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Der erste Fall für Anne Kirsch Neugier kann tödlich sein! Von ihrem Freund für eine Jüngere verlassen, kommt Kommissarin Anne Kirsch ein Mordfall gut gelegen: In Bontkirchen im Sauerland wird Jürgen Gruber erschossen aufgefunden. Bereits wenige Wochen zuvor war im selben Dorf die Rentnerin Luise Steinmetz an einer Knollenblätterpilzvergiftung gestorben. Gibt es eine Verbindung zwischen den Mordfällen? Und wo ist Luises Katze? Anne beginnt auf eigene Faust zu ermitteln und begibt sich dabei unwissentlich in Lebensgefahr ... Von Mareike Albracht sind bei Midnight in der "Ein-Fall-für-Anne-Kirsch"-Reihe erschienen: Katz und Mord Dornentod Erzähl mir vom Tod Mordskälte
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Die AutorinMareike Albracht wurde 1982 geboren. Die ausgebildete Diplom-Finanzwirtin ist Mutter von drei Kindern und lebt mit ihrer Familie im Sauerland. Dort beschloss sie, ihren Kindheitstraum zu verwirklichen und ihre Liebe zur Heimat mit ihrer Leidenschaft für das Schreiben zu kombinieren.
Das BuchVon ihrem Freund für eine Jüngere verlassen, kommt Hauptkommissarin Anne Kirsch ein Mordfall gut gelegen: In Bontkirchen im Sauerland wird Jürgen Gruber erschossen aufgefunden. Bereits wenige Wochen zuvor war im selben Dorf die Rentnerin Luise Steinmetz an einer Knollenblätterpilzvergiftung gestorben. Gibt es eine Verbindung zwischen den Mordfällen? Und wo ist Luises Katze? Anne beginnt auf eigene Faust zu ermitteln und begibt sich dabei unwissentlich in Lebensgefahr...
Mareike Albracht
Katz und Mord
Ein Sauerlandkrimi
Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de
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Originalausgabe bei Midnight.Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinNovember 2015 (2)© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015Umschlaggestaltung:ZERO Werbeagentur, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © Erich Latzelsberger
ISBN 978-3-95819-052-8
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Tag 1 – Sonntag, 24. September
»Kalt ist’s in Deutschland!«, murmelte Maria Redlich und zog sich zum ersten Mal in diesem Jahr ihre marineblaue Strickjacke über den Kittel. Die Wolle hatte sie letztes Frühjahr zum halben Preis im Dorfladen erstanden. »Reste vom Winter«, hatte Frau Kronslage gesagt und »Eine gute Hausfrau strickt das ganze Jahr!« hatte sie stolz geantwortet. Was blieb ihr als Rentnerin anderes zu tun, als ihren Haushalt und den Vorgarten in Ordnung zu halten, das Grab ihres seligen Johann zu pflegen und im Herbst das Laub vom Bürgersteig zu fegen? Dabei kam man wenigstens noch unter Leute und erfuhr, was im Dorf so vor sich ging.
Sie holte ihren Besen aus der Abstellkammer und trat vor die Tür, um ihrer Pflicht nachzukommen, wie sie es jeden Vormittag tat.
Heute war zwar Sonntag, aber wenn der Herrgott gewollt hätte, dass sie am Sonntag nicht Laub fegte, so sagte sie immer, dann hätte er es nicht auf ihren Bürgersteig fallen lassen. Der Sommer war vorüber, es war nicht mehr zu leugnen. Die Kronen der Bäume begannen sich zu verfärben und die braunroten Ahornbäume in ihrer Straße waren dieses Jahr die ersten, deren Blätter von den Zweigen fielen. Vor Maria Redlichs Küchenfenster leuchtete schon eine Felsenbirne in hellem Gelb.
Es hatte heute Nacht geregnet. In dem Tal, in dem Bontkirchen lag, hing dichter Nebel und die Luft war frisch und feucht. Das Laub auf dem Bürgersteig bildete eine rutschige Schicht, die einen unbedachten Spaziergänger zu Fall bringen konnte. Herr Michalski ging hier jeden Tag mit seinem Hund entlang und würde einen Sturz auf seine alten Tage nicht mehr gut verkraften.
Wären ihre Nachbarn nur alle so ordentlich wie sie, dann sähe es in der Straße schon besser aus! Die Müllers zum Beispiel, die taten so gut wie nie etwas im Vorgarten, erst recht nicht mehr, wenn Schützenfest vorbei war. Gut, sie hatten zwei kleine Kinder – aber das hält schließlich nicht als Entschuldigung für alles her!
Maria Redlich hatte kaum angefangen zu fegen, als sie unter dem feuchten Laub eine unliebsame Entdeckung machte. Direkt vor ihrer Haustür lag eine tote Maus! Ein Ohr war abgerissen und die schwarzen eingetrockneten Augen blickten starr. Da hatte ihr wohl wieder eine Katze aus der Nachbarschaft ein Geschenk machen wollen.
Frau Redlich holte ein paar Küchentücher, um die Gabe in der grünen Tonne zu entsorgen.
Das war der Lauf der Dinge, nicht wahr?
Sie begann zügig zu fegen, damit sie rechtzeitig zur Sonntagsmesse fertig war. Dann hielt sie inne und betrachtete stirnrunzelnd das Haus auf der anderen Straßenseite, in dem Herr Gruber lebte; im Grunde ein vorbildlicher Nachbar, der ihr im Winter beim Schneeschippen half, wenn sie die Arthritis wieder so stark in den Händen spürte. Doch er hatte die Beleuchtung an seiner Haustür noch nicht ausgeknipst, dabei war es bereits nach neun und helllichter Tag. Und die Rollläden waren auch noch nicht hochgezogen. Herr Gruber wollte doch wohl die heilige Messe nicht versäumen?
Immer noch stirnrunzelnd kehrte sie ins Haus zurück, stellte ihren Besen zurück in die Abstellkammer und griff kurzentschlossen nach einem Teller mit Spritzgebäck, das von gestern übriggeblieben war.
Herr Gruber war ein sparsamer Mensch und als Mitarbeiter der Hochsauerland Energie wusste er genau, wie viel eine Kilowattstunde Strom kostete. Er würde ihr dankbar sein, wenn sie ihn auf sein Versäumnis hinwies. Bestimmt hatte er Hunger und nähme ein Spritzgebäck. Junggesellen waren immer hungrig.
Sie schellte zweimal energisch an Herrn Grubers Haustür, doch niemand öffnete.
War es möglich, dass er noch im Bett lag? Um diese Uhrzeit? Sie klingelte noch einmal, um ihn zur Eile zu ermahnen.
Noch immer kam niemand, um die Tür zu öffnen. Frau Redlich läutete ein viertes Mal.
Langsam beschlich sie ein ungutes Gefühl und der Teller in ihrer Hand zitterte, als sie daran dachte, wie sie vor vier Wochen vor Frau Steinmetz’ Haus gestanden hatte. Auch dort hatte ihr niemand geöffnet. Und weil Frau Steinmetz ebenfalls nicht mehr die Jüngste war, hatte sie sich Sorgen gemacht und das Haus durch den Hintereingang betreten. Und dann …
In ihrem Mund hatte sich ein bitterer Geschmack ausgebreitet. Entschlossen wischte sie die Erinnerung fort. Sie atmete einmal tief durch.
Der dunkelblaue Škoda stand an seinem Platz. Herr Gruber hatte wahrscheinlich verschlafen und sie würde nur einmal durch sein Küchenfenster schauen und nach dem Rechten sehen. Im Dorf kümmerte man sich eben um einander. So war das.
Frau Redlich hob ihren Kittel an, stieg über eine Reihe Lavendelsträucher und betrat den mit großen Steinplatten angelegten Pfad, der von der anliegenden Straße hinter das Haus führte.
Einer der großen Blumentöpfe auf der Terrasse war umgefallen und zerbrochen, dunkle Erde hatte sich auf den Steinen verteilt.
»Ein Jammer!« Frau Redlich ging in die Hocke, um den Blumentopf aufzurichten, da bemerkte sie, dass die Terrassentür offenstand und kam ächzend wieder hoch.
War Herr Gruber in den Garten gegangen? Sie konnte ihn nirgends sehen. Er würde doch nicht so nachlässig sein, seinen Blumentopf umzustoßen?
»Herr Gruber?« Ihre Stimme überschlug sich ein wenig.
Wie eine Waffe hielt sie den Teller mit Spritzgebäck vor sich und näherte sich der Terrassentür. »Herr Gruber?«
Drinnen bot sich ihr ein Bild der Verwüstung. Schubladen waren aus den Schränken gerissen und ihr Inhalt lag auf dem Boden verstreut. Bilder und achtlos weggeworfene Bücher und Papiere türmten sich auf dem Boden. Jemand hatte das Zimmer gründlich durchwühlt und dabei die größtmögliche Zerstörung angerichtet. In der gesamten Wohnung brannte Licht.
»Jesus!«, murmelte Maria Redlich atemlos.
Sie näherte sich der Tür zur Küche, obgleich sie bereits schlimmste Befürchtungen hegte.
»Herr Gruber?«
Sie fand seinen leblosen Körper vor dem Einbauherd. Er lag auf dem Bauch, den Kopf in einem seltsamen Winkel zur Seite gedreht. Seine Augen waren offen und starr und schienen Frau Redlich anzublicken. Und es war Blut auf dem Boden, jede Menge Blut.
Sie schrie einmal kurz auf und sank in den Stuhl, der einige Meter hinter ihr am Esstisch stand.
»Langsam atmen«, sagte sie zu sich. »Langsam atmen, Maria. Du stehst unter Schock. Ein und aus und ein und aus.« So hatte sie es immer in den Krankenhausserien gesehen.
»Herr im Himmel!«, entfuhr es ihr und sie richtete sich mit Hilfe der Esstischkante wieder auf. Sie musste die Polizei rufen! Das war ganz klar Mord, vermutlich Raubmord, dem Wohnzimmer nach zu urteilen. Sie würde als Zeugin vernommen werden und wer weiß was nicht noch alles!
Sie eilte hinaus, stampfte mit großen Schritten durch den Garten, wobei sie mehrere kleine Stauden zertrat, doch darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Sie lief zum Nachbarhaus und klingelte bei Erika Schubert, einer alten Freundin, mit der sie oft zusammen Karten spielte.
Erika Schubert war eine kleine, drahtige Seniorin mit einer weißen Dauerwelle, über der sie ein Haarnetz trug.
»Maria!« rief sie aus. »Ist etwas passiert? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen!«
Frau Redlich schob sich an ihr vorbei ins Esszimmer. »Ich sag’ es dir, Erika! Ich sag’ es dir! Hast du noch den Weinbrand im Schrank? Hol schnell zwei Gläser. Wir brauchen jetzt einen Schluck und dann müssen wir die Polizei rufen.«
Frau Schuberts Hände zitterten ein wenig, als sie die Flasche mit dem Branntwein und zwei kleine Gläser aus dem Schrank holte.
»Die Polizei? Was ist los? Um Himmels Willen, Maria, nun red schon! Hat dich jemand überfallen?«
»Mich nicht!«, antwortete Frau Redlich und stellte ihr Gebäck auf den Esstisch. Mit einem Seufzer ließ sie sich auf einem Stuhl nieder. »Den Herrn Gruber hat jemand überfallen und jetzt liegt er tot in seiner Wohnung und das am heiligen Sonntag!«
»Nein!«, hauchte Frau Schubert. Sie stellte Gläser und Flasche auf den Tisch, doch ihre Hände begannen noch mehr zu zittern. Frau Redlich griff nach dem Branntwein und schenkte großzügig ein.
»Wenn ich’s dir doch sage, Erika!«
»Nein!«, wiederholte Frau Schubert.
»Wenn ich es dir doch sage! Ich war eben dort und wollte Herrn Gruber Bescheid sagen, dass er vergessen hat, sein Licht zu löschen. Du weißt schon, die Lampe über der Haustür.« Sie griff entschlossen nach dem Schnapsglas.
»Nun trink erst mal einen, Erika, das beruhigt die Nerven! Prosit!«
»Prosit!«, wiederholte Frau Schubert und trank gehorsam. Mit weit aufgerissenen Augen schluckte sie und schien sich langsam von ihrem Schock zu erholen. »Wir müssen die Polizei rufen!«
Frau Redlich hatte ihr Glas geleert und schenkte noch einmal nach. »Das sag’ ich doch, Erika, das sag’ ich doch die ganze Zeit!«
Frau Schubert holte ihr Telefon und reichte es Frau Redlich beinahe ehrfurchtsvoll dar. »Was wählt man denn da? Die 110 oder die Nummer von der Polizei in Brilon?«
»Ach, Erika!«, schnaubte Maria Redlich, kopfschüttelnd über die Unwissenheit ihrer Nachbarin. »Bei so einem Fall kommen die Spezialisten von der Mordkommission! Da hat doch unsere Polizei in Brilon nichts mit zu tun. Sag mal, kennst du das denn nicht aus dem Fernsehen?«
Natürlich kannte Erika Schubert das aus dem Fernsehen. Gemeinsam wählten sie die 110, Frau Schubert stellte auf Lautsprecher und die beiden Frauen lauschten andächtig dem Piepton.
Das Telefon aus dem Arbeitszimmer in der Wohnung Seidel klingelte bereits zum vierten Mal. »Nimmst du ab, Thorsten?«, rief Margit aus dem Bad, »Ich habe den Kleinen gerade auf dem Wickeltisch.«
Hauptkommissar Thorsten Seidel von der Dortmunder Kriminalpolizei beendete abrupt seinen gemütlichen Sonntagvormittag im Bett und schleppte sich ins Arbeitszimmer, wo das Telefon nicht aufhören wollte zu klingeln. Hoffentlich nicht die Arbeit …
Er räusperte sich, um den Hals frei zu kriegen. »Seidel?«
Natürlich war es die Arbeit. Genauer gesagt Kriminaldirektor Oberan persönlich, der ihm mitteilte, dass es einen Todesfall im Hochsauerlandkreis gab und dass Janitzki, Thorstens Kollege von der Mordbereitschaft, leider kurzfristig krank geworden war. Und Anne Kirsch war im Urlaub. Aber die Kripo Brilon hatte angeboten, ihm einen jungen Kommissar zur Seite zu stellen, der ihn bei den Ermittlungen unterstützen solle.
»In Ordnung.«
Es dauerte ein wenig, bis er unter dem Stapel von Zetteln – warum konnte Margit auch nie etwas abheften? – einen Stift gefunden hatte, mit dem er sich die Adresse notieren konnte: Straße Zum Sonnenborn in Bontkirchen, Brilon.
»Schon wieder Bontkirchen?«, murmelte er vor sich hin. Das war seltsam.
Die Spurensicherung war schon unterwegs, also musste er jetzt auch los. Bis nach Brilon war es schließlich ein gutes Stück zu fahren.
»Wer war es?«, rief Margit aus dem Bad.
»Ein Todesfall«, rief Thorsten zurück. »Ich muss ins Sauerland. Hab’ ich noch ein gebügeltes Hemd?«
»Ja, wenn du es bügelst!«, kam die Antwort zurück.
Thorsten suchte im Kleiderschrank und fand ein Sweatshirt, das er stattdessen anzog. Er ging zu Margit ins Bad, die gerade Robin in seine Latzhose steckte, und gab beiden einen Kuss. Dann beugte er sich übers Waschbecken, um sich die Zähne zu putzen.
Der Mann, der ihn aus dem Spiegel heraus ansah, hatte schon mal bessere Zeiten erlebt: Mit dreißig zum Beispiel, als seine Stirnpartie noch voller gewesen war. Margit behauptete, er sähe nicht schlecht aus für sein Alter. Aber vermutlich war sie nicht objektiv, immerhin hatte sie ihn geheiratet. Er trug sein Haar sehr kurz, weil er fand, dass er dann Ähnlichkeit mit Tom Hanks hatte. Im Moment hielt sich diese Ähnlichkeit jedoch in Grenzen, bedingt durch eine dicke Liegefalte samt Kopfkissenmuster in seinem Gesicht. Er versuchte sie wegzureiben.
»Hat Schalke denn gewonnen?«, fragte Margit.
Thorsten zog eine Grimasse. »Nein. Verloren gegen Hannover 96.«
»Na ja. Das nächste Mal wird besser.«
Thorsten wusste zu schätzen, dass sie – im Gegensatz zu den meisten Dortmundfans – nicht über seine Mannschaft herzog, aber sie war ja schließlich auch seine Frau. Da konnte man eine gewisse Loyalität erwarten. Margit legte von hinten die Arme um seine Brust. »Wann bist du zurück? Schaffen wir es noch in den Zoo?«
Thorsten seufzte. »Vermutlich nicht. Anne ist im Urlaub und Janitzki ist krank. Ich fahre bestimmt eine Stunde bis in dieses Kaff. Lass uns das nächstes Wochenende machen, ja?« Er gab ihr noch einen Kuss auf den Mund und ging in die Küche.
Der Kaffee in der Kanne war kalt. Thorsten kippte angewidert den Inhalt seiner Tasse in die Spüle.
»Wann gehen wir in den Zoo?«, fragte Lisa, die am Küchentisch saß und malte.
»Nächste Woche, ja, Schatz?«, antwortete Thorsten und gab ihr einen Kuss. »Papa muss arbeiten.«
Das Mädchen verzog schmollend den Mund.
»Mit den Zöpfen siehst du aus wie Pippi Langstrumpf«, wagte er einen Kommentar zu ihrer Frisur, doch sie durchschaute sein Ablenkungsmanöver gnadenlos.
»Wenn wir nicht in den Zoo gehen, kriegst du kein Bild von mir!«
»Wir gehen ja in den Zoo, nur nicht heute, weil ich arbeiten muss, in Ordnung, Schatz? Ich muss jetzt los. Die Mama macht bestimmt etwas Schönes mit euch.«
Wenn sie wütend ist, sieht sie aus wie ihre Mutter, dachte er beim Hinausgehen.
Er setzte sich ins Auto und schnappte sich im kleinen Backshop um die Ecke noch ein Käsecroissant und einen Kaffee-to-go, – ein Hoch auf die Zivilisation! – bevor er seinen Weg ins Sauerland antrat. Auf der B1 war mächtig viel Verkehr, wie jeden Morgen. Thorsten biss in sein Croissant und schlürfte seinen Kaffee während er im Stop-and-go-Tempo von Ampel zu Ampel rollte. Er dachte darüber nach, wie seltsam es war, dass er nun schon zum zweiten Mal in diesem Monat in das kleine Kaff im Sauerland fuhr.
Vor dem Tatort, einem freistehenden Einfamilienhaus, parkten schon die Einsatzfahrzeuge der Spurensicherung und mehrere Streifenwagen. Zwei uniformierte Beamte der hiesigen Polizei bewachten die Absperrung und vernahmen die Schaulustigen. Das halbe Dorf schien sich versammelt zu haben. So etwas bekam der Sauerländer nicht jeden Tag zu sehen! Thorsten winkte einigen Kindern zu, die alles mit großen Augen beobachteten, und duckte sich unter der Absperrung hindurch.
»Herr Seidel?« Ein junger Mann eilte herbei. Er trug einen weißen Plastikanzug, passende Schuhüberzieher, Handschuhe und Mundschutz, den er übergangsweise unter sein Kinn geklemmt hatte. Einige vorwitzige hellbraune Haarsträhnen lugten unter der Kapuze hervor. Das musste der Kommissar aus Brilon sein. Er sah jung aus, nicht älter als fünfundzwanzig.
»Das bin ich.« Thorsten gab ihm die Hand.
»Mein Name ist Anton Hellmann. Ich unterstütze Sie für die Dauer der Ermittlungen.« Seine Stimme klang aufgeregt. Sicher war es seine erste Mordermittlung.
»Willkommen im Team«, sagte Thorsten. »Wissen wir schon etwas über den Toten?«
»Er heißt Jürgen Gruber«, berichtete der junge Mann atemlos. »Er wohnte hier allein im Haus. Eine Nachbarin hat ihn gefunden.«
Er deutete auf eine stämmige Frau in Kittel und Strickjacke, die in der ersten Reihe hinter der Absperrung stand und lebhaft gestikulierend auf einen Polizisten einzureden schien.
»Am besten ich sage es Ihnen gleich …« Anton Hellmann trat von einem Fuß auf den anderen und zupfte nervös an seinem Plastikärmel. »Es ist meine Schuld. Als ich den Herrn in Dortmund angerufen habe, hat er mich gefragt, ob wir einen Gerichtsmediziner brauchen. Und ich hab’ Ja gesagt, ich wusste nicht, dass bei einer Schussverletzung … Ich hab’ das noch nie gemacht.« Er wirkte außer sich.
»Nun mal ganz langsam«, unterbrach Thorsten ihn. »Herr Gruber starb durch eine Schussverletzung? Gibt es ein Problem?«
Anton Hellmann nickte schwer. »Dr. Lange hat gesagt, wenn es offensichtlich eine Schussverletzung ist und der Tatort und der Fundort identisch sind, wird eigentlich kein Gerichtsmediziner gerufen.«
Thorsten wurde einiges klar. Der Junge hatte die schlechte Laune des klapperdürren, sauertöpfischen Dr. Lange abbekommen, Albtraum aller Medizinstudenten. Er grinste schief. »Der Doktor ist stinkig, weil Sie ihn am Wochenende gerufen haben? Machen Sie sich nichts draus. Er ist manchmal etwas schwierig. Im Zweifel ist es immer besser, einen Fachmann dabeizuhaben.«
»Wenn Sie es sagen.« Anton Hellmann schien noch nicht ganz überzeugt.
»Gehen wir erst mal rein.« Thorsten holte sich aus dem Wagen der Spurensicherung Plastikoverall, Handschuhe, Fuß- und Mundschutz, um zu verhindern, dass fremde DNA in die Wohnung gelangte. Während sie den Flur durchquerten, registrierte er all die kleinen Dinge, auf die ein erfahrener Ermittler achten musste: Der Schlüssel steckte von innen in der Haustür, sämtliche Fenster waren geschlossen, die Lichter eingeschaltet, die Rollläden teilweise heruntergelassen.
Sie durchquerten den Flur und betraten das Wohnzimmer. Ein Spurensicherer trat zur Seite, um sie hereinzulassen. In der einen Hand hielt er einen Pinsel, in der anderen die Dose mit dem dunklen Puder, den er gerade auf die Türklinke auftrug, um Fingerabdrücke sichtbar zu machen.
Der Täter hatte ein ziemliches Chaos angerichtet. Herr Gruber hatte eine große Sammlung selbstgebrannter DVDs besessen, die nun kreuz und quer im Raum verstreut lagen. Die Cover waren selbstbedruckt: Folgen von Raumschiff Enterprise, Deep Space Nine und Raumschiff Voyager. Thorsten kannte viele von ihnen aus seiner Jugendzeit.
Er ließ sich von Anton Hellmann in die Küche führen, wo der Tote auf einer Folie lag. Er war umgedreht worden, das erkannte Thorsten an den blauvioletten Verfärbungen am Hals und der rechten Gesichtshälfte. Über die ins Leere starrenden Augen hatte sich ein bräunlicher Schleier gelegt. Er trug ein gebügeltes Hemd, das blutdurchtränkt war.
Dr. Lange, Leiter des Instituts für Rechtsmedizin in Dortmund, stand mit seinem Diktiergerät über die Leiche gebeugt: »Ausgeprägte Totenflecken an den vorderen, seitlichen Halspartien, Brust und Abdomen, kompatibel mit Auffindungssituation in Bauchlage.« Er presste einen behandschuhten Daumen in Wange und Hals des Toten. »Livores fast komplett fixiert.«
Sein Adamsapfel bewegte sich sichtbar, während er sprach. Er war groß und dünn, mit hoher Stirn, schmalem Schädel und glattrasierter Haut, die sich über den Kieferknochen spannte.
Als er Thorsten sah, richtete er sich zu voller Länge auf und grüßte mit den Worten: »Schussverletzung im oberen Brustbereich. Blut ist im Liegen ausgetreten. Die Totenstarre ist voll ausgebildet und wurde nicht gebrochen. Totenflecke durch Absinken des Blutes in Bauchlage vorhanden, Aussparungen mit Auflageflächen identisch. Was sagt Ihnen das, Herr Seidel?«
»Ebenfalls einen guten Morgen«, erwiderte Thorsten. Er kannte Dr. Lange schon einige Jahre und wusste mit seiner ironischen, manchmal ruppigen Art umzugehen. Aber er konnte gut verstehen, wenn sich ein junger Kerl wie Hellmann eingeschüchtert fühlte.
»Wie man es nimmt«, entgegnete der Mediziner ungerührt. »Frau Kirsch?«
»Anne hat Urlaub. Sie ist jetzt wahrscheinlich schon auf Mauritius und lässt sich die Sonne auf den Pelz scheinen.«
»Das sei ihr vergönnt. Also, der Körper wurde nach Eintritt des Todes nicht mehr bewegt. Verrät Ihnen das Fehlen einer Schusswaffe, dass sich unser Klient vermutlich nicht selbst so zugerichtet hat, oder brauchen Sie dafür einen Gerichtsmediziner, Herr Seidel?«
Er würdigte Hellmann keines Blickes, aber Thorsten merkte, dass sich der junge Mann neben ihm versteifte.
»Ein guter Gerichtsmediziner könnte mir vermutlich schon etwas über Schusswinkel und Entfernung sagen«, entgegnete er. Dr. Lange respektierte nur den, der sich nicht von ihm einschüchtern ließ, und nicht mal darauf konnte man sich verlassen.
Ein dünnes Lächeln kräuselte die Lippen des Mediziners. »Genaues kann uns da nur die Untersuchung mit dem Mikroskop und das Rekonstruktionsgutachten sagen, aber fürs Erste würde ich davon ausgehen, dass der Schuss aus einigen Metern Entfernung abgegeben wurde, auf keinen Fall aufgesetzt.« Er deutete auf die Hände des Toten, die bereits in Plastiktüten verpackt waren. »Die Schmauchspurenuntersuchung wird zeigen, dass er den Abzug nicht selbst betätigt hat, wenn Sie an meiner Einschätzung zweifeln.«
»Wenn Sie das sagen.« Thorsten musterte einen Moment lang schweigend den Toten und seine Umgebung, während Dr. Lange mit der äußeren Besichtigung fortfuhr.
Er betrachtete die Blutlache auf dem Boden und registrierte ebenso das Fehlen von Blutspritzern an Schranktüren und Wänden.
Wird mehrmals auf einen Menschen geschossen oder tritt das Geschoss wieder aus dem Körper aus, sind durch die hohe Geschwindigkeit der herumgeschleuderten Blutstropfen immer breitgefächerte Spritzmuster zu finden.
Natürlich könnte der Täter sie weggewischt haben, aber dann würden die Spurensicherer sie mit Hilfe ihres Luminols finden. Oder ein einziger Schuss hat ausgereicht, dachte Thorsten.
Auf dem Herd stand ein Topf mit Deckel. Thorsten hob Letzteren an und roch kaltes Chili. »Vielleicht hat er Besuch erwartet.«
Dr. Lange schnaubte. »Dann bestimmt keinen Damenbesuch. Wenn Mann schon kocht, dann aber mit etwas mehr Anspruch, wenn ich bitten darf! Oder was kochen Sie für Ihre Frau, Herr Seidel?«
»Um Himmels willen!« Mit einem leichten Schauder dachte Thorsten an sein letztes Kochexperiment. »Mir sind sogar schon Spaghetti angebrannt.«
»Ts, ts, ts.« Der Pathologe schüttelte den Kopf. »Da hätte ich aber mehr von Ihnen erwartet, bei zwei Kindern.«
»Mann tut was Mann kann. Ist Holger da?«
Holger Berend musste die Frage gehört haben, denn er betrat in diesem Augenblick die Küche.
»Auch schon angekommen?«, rief er spöttisch und sah demonstrativ auf seine mechanische Uhr, die er selbst zusammengesetzt hatte, eines seiner unzähligen, eigenartigen Hobbies. Er war sehr blass, wie es bei Rothaarigen oft der Fall ist, klein und dicklich. Sein Spezialgebiet war Spurensicherung, aber mit seinen 28 Jahren hatte er auch schon einen Bachelor in Chemie und arbeitete zeitweise im Labor mit. Er war hochintelligent und peinlich genau. Doch so sorgfältig er in seinem Beruf war, so nachlässig war er in Bezug auf Körperpflege und seine äußere Erscheinung.
Thorsten wies ihn darauf hin, dass der Herd ausgeschaltet gewesen war und fragte, ob er Fingerabdrücke genommen habe.
Holger spielte den Beleidigten. »Sag mal, hältst du uns für Anfänger?«
»Schon gut.«
»Ich kann mir schon denken, warum du so schlechte Laune hast. Also ich hab’ gestern auch Bundesliga geguckt.«
Thorsten blickte ihn böse an. »Kein Wort darüber, ja!«, knurrte er.
Holger feixte. »Keine Sorge, ich trete keinen, der schon am Boden liegt. Das wird Atlético am Mittwoch übernehmen. Ich sag’ nur Champions League!« Wie fast alle von Thorstens Kollegen war er natürlich Dortmundfan.
»Nächsten Sonntag zeigen wir euch Zecken, wo der Hammer hängt«, gab Thorsten mit einer Siegesgewissheit zurück, die er noch nicht fühlte. Nächsten Sonntag war Revierderby, das Spiel der Spiele. Holger und er würden es traditionell zusammen in ihrer Stammkneipe gucken. Hoffentlich war wenigstens Huntelaar wieder spielbereit.
Holger schnaubte nur spöttisch. »Wo ist eigentlich Anne?«
»Frau Kirsch ist im Urlaub«, antwortete Dr. Lange für Thorsten. »Wenn die Herren sich jetzt wieder um unseren Fall bemühen würden?« Er war einer der wenigen Dortmunder, die Thorsten kannte, die sich nicht für Fußball interessierten.
Thorsten schaltete sofort um. »Können Sie uns schon etwas über den Todeszeitpunkt sagen?«
»Selbstverständlich. Nach der Körperkerntemperatur vor zwölf Stunden, schätze ich.«
»Also gestern Abend 23.00 Uhr.«
Dr. Lange nickte mit gerunzelter Stirn. »Plus, minus eine Stunde.«
Er seufzte. »Ein Fall aus dem Bilderbuch, wenn Sie mich fragen. Reine Routine. Das hier hätte selbst Herr Berend alleine hingekriegt.«
Anton Hellmann sah aus, als wolle er im Fußboden versinken.
»Ich bin sicher, Herr Berend weiß das zu schätzen«, erwiderte Thorsten. »Trotzdem bin ich froh, dass wir Sie heute dabei haben, Dr. Lange. So können wir sicher sein, dass wir nichts Wichtiges übersehen. Außerdem ist das hier doch eine schöne Gegend.«
Wenn man neugierige Nachbarn, endlose Straßenserpentinen und totale Einöde mag, fügte er in Gedanken hinzu.
»Nun, wenigstens kann ich auf dem Rückweg beim Biobauern einkaufen«, brummte der Gerichtsmediziner.
»Jetzt fangen wir noch mal von vorne an«, entschied Thorsten. »Wie ist der Täter hereingekommen? Gibt es Einbruchspuren?«
Holger antwortete: »Durch die Terrassentür.« Sie gingen zurück ins Wohnzimmer. »Sie wurde nicht aufgebrochen. Entweder die Tür stand offen oder Herr Gruber hat seinen Mörder reingelassen.«
»So sieht es wohl aus. Spuren eines Kampfes?«
»Wenn, dann wurden sie durch die anschließende Verwüstung der Zimmer wahrscheinlich zerstört. Aber es wird dauern, bis wir hier fertig sind. Der tödliche Schuss wurde in der Küche abgegeben. Das Projektil steckt noch im Körper, aber wir haben die Hülse gefunden.«
Holger ging zu einer gelben Kiste, in der die sichergestellten Beweismittel lagen, und zog eine Plastiktüte mit den Resten der roten Patronenhülse hervor. Thorsten hielt sie ins Licht und versuchte die Buchstaben zu entziffern. »6,5 x 57 R … TMG …«
»Teilmantelspitzgeschoss«, erklärte Holger. »Eine Patrone für ein Jagdgewehr. Die Tatwaffe selbst fehlt.«
»Also ein Jäger?«, meldete sich Anton Hellmann zu Wort.
»Möglich«, erwiderte Thorsten. »Oder jemand, der Zugang zu einem Jagdgewehr hatte. Auf die geringe Entfernung muss man wahrscheinlich noch nicht einmal schießen können.«
Ihm kam ein Gedanke und er trat in die Tür zur Küche. »Was kochen Sie eigentlich für Ihre Frau, Herr Dr. Lange?«
Der Gerichtsmediziner packte bereits seine Sachen zusammen. »Bei mir gibt es ausschließlich vegetarische Kost. Sie sollten mal meine Hirseklößchen an Kürbisragout probieren.« Sein Blick wanderte demonstrativ an Thorstens relativ schlanker Gestalt zu seinem leichten Bauchansatz herab. »Das würde Ihnen auch nicht schaden.«
»War das eine Einladung, Herr Doktor?«
Er musste über die schockierte Miene des Mediziners lächeln, als er hinausging. Er kannte niemanden, der Berufliches und Privates so strikt trennte wie Dr. Lange.
Bevor er losfuhr, beauftragte er Hellmann damit, die Nachbarn zu befragen, und verfasste eine Kurznachricht:
»Hi Anne! Viel Spaß auf Mauritius! Wenn du zurückkommst, wartet eine neue Leiche auf dich!«
Anne Kirsch rannte. Sie rannte an den Westfalenhallen vorbei, über einen großen Parkplatz, am Stadion Rote Erde links in die Strobelallee und wieder rechts in den Turmweg. Sie rannte bis zum Freibad Volkspark, bog noch zweimal ab und lief auf einem schmalen Pfad durch den Wald, vorbei an der Fitnessbahn, überquerte die Emscher und jagte weiter durch den Wald. Drei Schritte einatmen, drei Schritte ausatmen. Fuck, fuck, fuck! Sie erhöhte das Tempo.
Ihre Oberschenkel begannen zu schmerzen. Konnte sie noch schneller? Campino dröhnte in ihren Ohren. Doch trotzdem hallte die Stimme, die sie versuchte zu übertönen, in ihrem Kopf wider. Sie hatte sein Bild vor Augen, wie er vor ihr saß und ihr den Wein einschenkte, der kurz darauf als roter Fleck auf ihrem Teppich gelandet war. Sie hörte die Stimme ihrer Mutter dazu: »Ich bin so froh, dass du endlich jemand Anständigen gefunden hast, Anne. Du bist doch eine hübsche, junge Frau. Ich hab’ immer gesagt, du musst dich mal etwas weiblicher kleiden!«
Der Weg wurde schmaler, Blätter dämpften Annes Schritte. Heute, bei dem milden Wetter, waren viele Jogger und Spaziergänger unterwegs und Anne musste achtgeben, dass sie nicht über eine Hundeleine oder ein Dreirad stolperte.
Es war ihr Jahrestag gewesen. Der Beginn des gemeinsamen Urlaubs und vier Tage vor ihrem Flug nach Mauritius, wo sie am Strand noch ein wenig der Kälte entfliehen, gemeinsame Sonnenuntergänge über dem Meer erleben und bunte Cocktails an der Hotelbar schlürfen wollten. Und was konnte bei so einem Urlaub zu zweit nicht noch alles geschehen?
Stefan hatte Pasta gekocht, Spaghetti mit seiner köstlichen Arrabbiatasoße. Dazu gab es Salat und einen schweren Rotwein, der ihr die Zunge blau färbte.
Doch irgendetwas stimmte nicht. Er sah ernst aus, seine hohe Stirn in Falten gelegt und seine Augen waren voller Mitleid. So, als würde er ein Reh ansehen, das verletzt auf der Straße lag. »Ich muss dir etwas sagen«, hatte er begonnen. »Es tut mir leid …«
Jemand rempelte sie von der Seite an und sie stürzte. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihren Knöchel. »Es tut mir leid«, sagte der andere Jogger, ein Mann um die zwanzig.
»Pass doch auf, du Vollidiot!«, stieß sie zwischen keuchenden Atemzügen hervor und umklammerte die schmerzende Stelle mit den Händen. Tränen standen ihr in den Augen und das Herz hämmerte in ihrer Brust, als würde es gleich explodieren.
»Sorry«, murmelte der junge Mann verlegen. »Kannst du aufstehen?« Der Typ war dunkelblond – wie Stefan – mit einem kurzen, krausen Kinnbart.
»Geht schon.« Sie ignorierte seine ausgestreckte Hand und rappelte sich auf. Der rechte Knöchel schmerzte höllisch, aber sie konnte leicht auftreten.
»Soll ich dich nach Hause bringen?«
Gott bewahre, lieber krieche ich auf allen Vieren! Etwas ungeschickt schüttelte sie seine Hand ab, drehte sich weg und humpelte mit zusammengebissenen Zähnen vorwärts. »Danke, ich komme schon klar.«
»Bist du sicher?« fragte der Typ.
»Absolut sicher!«, stieß sie hervor, ohne sich umzusehen. Sie humpelte entschlossen weiter, obwohl der Knöchel übel wehtat, aber von Männern hatte sie mehr als genug, schönen Dank auch.
Und jetzt? Sie konnte nicht mehr weit laufen. Am liebsten würde sie sich in ihrer Wohnung verkriechen und die Decke über den Kopf ziehen, aber nach Hause konnte sie nicht, dort war Stefan vermutlich gerade dabei, seine Möbel hinauszutragen.
Fuck! Sie wusste, dass es ein Fehler war, aber immerhin war es in der Nähe. Sie bog in die Stübbenstraße und humpelte zu Haus Nummer 39. Roswitha Kirsch stand neben einer der vielen Klingeln.
»Ja?«, tönte eine Stimme aus der Gegensprechanlage.
»Ich bin’s, Mama.«
»Anne? Oh, wie schön, dass du kommst, ich habe gerade an dich gedacht! Komm schnell rauf, ich muss dir unbedingt etwas zeigen!«
Das mit dem schnell war so eine Sache, aber zum Glück wohnte Annes Mutter im zweiten Stock. »Wie siehst du denn aus?!«
»Hi, Mama.«
Niemand, der es nicht besser wusste, würde vermuten, dass Anne und ihre Mutter verwandt waren. Während Roswitha ihre langen, blonden Haare stets offen trug und ihr Alter mit Hilfe von unzähligen Cremes und Salben und ein wenig Botox auf eine Zahl zwischen 30 und 40 konserviert hatte, ähnelte Anne beinahe ausschließlich ihrem Vater. Sie hatte seinen dunklen Teint und seine schwarzen Haare geerbt, die sie kurz trug und die je nach Laune mal mehr, mal weniger wild von ihrem Kopf abstanden.
Die kleine, spitze Nase war das einzige, das Mutter und Tochter gemeinsam hatten. »Wie eine Spitzmaus«, hatte Stefan sie immer aufgezogen. Beim Gedanken an ihn verzog sie den Mund. »Bin umgeknickt. Kann ich mal schnell bei dir duschen?«
»Klar –«, begann Roswitha, doch Anne war schon im Badezimmer verschwunden. »Hast du was zum Anziehen für mich?«, rief sie hinter der verschlossenen Tür.
Roswitha seufzte. »Mal sehen, ob ich noch eine Jeans im Schrank finde.«
Kurze Zeit später stand Anne in einer alten Jeans und einem grünen Rollkragenpullover ihrer Mutter am Herd und briet sich ein paar Eier mit Zwiebeln. Es ging ihr schon ein wenig besser. Der Knöchel schmerzte etwas weniger und wenn sie einfach überhaupt nicht mehr an Stefan dachte, wäre es vielleicht irgendwann so, als hätte es ihn nie gegeben.
»Wie war denn euer Dinner? Hat Stefan dir endlich einen Antrag gemacht?«, fragte ihre Mutter, die mit einer Tasse grünem Tee am Tisch saß. »Du solltest dir die Haare föhnen, weißt du? Du willst doch nicht so kurz vor eurem Urlaub krank werden.«
»Mama!« Anne verdrehte genervt die Augen. Sie hatte ihrer Mutter den Rücken zugekehrt und stocherte mit dem Pfannenwender in ihren Eiern herum.
»Das sollte er jedenfalls! Entschuldige, aber das ist meine Meinung. Wie lange seid ihr jetzt zusammen, zwei Jahre? Was ist, wenn du schwanger wirst?«
»Lass gut sein, Mama. Ich möchte jetzt nicht drüber reden.« Anne lud sich die Eier auf einen Teller, auf dem schon zwei Schnitten Brot lagen, und fing an zu essen.
»Nie willst du drüber reden!«, beklagte sich Roswitha. »Hast du denn deine Sachen schon gepackt?«
Anne schüttelte kauend den Kopf, nahm sich eine Zeitung von der Anrichte und begann zu lesen. Ein Königreich für ein anderes Thema!
»Du bist genau wie dein Vater!« Roswitha ließ es wie einen Vorwurf klingen, doch Anne war es gewohnt, Sätze wie diesen zu überhören. »Wann geht denn …«
»Wolltest du mir nicht etwas zeigen?«, unterbrach Anne ihre Mutter, um sie abzulenken.
Roswithas Gesicht hellte sich schlagartig auf. »Ach ja, das hätte ich fast vergessen! Schau mal, was ich beim Aufräumen gefunden habe.«
Sie stürzte ins Wohnzimmer, um mit einem verstaubten Karton zurückzukehren. Behutsam, als wäre es eine Schatzkiste, klappte sie ihn auf und zog ein stark zerknittertes weißes Etwas heraus. Anne sah nur Seide und Spitze und ein Dämon regte sich in ihrem Inneren. Wenn sie jetzt schreien und davonstürmen würde, änderte das vermutlich auch nichts. Abgesehen davon konnte sie gar nicht laufen.
»Ist das dein Brautkleid?«, fragte sie mit einem, wie sie fand, erstaunlichen Maß an Selbstbeherrschung.
»Das ist es«, flüsterte Roswitha ehrfürchtig und breitete das weiße Unheil vor Anne aus. »Willst du es mal anprobieren?«
Anne sah, dass ihre Mutter Tränen in den Augen hatte und wusste, dass es wahrscheinlich keinen schlechteren Zeitpunkt geben würde, ihr von der Trennung zu erzählen. Sie wäre so dermaßen enttäuscht.
»Ich warte lieber erstmal auf den Antrag«, antwortete sie darum ausweichend. »Du hast darin bestimmt sehr schön ausgesehen.«
»Es war ein wundervoller Tag«, seufzte Roswitha. »Nun, es hat nicht funktioniert mit unserer Ehe«, fügte sie bedauernd hinzu. »Obwohl es nicht meine Schuld war, wie du ja weißt.«
Anne kannte diese Geschichte bereits zur Genüge. »Hast du was zu trinken im Haus?«
»Um diese Zeit?«, fragte Roswitha leicht schockiert. »Es ist noch nicht einmal vier!«
»Komm schon, Mama.« Dies war ein Tag, den sie nüchtern nicht überstehen würde. »Wir müssen doch auf dein Kleid anstoßen«, fügte sie mit einem Anflug von Verzweiflung hinzu.
»Na gut.« Roswitha grinste breit, als sie mit einer Flasche Sekt und zwei Gläsern zurückkehrte. »Und dabei sehen wir uns Hochzeitsfotos an, ja?«
Schweren Herzens stimmte Anne zu, doch sie war überrascht, wie schön es war, die alten Bilder von ihren Eltern zu sehen. Daniel Kirsch hatte ihr wirklich ziemlich ähnlich gesehen, vor allem damals, als seine Haare noch rabenschwarz gewesen waren. Sie bekam ein wenig Sehnsucht nach ihm. Seit er vor vier Jahren nach Los Angeles ausgewandert war, hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Klar, sie sprachen über Skype miteinander. Aber jedes Mal war sie sich schmerzhaft bewusst, dass er über 9000 Kilometer weit weg war.
Der Sekt prickelte auf der Zunge und nach dem dritten Glas bemächtigte sich eine angenehme Leichtigkeit ihrer und sie bekam beim Anblick eines Fotos von ihrem Vater, der versuchte, Roswithas Strumpfband mit den Zähnen herunterzuziehen, einen wilden Lachanfall.
»Diese komischen Hochzeitsspiele«, sagte Roswitha errötend, aber auch sie hatte schon ein Gläschen getrunken und grinste breit.
Sie sahen sich weitere Fotoalben an, machten noch den Weißwein von Ostern auf und bestellten Pizza. Eine Sünde, die Roswitha eigentlich sonst nie beging.
Der Wein schmeckte ein wenig seltsam nach dem Sekt, fand Anne, aber beim zweiten Glas wurde es besser.
»Ich hab’ doch noch die alten Filmaufnahmen!«, rief Roswitha triumphierend. Sie durchwühlte den Schrank und kam mit einer DVD zurück. Als sie schwerfällig in die Hocke ging und die DVD einlegte, merkte Anne, dass ihre Mutter auch nicht mehr ganz nüchtern war.
»Prima«, murmelte Anne schläfrig und streckte sich auf dem Sofa aus. Ein kleiner verräterischer Gedanke regte sich in ihr und fragte sich, was Stefan wohl gerade tat. Wahrscheinlich lag er gerade mit seiner neuen Freundin auf dem Sofa und streichelte ihren Bauch.
»Was ist los, Spätzchen?«, fragte ihre Mutter besorgt. »Weinst du etwa?«
Anne wischte sich energisch übers Gesicht und trank einen großen Schluck. »Hab’ nur was im Auge.«
Minuten später lachte sie wieder, als Papa in einem großen, bunten Hahnenkostüm durchs Bild watschelte. An seiner Hand ging ein kleines Hühnchen mit einer Plastiktüte voller Süßigkeiten.
»Du warst so ein süßes Schätzchen, damals«, säuselte Roswitha.
Die Szene endete abrupt und Anne sah wieder Papa, wie er mit zwei Kumpels in schwarz-gelben Trikots vor der Kamera posierte.
»Das spitzbübische Lächeln hast du von ihm.«
Anne grinste. Sie war immer ein »Papakind« gewesen, und wie ihr Vater war auch sie in den Polizeidienst gegangen. Daniel Kirsch war lange bei der Kripo Dortmund im Drogendezernat tätig gewesen, bevor er das Angebot in L.A. bekommen hatte. Das allein war wohl nicht der Grund gewesen, Roswitha zu verlassen, aber gab den Anstoß. Und Anne war schließlich erwachsen und stand auf eigenen Beinen. Mehr oder weniger.
In dieser Zeit hatte sie Thorsten kennengelernt und über die Jahre hatte er irgendwie begonnen, die Lücke in ihrem Leben zu füllen, die ihr Vater hinterlassen hatte. Obwohl der Altersunterschied zwischen ihnen gar nicht so groß war. Ein Kollege, ein Freund, der ruhende Pol in ihrem Leben. Sie waren sehr gute Freunde gewesen, bis zu diesem Abend, als sich ihr Verhältnis unnötig verkompliziert hatte. Und seitdem war es irgendwie nicht mehr dasselbe.
»Ich sehe ihn vor mir, wie er in der Tür stand, in weißer Hose und Hemd, ganz verdreckt und voller Blutflecken. Es war Schützenfestmontag, deshalb trug er die Uniform. Er war völlig aufgelöst. ›Ich bring’ ihn um, ich mach’ ihn fertig!‹, hat er gerufen.« Susanne Asshauer atmete tief durch und tupfte sich vorsichtig die Augen, damit ihre Wimperntusche nicht verschmierte. Sie sah ganz anders aus, als Thorsten sich eine Sauerländerin vorgestellt hatte. Ihre Kleidung war die einer Geschäftsfrau. Sie trug die blonden Haare in einem modischen Kurzhaarschnitt und war dezent geschminkt.
Als Thorsten ihr Haus betreten hatte, war ihm als Erstes das mächtige Geweih gegenüber der Eingangstür ins Auge gesprungen, das dort an der holzvertäfelten Wand prangte. Ein Rothirsch, wie Susanne Asshauer ihm stolz erklärte. Der größte, der hier je einem Jäger vor die Büchse gekommen war.
Sie wohnte in einem Fachwerkhaus mit Geranien an den Fensterbänken. Dicke Balken vor der Vorderfront stützten einen großzügigen Balkon. An ihnen wuchs eine dichte Kletterrose empor, deren Triebe bis hinauf auf die Plattform reichten und sich dort um das Geländer wanden.
Susanne Asshauer führte Thorsten ins Esszimmer, das mit alten, aber augenscheinlich teuren Möbeln eingerichtet war. Sie war die Schwester des Toten und hatte ihn bereits erwartet. Neuigkeiten schienen hier schnell die Runde zu machen.
Ein Mann erhob sich bei seinem Eintritt und reichte ihm die Hand. Er war um die 1,90, etwa so groß wie Thorsten selbst, hatte aber vollere und dichtere Haare und einen gepflegten Vollbart, in dem sich schon weiße Strähnen zeigten. Er trug eine dunkle Anzughose und ein gestreiftes Hemd. Jäger schien er nur in seiner Freizeit zu sein.
»Gerd Asshauer«, stellte er sich vor. »Bitte nehmen Sie Platz. Sie müssen das Durcheinander entschuldigen, wir haben eben erst von dem Unglück erfahren.«
Mit dem Durcheinander meinte er wohl die zwei Fernsehzeitungen, die auf dem Esstisch lagen, denn sonst war alles penibel sauber und ordentlich. Thorstens Blick wanderte über die goldgerahmten Bilder, die an den Wänden hingen: Hier ein Reh, da ein Jäger mit Hund und Flinte über der Schulter, alles Szenen aus Wald und Natur. Im Hintergrund schallte Musik von Bushido aus einem Zimmer, was nicht so ganz zur Landhausidylle passen wollte.
»Sie sind passionierter Jäger, wie?«, fragte Thorsten.
Herr Asshauer nickte lächelnd. »Meine große Leidenschaft«, gab er nicht ohne Stolz zu. »Ein Ausgleich zur Arbeit am Schreibtisch. Ich bin Steuerberater, müssen Sie wissen. Meine Frau ist Anwältin, wir haben zusammen in Brilon eine Kanzlei.«
Daher kommt also das Geld, dachte Thorsten. Laut sagte er. »Bei so einem arbeitsintensiven Beruf bleibt wohl nicht allzu viel Zeit für Hobby und Familie?«
»Die Jagd ist mehr als ein Hobby, Herr Seidel«, belehrte ihn Gerd Asshauer. »Das ist ein Lebensinhalt. Dafür kann ein Beruf auch mal zurückstehen.«
»Oder die Familie«, bemerkte Thorsten.
Asshauer zuckte mit den Schultern. »Mein Frau wusste schon vor der Hochzeit, dass sie einen Jäger heiratet, nicht wahr, meine kleine Ricke?«
»Jetzt lass doch die Jagdgeschichten beiseite, Gerd«, wies sie ihn sanft zurecht. Sie hatte Thorsten einen Kaffee gemacht. Frisch gemahlen aufgebrüht, cremig und schwarz wie die Nacht; definitiv aus einem Kaffeevollautomaten. Herrlich.
Sie ging noch mal in den Flur und klopfte nachdrücklich mit der flachen Hand gegen die Tür, aus der Bushido rappte. »Benni, würdest du die Musik etwas leiser drehen?« Als sich nichts tat, klopfte sie noch etwas lauter und rief »Benni!« Leider waren ihre Mühen erfolglos und auch ein energisches Rütteln an der verschlossenen Tür brachte sie nicht weiter.
»Entschuldigen Sie«, sagte sie noch mal. »Er ist fünfzehn.«
Thorsten nickte verständnisvoll. Sie waren alle einmal fünfzehn gewesen. Er stellte die üblichen Fragen zum Umfeld des Toten und erfuhr, dass Jürgen Gruber bei Hochsauerland Energie in Enste gearbeitet hatte und ein Einzelgänger gewesen war. Außer seiner Schwester hätte er keine Familie am Ort gehabt.
Ob er auch Jäger gewesen sei?
»Nee«, lachte Gerd Asshauer abschätzig. »Der war kein Jäger. Der war so ein Veganer, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Vegetarier«, korrigierte seine Frau.
»Und gab es Spannungen zwischen Ihnen deswegen?«
»Spannungen?« Gerd Asshauer schnaubte wieder. »Der Jürgen war ein verdammtes selbstgefälliges Arschloch – entschuldige, Susanne. Er hat etliche Leserbriefe an die Zeitungen geschrieben, in denen er über das neue Jagdgesetz schwadronierte, und dass es nicht weit genug gehe. Er hat keine Gelegenheit ausgelassen, öffentlich über uns herzuziehen.«
Thorsten glaubte sich erinnern zu können, dass er von diesem Jagdgesetz eine Überschrift in der Zeitung gesehen hatte, aber da ihn das Thema nicht interessierte, hatte er ihn nicht gelesen. »Was hat es denn mit diesem neuen Jagdgesetz auf sich?«
»Das ist ein Mist, den uns Rot-Grün eingebrockt hat«, erklärte Asshauer in einem Tonfall, der deutlich zeigte, was er selbst von der derzeitigen Regierung NRWs hielt. »Wir dürfen zum Beispiel keine wildernden Katzen mehr schießen. Das ist doch Wahnsinn! Jede Katze tötet im Jahr mehr als 300 Kleinvögel und Kleinsäugetiere. Das hat doch nichts mehr mit Ökologie zu tun, das ist reine Parteiideologie!«
»Und Ihr Schwager …«, lenkte Thorsten das Thema wieder auf den Fall.
»Mein Schwager hat stets darauf geachtet, dass Gesetze genau eingehalten werden«, griff Asshauer seinen Wink auf.
»Mein Bruder hat sich immer überall eingemischt«, erklärte Susanne Asshauer mit Bedauern in der Stimme. »Nicht nur bei den Jägern. Die Müllers hat er mal angezeigt, weil sie ein Stück zu weit auf dem Bürgersteig geparkt haben.«
Ihr Mann nickte. »Und wenn draußen in der Jagdhütte zu laut gefeiert wurde, hat er regelmäßig die Polizei gerufen.«
So einer also! »Da macht man sich auf so einem Dorf bestimmt nicht nur Freunde«, vermutete Thorsten.
»Das stimmt leider«, sagte Susanne Asshauer. »Aber er war schon immer so. Schon in der Schule ist er nicht gut mit anderen klargekommen. Ich fürchte, unsere Eltern haben ihn als Kind zu sehr verwöhnt. Er ist immer etwas Besonderes für sie gewesen. Mein Bruder war der Sohn, den sie sich immer gewünscht hatten.«
Das war für seine Schwester bestimmt nicht einfach gewesen. Thorsten machte sich Notizen, aber die Erfahrung hatte ihn gelehrt, erst einmal alles zu sammeln, ohne voreilige Schlüsse zu ziehen. Probleme gab es schließlich in jeder Familie.
In diesem Moment wurde Bushido um einiges lauter, da sich die Tür öffnete und ein Jugendlicher mit Baseballmütze, weißem T-Shirt und übergroßer Jeans ins Esszimmer kam und wortlos begann, Cornflakes in eine Schüssel zu kippen.
»Guten Morgen, Benjamin«, sagte Gerd Asshauer in strengem Tonfall. »Das ist ja schön, dass ich dich auch mal zu Gesicht bekomme. Wann bist du denn heute Morgen nach Hause gekommen? Und wo bist du gewesen?«
»Bei Lumme«, grummelte der Teenager und Thorsten beobachtete fasziniert, dass Hose und Gürtel bereits knapp unter seinem Gesäß endeten, welches nur von bunten Boxershorts bedeckt wurde. Er fragte sich, wie sie dort hielten ohne herunterzurutschen.
»Ich finde es nicht gut, dass du dich immer mit diesem Taugenichts herumtreibst!«, schimpfte sein Vater.
»Du könntest wenigstens mal grüßen.«, ermahnte die Mutter ihren Sohn. »Das ist Herr Seidel von der Kriminalpolizei.«
»Morgen«, brummte Benjamin, ohne sich umzusehen. Er stellte die Milch zurück in den Kühlschrank und schlurfte mit den Cornflakes in der Hand zurück in sein Zimmer.
»Und stell bitte die Musik leiser!«, rief sie hinterher.
Das Knallen der Tür war die einzige Reaktion auf ihre Worte.
»Entschuldigen Sie«, sagte Frau Asshauer noch einmal zu Thorsten.
»Du lässt ihm immer alles durchgehen!«, meinte ihr Mann vorwurfsvoll.
»Aber du!«, entgegnete sie wütend. »Wer hat ihm denn ständig diese Ballerspiele gekauft?« Sie brach in Tränen aus.
»Entschuldigen Sie«, presste sie hervor und schnäuzte sich wieder. »Es ist alles ein bisschen viel für uns.«
Gerd Asshauer legte ihr die Hand auf die Schulter. »Du solltest dich ein wenig hinlegen, Susanne. Wenn das alles war, Herr Kommissar …«
»Ich muss Sie noch fragen, was Sie Samstagabend gemacht haben.«
»Aber Sie glauben doch nicht, dass mein Mann…«, begann Frau Asshauer entrüstet.
»In meinen Beruf darf man nur das glauben, was sich beweisen lässt«, unterbrach sie Thorsten. »Und deshalb sammeln wir Fakten. Auch, um andere Aussagen anhand der Ihren überprüfen zu können.«
Gerd schnaubte. »Meine Frau ist zu Hause geblieben.
Und ich war gestern bei der Treibjagd und danach mit den Jagdgenossen im Gasthaus Zum goldenen Hirsch.«
Thorsten wurde hellhörig und forderte Herrn Asshauer auf, mehr über den Jagdabend zu erzählen.
Dann fiel der Name Krüger und Susanne blickte ihren Mann merkwürdig an. Der schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf.
»Ich denke schon den ganzen Tag darüber nach«, begann sie schließlich. »Mein Mann ist dagegen es Ihnen zu erzählen, aber ich halte es für wichtig.«
»Alles, was Ihren Bruder betrifft, ist wichtig«, erwiderte Thorsten.
»Ich möchte nur nicht, dass ein falscher Eindruck entsteht«, warf Gerd Asshauer gereizt ein.
Seine Frau seufzte. »Das möchte ich doch auch nicht.«
Sie begann von einem Vorfall zu erzählen, der sich auf dem letzten Schützenfest ereignet hatte. Jürgen war zu ihr gekommen, die weiße Uniform blutverschmiert. »Ich bring’ ihn um, ich mach’ ihn fertig!« hatte er gerufen. Er war völlig außer sich gewesen und auf ihr ängstliches Fragen, was passiert sei, hatte er keine Antwort gegeben. Stattdessen hatte er sie zum Kofferraum seines Wagens geführt.
Susanne atmete einmal tief durch und wischte sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln.
»Im Kofferraum lag sein Golden Retriever. Er hatte ihn an diesem Morgen erschossen im Wald gefunden.«
»Ich habe deinem Bruder immer gesagt, er soll besser auf den Hund achtgeben«, mischte sich Gerd Asshauer ein. »Der Wald ist Naturschutzgebiet, da haben streunende Hunde nichts zu suchen!«
Seine Frau ignorierte den Einwand. »Jürgen wusste, dass es Franz-Josef Krüger gewesen war. Das ist einer der Jäger. Er wollte ihn sofort zur Rede stellen. Ich habe versucht ihn aufzuhalten. Schließlich war Schützenfestmontag und niemand war mehr nüchtern. Es hätte wer weiß was passieren können.«
Thorsten hatte aufmerksam zugehört. »Und ist etwas passiert?«
Susanne zuckte mit den Schultern. »Sie haben sich geschlagen. Vor der Theke. Jürgen hat wohl doch Glück gehabt, dass Krüger so betrunken war und nicht mehr richtig zielen konnte. Er hat nur einen geprellten Kiefer und eine gebrochene Rippe davongetragen.«
»Aber jetzt interpretieren Sie da nicht zu viel rein«, ergriff ihr Mann das Wort. »Krüger konnte meinen Schwager nicht ausstehen, aber er hat ihn nicht umgebracht. Er war den ganzen Abend mit mir im Hirsch.«
Thorsten hatte fürs Erste genug gehört. Was für ein seltsames Fleckchen Erde hier.
Auf dem Weg zum Auto klingelte sein Smartphone.
»Seidel?«
Anton Hellmann war am anderen Ende und erzählte aufgeregt, was er von den Nachbarn erfahren hatte: Es war Treibjagd gewesen und die Jäger hatten sich nachher im goldenen Hirsch getroffen. Ansonsten hatte die Befragung aber nicht viel ergeben. Seltsamerweise hatte niemand den Schuss gehört und Herr Gruber hatte den ganzen Tag keinen Besuch bekommen.
»Gute Arbeit, Hellmann«, sagte Thorsten. Von seinen Kindern wusste er, wie wichtig Lob für die jungen Leute war. »Wir treffen uns beim Gasthaus, ja?«
Der goldene Hirsch lag im Zentrum des Dorfes, nicht weit von der Kirche entfernt. Zu Fuß würde man etwa fünf Minuten zu Jürgen Grubers Wohnung brauchen. Es war eine geräumige Gastwirtschaft, die allerdings durch holzvertäfelte Wände und zu kleine Fenster düster wirkte. Stühle und Bänke waren dunkel gestrichen und grün gepolstert. Thorsten konnte sich gut vorstellen, dass eine Horde Jäger sich an diesem Ort wohlfühlte.
Die junge Frau hinterm Tresen blickte auf, als sie hereinkamen. Ihre Lippen waren grellrot geschminkt und die enge Bluse betonte ihre beträchtliche Oberweite.
»Guten Tag«, flötete sie. Frischfleisch, sagte ihr Blick.