untergebracht waren. Aufgerichtet sahen sie aus wie zwei Riesenkorkenzieher mit gegenüberliegenden Gewinden. Die linke Fläche neigte sich im Uhrzeigersinn in elf kompletten Drehungen; die rechte verlief genau umgekehrt.

Da sich die Flächen rund um den Schacht der jeweiligen Mittelsäule nach unten wanden, erzeugten sie einen rechteckigen Lufttunnel von vierzig Metern Breite und siebenundzwanzig Metern Höhe. In der Schachtmitte berührten sich die Ränder der beiden Flächen, was die Akademieflugschüler an Bord der Himmelsfalken in die Lage versetzte, von einer zur anderen zu wechseln und sich in einer fast endlos variablen Reihe auf- und absteigender Figurenachter sowie engen Rechts- und Linkswendungen um die Säulen herum einen Weg durch den Schacht zu bahnen.

Die Start- und Landebahnen befanden sich in den Flug- und Zugangstunnels am oberen und unteren Ende der Vorrichtung; sie waren mit Expressaufzügen verbunden, die zwei Himmelsfalken mit gefalteten Schwingen transportieren konnten.

Die Gesamthöhe der Schlangengrube betrug dreihundertsechzig Meter. Der Schacht, der die spiralförmigen Flächen enthielt, maß zweihundertzehn mal hundertfünf Meter. Die Flugtunnel waren fünfundvierzig Meter breit, dreißig Meter hoch und vierhundert Meter lang.

Und das ganze riesige Gebilde hatte man zusammen mit den restlichen Vorrichtungen und den sonstigen Abteilungen der Akademie in einigen Hundert Metern Tiefe aus dem Urgestein gesprengt, das unter dem Wüstensand New Mexicos lag – in der Nähe der Ruinen einer Stadt, die man in prähistorischen Zeiten unter dem Namen Alamogordo gekannt hatte.

Brickman, schon jetzt als überdurchschnittlich talentiert eingestuft, kannte jeden Knick und jede Wendung der Schlangengrube. Er wusste, dass er sein Ziel erreichen und den Rest der Abschlussklasse in den Schatten stellen würde. Aber das reichte ihm nicht, denn er hatte die Absicht, die höchstmögliche Punktzahl zu erreichen.

Das war der schwierige Teil – denn es bedeutete, dass seine Vorstellung fehlerlos ausfallen musste. Und zwar nicht nur in der Schlangengrube, sondern auch bei allen anderen Aufgaben und im Flugsimulator. Brickman wollte nicht nur die beste Note seiner Klasse erreichen. Er wollte das perfekte Ergebnis. Ein Ergebnis, das noch kein Flieger in der hundertjährigen Geschichte der Akademie erreicht hatte.

Das Schicksal hatte es gewollt, dass die Lossprechung seiner Klasse mit seinem siebzehnten Geburtstag und dem hundertjährigen Bestehen der Akademie auf einen Tag fiel. Die traditionelle Abschlussparade, während der die Kadetten nach ihrer dreijährigen Ausbildung die Flugspange erhielten, war diesmal Bestandteil der Jubiläumsfeierlichkeiten. Als Brickman bei der Einschreibung als Erstsemester von dieser günstigen Fügung erfahren hatte, hatte er sich vorgenommen, der Akademie und seinen Wächtern einen besonderen Grund zum Feiern zu liefern.

Steven Roosevelt Brickman. Der Pilot des Jahrhunderts. Mit zweihundert von zweihundert möglichen Punkten Klassenbester des Jahres 2989. Empfänger der heiß begehrten Minuteman-Trophäe – verliehen während der Lossprechung für die beste Allroundshow in der Ausbildung.

Als er die Tür zur Schlangengrube erreichte, hielt Brickman an. Er holte mehrmals tief und gelassen Luft, dann prüfte er die Bügelfalten seines blauen Fliegerdrillichs und betrat das Büro des Vorrichtungs-Überwachungsoffiziers. Er meldete seine Ankunft, indem er seine ID-Sensorkarte an der Tür in den Prüfschlitz schob.

Sobald man ihn identifiziert hatte, konnte er die Flugbahn betreten. Brickman eilte im Laufschritt zu der Rampe, auf der sechs Angehörige der Akademiebodenmannschaft gerade zwei ultraleichte Himmelsfalken bereitstellten. Bob Carrol, der Cheffluglehrer, stand am Rand der Startbahn und unterhielt sich mit einem der zehn aus dem Hauptzentrum gekommenen Prüfer, die den neuen Jahrgang testeten und die Noten verteilten.

Brickman hielt mit einem perfekten Hackenknallen an, riss seinen Ellbogen auf Schulterhöhe hoch und salutierte. Sein Arm knickte ein wie ein geöltes Klappmesser. Seine Finger, seine Hand und sein Gelenk bildeten eine starre Linie, und die Spitze seines schwarzen Handschuhs war genau zwei Zentimeter von der Spange und dem Sternenbannerabzeichen seiner Feldmütze entfernt. »Seniorkadett 8902 Brickman meldet sich zur Flugprüfung, Sir!«

Der Prüfer warf Brickman einen trockenen, abschätzenden Blick zu, dann schob er den Deckel seines Videoblocks hoch und las, was auf dem darunter befindlichen zentimeterdicken Bildschirm stand. Als er sich informiert hatte, schürzte er die Lippen. Dann nickte er Carrol zu. »Ach ja, Ihr Starschüler.« Er wandte sich zu Brickman um. »Okay. Passen Sie auf: Sie starten und landen von dieser Bahn aus. Zuerst biegen Sie nach links ab. Der Rest der Flugstrecke wird auf dem Hin- und Rückweg auf jeder Ebene von Kursleuchten angezeigt. Für Kurs- und Höhenabweichungen werden Punkte abgezogen, und …« – der Prüfer legte eine Pause ein – »Sie fliegen gegen die Zeit. Die Gesamtflugzeit wird an der letzten Wendemarke gemessen. Haben Sie das verstanden?«

»Klar und deutlich, Sir!«

»Okay. In fünfzehn Minuten geht’s los.« Der Prüfer erwiderte Brickmans Gruß und ging zum Flugkontrollraum.

CFL Carrol, ein dreißigjähriger Ledernacken mit sandfarbenem Haar, musterte Brickman mit einem wohlwollenden Blick. Er war, ebenso wie der Rest des Akademiestabs, ein zäher Bursche und ein Lehrer, der viel von einem verlangte. Wenn er sich je die Blöße gegeben hätte, einem Kadetten offene Sympathie zu zeigen, hätte er es sicher bei Brickman getan. »Ich hatte das Gefühl, Sie würden den kürzesten Strohhalm ziehen. Wie fühlen Sie sich?«

Brickman, der jetzt nicht mehr strammstand, erlaubte sich ein kurzes, unvorschriftsmäßiges Achselzucken. Er kannte Carrol; er wusste, dass er dagegen nicht allergisch war. »Einer muss wohl der Erste sein.«

Carrol begrüßte Brickmans Antwort mit einem ironischen Lächeln. »Ja, das schätze ich auch. Okay, Sie sollten sich jetzt lieber in Bewegung setzen.«

Brickman knallte die Hacken zusammen und legte erneut einen makellosen Gruß hin.

Carrol erwiderte ihn mit einer Handbewegung, die so aussah, als verscheuche er halbherzig eine Fliege von seiner Stirn. Disziplin war eine Sache, Salutieren eine andere. Da er seit fünf Jahren täglich mit ehrgeizigen Kadetten zu tun hatte, fühlte sich sein Arm des Öfteren so an, als rutsche er aus seinen Gelenken. »Viel Glück.«

»Danke, Sir.«

»Und noch was, Brickman …«

Brickman erstarrte mitten in einer Linkswendung. »Sir?«

»Die Welt ist hart. Die Guten müssen nicht immer auch die Ersten sein.«

»Ich werde mein Bestes geben und mich bemühen, daran zu denken.«

»Tun Sie das«, sagte Carrol. »Aber Sie sollten sich trotzdem nicht aufhalten lassen.« Seine Stimme wurde leiser. »Nehmen Sie Nummer zwei. Die Kontrollen sind leichter zu handhaben.« Er entließ Brickman mit einem Nicken und schaute hinter ihm her, als er auf die abgestellte Maschine zulief.

Der Himmelsfalke – das einzige Flugzeug, das die Föderation baute – bestand aus einem kleinen Cockpit mit drei Rädern, einem Triebwerksbehälter, einer Propellerhaube und einem Heckruder, das unter den von Draht und Streben zusammengehaltenen keilförmigen Schwingen hing. Die Schwingen hatten eine Spannweite von vierzehn Metern und waren mit einem künstlichen Gewebe bespannt, das, wenn man es wie einen Fahrradschlauch aufblies, das Aussehen von Tragflächen annahm. Der Motor lief mit Batterie. Für unterirdische Übungsflüge, die nie länger als dreißig Minuten dauerten, reichte die statische Ladung des Triebwerksbehälters aus. Wenn man Himmelsfalken an der Oberwelt einsetzte, waren ihre Schwingen mit einem Solarzellengewebe überzogen; unter optimalen Bedingungen hatten sie eine praktisch unbegrenzte Reichweite.

Während Brickman schnell eine private Vorüberprüfung des Himmelsfalken vornahm und sich dann ins Cockpit schnallte und aufrichtete, trieb Carrol sich an der Startbahn herum. In den letzten fünf Jahren war zwar eine ganze Reihe fähiger Kadetten durch seine Hände gegangen, doch Brickman war eine Klasse für sich.

Nachdem Carrol seine Fortschritte an den Vorrichtungen gesehen hatte, war er zu dem Schluss gekommen, dass der junge Mann mehr als nur ein Gefühl für das Fliegen hatte. Brickman hatte – nun ja, man konnte es einfach nicht anders beschreiben – irgendeinen sechsten Sinn, der ihm sagte, was auf ihn zukam.

Carrol war sich dessen sicher. Wenn Brickman beispielsweise durch die Schlangengrube flog, schien er – noch bevor die Flugkontrolle die entsprechenden Schalter betätigt hatte – stets zu wissen, welchen Kurs die Markierungsleuchten anzeigen würden. Es gab keine andere Erklärung für die Tatsache, dass er stets in der korrekten Position für die erforderliche Wendung war. Und wenn er ein paar Stunden lang in der Vorrichtung war, flog er in der Regel immer einen perfekten Kurs. Direkt am Draht entlang.

Es war unheimlich. Aber wunderbar anzuschauen.

Carrol hatte sein Brickman betreffendes Gefühl bisher noch niemandem offenbart. Die Vorstellung, es könne einen »sechsten Sinn« geben, vertrug sich nicht mit der offiziellen Wagner-Philosophie. Wenn man es genau nahm, hatte dieser Begriff, bevor man ihn zu einer Bahnbrecher-Expedition mit dem Ziel der Oberwelt-Befriedung abkommandiert hatte, nicht einmal zu Carrols Wortschatz gehört.

Viele Bahnbrecher-Veteranen glaubten zwar, dass die Mutanten – die ewigen Feinde der Amtrak-Föderation – über einen »sechsten Sinn« verfügten, aber nur wenige trauten sich, darüber zu reden. Tatsächlich war es so, dass man eine strafbare Handlung beging, wenn man das in der Öffentlichkeit tat. Den Wagnern stand nicht der Sinn danach, sich mit derlei Unfasslichkeiten zu beschäftigen. Es waren ihre körperlichen und technischen Fähigkeiten, die sie zu den Herren des Erdschildes und der Oberwelt machten. Es war die sichtbare Macht der dem Genie der Ersten Familie entwachsenen Föderation, die ihr Überleben sicherte und den Traum von der schlussendlichen Rückkehr in die Blauhimmelwelt fast greifbar gemacht hatte.

So stand es auch im Föderationshandbuch, der umfassenden Informationsquelle und Datenbank, die man umgangssprachlich als »Das Buch« bezeichnete. Das Buch enthielt zahllose Bildschirmseiten mit Referenz- und Archivmaterial, und seine Gesetze und Vorschriften beherrschten jeden Aspekt des Wagnerdaseins und die kollektive Weisheit der Ersten Familie. Das Buch bot erbauliche Lektüre für jede Gelegenheit. Was es nicht erwähnte: dass man als Flieger außerdem auf eine beträchtliche Menge Glück angewiesen war, um das vorgeschriebene Minimum dreier Einsätze zu überleben. Jede Fahrt dauerte ein Jahr. Netterweise gehörte das Glück zu den wenigen statthaften Abstraktionen, über die ein Wagner in seinem kurzen Leben, in dem er in einer Welt nach Vortrefflichkeit strebte, in der die praktische Anwendung von Muskeln und Hirn wichtiger war als alles andere, nachdenken durfte.

Als das Bugrad des Himmelsfalken auf die Mitte der Startlinie zeigte, war sich der an seinen Sitz geschnallte Brickman Carrols Anwesenheit am Rand der Startbahn hinter der Backbordschwinge gar nicht mehr bewusst. Sein Blick war fest auf das Startbahn-Kontrolllicht gerichtet, das links von ihm an die Wand des Flugtunnels montiert war. Als der Motor mit voller Kraft hinter ihm aufdrehte, lag seine Hand auf dem Bremshebel.

Seine gesamten Sinne waren auf den Flug konzentriert, der vor ihm lag. Und der Extrasinn, von dem Carrol glaubte, dass er ihn hatte, ahnte schon, dass die erste Kursmarkierung eventuell wieder eine scharfe Linkskurve um die Säule anzeigen würde.

Jeder Flieger hatte beim Aufleuchten der Rechts- oder Linkspfeile kaum zwei Sekunden Reaktionszeit, um die nötige Kursänderung vorzunehmen. Nahm er sie zu spät vor, wich er von der Mittellinie ab. Wenn dies geschah, zeichneten fotoelektrische Zellen in der Vorrichtung die Abweichung auf. Ein ähnlicher Zellensatz in der Schachtwand registrierte die Höhenabweichungen. Wer die höchstmögliche Punktezahl erreichen wollte, musste sich vom Anfang bis zum Ende des Flugtunnels in extrem engen Grenzen bewegen. Das erforderte einen hohen Grad an fliegerischem Können, absolute Konzentration und blitzschnelle Reaktionen.

Brickman verfügte über all diese Qualifikationen. Und dazu kam noch seine unerklärliche Fähigkeit, beliebige Ereignisse mehrere Sekunden vor ihrem Eintreffen vorherzusagen. Als er im Cockpit saß und mit totaler Konzentration auf das Grünlicht wartete, war er davon überzeugt, dass er das Aufleuchten des Kurszeigers ein bis zwei Sekunden früher »sehen« würde, als die Flugkontrolle ihre Schaltung vornahm. Sein sechster Sinn schien jedoch nur in Stresssituationen zu funktionieren – wie jetzt. Brickman bediente sich seiner zufälligen Gabe, ohne über ihren Ursprung nachzudenken und ohne die geringste Spur von Angst oder Verwunderung. Für ihn war sie einfach da; ebenso, wie er ohne zu fragen die Tatsache hinnahm, dass er, Steven Roosevelt Brickman, dazu bestimmt war, erfolgreich zu sein.

Vorgewarnt, dass das Grünlicht gleich anging, löste Brickman die Radbremsen, als der Strom die Lampenfäden erreichte. Der Himmelsfalke machte einen Satz nach vorn und war dreißig Meter später in der Luft. Als er das Ende des Flugtunnels erreicht und die erste Wendung durchgeführt hatte, spürte Carrol, der mitten auf die Startbahn getreten war, dass Brickman auf dem besten Weg war, sich als unschlagbarer Erster zu etablieren.

Am Ende des vierten Tages, als alle Flugzeiten feststanden, wurde seine Vermutung voll bestätigt. Brickman hatte nicht nur eine fehlerlose Schleife geflogen, er hatte sie auch in der dafür vorgeschriebenen Zeit beendet. Und von der Schlangengrube aus war er weitergezogen, um auch in allen anderen Flugvorrichtungen perfekte Ergebnisse zu erzielen.

Ebenso hatte Brickman bei der Prüfung seiner körperlichen Behändigkeit auf dem mörderischen Übungsplatz, beim Schießen, in allgemeiner Waffenkunde und bei den mündlichen Prüfungen in jeden Disziplinen der allgemeinen und technischen Fächer sämtliche Punkte geholt, die man holen konnte. Als die Prüfer die Ergebnisse verarbeiteten, stellte sich bald heraus, dass Seniorkadett 8902 Brickman, S.R., der jetzt nur noch einen Test vor sich hatte, auf dem besten Weg war, ein Jahrhundertschüler zu werden.

»Ach-TUNG!«

Dreihundert Hacken knallten auf den lauthals im Chor gerufenen Befehl der Kadetten-Geschwaderführer aneinander, als CFL Carrol den Hauptvorlesungssaal betrat. Triggs, sein Erster Assistent, folgte ihm.

Die Kadetten, die an der Reihe waren, die drei Einheiten der Abschlussklasse zu führen, machten kehrt, salutierten und spulten, als der CFL zum Podium hinaufstieg, die üblichen Meldungen ab.

»Geschwader Kondor anwesend und bereit, Sir!«

»Geschwader Falke anwesend und bereit, Sir!«

»Geschwader Adler anwesend und bereit, Sir!«

Carrol erwiderte ihren Gruß mit seinem berühmten Fliegenverscheuchen und trat ans Podium. Triggs, ein berüchtigter Schleifer, blieb einen Schritt rechts hinter ihm stehen. Er spreizte die Beine, stellte die Füße symmetrisch nach außen, legte die Arme auf den Rücken und verschränkte seine steiffingrigen Hände.

»Nehmen Sie Platz, meine Herren!«

Dreihundert Hinterteile rutschten lautlos über die Sitze.

»Okay«, sagte Carrol. »Ich habe die vorläufigen Ergebnisse gesehen. So weit, so gut. Jetzt kommt nur noch der Flugtest, bei dem es um alles oder nichts geht. Das Größte. Der Flug, der über alles entscheidet. Morgen früh um sieben Uhr begeben Sie sich, eine Gruppe nach der anderen, zur Ebene Zehn hinauf, um das erste Oberwelt-Solo durchzuführen.«

Steve Brickman wurde von der Welle der Erregung und der Besorgnis mitgerissen, die Carrols Ankündigung hervorrief.

»Jeder von Ihnen hat Bilder von der Oberwelt gesehen«, fuhr Carrol fort. »Und Sie sind alle eingewiesen worden. Sie wissen, was Sie erwartet, was?«

»Ja, Sir!«, rief die Klasse.

»Nichts wissen Sie!«, fauchte Carrol. »Alles, was Sie bis jetzt gelernt haben, alles, was man Ihnen bis jetzt beigebracht hat, nützt Ihnen absolut nichts. Sie können alles wieder vergessen. Nichts kann einen auf den Augenblick vorbereiten, in dem man von der Bahn abhebt und den ersten Blick auf die Oberwelt wirft. Man hat das Gefühl, in eine andere Dimension einzutreten. Der erste Eindruck wird Sie völlig aus der Fassung bringen. Vielleicht wird er Sie sogar in Angst versetzen. Das ist nichts Schlimmes. Wenn Sie den ersten Patrouillenflug im Mutantengebiet machen, werden Sie ebenfalls Angst kriegen. Nur Idioten haben keine Angst. Das Allerwichtigste ist, dass man sich beherrscht. Dass man sich und seine Maschine beherrscht. Lassen Sie nicht zu, dass Sie die Orientierung verlieren. Draußen ist es fast so wie im Freiflugdom – nur größer.

Sehr viel größer. Riesenhaft. Endlos. Furchterregend …

Für einige von Ihnen ist es eventuell ein Kinderspiel. Sie werden nach den ersten paar Minuten freihändig fliegen und sich fragen, wieso man Ihnen einen solchen Blödsinn eingetrichtert hat. Manche von Ihnen werden jede einzelne Minute verfluchen. Sie werden den Wunsch verspüren, auf den Sitz zu pinkeln, die Augen zu schließen und darauf zu warten, dass bald alles zu Ende ist. Aber Sie werden sich diesem Gefühl widersetzen. Wenn Sie die Absicht haben, nächsten Freitag Ihr Fliegerdiplom zu kriegen, fliegen Sie das aufgeblasene Bettlaken jeden Zentimeter rund um den Kurs, der auf Ihrer Karte eingezeichnet ist. Und Sie bringen die Kiste in einem Stück zurück. Und was noch wichtiger ist: Sie bringen sie mit sauberen Hosen zurück.«

Der letzte Satz erzeugte eine Welle nervösen Lachens.

»Nein, lachen Sie nicht«, sagte Carrol. »Ich scherze nicht. Ihre Fluglehrer haben nämlich Dienst im Duschraum, stimmt’s?«

Mr. Triggs nickte heimtückisch. »Genau …«

Carrol beäugte sein Publikum. Ihm fiel noch etwas ein. »Zwei meiner Klassenkameraden sind ausgeklinkt, als sie von der Bahn runter waren. Einer hat sich auf den Rücken gedreht und sich aus hundertfünfzig Metern Höhe einfach fallen lassen. Der andere hat einmal hingeschaut, eine Wendung um hundertachtzig Grad gemacht und wollte wieder reinfliegen. Mit Vollgas. Er hätte es schaffen können, aber … er hatte es so eilig, dass er nicht gewartet hat, bis die Bodenmannschaft das Tor wieder aufmachte.«

Brickman krümmte sich. Der Fachlehrer, der sie über die Oberwelt belehrt hatte, hatte erwähnt, dass die äußeren Rampentore, die in die über der Akademie liegende unfruchtbare Wüste führten, aus dreieinhalb Meter dicken Stahlbetonplatten bestanden.

Der CFL beendete seine Gruselgeschichte, indem er eine Grimasse schnitt. »Ich nehme an, ich kann mich darauf verlassen, dass keiner von Ihnen in den nächsten zehn Tagen etwas anstellt, was die Jubiläumsfeier auf irgendeine Weise stören könnte.«

Die Klasse musterte ihn schweigend.

»Gut«, sagte Carrol. Er wandte sich an seinen Ersten Assistenten. »Sie gehören jetzt Ihnen, Mr. Triggs.«

Trotz Carrols unheildrohender Warnung lag die mutmaßliche Versagensrate des diesmaligen alles entscheidenden Soloflugs fast bei null. Seit der Zeit, in der Carrol Flugschüler gewesen war, hatte man das Psychoprofil des idealen Fliegers sorgfältig neu gezeichnet, denn sämtliche Kandidaten wurden während des Auswahlverfahrens harten Prüfungen unterzogen.

Theoretisch musste das Psychoprofil erfolgreicher Kandidaten beim zuständigen Referenten fünfundsiebzig Punkte erzielen, doch in der Praxis war dies nicht immer möglich. In der tausendjährigen Geschichte der Föderation hatte – ebenso wie in den davorliegenden Jahrtausenden – noch niemand eine Methode entdeckt, die Kunst der angewandten Psychologie mit der mathematischen Genauigkeit der Naturwissenschaften in Einklang zu bringen.

Was bedeutete, dass heute wie damals ein normal aggressiver Holzkopf über die Rampe fegte und nach wenigen Minuten in der Luft die Agoraphobie zu spüren bekam – die Furcht vor freien Räumen, unter der die Mehrheit der Wagner litt. Der arme Kandidat würde, während seine Eingeweide sich verknoteten, erkennen, dass seine auf dem Steuerknüppel liegende Hand urplötzlich lahm geworden war. Selbst wenn es ihm dann noch gelang, seine Angst wirkungsvoll zu bekämpfen und den vorgegebenen Kurs zu fliegen, war dies das Ende seiner Pilotenkarriere. Denn während des alles entscheidenden Solofluges waren die Kadetten so verkabelt wie ein Mensch, der sich einem Lügendetektortest unterzog. An ihren Körpern klebende Sensoren, die mit einem Aufzeichnungsgerät verbunden waren, überwachten sämtliche ihrer Tätigkeiten, einschließlich wichtiger Dinge wie Herzschlag, Hirnaktivität, Hauttemperatur und Feuchtigkeit. Die Hauptzentrums-Flugprüfer brauchten keinen Mr. Triggs, der im Duschraum auf Wache stand. Dank der ihnen zur Verfügung stehenden ausgetüftelten Fernmessanlage wussten sie, ob sich ein Flugschüler vor Angst in die Hose schiss.

Brickman, der seine Karriere schon im Alter von fünf Jahren geplant hatte, war davon überzeugt, dass er diese Prüfung mit der gleichen Leichtigkeit bestehen würde wie die anderen.

Was nicht hieß, dass er von Natur aus erfolgreich war. Keineswegs. Abgesehen von seinem angeborenen Flugtalent war er keineswegs der klügste oder stärkste Schüler der Abschlussklasse. Aber er war zweifellos der ausgeschlafenste. Seine geistigen und körperlichen Leistungen in Sachen Streckenstudium, Spurensuchen und Pünktlichkeit waren das Ergebnis endloser Stunden angestrengten Büffelns und höchster Konzentration; er hatte sich seiner Aufgabe verschrieben, weil er ein Ziel vor Augen hatte.

Brickmans wahres Talent lag darin, dass er seine Gaben in einem Höchstmaß aktivieren konnte und aus seinen natürlichen Anlagen nur das Allerbeste machte. Dazu kam, dass er ein hochgewachsener Typ mit einem ansehnlich geformten, ehrlichen und zuverlässigen Gesicht war. Und weil ihm eine nette, einnehmend gescheite Art zu eigen war, die er zu seinen Gunsten einsetzte, um zu verbergen, dass sein Gehirn so exakt und leidenschaftslos arbeitete wie ein Silikon-Mikrochip.

Obwohl die Kadetten des Adler-Geschwaders sich dem Rest der Akademie traditionell überlegen fühlten (die Adler waren in den vergangenen zwanzig Jahren aus sämtlichen Gruppenwettbewerben fünfzehnmal als Meister hervorgegangen), standen sie auf der Organisationsliste erst an dritter Stelle. Demzufolge mussten Brickman und seine Kameraden vier Tage warten, bevor man sie anwies, sich zum letzten Flugtest auf Ebene Zehn zu begeben.

Am fünften Tag war der lange erwartete Moment endlich da. Mit Marschbefehlen versehen, meldeten sich Brickman, Avery und die acht restlichen Kadetten der ersten Adler-Gruppe im Büro des Superintendenten ihrer Ebene. Dann fuhren sie mit dem Lift nach Ebene Fünf hinauf. Dort nahmen sie das Laufband zum zweiten Kontrollpunkt nach Sechs und betraten einen anderen Aufzug, der sie zur Unter-Oberfläche hinaufbrachte: Ebene Zehn.

Zum ersten Mal kam Brickman über Ebene Fünf hinaus. Bevor er auf die Akademie gegangen war, hatte sich sein ganzes Leben innerhalb der Ebenen Eins bis Vier abgespielt.

Die tiefste Etage von Ebene Eins lag vierhundertfünfzig Meter unter der Erdoberfläche. Jede Ebene war fünfundvierzig Meter hoch und in zehn Etagen oder Hallen geteilt. Demzufolge war Eins-8 (vom Boden aus gezählt) die achte Etage von Ebene Eins. Zehn-10 war die Etage, von der man zur Rampe hinausging – die scharf bewachte Verbindungstür zwischen der Föderation und der Oberwelt.

Aus Sicherheitsgründen kam nur eine begrenzte Anzahl der Unterabteilungen in einem Rutsch nach Ebene Zehn hinauf. Die meisten Föderationsbasen lagen zwischen den Ebenen Eins und Vier und waren miteinander durch die Interstaatsbahn verbunden.

Als Brickman auf Ebene Zehn-10 aus dem Lift kam, überkam ihn ein eigenartiges Gefühl. Obwohl es auf den ersten Blick nur wenig gab, was die zur Rampe führende Etage von denen unterschied, die unter ihnen lagen, konnte er die Oberwelt »spüren«. Obwohl sie an dieser Stelle noch immer fast fünfzehn Meter über ihm war, machte sie sich beinahe wie eine greifbare Präsenz bemerkbar.

Als Brickman sich bei der Oberwelt-Flugkontrolle meldete, stellte er fest, dass er als vierter auf der Liste stand. Einer der allgegenwärtigen Flugprüfer stand dabei, als zwei Mediziner die Sensoren an ihm befestigten und die Messungen vom Datenaufzeichner ablasen. Brickman zog seinen blauen Fliegerdrillich wieder an und stöpselte die Nabelschnur ein, damit das Sensorkabel durch die dafür vorgesehene Öffnung kam.

Im Kartenraum wurden ihm von einem zweiten Flugprüfer die Landkarte, die Kurskoordinaten und der letzte Wetterbericht ausgehändigt.

»Sie haben fünfzehn Minuten.«

Von steigender Nervosität gepackt, rang Brickman sich ein Lächeln ab, das ihn wertvolle Punkte hätte kosten können, dann salutierte er und machte sich zu einem der Plottertische auf, um zu arbeiten. Zwar war er nach weniger als zehn Minuten fertig, aber er nutzte die ihm verbleibende Zeit, um seine Berechnungen doppelt und dreifach nachzuprüfen. Die restlichen Kadetten seiner Gruppe und sonstigen Angehörigen des Geschwaders, die auf sechs alternativen Kursen flogen, würden ihm während der nächsten zwei Tage in einem Abstand von fünfzehn Minuten über die Rampe folgen.

Vom Kartenraum aus wurde Brickman zur Nordwest-Rampe geschickt – sie war eine von vieren, die rechtwinklig in Form eines riesigen Malteserkreuzes aufeinander zuliefen. Als er die Rampenzugangszone erreichte, sah er einen Himmelsfalken, dessen Bug auf das große bleiummantelte Tor gerichtet war. Die Deltaschwinge war mit dem metallblauen Gewebe überzogen, das Tausende von Solarzellen enthielt. Brickman führte die üblichen Vorprüfungen aus, setzte den Helm mit dunklem Visier auf, schnallte sich ins Cockpit und stöpselte die Mikroleitung in den Hochfrequenzsender und die Nabelschnur in den Bordumwandler. Von nun an würden die an seinem Körper klebenden Sensoren alle Daten auf die Bildschirme der Flugkontrolle übertragen und – bis er wieder aus dem Cockpit stieg – einen unauslöschlichen Sekundenbericht seiner Reaktionen liefern.

Der Datenumwandler war dicht neben ihm an der rechten Seite des Cockpits angebracht. Brickman griff mit der linken Hand hinüber und schaltete ihn ein.

Die Flugkontrolle meldete sich sofort. »Easy X-Ray Eins: Ihre Datenleitung blinkt A-Okay.«

Brickman bestätigte das Fertig-Signal des Rampenmeisters und drückte einen Knopf. Der Elektromotor hinter seinem Sitz begann leise zu winseln. Brickman prüfte die Bewegungen der Armaturen, dann fuhr er gemäß den Anweisungen der Signalstäbe des Rampenmeisters los, bis der Bug seiner Maschine nur noch wenige Schritte vom innersten Rampentor entfernt war.

Mit einem Zischen, das Brickman wegen des lauter werdenden Motorengeräusches kaum hörte, versank die fünfzehn Meter hohe Wand vor ihm im Boden. Brickman folgte den hellroten Richtungszeigern; er steuerte die Maschine über sie hinweg auf das äußere Doppeltor zu und stoppte an der parallelen gelben Linie.

Hier war der Rampentunnel dreißig Meter breit. Die Wände hoben sich, sanft nach innen geneigt, bis zur Decke. Brickman wusste von der Lagebesprechung, dass sich die beiden Innentorhälften zur Seite hin öffneten. Die äußeren überlappten sich horizontal; die höhere Obersektion schob sich in die Decke, der untere Teil versank im Boden. Diese Anordnung machte es der Rampenmannschaft möglich, die Öffnung an die Größe des Objekts anzupassen, das das Tor passierte.

Als Brickman einen Blick in den Rückspiegel warf, sah er zu seinem Erstaunen, dass das große Tor sich lautlos hinter ihm geschlossen und ihn von der Föderation abgeschnitten hatte.

In seinem Helmfunkgerät erklang die Stimme des Lotsen. »Easy X-Ray Eins, hier ist die Bodenkontrolle. Helligkeitsausgleich erfolgt in wenigen Sekunden. Das Tor öffnet sich in zehn. Fahren Sie erst los, wenn Sie Grün sehen. Wenn Sie die gelbe Doppellinie überschritten haben, haben Sie Starterlaubnis. Senden Sie Rufzeichen, wenn Sie das rot-weiß-blaue Signalfeuer hinter sich haben und auf Heimatkurs sind. Ende.«

»Easy X-Ray Eins, verstanden.« Brickmans Stimme zitterte vor Erregung.

»Viel Glück«, sagte die Stimme in seinem Ohr.

Im gleichen Augenblick flammten an den Wänden vom Boden bis zur Decke zahlreiche Neonröhren auf und schufen einen Lichttunnel, der in Richtung auf das Rampentor immer heller wurde. Es galt, sich an die große Helligkeit des draußen herrschenden Tageslichts anzupassen.

Brickman klappte das Visier herunter. Fünf Sekunden später glitten die dreieinhalb Meter dicken Innentorhälften auseinander. Der untere Teil des Außentors kam mit der Rampe auf eine Ebene, und er sah einen viereinhalb Meter hohen Schlitz, der gerade breit genug war, den Himmelsfalken durchzulassen.

Als er Grün sah, fuhr er mit dem Bugrad auf der Mittellinie los und passierte den massiven Betonvorhang, der den oberen Teil des Außentors bildete. Er entfernte sich von der drohend über ihm hängenden Masse, hielt auf der gelben Doppellinie an, die sich von einer Wand zur anderen zog, und warf einen Blick auf seine Umgebung.

Er befand sich in einer Betonschlucht mit nackten, fugenlosen, fünfzehn Meter hohen Wänden. Vor ihm stieg die Rampe sanft an. Da Brickman das Modell studiert hatte, wusste er, dass die Wände, die ihn nun umgaben, sich jäh nach unten verjüngten, während die Rampe in Form eines Riesenfächers anstieg, bis sie die Oberwelt erreichte.

Über der Schlucht erstreckte sich eine ausgedehnte flache hellblaue Decke.

Mit einem plötzlichen Schock wurde Brickman klar, dass er keineswegs zu irgendeiner der beleuchteten Decken hinaufschaute, die man über den Plätzen der Föderation sah – das hier war der Himmel.

Das Dach der Welt. »Das wilde blaue Jenseits« – die Herzen zum Wogen bringende Phrase aus der Kampfhymne der Flugschule, die seine Fantasie schon im Alter von zehn Jahren entflammt hatte. In diesem Dach gab es keine verborgenen Neonröhren; es war von einem blendenden, fast überwältigend hellen Licht erfüllt, das von dem blassen Beton abprallte und unter dem Himmelsfalken einen deutlichen, dunklen Schatten auf die Startbahn warf. Das Licht der Sonne. Es flammte so hell auf ihn nieder, dass nicht mal seine abgeschirmten Augen es aushielten, direkt hineinzusehen. Die strahlende Hitze stach in seinen Leib und ließ sein Knochenmark vor Wärme jucken.

Brickman zwang sich, ruhig zu bleiben; er kostete einen tiefen Zug der frischen Backofenluft, drückte den Gashebel tief hinunter und richtete den Himmelsfalken auf die Rampenmittellinie und den dahinterliegenden Himmel aus. Eine grelle Hitzewelle hob das leichtgewichtige Flugzeug unerwartet in die Luft. Brickman glich den Kurs des Himmelsfalken schnell an. Die ihn umgebenden Wände wichen zurück, die unter ihm liegende Rampe schrumpfte zu einer glänzenden Betonkuchenscheibe zusammen. Und dann warf Brickman den ersten Blick auf die Oberwelt.

Und war von der Weiträumigkeit der Erde und des Himmels überwältigt.

In den vergangenen sechzehn Jahren und einundfünfzig Wochen seines Lebens war das fernste Objekt, das er je gesehen hatte, keine achthundert Meter von ihm entfernt gewesen. Die höchste Decke, die er je erblickt hatte, befand sich zweihundertdreißig Meter über seinem Kopf. Er hatte Fernsehaufnahmen des kürzlich fertiggestellten John-Wayne-Platzes im Hauptzentrum gesehen. Der Platz war ein Wunder der Ingenieurskunst – anderthalb Kilometer breit und achthundert Meter hoch. Doch selbst das wurde angesichts dessen, was er zu sehen bekam, als der Himmelsfalke noch höher stieg, völlig unwichtig. Denn nun konnte Brickman mehr als hundertfünfzig Kilometer weit sehen. Er hatte eine Aussicht, die sein Herz schneller schlagen ließ. Er riss die Augen weit auf und war vollkommen überwältigt. Er erblickte unter der unmessbaren blauen Himmelschale einen unglaublich weit entfernten, wolkenfleckigen Horizont.

Seine Reaktion auf die Oberwelt wallte aus den Tiefen seines Ichs nach oben. CFL Carrol hatte recht gehabt. Nichts, rein gar nichts in seinem bisherigen Leben hätte ihn auf diesen Augenblick vorbereiten können. Seit Jahren hatte er wegen seiner klinischen Unvoreingenommenheit Stolz empfunden. Er war stolz auf die Fähigkeit gewesen, seine Reaktion in jeder Situation kontrollieren zu können und seine Worte und Handlungen mit dem exakten und erforderlichen Grad an Emotion zu versehen. Nicht mehr, nicht weniger.

Aber heute nicht.

Einen kurzen Augenblick lang ließ Brickman die Maske fallen. Er gab sich den neuen Gefühlen hin, die seine Kopfhaut kitzelten und sein Herz schneller schlagen ließen; dann konnte er nur noch nach Luft schnappen. Er lehnte sich zurück und ließ das Wesentliche – die latente Kraft der Oberwelt – durch sein gesamtes Ich strömen. Er ließ sich (hätte er den Ausdruck gekannt und verstanden, was er bedeutete) von ihrer lockenden Schönheit umarmen wie ein Liebender, der lange fort gewesen war.

War wiedervereint.

Hörte Stimmen.

Witterte Gefahr.

Erholte sich wieder. Beherrschte sich. Unterwarf sein Ich dem Dienst an der Föderation. Reinigte sich von allen Gefühlen. Zertrat den wiederentdeckten Sinn für das Wunderbare unter der eisernen Ferse seiner Wagner-Psyche.

Äußerlich wieder ganz der Alte, nahm Brickman das Gas zurück, um höher aufzusteigen. Er prüfte nach, ob er noch auf dem richtigen Kurs und unterwegs zum ersten Drittel seines Fluges war, dann richtete er die Aufmerksamkeit auf das unter ihm liegende Land.

Die Oberwelt. Die geplünderte Urheimat aller Wagner. Überrannt von den verschlagenen, grausamen Mutanten. Die Blauhimmelwelt! Die Erste Familie hatte im Namen der Föderation geschworen, sie zu reinigen und neu in Besitz zu nehmen.

Brickman konsultierte die Landkarte. Die über der Flugakademie liegende Rampe, von der er gestartet war, lag etwa fünfzehnhundert Meter über dem Meeresspiegel und genau zwischen zwei vorgeschichtlichen Ansiedlungen namens Alamogordo und Holloman AFB. Von Alamogordo waren nur ein paar schartige Mauern übrig geblieben, die in einem schwach erkennbaren, geradlinigen Muster zwischen den hellroten Bäumen aus dem Boden ragten. Holloman AFB lag in diesem Moment unter seiner Backbordschwinge: drei riesige, sich überlappende Krater, die teilweise mit Sand gefüllt waren, den der Wind herangetragen hatte.

Brickman richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die riesigen Pappelwälder.

Bäume …

Auch sie waren – wie die fernen Wolken – etwas, das er bisher nur auf Bildern gesehen hatte.

Er war momentan siebenhundertsechzig Meter hoch und stieg weiter. Er befand sich über einem Gelände, das der Kartenoffizier der Akademie als »Land der Hochebenen« bezeichnet hatte. Über seiner rechten Schulter, hinter der Rampe, konnte Brickman den steil aufragenden Gipfel der Sierra Blanca erkennen, einen Teil der Bergkette, die den Weg nach Osten verstellte. Vor ihm lag die San-Andreas-Kette, die er zwischen Black Top und Salinas Peak überqueren musste. Von dort aus lief sein Kurs in einer geraden Linie über den Jornada del Muerto zum Nordende eines großen Oberweltbeckens, das den Teil eines gewaltigen Stromes bildete, der tief in das Muttergestein des Landes biss und sich dann nach Süden davonschlängelte.

Der Rio Grande.

Trotz allem, was er gehört hatte, konnte Brickman nur schwer akzeptieren, dass die Oberwelt ebenso gefährlich wie schön war. Andererseits konnte er die Beweise aus erster Hand nicht in Abrede stellen: Sein Wächtervater, der als Flieger größte Ehren errungen hatte, war jetzt nur noch ein zusammengesunkener Schatten in einem Rollstuhl. Sein Körper war von der alles zerfressenden Krankheit gezeichnet, die jeden erwartete, der die festgelegte Anzahl der Oberwelt-Pflichtflüge überlebte.

Der über ihm liegende Himmel, das unter ihm liegende Land, die saftige, frische Luft, die seine Lunge in diesem Moment füllte – all das war mit einer tödlichen Strahlung versetzt, die jetzt schon, auf seinem ersten Ausflug, in aller Stille angefangen hatte, seinen empfindlichen Körper anzugreifen. Jeder Quadratzentimeter Boden, jeder Kubikzentimeter des Himmels enthielt den Kuss des Todes.

Diese allgegenwärtige Gefahr, die wie ein unsichtbares Leichentuch über der Welt hing, hatte zur unterirdischen Geburt der Föderation geführt und hielt sie seit fast tausend Jahren davon ab, ihren rechtmäßigen Platz an der Sonne einzunehmen. Zwar kannte man Strahlenschutzanzüge, doch ihre Plumpheit störte die Wagner, weil sie sich wie die amerikanischen Green Berets und die britischen Paras der Vorzeit für Eliteeinheiten hielten. Die Wagner waren die Crème de la Crème der Amtrak. Nach ihrer Meinung boten der geschlossene Standardhelm mit seinem Luftfiltersystem und ihre Flakjacken genügend Schutz. Strahlenschutzanzüge gehörten nicht einmal zur Standardausrüstung der Wagenzüge. Dass sie sich weigerten, Schutzanzüge zu tragen, bewertete das Hauptzentrum nicht als Bruch der Disziplin, sondern als Beweis für die Bereitwilligkeit der Bahnbrecher, für die Föderation zu sterben.

Der Querfeldeinkurs, den Brickman fliegen musste, verlief in Form eines etwa gleichschenkligen Dreiecks und umfasste eine Gesamtstrecke von dreihundertsechzig Kilometern. Die erste 120-km-Strecke verlief nordwestlich zur Mündung des Elephant-Butte-Beckens und die zweite fast parallel zum Rio Grande nach Süden, wo sie eine weitere prähistorische Ruine namens Hatch kreuzte, um schließlich den Kamm der Sierra de Las Uvas zu erreichen. Das letzte Drittel verlief im Zickzack rund um den Gipfel des Zweieinhalbtausenders, der die höchste Stelle der San-Andreas-Kette markierte. Dann ging es über die öde glitzernde Ebene von White Sands zur Rampe zurück.

Da Brickman wusste, dass die Flugprüfer unter Umständen über eine Möglichkeit verfügten, sein Flugverhalten zu beobachten, flog er in der erforderlichen Höhe von zweieinhalbtausend Metern mit einer Geschwindigkeit von hundertzwanzig Stundenkilometern einen perfekten Kurs. Er suchte den ihn umgebenden Himmel ab, bemerkte aber kein Anzeichen irgendeiner anderen Maschine.

Als die Berge hinter ihm lagen, ging er zum Landeanflug herunter. Vor ihm war das dreihundert Meter hohe, bleistiftdünne, rot-weiß-blaue Signalfeuer, das wie durch Zauberei an einer Stelle verharrte. Unter ihm breitete sich weißer Sand aus. Der Wind hatte ihn in krumme Linien gelegt, sodass er nach allen Seiten verlief, wie ein gefrorenes Meer.

Das Meer …

Brickman hatte zwar schon vom Meer gehört, aber nie Bilder von ihm gesehen. Er wusste nur, dass es hinter dem Südhorizont lag. Er kämpfte den verrückten Impuls nieder, vom Kurs abzuweichen und es zu suchen, und machte mit dem langsamen Abstieg zur Südwestrampe weiter. Als er etwa drei Kilometer von der Landebahn entfernt war, sah er einen winzigen, dreieckigen blauen Fleck, der von der Startbahn abhob. Als der Fleck eine Schleife drehte und die Sonne auf ihn fiel, wurde er zu einem silbernen Blitz. Im Südosten hing hoch am Himmel ein weiterer Mikropunkt. Da war noch einer auf dem Weg nach Hause.

Brickman nahm sofort das Gas weg und trieb mit der gelassenen Aufmerksamkeit eines Meeresvogels durch die warme Luft nach unten. Drei Stunden nach dem Start berührten die drei Räder wieder den Boden der Rampe. Er war auf die Sekunde innerhalb der Zeit, die die Oberwelt-Flugkontrolle vorausberechnet hatte.

Eine letzte, fehlerlose Vorstellung.

Als Brickman über die Rampe fuhr, hatte er das Gefühl, als sprängen die sich nähernden Wände nach oben, um ihn von der Oberwelt abzuschneiden, um ihn einzukesseln und zu ersticken. Innerhalb weniger Sekunden blieb vom Himmel nur noch ein flacher blauer Fleck übrig, den er durch die transparenten Schwingenplatten über dem Cockpit sehen konnte.

Als der Himmelsfalke die gelbe Doppellinie erreichte, glitten die Rampentore geräuschlos auf. Das grüne Licht signalisierte, dass er einfahren konnte.

Brickman wusste zwar, dass der hell erleuchtete, hinter dem Tor liegende Tunnel Sicherheit bedeutete und absoluten Schutz gegen die Gefahren der Oberwelt bot, doch in diesem Moment war er wie gelähmt und wurde von einer unerklärlichen Furcht gepackt.

Von der Furcht, lebendig begraben zu werden.

Er trat mit einer Reflexbewegung auf das Bremspedal und hielt den Bug des Himmelsfalken auf der gelben Doppellinie an. Eine Sekunde. Zwei, drei, vier, fünf. Sechs, sieben …

Ein kratziges Horn blökte warnend auf. Die Stimme des Lotsen sagte ruhig in sein Ohr: »Machen Sie die Rampe frei, Easy X-Ray Eins.« Die Stimme hielt inne, dann fügte sie hinzu: »Ihre Datenleitung sendet nicht, aber wir empfangen kein Schadenssignal. Überprüfen Sie das System. Ende.«

Brickman zog den rechten Arm zurück und warf einen Blick auf den an seinen Körper angeschlossenen Datenumwandler. Ein kalter Schauer lief seinen Rücken hinab. Er war abgeschaltet! Er musste ihn irgendwie versehentlich mit dem Ellbogen erwischt haben. Gütiger Christoph Kolumbus! Wie war ihm das blöde Kunststück nur gelungen? Und wann? Er stellte den Schalter schnell auf »An« und verwünschte sich stumm. Scheiße! Scheiße! Dreimal verfluchte Scheiße! Du Blödmann! Du hast es vermasselt!

Die sanfte, körperlose Stimme der Bodenkontrolle unterbrach seine Verwirrung. »Okay, wir haben Ihre Daten. Fahren Sie die Maschine rein, Easy X-Ray Eins!«

Brickman zwang sich innerlich und äußerlich zur Ruhe, nahm den Fuß von der Bremse und ließ die Maschine unter der hochgezogenen oberen Hälfte des Außentors einfahren. Als er drin war, hob sich der untere Teil mit einem kaum hörbaren Zischen, und die beiden Innentorhälften glitten aus den Wänden. Als das helle Rechteck des Tageslichts in seinem Rückspiegel rapide schrumpfte und hinter den überlappenden Betonvorhängen verschwand, tat Brickman sein Bestes, um die eigenartigen besorgniserregenden Gefühle zu verdrängen, die ihn während des Fluges gepackt hatten. Es waren gefährliche, verräterische Gefühle, die er nicht in Worte kleiden konnte; Gefühle, die er zwar gern vergaß, aber von denen er wusste, dass sie ihn für den Rest seines Lebens heimsuchen würden.

Brickman hatte das Gefühl der Freiheit erlebt. Seine Unfähigkeit, es zu erkennen oder zu artikulieren, war völlig verständlich, denn das Wort »Freiheit« existierte im Wörterbuch der Föderation nicht. Zwar war es den höchsten Rängen der Ersten Familie bekannt, aber offiziell existierte es nicht einmal als Vorstellung.

CFL Carrol gab den Angehörigen der Abschlussklasse mit einem Wink zu verstehen, dass sie sich setzen sollten, und nahm seinen Platz hinter dem Podium ein. Seine sechs Assistenten reihten sich, von Mr. Triggs angeführt, hinter ihm an der Wand auf.

»Sie haben sich lange abgestrampelt«, begann Carrol, »aber endlich haben wir das Klassenziel erreicht. Nach dem Urlaub in Ihren Heimatbasen werden Sie zu Ihren neuen Einheiten versetzt und treten in den aktiven Dienst. Bis dahin müssen Sie für die große Jubiläumsparade pauken – deswegen ist das möglicherweise die letzte Gelegenheit für mich, Sie als Einheit anzusprechen. Ich habe mir gedacht, ich nutze die Gelegenheit deswegen für ein paar Abschiedsworte.«

Carrol legte eine Pause ein und ließ den Blick langsam über die sitzenden Kadetten schweifen. »Ich habe die Ergebnisse gesehen …«

Die Abschlussklasse reagierte mit aufgeregtem Geraschel.

Carrol hob eine Hand. »Immer langsam. Die Noten und Plätze werden, wie angekündigt, erst morgen veröffentlicht. Ich kann Ihnen allerdings jetzt schon sagen, dass uns niemand Schande gemacht hat und keiner wieder bei null anfangen muss.«

Die Nachricht wurde mit absoluter Stille aufgenommen.

Carrol schüttelte ungläubig den Kopf, dann wandte er sich zu seinen Assistenten um. »Es ist nicht zu fassen! Keiner von ihnen scheint auch nur im Geringsten überrascht zu sein.«

Die dreihundert Kadetten, über ein Drittel von ihnen weiblichen Geschlechts, brachen in ein schallendes Gelächter aus. Jeder wusste, dass es niemanden den Kopf kosten würde, wenn er heute die Zähne bleckte. Bei Carrol konnten sie es sich erlauben.

»Ich weiß, was Sie jetzt denken«, fuhr Carrol fort. »Sie denken: Jetzt kommt sie, seine Standardansprache, die er vor jeder Abschlussklasse hält. Aber so ist es nicht. Ich muss Ihnen eins sagen: Als Sie vor drei Jahren zu uns kamen, sind wir davon ausgegangen, dass man uns eine Bande von Gipsköpfen aufgehalst hat. Aber Sie haben sich alle tüchtig ins Zeug gelegt. Einige von Ihnen mehr als die anderen.« Sein Blick blieb kurz auf Brickman haften. »Tatsächlich haben Sie alle dermaßen gute Noten erzielt, dass das Durchschnittsergebnis das höchste in der Akademiegeschichte ist.«

Die Klasse von 2989 beglückwünschte sich jubelnd selbst. Die sechs Fluglehrerassistenten lächelten leidenschaftslos.

Carrol winkte schüchtern ab, um für Ruhe zu sorgen. »Ja, im Grunde müsste ich Ihnen wohl gratulieren … aber die Wahrheit ist, dass Sie das Leben für uns damit noch schwieriger gemacht haben! Denn von jetzt an erwartet das Hauptzentrum natürlich, dass wir im nächsten Jahr noch besser abschneiden.« Carrol warf einen Blick über beide Schultern auf seine Assistenten. »Und das, meine Herren, bedeutet wiederum, dass wir den Neuen gewaltig in den Arsch treten müssen.«

Die sechs Assistenten reagierten mit spöttischer Resignation. »Wir könnten auch eine Beförderung beantragen«, sagte Triggs.

Carrol deutete mit dem Finger auf seinen Ersten. »Eine gute Idee.« Er wandte sich wieder zur Klasse um, legte die Hände zielbewusst an die Oberkante des Podiums und räusperte sich.

Die Klasse von 2989 nahm Haltung an und setzte ernste Mienen auf.

»Okay, also hergehört! In ein paar Tagen wird man Ihnen etwas an die Brust heften. Dann sind Sie Piloten. Die erste Garnitur der Amtrak-Föderation. Es ist ein großer Augenblick. Genießen Sie ihn. Aber glauben Sie nicht, dass das Leben jetzt leichter wird und die harte Arbeit zu Ende ist. Vor Ihnen liegen noch zwölf Monate Betriebsausbildung, und die fangen an, sobald Sie bei Ihrer Einheit sind. Wenn Sie klug sind, hören Sie mit dem Lernen auch dann nicht auf, wenn Sie die Silberschwinge gegen die Goldene eintauschen. Machen Sie weiter! Weil es die einzige Chance ist, ein noch besserer Flieger zu werden. Vergessen Sie nie: Wenn die Würfel gefallen sind und das Glück Sie gerade verlassen hat, sind es immer die schnellsten Piloten, die zur Basis zurückkehren.« Carrol hielt inne, sein Blick schweifte über die Reihen der strahlenden und aufmerksamen jungen Gesichter. Dann öffnete er mit einem Anflug von Bedauern den Mund. »Aber wer weiß? Wenn Sie nicht abschmieren und auf keine Tricks hereinfallen, enden einige von Ihnen vielleicht sogar damit, dass sie – wie ich – vor einer Klasse eine Rede halten.«

Die Zuhörer reagierten mit einem trockenen, abgehackten Lachen. »Abschmieren« war Wagnerjargon und bezeichnete eine Bruchlandung in feindlicher Umgebung, die meist fatale Folgen hatte. Es bedeutete auch nichts Gutes, wenn jemand »ins Fleischgeschäft einstieg«, denn es war allgemein bekannt, dass die Mutanten jeden auffraßen, der ihnen lebend in die Hände fiel. Auf einen »Trick hereinfallen« war eine freundliche Umschreibung für den Tod – geboren aus einem Akronym der Ärztekammer: TRIK war die Abkürzung für »Tödlicher radioaktivitätsinduzierter Krebs«.

Die meisten Flieger, die auf der Gefallenenliste der Akademie standen, waren entweder abgeschmiert oder auf einen Trick hereingefallen – in der Regel bevor sie das reife Alter von dreißig Jahren erreicht hatten. Carrol wusste, dass mindestens die Hälfte der ihn in diesem Moment ansehenden jungen Gesichter nach ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag nie wieder die Sonne aufgehen sehen würden. Auch seine Zuhörer wussten es. Aber es scherte sie einen Dreck. Jedes Jahr wurden die dreihundert Akademie-Studienplätze von vielen Tausend Aufnahmeanträgen überschwemmt.

Und dies war – so stand es im Handbuch – die große Stärke der Amtrak-Föderation: Der knallharte Mut und die absolute Hingabe der Wagner. Zwei der Sieben Großen Tugenden, die auch die Amtrak-Gründer auszeichneten. Die Forager und Minutemen. Qualitäten, die man heute in der Ersten Familie und in den Angehörigen der beiden Elitekompanien verehrte, die ihren Namen trugen. »Sie starben, damit andere leben.« Die Botschaft stand auf sämtlichen Mauern der Föderation, und jeder Wagner wurde von Geburt an ermutigt, ihrem Beispiel zu folgen.

Ohne Fragen zu stellen.

Als die Prüfungsresultate auf den Bildschirmen erschienen, stellte Brickman zu seiner Überraschung fest, dass er nach drei Jahren hingebungsvoller und unbarmherziger Arbeit mit 188 Punkten an vierter Stelle stand – hinter Pete Vandenberg vom Kondor-Geschwader; einem Kadetten, von dem er angenommen hatte, er werde hinter ihm, dem strahlenden Sieger, der armselige Zweite sein. Das allein war schon schlimm genug, aber es kam noch schlimmer: Gus White, ein Flieger aus seiner Gruppe, den er überhaupt nicht in seine Berechnungen einbezogen hatte, stand auf dem zweiten Platz und war mit 189 einen Punkt vor Vandenberg gelandet. Donna Monroe Lundkwist vom Adler-Geschwader, von der Brickman angenommen hatte, sie könne unter den ersten zehn sein, stand mit 192 Punkten auf dem ersten Platz. Man hatte sie zum Ehrenkadetten nominiert, und sie würde die Minuteman-Trophäe erhalten.

Brickman nahm die Glückwünsche der anderen Adler-Kadetten, die sich ebenfalls um die Schirme drängten, gelassen entgegen, dann zog er sich in seine Bude zurück, verkeilte die Tür und verbrachte zwei stille, einsame Stunden mit dem Versuch, zu verstehen, was eigentlich passiert war. Er vollzog alle Schritte nach, die er bei den einzelnen Tests gemacht hatte, aber er fand nichts, was ihn hätte Punkte kosten können. Sein einziger Fehler hatte in seinem fatalen Zögern nach der Landung auf der Rampe bestanden, aber es war ihm einfach unverständlich, dass diese sieben Sekunden ihn nicht nur den ersten Platz gekostet hatten – der ihm seiner Meinung nach zustand –, sondern auch den zweiten und dritten.

Und dass er sich so weit hinter einem hoffnungslosen Fall wie Gus White wiederfand, der bei den monatlichen Zwischenprüfungen nicht einmal in seine Nähe gekommen war! Es passte einfach alles nicht zusammen …

Na schön, da war noch das zusätzliche Problem der drei Minuten langen Unterbrechung bei der Übermittlung der Sensordaten gewesen, aber das hatte er nach der Landung ausführlich mit den Prüfern und der Bodenkontrolle besprochen. Alle hatten akzeptiert, dass er den Schalter versehentlich bewegt hatte. Datenumwandler funktionierten in fliegenden Himmelsfalken nicht fehlerfrei, und bei der Diskussion mit den Prüfern hatte man sogar eingeräumt, der seine sei ungeschickt angebracht worden. Da hatte man ihm Verständnis vorgeheuchelt und ihn dann trotzdem brutal benachteiligt.

Na schön. Eines Tages würde er es ihnen heimzahlen: Lundkwist, Gus White, Carrol, den Flugprüfern, und allen, die er noch nicht kannte; all jenen, die sich verschworen hatten, ihn zu demütigen. Sie würden alle dafür bezahlen. Es würde Jahre dauern, aber das machte seine Rache nur noch süßer.