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Sagenhafte Morde auf dem Mittelaltermarkt Weil Kommissarin Anne Kirsch ihre Befugnisse bei ihrem letzten Fall überschritten hat, wird sie von ihrem Vorgesetzten zu einer Teambildungsmaßnahme ins Sauerland geschickt. Durch Zufall erfährt sie dabei von seltsamen Vorfällen auf dem Mittelaltermarkt in Obermarsberg. Ein Mann wird von einem historischen Brandeisen geblendet aufgefunden. Kurz darauf entdeckt die Polizei eine Leiche. Anne wird als Vertreterin der Mordkommission offiziell zu den Ermittlungen hinzugezogen. Sie bekommt den Tipp, dass die Fälle verschiedenen Sagen aus der Region ähneln. Doch plötzlich verschwinden zwei weitere Menschen, und Anne und ihr Team geraten unter Zeitdruck … Von Mareike Albracht sind bei Midnight in der "Ein-Fall-für-Anne-Kirsch"-Reihe erschienen: Katz und Mord Dornentod Erzähl mir vom Tod Mordskälte
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Die AutorinMareike Albracht wurde 1982 geboren. Die ausgebildete Diplom-Finanzwirtin ist Mutter von drei Kindern und lebt mit ihrer Familie im Sauerland. Dort beschloss sie, ihren Kindheitstraum zu verwirklichen und ihre Liebe zur Heimat mit ihrer Leidenschaft für das Schreiben zu kombinieren. 2016 belegte sie den dritten Platz auf der Shortlist des Krimi-Stipendiums der Mörderischen Schwestern.
Das Buch
Sagenhafte Morde auf dem MittelaltermarktWeil Kommissarin Anne Kirsch ihre Befugnisse bei ihrem letzten Fall überschritten hat, wird sie von ihrem Vorgesetzten zu einer Teambildungsmaßnahme ins Sauerland geschickt. Durch Zufall erfährt sie dabei von seltsamen Vorfällen auf dem Mittelaltermarkt in Obermarsberg. Ein Mann wird von einem historischen Brandeisen geblendet aufgefunden. Kurz darauf entdeckt die Polizei eine Leiche. Anne wird als Vertreterin der Mordkommission offiziell zu den Ermittlungen hinzugezogen. Sie bekommt den Tipp, dass die Fälle verschiedenen Sagen aus der Region ähneln. Doch plötzlich verschwinden zwei weitere Menschen, und Anne und ihr Team geraten unter Zeitdruck …Von Mareike Albracht sind bei Midnight in der »Ein-Fall-für-Anne-Kirsch«-Reihe erschienen: Katz und Mord DornentodErzähl mir vom Tod
Mareike Albracht
Erzähl mir vom Tod
Ein Sauerland-Krimi
Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de
Originalausgabe bei Midnight Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin September 2017 (2) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © Erich Latzelsberger ISBN 978-3-95819-128-0 Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Die Vitrine steht offen, und es brennt kein Licht im Heimatmuseum. Doch ich muss nichts sehen, um mich orientieren zu können. Oft genug war ich mit Vater hier, musste mir die Beine in den Bauch stehen und ruhig sein, während er mit anderen Erwachsenen sprach.
Heute Nacht ist er nicht da. Niemand ist da.
Ich trete näher, betrachte das Schwert einen Moment, um den Augenblick hinauszuzögern, bevor ich die Hand ausstrecke und mit den Fingerspitzen über die kalte Klinge fahre. Ich habe mir vorgestellt, wie es sein wird, doch reicht meine Vorstellung nie an die Wirklichkeit heran.
Ich muss Dinge berühren. Fühlen. Das war schon immer so.
Das ist auch der Grund, warum ich die Geschichtsbücher meines Vaters verbrannt habe. Ich wusste, welche ihm die liebsten waren. Danach verteilte ich die verkohlten Reste auf seinem Schreibtisch. Ich wollte sehen, wie er weiß vor Zorn wurde, wollte ihn brüllen hören, aber noch mehr wollte ich seine Hand auf meinem Gesicht spüren. Ich wollte, dass er mich endlich sah. Und tatsächlich wurde er weiß, so weiß wie unsere gehäkelten Gardinen. Doch er schlug mich nicht, sondern packte mich nur und schleifte mich ins Gästebad. Dort schloss er mich ein.
Ich streiche noch einmal über die Klinge, dann greife ich nach dem goldenen Heft. Ich wusste, dass das Muster rautenförmig ist, doch erst jetzt wird es unter meinen Händen Wirklichkeit. Das Schwert Karls des Großen. Ich schließe meine Finger um den Griff und hebe es aus der Vitrine. Ich werde das Schwert. Werde er.
Ich denke an Hannah Wicke und ihre Geschichten. Ich weiß alles über Karl den Großen. Als Kinder haben wir immer in Hannahs Laden gesessen, die Bonbons gelutscht, die sie uns geschenkt hat. Dann erzählte sie uns Sagen und Legenden. Sie erzählte von der Burg auf dem Eresberg. Einer großartigen Festung, die das Heiligtum der Sachsen beheimatete, die Irminsul. Sie erzählte von einer großen Belagerung, von erbitterten Kämpfen und einer gnadenlosen Schlacht. Von Karl dem Großen, der mit seiner Streitmacht den Berg bezwang und die Festung belagerte.
Tagsüber waren wir viele Kinder. Abends schlich ich mich oft alleine aus dem Haus. Dann klopfte ich an das Fenster von Hannahs Zimmer, das über dem Laden lag. Dafür musste ich auf eine Mauer klettern. Kurz darauf öffnete sie mir und ließ mich zu ihren Füßen sitzen, wenn sie Socken strickte. Dabei erzählte sie, und manchmal legte sie ihr Strickzeug beiseite und strich mir mit der Hand über den Kopf. Um dieses Streicheln zu spüren, kam ich Abend für Abend wieder.
Ich umschließe die Klinge mit meiner Hand, fahre an ihr entlang. Ganz leicht nur, bis ich das Brennen spüre. Auch das Blut ist dunkel. Aber das macht nichts. Ich fühle es.
Bald werde ich aus dem Schatten hervortreten und dir zeigen, wer ich wirklich bin. Meine Vision offenbaren. Ich denke an das, was kommen wird. Ich denke an dich, und mein Körper bebt vor Erregung. Du liegst auf dem Bett, und dein rotes Haar fällt wie ein Vorhang auf deinen Rücken. Du bist nackt, drehst dich um und siehst mich an. Deine Augen sind meine Einladung. Du hast mich verhext. Bist in meinen Kopf gekrochen wie eine Schlange und hast meine Gedanken vergiftet, damit ich nur noch an dich denken kann.
Du denkst, du hättest mich um den Finger gewickelt, glaubst, ich sei dir hörig. Aber du täuschst dich in mir, Schätzchen, und wie du dich täuschst! Du siehst nur das, was ich die Welt sehen lasse. Eine Rolle, die ich spiele, die ich in einer kalten Kindheit erlernt habe, bis zum Erbrechen.
Du hebst die Hand und streichelst dich, dabei siehst du mich unverwandt an. Du hältst meinen Blick fest. Denkst, du würdest mich gefangen nehmen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Aber das wirst du schon noch sehen.
Mittwoch, 30. August
Die letzten Zeilen des Stundenliedes verklangen, und Finn setzte sein Horn an die Lippen, um zusammen mit den anderen ein letztes Mal hineinzustoßen. Der Ton hallte weit durch die Nacht, durch die Straßen und Gassen von Obermarsberg. Ein Gruß an eine vergangene Zeit. An die Geschichte, die hier auf dem Eresberg so gegenwärtig war wie an keinem anderen Ort, den er kannte.
Die dreizehn Nachtwächter standen im Halbkreis um das Haus von Winfried Raschke, bekleidet mit schwarzen Mänteln, Leinenhemden, schwarzen Hosen und Hüten und leuchtend roten Strümpfen. Die Lichter ihrer Laternen erhellten die Straße. Als der Hörnerton verklungen war, trat Finns Vater Norbert vor. Es gab keinen Anführer unter den Zunftbrüdern, doch hätte es ihn gegeben, dann wäre er es gewesen. Wenn er sprach, lauschten alle. Wo er stand, gruppierten sich die anderen im Kreis um ihn.
Norbert gratulierte Winfried zum sechzigsten Geburtstag. In einer kurzen Rede sagte er den Zunftbrüdern, wie viel es ihm bedeutete, wenn sie zusammen waren und die Traditionen aufrechterhielten.
»Noch vor einigen Jahren kamen die Leute auf die Straße, um die Nachtwächter zu hören. Heute lassen sie die Rollläden herunter.« Er deutete auf ein Haus, dessen Fenster verrammelt waren, als erwarteten die Bewohner eine Heuschreckenplage.
»Manche sehen nicht ein, wie wichtig es ist, die eigene Geschichte am Leben zu erhalten. Sie ist es, was die Oberstadt einzigartig macht. Unsere Identität, unser Lebenselixier.«
Er erzählte noch einiges mehr, aber Finns Aufmerksamkeit ließ schlagartig nach, als sich die Haustür hinter Winfried öffnete und Kanea herauskam. Fast hätte er sie nicht wiedererkannt und starrte sprachlos auf den modernen Kurzhaarschnitt mit den einrasierten Mustern am Hinterkopf. Was zum Teufel hatte sie gemacht? Das letzte Mal, als er sie gesehen hatte, war sie noch blond gewesen. Ihre neue Frisur gefiel ihm nicht, nein, ganz und gar nicht.
Trotzdem klopfte sein Herz unvernünftig schnell, als sie mit einem Tablett vorbeikam.
»Magst du eine Cola trinken? Oder Bier? Das gibt’s da hinten bei meinem Vater.«
»Eine Cola ist gut, danke.« Für einen kurzen Moment berührten sich ihre Fingerspitzen. Eine peinliche Pause entstand. Dann hob Winfried Raschke seine Bierflasche. »Auf euch, Zunftbrüder!«
Finn sah seinen Vater in einer fröhlichen Runde stehen und gesellte sich dazu. Norbert gab eine Anekdote zum Besten: »Damals suchten die Nachtwächter die Wohnungen von Frischverheirateten heim. Jede Stunde versammelten sie sich vor den Häusern, wenn möglich unter dem Schlafzimmerfenster. Dann tuteten sie, damit die neuen Eheleute in ihrer Hochzeitsnacht nicht einschliefen. Schließlich sollten in Obermarsberg Kinder geboren werden. Ich finde, wir sollten diese Tradition wiederaufleben lassen.«
Die anderen lachten, und Finn stimmte mit ein, obwohl er wusste, dass das Thema einen ernsten Hintergrund hatte. Norbert machte sich Sorgen, da viele junge Leute die Oberstadt verließen und wie überall in Deutschland zu wenig Kinder geboren wurden. Vor ein paar Jahren hatte die Grundschule deswegen schließen müssen.
Die Nachtwächter tranken aus und traten den Heimweg an. Nur Finn blieb zurück und half Kanea und ihrem Vater, die Gläser und Flaschen einzusammeln. Die ganze Zeit hoffte er, Winfried würde endlich ins Haus gehen. Aber als es so weit war, wusste er nicht, worüber er reden sollte.
»Du hast noch gar nichts zu meiner neuen Frisur gesagt.« Sie lächelte und drehte den Kopf. »Gefällt es dir?«
»Ist mal was anderes.«
Was sollte er sonst auch sagen? Es war passiert und nicht mehr zu ändern. Jetzt musste man zweimal hinsehen, um die Kanea zu erkennen, mit der er aufgewachsen war. Ein wildes Mädchen mit blonden Zöpfen wie kleine Rattenschwänze. Die Knie ständig aufgeschürft. Im Sommer hatte sie für sich und Finn Eis aus der gut gefüllten Kühltruhe ihrer Eltern geklaut. Eine gute Zeit, an die er sich gern erinnerte.
»Du kommst nicht mehr so oft ins Sauerland.«
»Das Studium«, seufzte Kanea.
»Ja, das verstehe ich«, sagte Finn, obwohl er nicht verstand, warum sie ihr Studium in Kassel davon abhielt, an den Wochenenden nach Hause zu kommen.
Er nahm seine Hellebarde und die Laterne, die er an der Hauswand abgestellt hatte. »Sehen wir uns morgen?«
»Bestimmt. Jessica und ich haben einen Stand auf dem Markt, und bisher steht noch nicht mal die Hütte. Vielleicht kannst du uns beim Aufbauen helfen?«
»Das mache ich«, versprach Finn und ging zurück zum Zunftraum, um sein Kostüm abzulegen. Die anderen Nachtwächter waren bereits nach Hause gegangen. Finn zog den Schlüssel ab, der im Schloss steckte, und machte sich auf den Heimweg.
Holzhütten und Zeltgerüste säumten die Eresburgstraße zu beiden Seiten und ließen bereits erahnen, wie die Oberstadt am Samstag, dem großen Markttag, aussehen würde, wenn alles fertig war. Noch fehlten Dekoration und Beleuchtung, und die Straße war menschenleer. Die Helfer, die jeden Tag bis spät in die Nacht arbeiteten, hatten sich vor einigen Stunden am Dorfbrunnen versammelt, um ein Feierabendbier zu trinken und die gemeinsame Vorfreude zu genießen. Der historische Markt, der alle drei Jahre in Obermarsberg stattfand, war der Höhepunkt aller Veranstaltungen in der Umgebung. Im Gegensatz zu anderen Mittelaltermärkten wurde dieser durch die Dorfgemeinschaft gestemmt, die sich selbst stolz die Oberstädter nannten. Hier in Obermarsberg, das auf der Spitze des Eresbergs thronte, verschmolz die Geschichte mit der Gegenwart. Und an keinem Tag im Jahr war das so spürbar wie zur Marktzeit.
Finn ging am Skelett eines großen Festzeltes vorüber, das nicht mehr zu Ende aufgebaut worden war. Daneben standen Bänke, Bierkästen und Bretter. Sie hatten heute schon viel geschafft, aber morgen würde ein weiterer arbeitsreicher Tag werden. Die Brandhütte musste noch errichtet werden, und für das große Ritterzelt brauchten sie ein Dutzend Helfer. Und dann Kaneas und Jessicas Hütte.
Finn war so in Gedanken versunken, dass er das Geräusch erst wahrnahm, als er es zum zweiten Mal hörte. Ein dumpfes Stöhnen und Knarren. Es kam von rechts aus einer Seitenstraße vom ehemaligen Rathaus. Wo der Schandpfahl stand.
Wie alle Obermarsberger war Finn an den Anblick des historischen Prangers gewöhnt, so dass er ihn kaum mehr als etwas Besonderes wahrnahm. Ein Eisenkäfig umschloss eine kreisförmige Plattform, die auf einer dicken Steinsäule ruhte. Im Mittelalter waren hier Verbrecher zur Schau gestellt worden. Der Pranger war eins der Wahrzeichen der Oberstadt, tausendmal fotografiert. Ein Highlight der Stadtführungen, zu dem es unzählige Geschichten gab.
Jetzt stand jemand oben auf der Plattform. Eine dunkle Gestalt.
Sie bewegte sich nicht. Aber Finn hörte wieder dieses dumpfe Geräusch, das ihm sagte, dass dies keine Einbildung war.
Die Wicke und ihr irres Gebrabbel kamen ihm in den Sinn. Er hatte die alte Frau heute Morgen im Dorf getroffen, als er beim Aufbauen des Marktes geholfen hatte. Sie hatte sich auf ihre Gehhilfe gestützt und war bei ihm stehen geblieben.
»Dieb, Dieb, Dieb«, hatte sie vor sich hin gemurmelt wie ein Mantra und ihn mit trüben Augen angestarrt.
Finn, der wusste, wie verwirrt Hannah Wicke war, ignorierte sie für gewöhnlich. Aber jetzt kamen ihm ihre Worte wieder in den Sinn: »Der Deibel wird dich holen, Theile. Der Deibel steht beim Kaak.«
Sie hatte Kaak gesagt und nicht Pranger, aber es bedeutete dasselbe. Ein altes Wort für den Schandpfahl.
Der Teufel steht am Pranger?
Finn hob den Blick. »Wer ist da?« Seine eigene Stimme klang fremd in seinen Ohren.
Die Gestalt auf dem Pranger antwortete nicht, aber Finn hatte das Gefühl, dass sie sich kaum merklich bewegte. Er fragte sich, ob das hier ein Scherz sein könnte. Ein Streich, den ihm seine Zunftbrüder spielen wollten. Doch ihm war nicht nach Lachen zumute. Dafür war die Situation zu eigenartig, und hinzu kam die Warnung der verrückten Alten.
Vielleicht sollte er einfach weitergehen. Doch was, wenn er dem Teufel den Rücken zukehrte? Würde er dann vom Pranger herunterkommen?
Finn wischte die Vorstellung ärgerlich beiseite. Das war Fantasterei und hatte nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Wer oder was auch immer dort oben stand, war ganz sicher irdischen Ursprungs. Vielleicht eine der Puppen aus dem Heimatmuseum. Oder doch ein Mensch?
Finn griff kurz entschlossen nach den unteren Streben des Eisenkäfigs und kletterte an der Säule empor. Es gelang ihm, sich hochzuziehen, indem er den Fuß zwischen den Streben einhakte.
Die Gestalt bewegte sich nicht von der Stelle, als Finn sich über den Rand auf die Plattform hievte. Er näherte sich, berührte die dunklen Umrisse. Es war ein Mensch, und er war an den Handgelenken mit etwas Dünnem an den Eisenring gefesselt. Vielleicht Kabelbinder. Ein Sack bedeckte den Kopf. Es roch durchdringend nach Urin und etwas Süßlichem. Der Gefesselte stöhnte und atmete schnaufend durch die Nase.
»Halt still! Dann mache ich dich los.«
Finn griff den Sack und zog ihn herunter. Ein kalkweißes Gesicht kam zum Vorschein. Es war Grufti-Thomas, der Bäckergeselle. Ein Tuch war um seinen Mund gebunden, und er atmete hektisch durch die Nase.
Finn versuchte den Knebel zu lösen, der fest an Thomas’ Hinterkopf verknotet war. Dabei stieß er gegen etwas Großes, Weiches, das vor der Brust des Gesellen hing.
Der Knoten öffnete sich, und Thomas würgte etwas aus seinem Mund heraus. Dann rang er nach Atem und schluchzte gleichzeitig heftig. »Mach mich los, mach mich los!«
»Ja, sofort.« Finn stellte fest, dass es tatsächlich Kabelbinder waren, die Thomas’ Hände festhielten.
»Die krieg ich so nicht ab. Ich brauche eine Schere.«
Thomas keuchte. »Beeil dich!«
»Ich klingle bei den Nachbarn. Dauert nicht lange.«
»Da hängt was um meinen Hals. Was ist das?«
Finn fand das Seil, das um Thomas’ Nacken hing, an dem das weiche, große Etwas befestigt war. Als er es in den Händen hielt und erkannte, wurde ihm schlecht vor Ekel. Es war ein Laib Brot, über und über mit Schimmel bedeckt.
Die Nachbarin, Frau Henne, lieh Finn eine Schere und half ihm, den Bäckergesellen von der Plattform des Prangers herunterzuheben. Unten sackte Thomas in sich zusammen. Am Boden kauernd rieb er seine Handgelenke und stöhnte leise.
»Dass ihr’s aber auch immer übertreiben müsst, Jungs!«, bemerkte Frau Henne mit verschränkten Armen. Über ihren Pyjama hatte sie eine ockerfarbene Strickjacke gezogen.
Finn beugte sich zu Thomas hinunter. »Kannst du aufstehen?«
Der Geselle griff nach seinem Arm und erhob sich mühevoll. Auf Finn gestützt konnte er stehen.
Frau Henne schüttelte den Kopf. »Ihr solltet vor den Markttagen nich’ so viel saufen, woll? Das wird noch anstrengend genuch.«
Thomas würgte trocken, und sie schreckte auf. »Kerr! Reier mir nich’ in den Vorgarten!« Energisch kam sie die Stufen herab und schob die beiden in Richtung Straße. »Geht ma lieber schnell nach Hause. Und trinkt nich’ so viel Schnaps, sach ich immer. Bringste deinen Freund nach Hause, Finn? Und nächstes Mal sollers bisschen langsamer gehen lassen, woll? Finger wech vom Schnaps!«
Er ist nicht mein Freund, dachte Finn, sagte aber nichts. Genau genommen mochte er Thomas nicht einmal besonders gern, aber hierlassen konnte er ihn auch nicht.
Frau Henne hatte recht, der Geselle war ordentlich blau. Sie kamen nur langsam vorwärts, wobei Thomas sich schwer auf Finns Schulter stützte. Er musste sich bepinkelt haben, denn seine Sachen stanken zum Gotterbarmen.
Finn lebte in einer Dachgeschosswohnung im Haus seiner Eltern. Er hatte dort eine kleine Küche, benutzte sie aber selten. Wenn er mit der Ausbildung zum Industriemechaniker fertig war, wollte er für ein paar Jahre weg. Einmal etwas anderes sehen, bevor er nach Obermarsberg zurückkehrte. Denn zurückkommen würde er, das hatte er sich selbst und seinem Vater versprochen. Es reichte, wenn sein Bruder Ralf in Frankfurt lebte.
»Wenn die jungen Leute nicht zurückkommen, wird Obermarsberg vor die Hunde gehen«, hatte Norbert einmal in einer düsteren Stimmung gesagt. Finn war tief bestürzt gewesen. Selten hatte er seinen Vater so niedergeschlagen erlebt. An diesem Tag hatte er beschlossen, dass die Oberstadt nicht vor die Hunde gehen würde. Nicht, wenn er es verhindern konnte.
Diese und nächste Woche hatte Finn sich Urlaub genommen. Viele seiner alten Schulfreunde waren jetzt im Ort. Denn jeder, der irgendwelche Verbindungen zu Obermarsberg hatte, reiste zum historischen Markt ins Sauerland. Auch Ralf, sein zehn Jahre älterer Bruder. Er hatte gestern sein altes Zimmer bezogen, das oben in Finns Wohnung lag. Als er angekommen war, hatte Finn die Tür hinter ihnen beiden geschlossen. Für einige Minuten nur hatte er Ralf ganz für sich haben wollen.
»Hier ist ja alles wie immer.«
Normalerweise ärgerte sich Finn, wenn Ralf so etwas sagte. Schließlich bedeutete es, dass sich hier nie etwas änderte, dass sein Bruder allein das Recht auf Neuigkeiten hatte. Aber gestern hatte Finn nur zufrieden genickt. Alles wie immer – zum Glück!
»Alle sind in heller Aufregung wegen Samstag. Im ganzen Dorf wird über nichts anderes geredet, und wir schuften jeden Tag von morgens bis abends. Aber das kennst du ja.«
Ralf hatte den rechten Teil seines Kleiderschrankes geöffnet. Seine Ritterrüstung, das hellgrüne Wams und die Leinenwäsche hingen dort. Von ihrer Mutter Eva vor Tagen sorgfältig gewaschen und gebügelt. Und das Langschwert mit glänzendem Silbergriff.
Als Kind hätte Finn alles dafür gegeben, einmal zusammen mit seinem Bruder als Ritter auftreten zu dürfen. Doch die Zeiten waren lange vorbei.
»Wollte Sandra nicht mitkommen?«
»Und mit Toni in meinem alten Kinderzimmer wohnen? Ist das dein Ernst?«
»Ihr könntet noch ein Zimmer haben …«
»Klar«, hatte Ralf ihn unterbrochen. »Aber du weißt ja, wie das beim historischen Markt ist. Die anderen Jungs und ich müssen für den Schaukampf noch eine Menge üben. Ich hätte kaum Zeit für die beiden. Da sind sie zu Hause in Frankfurt besser aufgehoben. Außerdem, wenn ich schon mal hier bin, möchte ich mit meinen alten Freunden feiern. Und nicht hier sitzen und babysitten.«
Als Finn am nächsten Morgen in die Küche kam, saß sein Vater am Frühstückstisch und seine Mutter Eva hatte frischen Kaffee gekocht. Ralf war noch nicht heruntergekommen.
»Ich habe im Zunftraum auf dich gewartet«, sagte Norbert beiläufig. »Du hast dir schön lange Zeit gelassen.«
Finn täuschte er damit nicht. Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Was du wieder denkst. Es ist nichts passiert. Kanea und ich sind nur Freunde. Nein, ich habe Thomas gefunden. Jemand hatte ihn an den Schandpfahl gefesselt.« Er erzählte in knappen Worten, was am Abend zuvor passiert war. »Es ist, als hätte jemand die Sage vom Bäcker nachgestellt. Die steht doch auf der Schautafel am Pranger. Ein Bäcker hatte zu leichtes Brot gebacken und wurde deshalb mit einem Brot um den Hals durch die Stadt getrieben und hinterher am Schandpfahl zur Schau gestellt.«
Norbert sah ernst drein. »Besonders witzig finde ich das nicht. Aber es passt zu diesen komischen Freunden von ihm. Scheele Typen sind das. Grüßen nicht auf der Straße und lungern auf Spielplätzen herum.«
»Als wir gestern am Brunnen gesessen haben, waren Thomas und seine Clique auch da. Vielleicht weiß Ralf, was passiert ist. Er war noch dort, als wir uns im Zunftraum getroffen haben.«
»Willst du nicht warten?«, fuhr Eva Norbert an, der schon zu essen begonnen hatte. »Was ist mit Ralf?«
»Lass den Jungen doch in Ruhe. Der ist bestimmt froh, wenn er mal ausschlafen kann.« Er sah Finn an, als er weiterredete. »So ist das Leben mit kleinen Kindern. Ab sechs Uhr morgens hopsen sie auf einem herum. Das hört erst auf, wenn sie zur Schule gehen. Und manchmal nicht mal dann.«
»Ich frage Ralf, ob er mit uns frühstücken möchte.« Eva ging hoch, kam aber unverrichteter Dinge wieder herunter. »Er ist nicht da. Das Bett sieht aus, als hätte er heute Nacht nicht darin geschlafen.«
»Vielleicht hat er bei Till übernachtet«, sagte Finn.
Das Gesicht seines Vaters verfinsterte sich. »Jessica war gestern da, nicht wahr?«
»Ja.«
»Du hast die beiden zusammen gesehen?«
Finn antwortete nicht. Er hatte einen bitteren Geschmack im Mund und schluckte mehrmals, um ihn loszuwerden. Jessica war Ralfs Exfreundin. Die beiden waren seit Jahren getrennt, trotzdem verging kaum ein Fest, an dem sie nicht miteinander flirteten. Auch gestern hatten sie wieder nahe beieinandergesessen.
»Er sollte nicht immer allein kommen.« Finn biss in sein Brötchen und kaute, doch er schmeckte kaum etwas.
»Ich glaube, ich muss mal ein ernstes Wort mit ihm reden«, knurrte Norbert. Um seinen Mund lagen tiefe Falten.
Finn musste an das letzte Mal denken, als Ralf und sein Vater ein ernstes Wort miteinander geredet hatten. Beinahe eine Stunde lang hatten sich die beiden angebrüllt, um dann mehrere Tage lang nicht mehr miteinander zu sprechen. So ein Streit war das Letzte, das sie jetzt brauchen konnten – zwei Tage vor dem Markt.
»Lass mich mit ihm sprechen.«
Norbert wirkte überrascht. »Dich?«
»Bitte.«
Sein Vater zögerte, nickte aber dann. »Gut. Rede du mit ihm.«
Donnerstag, 31. August
Nach dem Frühstück ging Finn ins Dorf und machte sich auf die Suche nach seinem Bruder. Die ersten Oberstädter waren schon wieder bei den Marktvorbereitungen. Holzstände und Zelte wurden geschmückt, Pavillons aufgebaut.
So etwas geht nur hier, dachte Finn. Dass ein kleines Dorf auf einem Berg so etwas Großartiges auf die Beine stellte. Einen Mittelaltermarkt, der weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt war. Knapp zweitausend Einwohner zählte Obermarsberg offiziell, wobei nur die Hälfte davon tatsächlich auf dem Eresberg wohnte. Die anderen lebten unten im Tal. Rechtlich gehörten sie dazu, räumlich gesehen waren sie jedoch Niedermarsberg näher als der Oberstadt.
An dem Gemeinschaftsprojekt Mittelaltermarkt beteiligte sich fast das ganze Dorf. Viele der Einwohner unterhielten Buden oder Stände. Manche musizierten oder liefen als Gaukler und Marketender durch die Straßen, denn jeder hier besaß ein mittelalterliches Gewand. Vom Kleinkind bis zum Greis, die Begeisterung kannte keine Grenzen. Nicht umsonst hieß das Dorf »Historisches Obermarsberg«. Die Oberstädter waren nicht nur stolz auf ihre Geschichte, sie lebten sie.
Als Finn zum Ritterzelt kam, das noch in Einzelteilen am Boden lag, traf er dort nur Till, den Freund seines Bruders.
»Hast du Ralf gesehen?«
»Noch nicht«, keuchte Till und mühte sich an zwei Eisenstangen ab, die er zusammengesetzt hatte, die aber offenbar nicht richtig zueinanderpassten. »Verfluchtes Zelt! Dieses Mal müssen wir die Teile beim Abbauen ordentlich beschriften.«
Finn half ihm, die Stangen wieder voneinander zu lösen.
»Packst du mal mit an, Finn?« Mirko, der dickbauchige Dirigent des Spielmannszugs der Freiwilligen Feuerwehr, stand mitten auf der Straße und gestikulierte mit einem Akkuschrauber in den Händen. Finn half ihm und zwei anderen, die Wände der Holzhütte aufzurichten, die Mirko anschließend zusammenschraubte.
»Packt wieder Stroh aufs Dach«, befahl Mirko und rieb sich die Hände. »Das wird ein schönes Feuerchen.«
Danach machte er ein großes Getue um die Brandanlage, die an der Hütte installiert wurde. »Damit es ordentlich qualmt und raucht, wenn unsere historische Feuerwehr kommt.«
Finn tauschte einen amüsierten Blick mit seinem Nachbarn, als jemand hinter ihm seinen Namen rief.
Erst jetzt bemerkte er Thomas. Der Bäckergeselle war aschfahl, und seine schwarz gefärbten Haare sahen ungewaschen aus. »Kommste kurz mit?«
Finn unterdrückte einen spontanen Widerwillen. Er hatte wenig Lust, seine oberflächliche Bekanntschaft mit Grufti-Tommy zu vertiefen. »Ich habe zu tun.«
»Dauert nicht lang.« Thomas’ Mund zuckte, und er war kaum zu verstehen.
»Gut, gehen wir ein Stück.«
Thomas verließ die Eresburgstraße und bog in eine unbelebte Seitengasse ein. Finn wäre lieber auf der Marktmeile gegangen, um zu sehen, wo Ralf steckte. Aber der Bäckergeselle sah richtig schlecht aus.
»Wie geht es dir?«
»Ja, ja, passt schon.« Thomas drehte sich um, als erwartete er Verfolger. Unruhig fingerte er an seiner Hosentasche herum. »Wem hast du’s erzählt?«
»Was? Oh!« Finn zuckte mit den Schultern. »Meinen Eltern heute Morgen. Sonst noch keinem.«
»Okay. Ich wollt dich bitten, dasste das nicht an die große Glocke hängst. Irgendwie ist mir das peinlich.«
»Klar. Ich finde aber, es war ’ne Scheiß-Aktion, und du solltest dir das nicht gefallen lassen.«
Thomas’ Hand glitt in seine Hosentasche, und er klaubte ein Päckchen Tabak heraus. Dann steckte er sich eine Selbstgedrehte in den Mund. Sein Zeigefinger war gelb von Nikotin, und als er hektisch auf dem Feuerzeug herumdrückte, zitterte seine Hand.
»Ich weiß nicht mehr, was passiert ist. Alles weg, totaler Filmriss. So was hatte ich noch nie. Nicht seit meinem achtzehnten.« Er sog heftig an seiner Zigarette.
»Hab mich heute krankgemeldet. Cheffe war ziemlich sauer. Aber ich steh total neben mir. Ich halt’s nicht aus. Hab das Gefühl, alle wissen Bescheid.«
»Nein«, entgegnete Finn ernst. »Ich habe noch niemanden darüber reden hören. Aber willst du nicht wissen, wer es gewesen ist? Ich hatte vor, Ralf zu fragen. Er war doch gestern Abend auch dabei.«
»’kay.«
Thomas schniefte lautstark und nahm wieder einen tiefen Zug, als wollte er die Zigarette leer saugen.
»Ralf wird’s nicht weitertratschen, woll?«
»Nein.« Was stimmte. Sein Bruder hatte seine Fehler, aber Geschwätzigkeit gehörte nicht dazu.
»Gut. Wenne was hörst, sag mir Bescheid, ja? Wenne hörst, wer’s war?«
»Klar.«
»Wenn ich mir vorstelle, dass meine Kumpels …« Thomas schniefte noch einmal und wischte sich mit dem Ärmel über die Nase. »Dass meine Kumpels das waren. Ich weiß, dass ich nie richtig dazugehören werde. Weil ich aus Schmallenberg komme. Bin keiner von euch, kein echter Oberstädter. Das denkt ihr doch alle.«
»Das ist Blödsinn«, widersprach Finn heftig.
»Ich werd nie einer von euch sein.«
»Für mich bist du das.«
Thomas sah ihn von der Seite an, lauernd. »Meinste das im Ernst?«
»Klar«, bekräftigte Finn und fand sich plötzlich in einer hastigen, nach Tabakrauch stinkenden Umarmung wieder.
Anne Kirsch stolperte über eine Wurzel und verlor auf dem unebenen Bergpfad das Gleichgewicht. Sie ruderte mit den Armen, doch der lange Marsch forderte langsam seinen Tribut. Sie konnte sich fangen, stieß aber trotzdem gegen Kaestners breites Kreuz. Es war, als würde man gegen einen Betonpfeiler prallen. Der große Mann gab ein Grunzen von sich, und sein Arm schoss vor und packte sie am Handgelenk.
»Pass auf, wo du hintrittst!«
»Danke! Du kannst mich wieder loslassen.«
Kaestner sah sie an und blickte dann bedeutungsvoll den waldigen Berghang hinunter, der zu ihrer Linken steil abfiel. Ein Abgrund, der zwar mit Laub und Buschwerk gepolstert war, aber höllisch tief hinunterging. Wenn man unglücklich stürzte, konnte man sich das Genick brechen.
Dann wandte er sich um, und sein Rücken versperrte wieder die Sicht nach vorne. Er musste schon um die sechzig sein. Das verrieten das Grau seiner kurz geschorenen Haare und die tiefen Falten im Gesicht, trotzdem war er der Kräftigste aus ihrer Gruppe.
Sie folgten einem schmalen Pfad, der sich in schier endlosen Serpentinen den Berg emporwand. Das allein hätte kein Problem für Anne dargestellt. Sie ging jeden Tag joggen und geriet nicht so leicht außer Atem, aber das ständige Bergaufgehen war etwas völlig anderes.
Seit heute Morgen waren sie unterwegs, ohne Proviant und vor allem: ohne Wasser.
Die ersten Stunden hatten sie sich noch unterhalten. Das Einzige, was Anne von sich erzählt hatte, war, dass sie aus Dortmund kam. Niemand brauchte zu wissen, dass sie Polizistin war, und erst recht nicht, warum sie an diesem Kurs teilnahm. Von Kaestner wusste sie, dass er bei einer Sicherheitsfirma angefangen hatte. Sein neuer Arbeitgeber habe von ihm die Teilnahme an einem Seminar in Kooperationstraining verlangt. Anne hatte nur genickt und gemurmelt, sie sei aus einem ähnlichen Grund hier.
Saskia war Sekretärin, Daniel ein Malocher aus einem Callcenter, und Benno Grundmann hatte eine eigene Firma, wie er allen mehrfach erläutert hatte. Anne war vom ersten Moment an klar gewesen, dass er unausstehlich werden würde.
Seit Stunden sagte sie nur noch das Nötigste. Annes Kehle war trocken und fühlte sich an wie Schmirgelpapier. Sie hatte das Gefühl, seit Tagen nichts getrunken zu haben, obwohl ihre letzte Wasserration erst eine Stunde zurücklag. Die kleine Flasche hatte in einer Frischhaltebox gelegen, etwa zur Hälfte gefüllt, nur wenige Schlucke der kostbaren Flüssigkeit für jeden.
Bei der Erinnerung daran wurde Anne ganz schwach. Sie versuchte zu schlucken, fand aber, dass zu wenig Speichel in ihrem Mund war. Jeder Schritt jagte Stiche durch ihre schmerzenden Oberschenkel. Bergauf ging es, immer nur bergauf. Dieses verdammte Sauerland! Dieser verdammte Berg! Wie hoch war er noch? Anne hatte es vergessen. Von Weitem hatte er nicht so hoch ausgesehen. Jetzt fühlte sie sich, als würde sie die Alpen ersteigen. Wieso hatte sie sich nur darauf eingelassen?
Dabei hatte alles wie eine gute Idee geklungen:
»Ich kenne jemanden«, hatte Heiko gesagt, »der veranstaltet Outdoorseminare und Workshops hier im Sauerland und ganz in der Nähe von mir. Mal mit Gruppen, aber auch mit Einzelpersonen. Ich bin sicher, er würde mir ein Freundschaftsangebot für dich machen. Und wir könnten uns zwischendurch sehen.«
»Klingt nicht schlecht. Geht es um Teamfähigkeit und so etwas?«
»Soweit ich weiß, hat er ein breites Angebot. Motivationstraining, Teamwork, Vertrauensbildung und Managerkurse.«
Anne dachte nach. Die Idee war zu schön, um wahr zu sein, und könnte sie aus ihrer misslichen Lage befreien.
Ihr Chef, Thorsten Seidel, plante, sie zur Polizeischule zurückzuschicken. Nicht obwohl, sondern gerade weil er ihr Freund war, sagte er. Niemand sollte ihm eine Vorzugsbehandlung vorwerfen, und dazu gab es aus Annes Sicht auch absolut keinen Grund. Dabei wusste sie natürlich, dass es ihre eigene Schuld war. Sie hatte auf eigene Faust gehandelt und gegen die simpelsten Regeln im Polizeidienst verstoßen.
Polizeischule, diese Drohung hing über ihrem Kopf wie ein Damoklesschwert. Sie konnte es sich bereits vorstellen: die Blicke der Schüler und Lehrer; das Getuschel hinter ihrem Rücken. Jeder würde wissen, wer sie war: die Dortmunder Kommissarin, die ein Autoritätsproblem hatte. Die unfähig war, im Team zu arbeiten, die Eigensicherung lernen sollte. Bei dem Gedanken drehte sich Anne der Magen um.
Wenn Thorsten nur Heikos Vorschlag akzeptieren würde. Es wäre die Rettung. Die frische Sauerländer Luft, ein wenig Bewegung im Freien, Motivations- und Gruppenspiele. Das kann nicht so übel werden. Vielleicht wird es sogar Spaß machen. So hatte sie gedacht.
Heiko hatte ihr einen Prospekt mitgegeben. Abgebildet war ein Bergsteiger, der an einem Seil vor einer Felswand hing. Micha Bannenbergs Teamwochen im Sauerland.
Mit einem bangen Gefühl hatte sie Thorsten den Prospekt gezeigt.
»Diese Seminare hat mir Heiko empfohlen. Er kennt den Organisator. Micha Bannenberg hat Soziologie und Psychologie studiert und schreibt momentan an seiner Doktorarbeit über Gruppendynamiken oder so. Ein Kurs dauert zwei Wochen und findet in kleinen Gruppen mit bis zu acht Teilnehmern statt.«
»Die eigenen Grenzen austesten. Motivieren. Teamfähigkeit erlernen. Zu neuem Selbstbewusstsein finden. Ha! Ich glaube wirklich nicht, dass du das Letzte nötig hast.«
»Bitte, Thorsten. Das klingt doch gut. Ich würde es selbst bezahlen. Lass mich den Lehrgang wenigstens ausprobieren. Und wenn er nicht das gewünschte Ergebnis bringt, kannst du mich immer noch zur Polizeischule schicken.«
»Das gefällt mir nicht. Urlaub bei deinem Freund im Sauerland, statt …«
»Es ist kein Urlaub! Dort steht die Nummer von Micha Bannenberg. Ruf ihn an und überzeuge dich! Bitte!«
Er hatte lange geschwiegen und endlich genickt. »Ich rufe dort an. Aber wenn er mich nicht überzeugt, gehst du nach Selm zur Polizeischule, und dann will ich keine Widerrede mehr hören.«
Anne war unendlich erleichtert gewesen. Ihre letzte Chance. Mit diesem Lehrgang würde sie signalisieren, dass sie wirklich etwas ändern wollte. Und sie hatte tatsächlich gute Vorsätze. Natürlich war es wichtig, auf die eigenen Instinkte zu hören, doch Thorsten hatte recht: Sie durfte sich nicht wieder selbst in Gefahr bringen. Damit hatte sie ihn tief verletzt, und das würde sie nie vergessen.
Wenn sie sich nicht änderte, würde Thorsten ihre Versetzung veranlassen. In der Abteilung für Todesermittlungen würde sie bestenfalls noch im Innendienst mithelfen dürfen. Das durfte unter keinen Umständen geschehen.
»Jetzt geben Sie mir mal den GPS-Empfänger!«, befahl Grundmann und baute sich in seiner Jack-Wolfskin-Kombination vor Kaestner auf. Stimme und Haltung signalisierten, dass er es gewohnt war, Anweisungen zu erteilen, aber bei Kaestner biss er da auf Granit.
Der große Mann erwiderte seinen Blick ungerührt. Anne nutzte den Streit für eine Verschnaufpause und sah sich keuchend nach den beiden Nachzüglern um. Saskia und Daniel kämpften mit den letzten Hundert Metern, die extrem steil gewesen waren.
In Annes Ohren rauschte es, und ihr schwindelte. Was war nur mit ihrer Kondition los? Die sauerländische Topografie machte sie vollkommen fertig.
Saskia erreichte sie schnaufend und mit hochrotem Kopf. Ihr streng frisierter blonder Dutt war in Auflösung begriffen. Anne bemerkte, dass sie zu schnell und zu oberflächlich atmete und riet ihr, durch die Nase Luft zu holen. Dann schob sie sich auf dem schmalen Pfad vorsichtig an Saskia vorbei und streckte die Hand nach Daniel aus, um ihm hochzuhelfen. Doch der schlaksige Typ hielt den Blick vor Erschöpfung starr auf den Boden gerichtet, und sie musste ihn mehrmals ansprechen, bevor er ihre Hand bemerkte.
Grundmann wiederholte derweil seine Forderung an Kaestner mit drohender Stimme, und die Anspannung in der Luft war fast greifbar. Einen Moment lang befürchtete Anne, die beiden Männer würden sich prügeln, aber dann zuckte Kaestner nur seine massigen Schultern und reichte Grundmann den GPS-Empfänger.
»Können Sie überhaupt damit umgehen?«
»Mit Sicherheit besser als Sie!«
Grundmann starrte einige Zeit auf das Gerät, dann hob er triumphierend den Kopf. »Das nächste Cache ist nicht mehr weit entfernt.« Er deutete auf den steilen Berghang vor ihnen. »Nur noch wenige Meter.«
»Das hätte ich euch auch sagen können«, knurrte Kaestner.
Anne scherte sich nicht weiter um die beiden. Wasser. Bei dem Gedanken sammelte sich wieder ein wenig Speichel in ihrem Mund, und sie fühlte neue Kraft in ihren Beinen. Im nächsten Cache würde mehr Wasser sein, genug für alle. Zumindest hoffte sie das. Wenn Micha ihnen nicht etwas mehr Flüssigkeit zugestand, würde der Erste bald umkippen. Und das würde er doch nicht riskieren, oder?
Der Punkt, an dem laut GPS-Koordinaten das nächste Cache versteckt lag, befand sich unter einem großen Stein.
»Nun grabt schon«, befahl Grundmann ungeduldig.
Anne ging sein Befehlston auf die Nerven, aber sie fühlte sich zu schwach und ausgedörrt für Diskussionen. Mit bloßen Händen kratzten sie Laub und weiche Erde zur Seite.
Sie war am Ende. Wenn sie jetzt kein Wasser bekam, würde sie nicht mehr aufstehen. Jemand stöhnte vor Erleichterung, als sie auf den Plastikdeckel der Dose stießen, die dort vergraben war.
Anne begann an den Seiten zu buddeln, um die Dose zu befreien, doch Grundmann konnte nicht warten. Er riss den Deckel auf, so dass Erde in die Dose rieselte. Dann schnappte er sich die kleine Mineralwasserflasche, die darin lag, und trank in gierigen Schlucken. Es war die einzige Flasche. Anne wurde schwindelig. Panisch sah sie das kostbare Nass in Grundmanns Schlund verschwinden. Mit einem Schrei kam sie auf die Füße, aber Kaestner war schneller. Er stürzte sich auf Grundmann und drückte den kleineren Mann mit seinem Gewicht zu Boden.
In einem einzigen schrecklichen Moment sah Anne die Flasche fallen und das kostbare Wasser in den Waldboden sickern, doch Kaestner hielt sie mit eisernem Griff und presste Grundmann mit dem anderen Arm die Luft ab. Der Unternehmer wurde blau im Gesicht.
»Lass ihn los!«, rief Anne.
Kaestner stand tatsächlich auf, und Grundmann röchelte und spuckte einen Teil der Flüssigkeit aus. Der große Mann scherte sich nicht mehr um ihn. Mit einem abschätzigen Blick maß er den Inhalt der Flasche und reichte sie dann Saskia. »Jeder trinkt zwei Finger breit. Wer sich nicht dran hält, den schlage ich windelweich.«
Niemand widersprach. Anne war als Vorletzte dran, und sie musste ihr ganzes Maß an Selbstbeherrschung aufbringen, um die Flasche an Kaestner weiterzureichen, der sie leerte.
Die wenigen Schlucke linderten den Durst nur einen Moment lang.
Grundmann rappelte sich stöhnend auf. Sein Outfit war derangiert, und ihm klebte Erde in den Haaren.
»Das wird noch Folgen haben«, schimpfte er. »Hirnloser Idiot. Ich hätte die Flasche schon noch weitergegeben.«
Kaestner würdigte ihn keiner Antwort und zerquetschte die leere Plastikflasche in der Faust.
»Das kann er doch nicht ernst meinen«, flüsterte Daniel entsetzt und starrte auf den Zettel, den er in Händen hielt.
»Hast du den aus dem Cache?«, fragte Grundmann. »Los, lies vor, mach schon!«
Daniel schluckte mehrmals. Dann las er mit angespannter Stimme: »Meinen Glückwunsch! Ihr habt den Hauptteil der Strecke mit Bravour gemeistert, und nur ein kleines Stück liegt noch vor euch. Wir nähern uns einem historischen Ort. Den Eresberg, den ihr gerade erklimmt, hat Karl der Große vor über tausendzweihundert Jahren mit seinem Heer bestiegen. Und wenn ihr jetzt glaubt, eure Wanderung sei beschwerlich, dann stellt euch vor, ihr müsstet diesen Steilhang mit einer fünfundzwanzig Kilogramm schweren Rüstung hinaufklettern. Auf der Bergspitze erwartete den Feldherrn und sein Heer die Eresburg, eine Festung der Sachsen. Karl der Große belagerte und eroberte sie. Dann zerstörte er die Irminsul, das Heiligtum der Sachsen, und ließ auf dem Standort des Weltenbaumes ein Kloster errichten.
Dieser Ort, das historische Obermarsberg, ist einzigartig im Sauerland. Hier ist die Geschichte lebendig und das werdet ihr am eigenen Leib zu spüren bekommen. Smiley. – Aber jetzt macht euch auf den Weg! Die Koordinaten des nächsten Ziels sind N 51 449 430° O 8 845 999°.
Wichtig: Für diesen Streckenabschnitt habe ich eine Aufgabe für euch: Stellt euch vor, das leichteste Teammitglied ist verletzt und kann nicht mehr laufen. Trotzdem müsst ihr gemeinsam zum Ziel gelangen. Wenn ihr diese Aufgabe erfüllt (und nur dann), erwarte ich euch am Rittersprung mit einer Stärkung. Wohlan, werte Recken und holde Frowelein. Gehabt euch wohl und guten Weg!«
Einen Moment lang herrschte entgeistertes Schweigen. Grundmann war der Erste, der seine Sprache wiederfand. »Das geht zu weit! Ich werde mich mit meinem Anwalt in Verbindung setzen, die ganze Vereinbarung auflösen und auf Schadensersatz und Schmerzensgeld klagen. Das hier ist Schikane und Körperverletzung.«
Saskia war blass geworden. Annes Gedanken rotierten. Eine Stärkung, das bedeutete Nahrung und vor allem Wasser. Konnten sie es drauf ankommen lassen und die Aufgabe nicht erfüllen? Dann würde Micha ihnen vermutlich wieder nur eine kleine Wasserflasche zugestehen. Sie sah, dass Kaestners Gedanken in die gleiche Richtung gingen, denn er taxierte Saskia und sie. Plötzlich hatte sie eine Vision davon, von dem großen Mann wie ein Sack Kartoffeln über die Schultern geworfen zu werden. Die Vorstellung war so entsetzlich, dass Anne sofort auf Saskia zeigte. »Sie ist leichter.«
Kaestner runzelte zweifelnd die Stirn. Anne war einen halben Kopf größer als Saskia, aber ihr fehlte das, was ihre Mutter weibliche Rundungen nannte. Was die andere Frau zur Genüge besaß.
»Ich weiß nicht«, murmelte Saskia erschöpft und strich sich ein paar wirre blonde Strähnen aus dem Gesicht.
»Natürlich«, behauptete Anne. In Wahrheit wusste sie ihr Gewicht nicht, schätzte aber, dass sie tatsächlich nicht allzu leicht war, weil sie viel Sport trieb.
Saskia stieß einen erschrockenen Schrei aus, als Kaestner sie kurzerhand um die Hüften packte und wie ein Kind auf seine Schultern setzte. Der große Mann schwankte kurz, und Anne sah ihn schon auf dem schmalen Bergpfad abrutschen.
»Bist du sicher …?«, begann sie zweifelnd.
Kaestner drückte ihr den GPS-Empfänger in die Hand. »Du gehst vor.«
Anne sah, dass Grundmann den Mund zum Protest öffnete, und beschloss, ihm keine Gelegenheit dazu zu bieten. Kurz entschlossen drehte sie sich um und marschierte voraus.
Hinter sich hörte sie den Unternehmer vor sich hin murmeln. Er würde Micha Bannenberg verklagen. Dem würde es noch leidtun. Doch Anne wusste, dass Grundmann seinen Anwalt nicht anrufen würde. Keiner von ihnen würde telefonieren. Dafür hatte Micha gesorgt.
Das Seltsame war, dass Anne sich gerade erst daran gewöhnt hatte, ein Smartphone zu besitzen. Heiko hatte es ihr im Januar zu ihrem einunddreißigsten Geburtstag geschenkt. Davor hatte sie nur ein gewöhnliches Handy besessen und war damit zufrieden gewesen. Das Smartphone hatte sie nicht gewollt, seine Vorteile aber schnell schätzen gelernt. Vor allem bei ihrer Arbeit in der K11, der Abteilung für Delikte gegen Leib und Leben in Dortmund, hatte es sich als nützlich erwiesen.
Jetzt, in den tiefsten Wäldern des Sauerlands, hätte ihr ein einfaches Handy genügt. Sie wollte Heiko anrufen und ihn bitten, ein paar Flaschen Wasser und etwas zum Essen herzubringen. Einen Burger vielleicht. Und fettige Pommes. Bei dem Gedanken daran wurde ihr fast schlecht vor Hunger.