Mordskälte - Mareike Albracht - E-Book

Mordskälte E-Book

Mareike Albracht

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  • Herausgeber: Midnight
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Ein gefährlicher Fall für Anne Kirsch Oberkommissarin Anne Kirsch gibt sich alle Mühe, sich an die Vorschriften zu halten. Sie hat im Dienst bereits einmal zu oft ihre Kompetenzen überschritten und darf sich keinen Fehltritt mehr leisten. Als im Sauerland ein Motorradfahrer tot aufgefunden wird, der offenbar zu schnell durch eine Kurve gerast war, ermittelt sie deshalb besonders akribisch. Es stellt sich heraus, dass der Tod kein Unfall war, sondern Mord, und die Spur führt in die Sauerländer Motorradszene. Doch als plötzlich Annes Freund Heiko in den Kreis der Verdächtigen gerät, muss sie sich entscheiden: Ist sie bereit, den Fall abzugeben, obwohl sie die einzige zu sein scheint, die Heiko retten kann? Von Mareike Albracht sind bei Midnight in der "Ein-Fall-für-Anne-Kirsch"-Reihe erschienen:  Katz und Mord  Dornentod Erzähl mir vom Tod Mordskälte

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Mordskälte

Die Autorin

Mareike Albracht wurde 1982 geboren. Die ausgebildete Diplom-Finanzwirtin ist Mutter von drei Kindern und lebt mit ihrer Familie im Sauerland. Dort beschloss sie, ihren Kindheitstraum zu verwirklichen und ihre Liebe zur Heimat mit ihrer Leidenschaft für das Schreiben zu kombinieren. 2016 belegte sie den dritten Platz auf der Shortlist des Krimi-Stipendiums der Mörderischen Schwestern.

Das Buch

Ein gefährlicher Fall für Anne Kirsch

Oberkommissarin Anne Kirsch gibt sich alle Mühe, sich an die Vorschriften zu halten. Sie hat im Dienst bereits einmal zu oft ihre Kompetenzen überschritten und darf sich keinen Fehltritt mehr leisten. Als im Sauerland ein Motorradfahrer tot aufgefunden wird, der offenbar zu schnell durch eine Kurve gerast war, ermittelt sie deshalb besonders akribisch. Es stellt sich heraus, dass der Tod kein Unfall war, sondern Mord, und die Spur führt in die Sauerländer Motorradszene. Doch als plötzlich Annes Freund Heiko in den Kreis der Verdächtigen gerät, muss sie sich entscheiden: Ist sie bereit, den Fall abzugeben, obwohl sie die einzige zu sein scheint, die Heiko retten kann?

Von Mareike Albracht sind bei Midnight in der "Ein-Fall-für-Anne-Kirsch"-Reihe erschienen: Katz und Mord DornentodErzähl mir vom TodMordskälte

Mareike Albracht

Mordskälte

Ein Sauerland-Krimi

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

Originalausgabe bei MidnightMidnight ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinNovember 2019

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019Umschlaggestaltung:zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privatE-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-95819-284-3

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Nachwort

Leseprobe: Katz und Mord

Empfehlungen

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Cover

Titelseite

Inhalt

Kapitel 1

Motorradfreunde Sauerland e. V. gefällt Bikertreff Dreislar

Bikertreff Dreislar

Gesponsert

Holt eure Maschinen aus dem »Stall« und kommt!Am Samstag, den 15. Juni, ist Bikertag!!!Pott Kaffee + Apfelkuchen 3,00 €Currywurst + Pommes Majo/Ketchup 4,00 €Solange der Vorrat reicht!Übernachtung mit Frühstück im Doppelzimmer 25 € p. P

52-mal gefällt mir

Susi Groß: Waren letztes Wochenende dort. Toller Bikertreff an der Grenzlandtour NRW/Hessen. Sehr freundliche Leute.

Christian Brockmann: Wir kommen und freuen uns schon!

Elias Pe: @moni Na, wie wärs?

Ha. Ss: Ihr miesen Schweine, verrecken sollt ihr!!! Ich mach euch fertig.

Kapitel 1

Donnerstag, 13.06., 23.50 Uhr – Dreislar – Sauerland

Das Geräusch des aufheulenden Motors riss Gilbert Kreimer aus dem Schlaf. Für einen Moment war er orientierungslos, und das Bild des riesigen Containerschiffes, von dem er geträumt hatte, zerfloss in Schwärze. Kurz darauf setzte das Fiepen in seinem rechten Ohr ein, das ihn gnadenlos in die Wirklichkeit zurückholte.

Ächzend drehte er sich zur Seite und blickte auf die Leuchtanzeige seines Weckers. Bald Mitternacht. Nicht mal eine Stunde lang hatte er geschlafen. Das Motorgeräusch wurde leiser, nur um sofort wieder zu einem durchdringenden Heulen anzuschwellen, als der Biker die lange Gerade in Richtung Medelon hochjagte.

Gilbert schloss die Augen und versuchte das Bild der MS Carolina heraufzubeschwören. Der hohe schwarze Bug. Sechzehn Meter Tiefgang und eine Geschwindigkeit von bis zu fünfundzwanzig Knoten. Er versuchte in den Traum zurückzusinken wie in ein Schwimmbecken, aus dem er aufgetaucht war, doch die Carolina war fort.

Hass verzerrte sein Gesicht. Er stieg aus seinem Bauch empor und wärmte seine ausgemergelte Brust wie ein starker Weinbrand. Gilbert lauschte auf das Motorgeräusch. Er hörte, wie der Biker vom Gas ging, als er sich der Rechtskurve näherte.

Dann kam der Knall. So ohrenbetäubend, als wäre ein Teil der Landschaft weggesprengt worden. Danach war Stille. Bis auf den Tinnitus in seinem Ohr, der niemals verstummte.

Eine Weile lag Gilbert Kreimer nur da und stellte sich vor, was passiert war. Dann drehte er sich zufrieden auf die Seite. »Geschieht dir recht, Sausack!«

Er konnte nicht sagen, warum er liegen blieb, denn Schlaf würde er heute Nacht nicht mehr finden. Vielleicht tat er es, um noch für wenige Minuten die Stille zu genießen, bevor Sirenengeheul sie zerschneiden würde. In seinem früheren Leben als Schiffsmechaniker hatte er nicht gewusst, dass er die Stille liebte. Er hatte so vieles nicht gewusst.

Kapitel 2

Freitagmorgen, 14.06. – Dreislar – Sauerland

Mit einer energischen Bewegung stopfte Elsbeth ihren Wischer in die mobile Station. Sie ließ das Wasser abtropfen und ging ein zweites Mal über die Fliesen im Eingangsbereich des Gefriergemeinschaftshauses. Die Tür hatte sie verkeilt, sodass sie weit offen stand, damit der Raum trocknete. Dann löste Elsbeth den Eimer aus der Halterung und kippte das Wasser in den nächsten Gulli.

Wilhelm war damals gegen die Anschaffung der Wischstation gewesen. Für die hundertzwanzig Mark kriegt man bei Sockenkarl drei Hosen.

Bei dem Gedanken daran schüttelte Elsbeth den Kopf. Wozu braucht der Mann drei Hosen, wenn ich fast jeden Tag wasche?

Die rollbare Wischtuchpresse entlastete ihren Rücken, und das war die Hauptsache, schließlich war sie keine siebzig mehr. Außerdem ließ sich alles gut im Kofferraum transportieren.

Elsbeth öffnete die Klappe ihres Twingos, den sie halb auf dem kleinen Vorplatz und halb auf der engen Straße geparkt hatte. Wenn Wilhelm das sähe, würde er wieder Zustände kriegen, aber wer fuhr schon aus Dreislar über den Ziegenberg in Richtung Neukirchen?

Sorgfältig verstaute sie ihre Putzutensilien.

»Warum überlässt du den Putzdienst nicht den Jüngeren?«, hatte Wilhelm heute Morgen gefragt.

»Welche Jüngeren meinst du denn? Birgit? Ansgar? Die Gerda geht selbst stark auf die siebzig zu und hat Probleme mit dem Blutdruck. Ansgar hat Hüfte und Birgit den schlimmen Fuß.« Elsbeth schnaubte bei der Erinnerung. »Nein. Es sind keine Jüngeren mehr da, und das ist das Drama.«

Sie schloss die Kofferraumklappe und sah, wie Birgit die Ölfestraße entlanghumpelte. Ein paar Kilos abzunehmen täte ihr gut, dann würde sie auch den Knöchel nicht so belasten.

»Wahrscheinlich kommt Schwiegermuttern zu Besuch, und sie holt was von der Schweinehälfte.«

Kurz vorm Ziel hielt Birgit schnaufend inne und presste sich eine Faust unter die Rippen. Eins musste man ihr lassen. Trotz des Knöchels fuhr sie nie mit dem Auto.

»Hallo, Birgit! Kommste das Schwein holen?«

»Tach, Else!« Die Hundert-Kilo-Frau ging seitwärts über den schmalen Bürgersteig und atmete schwer durch den Mund. »Nee, hab Rhabarber geerntet. Aber es ist wie immer zu viel. Habe schon gebacken, und der Rest kommt ins Fach.«

Elsbeth warf einen begehrlichen Blick auf die Plastiktüte. Sie liebte Rhabarberkuchen. »Tauschst du ein Pfund gegen einen Beutel von meinen Himbeeren?«

Per Handschlag wurde das Geschäft besiegelt. Elsbeth prüfte, ob die Fliesen im Gefrierhaus trocken waren. Dann zog sie ihren Schlüssel heraus und öffnete das Fach Nummer fünf, das sie sich mit Wilhelm teilte. Hinter der kleinen rechteckigen Öffnung verbarg sich ein tiefes Gefrierfach, das 263 Liter fasste. In Tüten und Dosen bewahrte Elsbeth dort Fleisch von der letzten Schlachtung und Beeren von ihren Sträuchern auf.

»Ich mag mir gar nicht vorstellen, was ich mache, wenn es mit unserem Gefrierhaus vorbei ist«, meinte Birgit seufzend und nahm die Himbeeren in Empfang. »Wenn das letzte Kühlaggregat den Geist aufgibt. Dann werden wir alles ausräumen müssen.«

Ihr Tonfall ärgerte Elsbeth. »Darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen!«

»Spätestens Ende des Jahres hat der Techniker gesagt.«

»Also, ich werde nicht einfach so aufgeben!«

Während Birgit ihren Rhabarber in ihrem eigenen Fach verstaute, glitt Elsbeths Blick über die schäbigen Wandfliesen und die genagelten Spanplatten an der Decke. Schon lange wäre eine Renovierung fällig gewesen, aber dem Gefrierverein fehlte das Geld, und jetzt drohte auch noch das letzte Kühlaggregat auszufallen.

Die Zukunft sah düster aus. Von den dreißig Fächer im Haus waren nur zwanzig vermietet. Zwanzig Schultern, um die Lasten und Kosten zu verteilen. Und diese zwanzig wurden älter, und Nachfolger waren nicht in Sicht.

Oft hatte sich Elsbeth um Nachwuchs für ihren kleinen Verein bemüht, doch die jungen Leute hatten kein Verständnis für den Wert des 1961 erbauten Kalthauses. Für gelebte Gemeinschaft und Tradition. Und so würde das letzte Gefriergemeinschaftshaus im Sauerland seine Tore schließen müssen. Wenn nicht ein Wunder geschah.

Elsbeths Blick blieb am Fach Nummer vierzehn hängen, wie so oft in den letzten Wochen. Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, den Gefrierverein zu retten! Als erste Vorsitzende war sie verantwortlich für das Gefrierhaus und auch für die Menschen, die ihrer Gemeinschaft angehörten.

»Wenn man Herrn Wohlfeil erreichen könnte«, murmelte sie.

Birgit gab ein Schnauben von sich und drückte Elsbeth die Tüte mit einem halben Dutzend Rhabarberstangen in die Hand.

»Der war doch schon ewig nicht mehr hier! Hat er sein Fach überhaupt je benutzt?«

Elsbeth zog einen Staublappen aus ihrer Tasche und wischte sorgfältig über den oberen Rand der Klappe und über die Klinke von Fach vierzehn. Die schwarze Schmutzschicht auf ihrem Lappen schien Birgits Worte zu bestätigen.

»Ich weiß es nicht. Trotzdem. Vielleicht hat er noch Interesse an unserem Verein. Immerhin hat er damals das Fach bei Klärchen gemietet und uns mit einem großzügigen Mietvorschuss unterstützt. Wenn er erfährt, dass unser Kalthaus schließen muss, wird er uns vielleicht wieder helfen.«

»Das war doch vor über zwanzig Jahren! Steht ihm das Fach überhaupt noch zu?«

»Aber ja. Die Summe, die er damals bezahlt hat, würde auch für die nächsten zwanzig Jahre reichen. Wenn er die erlebt. Wir wissen nicht mal, wie alt er ist.«

»Dann ist er vielleicht jetzt schon tot, Else. Und selbst wenn nicht, glaubst du, er zahlt auch nur einen Cent für dieses heruntergekommene Häuschen?«

Elsbeth ärgerte sich über Birgits Tonfall. »Natürlich! Wir sind die letzte Gefriergemeinschaft im Sauerland! Sicher kann ich ihn bewegen, uns zu unterstützen. Wenn ich nur seine Adresse herausbekommen könnte.«

»Ja, aber wie, Else? Seit Ewigkeiten versuchst du das schon. Wir haben keine Telefonnummer, nicht einmal einen Vornamen. Was willst du denn noch machen?«

Elsbeth riss den abgelaufenen Putzplan von der Wand und knüllte ihn in der Faust zusammen. »Ich finde einen Weg, Birgit. Verlass dich drauf!«

Kapitel 3

Freitagmorgen, 14.06. – Dortmund

Als Oberkommissarin Anne Kirsch ihr Büro in der Polizeiwache Dortmund, betrat, fiel ihr sofort der seltsame Gesichtsausdruck auf, mit dem Kriminalassistentin Ulrike sie ansah.

»Was ist los?«

Ulrike hob vielsagend die Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Direktor Oberan hat eben angerufen. Er will dich sprechen.«

Anne wurde flau. Obwohl sie nicht wusste, worum es in dem Gespräch gehen konnte, hatte sie das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. In Gedanken spulte sie alles ab, was sie in den letzten Tagen gesagt oder getan hatte. Was zum Teufel kann er wollen?

Sie hatte sich zusammengerissen, oder etwa nicht? Selbst Thorsten Seidel war aufgefallen, wie penibel sie die Vorschriften einhielt. Vom impulsiven Sorgenkind der Abteilung war sie zur Streberin geworden. Thorsten bezweifelte, dass ihre Verwandlung echt war. Das hatte er nicht gesagt, doch sie wusste es trotzdem.

»Jetzt mach nicht so ein Gesicht. Er wird dich wohl nicht gleich versetzen!«

Anne schreckte aus ihren Gedanken auf. »Versetzen?«

»Er wird dich wohl nicht versetzen, hab ich gesagt. Was ist denn los mit dir?«

»Ach so.« Anne rieb sich übers Gesicht. »Was kann er wollen?«

»Ich weiß es nicht. Aber Thorsten ist schon seit einer Stunde bei ihm.«

Ein Gespräch zu dritt. Ging es um einen Fall? Warum schaute Ulrike dann so vielsagend drein? Anne kaufte ihr die Unwissenheit nicht ab. »Komm schon! Du weißt irgendwas. Lass mich nicht ins offene Messer rennen.«

Ulrike schmunzelte selbstzufrieden. »Ich hab nur gehört, dass es um eine Personalangelegenheit geht. Vielleicht wird endlich die offene Stelle besetzt.«

Und was habe ich damit zu tun?, dachte Anne, als sie die Treppe emporstieg. Sie stoppte vor der Tür und betrachtete einen Moment das Schild. Herr Oberan (KD). Vor fast vier Jahren war sie in ebendiesem Zimmer gewesen und hatte darum gebeten, trotz eines verstauchten Knöchels in einem Fall ermitteln zu dürfen. Oberan hatte abgelehnt, doch sie war entgegen seiner Anweisung zum Tatort gefahren und hatte sich in der Nachbarschaft eingemietet. Inkognito. Sie hatte den Fall gelöst und war nicht gefeuert worden, doch seitdem stand ihre Karriere auf wackligen Füßen. Den Kriminaldirektor hatte hauptsächlich die Befehlsverweigerung gestört. Hauptkommissar Thorsten Seidel konnte nicht vergessen, dass sie sich damals in Gefahr gebracht hatte, und beharrte immer noch darauf, dass er sich nicht auf sie verlassen konnte.

Sie atmete tief ein, klopfte und wurde hereingerufen. Zuerst nahm niemand Notiz von ihr. Oberan und Thorsten waren auf einen dritten Mann fokussiert, von dem Anne nur den Rücken sehen konnte. Er war dünn, wirkte aber um die Hüften ein wenig aufgebläht. Die schwarzen Haare trug er militärisch kurz geschoren. Ein Schnitt, den man oft bei Polizeianwärtern sah.

Unschlüssig blieb Anne stehen. Die Stimmung im Raum war seltsam, fast feierlich. Thorsten sah auf. Er sah aus, als erwartete er eine Reaktion von ihr.

»Natürlich bin ich mir sicher«, sagte der Fremde schroff. Seine Stimme ließ Anne aufhorchen. Sie kannte sie. Es war …

»Nun, es ist Ihre Entscheidung.« Oberan lächelte säuerlich und legte dem Mann mit einer väterlichen Geste die Hand auf die Schulter. »Wir werden Sie natürlich unterstützen. Mit Frau Kirsch haben Sie eine zuverlässige Mitarbeiterin an Ihrer Seite. Auch wenn ich Bedenken wegen des Außendiensts habe.«

»Außendienst ist kein Problem!« Der Mann drehte den Kopf zu Anne, und sie sah sein Gesicht. Ihr Gesicht. Es war Olivia Esterhazy, die vor zwei Jahren wegen Brustkrebs krankgeschrieben worden war.

Anne konnte fühlen, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. »Mein Gott, Olivia, ich habe dich gar nicht erkannt.« Sie biss sich auf die Lippen. Kein guter Einstieg. Natürlich hatte Olivia sich verändert. Vor allem die nachtschwarzen, schulterlangen Haare fehlten. Bis auf die schwammige Mitte war sie hager geworden, und die Krankheit hatte tiefe Furchen in ihr Gesicht gegraben.

Mit einem Lächeln versuchte Anne, ihre Verlegenheit zu überspielen. »Wie schön, dass du wieder da bist! Wie geht es dir?«

Olivia erwiderte ihr Lächeln nicht. »Gut«, sagte sie knapp, und Anne begann sich mit ihrem Überschwang fehl am Platz zu fühlen.

Sie verkniff sich ein Gut siehst du aus und wiederholte lahm: »Ich freue mich, dass du wieder da bist.«

Wahrscheinlich nervt es, wenn jeder fragt, wie es ihr geht. Aber was soll man sonst fragen?

Die Hauptkommissarin wirkte um zehn Jahre gealtert. Ihre Haut sah gleichzeitig schlaff und aufgedunsen aus.

»Machst du jetzt Wiedereingliederung?«

»Die hab ich schon hinter mir. Seit letztem Monat arbeite ich stundenweise in der Personalabteilung. Jetzt möchte ich wieder in meinen alten Job. Herr Oberan hatte mir damals zugesichert, dass ich jederzeit zurückkehren kann.«

Olivia wandte sich zu ihm um, und der Kriminaldirektor nickte. Anne wurde klar, dass er dieses Versprechen bereits bereute, auch wenn er sich bemühte, es nicht zu zeigen.

»Wir möchten Sie bestmöglich unterstützen«, wiederholte er. »Auch wenn ich der Meinung bin, dass eine körperlich weniger anstrengende Tätigkeit für den Einstieg geeigneter wäre. Ohne Außendienst. Um Ihre Gesundheit nicht zu gefährden.«

Olivias Gesicht schien zu versteinern. »Ich habe meine Reha absolviert. Der Krebs ist weg, und ich möchte nicht mit Samthandschuhen angefasst werden. Sie haben mir ein Versprechen gegeben.«

»Natürlich! Der Amtsarzt hat sein Okay gegeben, also können Sie wieder in Ihren alten Einsatzbereich zurück. Aber wenn Sie merken, dass es Ihnen zu viel wird, dann kommen Sie sofort zu mir.«

»Oder zu mir«, sagte Thorsten. »Schön, dich wieder im Team zu haben!«

»Danke!« Olivias Blick fiel auf Anne. Sie wirkte kampfbereit. »Hast du mich vertreten, während ich weg war?«

Thorsten antwortete für sie. »Nein. Das war Janitzki. Deshalb halten wir es für das Beste, wenn Anne und du in den nächsten Monaten zusammenarbeitet.«

Damit JJ keinen Ärger macht, weil er seine Führungsposition verliert, dachte Anne und fragte sich, ob Janitzki schon wusste, dass Olivia wieder da war. Wenn nicht, hätte sie nichts dagegen, ihm die Botschaft zu überbringen.

»In Ordnung.« Olivia nickte Anne zu. Ihre Augen hatten sich nicht verändert. Sie waren noch so dunkel und durchdringend wie eh und je. »Ich bin sicher, wir werden gut miteinander auskommen.«

Kapitel 4

Freitagmorgen, 14.06. – Brilon – Sauerland

Heiko Neuer stellte seine Tasche auf das Lehrerpult und musterte die Reihen seiner verschlafenen Schüler. »In der letzten Stunde haben wir mit Genetik begonnen. Wer von euch kann sich an den Aufbau eines DNA-Strangs erinnern?«

Er blickte abwartend in die Runde. »Kommt schon, Leute! Ich weiß, es ist Freitag. Aber ein paar Stunden müsst ihr noch durchhalten. Dann kann euer Gehirn übers Wochenende in den Stand-by-Modus.«

Zögernd hob sich ein Finger.

»Ja, Sabrina?«

»Der DNA-Strang hat die Form einer Doppel-Helix. Er besteht aus vier verschiedenen Aminosäuren.«

»Gut, und kannst du mir auch noch die Namen nennen?«

Ihre Miene machte Heiko keine allzu großen Hoffnungen.

Es klopfte, und seine Kollegin Maren steckte den Kopf ins Klassenzimmer. »Entschuldige die Störung! Kannst du mal kurz rauskommen?«

Heiko folgte ihr auf den Flur. Marens ausdrucksstarkes Gesicht verriet Sorge. »Ist etwas passiert?«, fragte er alarmiert.

»Nicht direkt. Aber da ist ein Mann auf dem Schulhof, der dich sprechen will. So ein dunkler Typ in Motorradkluft. Ich wollte ihn nicht in die Schule lassen, aber er weigert sich zu gehen.« Sie zögerte und zog ihre dunklen, buschigen Augenbrauen zusammen. »Hast du Ärger? Soll ich die Polizei rufen?«

»Nicht, dass ich wüsste.« Heiko war ehrlich überrascht. Seine eigene Bikerzeit lag weit in der Vergangenheit, und er hatte seit Langem keinen Kontakt mehr mit jemandem aus der Szene gehabt. »Ich sehe nach, was er will.«

»Wie du meinst. Aber pass auf dich auf. Freundlich war er nicht gerade.«

Heiko kehrte in die Klasse zurück und wies die Schüler an, eine Seite im Biologiebuch zu lesen. »Danach versucht ihr euch an Aufgabe eins. Ich bin gleich zurück.«

Er folgte Maren die Treppe zur Pausenhalle hinunter. Ihre nackten Füße machten schmatzende Geräusche in den Flip Flops. Heiko blickte durchs Fenster auf den Schulhof hinab. Dort stand ein großer Mann mit schwarzer Lederjacke. Er trug kein Emblem oder Abzeichen, das ihn einer Gruppe zugeordnet hätte. Auf dem breiten Nacken war ein Strichcode eintätowiert, darüber begannen kurz geschorene rotblonde Stoppeln.

»Und?« Maren blieb und rieb sich fröstelnd die nackten Arme. Mit ihrem bunten Sommerkleid war sie zwar der Jahreszeit, nicht aber der Temperatur entsprechend angezogen. »Ich muss zurück in meine Klasse. Kommst du klar?«

»Ja. Schon gut, ich kenne ihn.«

»Wirklich?«, fragte sie skeptisch.

»Ja. Alles in Ordnung. Geh ruhig.«

Heiko öffnete rasch das Schultor und hoffte, dass Maren den belegten Unterton in seiner Stimme nicht gehört hatte. Nichts war in Ordnung.

Er trat in die feuchtkalte Morgenluft. Schafskälte. Wochenlang war es sommerlich warm gewesen, jetzt dieser Temperatursturz.

Der Biker hatte die Hände in den Taschen vergraben. Die Spitzen seiner Haare glänzten vor Feuchtigkeit, und Heiko sah die Stellen, wo der Helm sie platt gedrückt hatte. Der Oberkörper des Mannes wirkte massig, die Beine in den dunklen Lederhosen hingegen dünner, als Heiko sie in Erinnerung hatte. Darunter trug er hoch geschnürte Stiefel mit verstärkten Sohlen.

Heiko hatte sich oft vorgestellt, seinen Bruder wiederzutreffen. Bei einem der Festivals, auf die sie früher gemeinsam gegangen waren, oder auf einem Bikertreff. Aber dass Markus ihn in der Schule aufsuchen würde, wäre ihm niemals in den Sinn gekommen.

Für den Fall eines Wiedersehens hatte Heiko sich ein paar scharfzüngige Bemerkungen zurechtgelegt. All das, was sich über die Jahre angestaut hatte. So etwas wie: Mutter vermisst dich. Du könntest sie wenigstens hin und wieder besuchen, nachdem du ihr Geld geklaut hast. Oder: Der Junge, den du damals angefahren hast, sitzt im Rollstuhl. Interessiert dich das?

Jetzt sagte er nichts von alledem. Er betrachtete seinen Bruder. Er sieht alt aus. Älter als seine zweiundvierzig Jahre. Die Augen lagen in Höhlen, und er hatte sich seit mindestens zwei Tagen nicht rasiert.

»Nett, dass du rausgekommen bist.« Markus zog die Hände aus den Taschen seiner Jacke, machte aber keine Anstalten auf Heiko zuzugehen, ihm die Hand zu geben, ihn zu umarmen. Nichts dergleichen.

»Was willst du?«

»Ich hab mich gefragt, ob ich bei dir übernachten kann.«

Heiko blieb vor Überraschung die Luft weg. »Was?«

»Ja. Ich muss etwas erledigen. Es dauert nur einen Tag. Nicht länger.«

»Wieso? Was ist los? Hast du dich mit deiner Freundin verkracht?« Er schnaubte. »Hast du überhaupt eine Freundin? Ich weiß ja nichts über dich! Wie stellst du dir das vor? Jahrelang lässt du dich nicht blicken, und dann kreuzt du plötzlich auf und willst bei mir schlafen?«

»Glaub mir, ich würde dich nicht fragen, wenn ich nicht in Schwierigkeiten stecken würde.«

Heiko begriff. »Also sucht dich die Polizei. Ja? Hab ich recht?«

Er dachte daran, dass Anne heute Abend kommen wollte, und hätte gelacht, wenn ihm danach zumute gewesen wäre. Die Situation war zu absurd. Dabei arbeitete sie in der Abteilung für Todesermittlungen und interessierte sich vermutlich nicht für einen Kleinkriminellen wie seinen Bruder. Trotzdem konnte er sich keine schlechtere Kombination vorstellen.

»Nein!«, fuhr Markus heftig auf. »Die Polizei hat nichts damit zu tun.«

Er sagt vielleicht die Wahrheit, dachte Heiko. Aber machte es das besser?

Er fror in seinem T-Shirt. In der Pausenhalle hätten sie sich angenehmer unterhalten können, aber es widerstrebte ihm, Markus in die Schule zu lassen. Außerdem musste er zurück zu seiner Klasse.

»Mutter …«

»Zu Mutter kann ich nicht gehen, das weißt du«, unterbrach ihn Markus schroff. »Also, was ist nun? Hilfst du mir? Oder weist du deinen eigenen Bruder ab?«

Die letzte Frage stellte er in einem bitteren Ton, als würde er ernsthaft damit rechnen. »Ich klau dir schon nichts«, fügte er böse hinzu.

Heiko schnaubte. »Bei mir gibt es auch nichts zu klauen.«

Er hatte sich auf einen Abend zu zweit gefreut, mit Anne. Da sie in Dortmund wohnte und auch oft an den Wochenenden arbeitete, sahen sie sich nicht häufig. Ihr letzter Besuch war drei Wochen her.

Er holte seinen Wohnungsschlüssel aus der Tasche und warf ihn Markus zu. »Ich habe Unterricht. Wir reden später.«

Sein Bruder drehte sich und fing den Schlüssel mit der linken Hand hinter seinem Rücken. Eine Geste, die Heiko mehr als alles andere an früher erinnerte.

Zurück in der Klasse, stellte er erleichtert fest, dass die Schüler sich tatsächlich mit der Aufgabe beschäftigten, die er ihnen gegeben hatte. Er ließ ihnen noch fünf Minuten Zeit und bat dann einen Jungen, seine Ergebnisse vorzutragen.

Er merkte, dass er nicht bei der Sache war. Als hätte die Begegnung mit Markus eine Tür geöffnet, strömten Gedanken und Erinnerungen auf ihn ein.

Für den Abschluss der Stunde hatte er einen kleinen Lehrfilm vorbereitet, den er zur Freude der Schüler in den DVD-Player einlegte. Als der Vorspann begann, war Heiko mit den Gedanken bereits in der Vergangenheit. Es war seine erste Motorradtour mit Markus gewesen. Kurz nach Heikos achtzehntem Geburtstag. Sie fuhren durch die Sauerländer Berge über Winterberg und Schmallenberg bis hinunter nach Olpe. In einer Jagdhütte tranken sie Kaffee aus der Thermoskanne und aßen Brötchen mit Fleischwurst.

Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er sich seinem Bruder nah. Sie verbrachten Zeit zusammen. Er war nicht mehr der kleine Junge, der nichts durfte, nichts konnte. Der Streber, der es den Eltern recht machte. Seit sie gemeinsam die Lederkluft angezogen und die Helme aufgesetzt hatten, gehörten sie zusammen.

Bevor sie weiterfuhren, zeigte Markus ihm das Klappmesser, das er bei sich trug. Es hatte einen dunklen Horngriff und eine lange Klinge. »Das hat mir ein Freund besorgt. Sieh mal, wie es aufschnappt.« Er machte eine Bewegung mit dem Handgelenk, und das Messer lag mit blitzender Klinge in seiner Hand.

»Wenn einer uns was will, wird er es zu spüren bekommen. Merk dir das, kleiner Bruder.« Er packte Heiko spielerisch am Nacken. »Wenn dich jemand fertigmachen will, dann kommst du zu mir.« Er machte eine Kampfbewegung, dann ließ er das Messer zuschnappen und steckte es in seine Tasche. »Kapiert?«

Er sah so ernsthaft aus, das Heiko lachen musste. »Ja, Markus.«

»Nenn mich Mac. Das klingt nicht so nach Evangelist. Meine Freunde nennen mich alle so.«

Heiko erinnerte sich noch gut an das Gefühl in seiner Brust, als sie weiterfuhren. Das ihn wärmte, als hätte er Weinbrand getrunken. Er war nicht nur der Bruder, sondern auch ein Freund.

Aber wenige Monate später kam es zur Katastrophe, und nichts war mehr wie zuvor.

Kapitel 5

Freitagnachmittag, 14.06. – Dortmund

Anne Kirsch sah auf die Uhr. In einer halben Stunde würde sie Feierabend machen. Ihr erstes freies Wochenende seit einer Ewigkeit. Die Reisetasche stand bereits gepackt im Auto, und wenn der Verkehr mitspielte, würde sie nach anderthalb Stunden Fahrtzeit im Sauerland sein. Bei Heiko.

Der erste Mann, der versteht, wer ich bin, dachte sie in einem Anflug von Zärtlichkeit. Der meine Arbeitszeiten und die Wochenendschichten akzeptiert. Der versteht, dass ich es brauche,bei einer Todesermittlung vierundzwanzig Stunden durchzuarbeiten. Dass kein anderes Leben zu mir passt. Kein bürgerlicher Job und jeden Abend zu zweit auf dem Sofa. Das ist das Wunderbare an unseren Abenden, dass sie so selten und kostbar sind.

Anne musste nur noch den Bericht über die Kneipenschlägerei zu Ende schreiben. Dabei war ein junger Mann unglücklich gestürzt und im Krankenhaus verstorben.

Die Tür öffnete sich, und Olivia kam herein. Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt ein T-Shirt, das ihre blassen, sehnigen Arme zeigte.

»Es gibt einen neuen Todesfall, und Oberan hat mir die Leitung übertragen«, informierte sie Anne. »Du sollst mitarbeiten. Dafür kannst du nächstes Wochenende freinehmen. Ich bin mir sicher, die Ermittlungen werden nicht so umfangreich.«

»Das passt mir nicht gut. Kann Thorsten nicht übernehmen?«

»Nein. Der Fall ist im Sauerland, deshalb bekommen wir ihn. Du fährst doch ohnehin rüber, oder hab ich das falsch verstanden?«

»Das stimmt, aber ich wollte meinen Freund besuchen. Wir haben uns wochenlang nicht gesehen.«

Olivias Miene verfinsterte sich. »Du siehst ihn doch. Wo ist das Problem? Bisher stand die Arbeit für dich immer an erster Stelle. Was ist es wirklich? Glaubst du, ich pack das nicht? Traust du mir die Arbeit nicht zu?«

Sie zeigte auf ihren geschorenen Schädel. »Ist es deshalb?«

Anne hielt die Luft an. Ulrikes Tastaturgeklapper im Nebenraum war verstummt, und Anne merkte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Ich muss hier dringend was klarstellen.

»Nein, das ist natürlich nicht der Grund«, sagte sie ruhig und betonte jedes Wort. »Ich kenne dich und weiß, dass du das packst. Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel. Es ist nur so, dass ich dieses Wochenende freihabe. Mein erstes freies Wochenende seit Langem.«

»Bei Thorsten hast du nie ein Problem damit, Urlaub zu verschieben.«

Anne hob die Hände. »Du hast recht, es ist auch kein Problem. Aber Heiko wird enttäuscht sein. Er hat Verständnis für meinen Job, doch es gibt Grenzen. Aber ich ruf ihn an.«

Olivia atmete aus. Sie zögerte. »Okay. Entschuldige! Das war nicht so gemeint. Ich verstehe, dass dein Freund enttäuscht ist. Wo im Sauerland wohnt er?«

»In Bontkirchen. Das liegt im östlichen Teil und gehört zum Stadtgebiet Brilon. Wir haben uns kennengelernt, als ich wegen eines Falles dort war.«

»Das weiß ich. Nun, dann gibt es kein Problem. Wir müssen nach Medebach. Das liegt auch im östlichen Sauerland. Du wirst deinen Freund trotzdem sehen können.«

»Na gut.« Anne seufzte. »Was soll ich mitnehmen? Brauchen wir die Dienstwaffen?«

»Nein. Die kannst du im Schließfach lassen. Wir untersuchen nur einen Verkehrsunfall.«

Anne räumte ihr Gepäck in Olivias Ford Kuga und nahm ihre Handtasche mit nach vorne. Sie hatte Heiko noch nicht angerufen und hatte auch keine Lust, das zu tun, während Olivia neben ihr saß und mithörte. Trotzdem musste sie ihn vorwarnen, dass sie sich zwar sehen würden, sie aber wenig Zeit hatte.

Auch wenn es nur ein Verkehrsunfall war, musste es irgendeinen Verdacht auf Fremdverschulden geben, sonst hätte man sie nicht verständigt.

»Willst du mir nicht verraten, was überhaupt passiert ist?«, fragte sie Olivia.

Die Hauptkommissarin neigte den Kopf in Richtung Rückbank. »Sieh mal in meiner Tasche nach. Dort findest du die Fallmappe von gestern Nacht.«

Anne beugte sich nach hinten, öffnete den Reißverschluss von Olivias prall gefüllter Aktentasche und zog die Mappe heraus. Sie wappnete sich gegen den Anblick der Bilder. Doch es war nicht so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Die Fotos zeigten ein Motorradwrack, das von Scheinwerfern angestrahlt auf einer Wiese lag. Das Blech glänzte tiefrot. Die Räder hatten die Erde aufgerissen. An den Bildrändern erahnte man die nächtliche Dunkelheit der Umgebung.

Das Foto des Fahrers war im Kranken- oder Leichenschauhaus aufgenommen worden. Ein weißes Tuch bedeckte den Körper, wofür Anne dankbar war. Sie betrachtete lange das Gesicht des Mannes, das merkwürdigerweise intakt geblieben war. Ihn schön zu nennen, traf es nicht ganz. Er schaut wie ein griechischer Gott aus, dachte sie.Das Blut hatte sich abgesenkt, deshalb war sein Gesicht ebenmäßig weiß. Wie aus Marmor gehauen. Jemand hatte seinen Mund geschlossen, der bei Leichen aufgrund der Muskelerschlaffung normalerweise offen stand. Die vollen Lippen bildeten einen perfekten Bogen. Lange blonde Haare fielen wie ein Fächer aufs Kissen.

»Der Fahrer heißt Levi Stappert«, sagte Olivia, ohne ihren Blick von der dreispurigen B1 abzuwenden, die vom Feierabendverkehr verstopft war. »Er ist gegen Mitternacht zwischen den Ortschaften Dreislar und Medelon von der Straße abgekommen und gegen einen Baum gerast.«

»Und warum bekommen wir ihn? Wurde an der Maschine manipuliert?«

»Nein.«

Olivias Freisprecher klingelte. Sie warf einen kurzen Blick aufs Display und drückte auf ignorieren.

»Zumindest ist nichts in der Richtung feststellbar. Stappert ist vor Eintreffen der Ersthelfer verstorben. Wir haben also nicht viel mehr als diese Fotos. Die Kollegen von der Verkehrswacht haben keine Spur eines anderen Fahrzeugs gefunden, und da die Straße trocken war, gingen sie zunächst von Alkohol oder überhöhter Geschwindigkeit aus.«

Anne nickte ungeduldig. »Wie immer. Und dann?«

»Die Reifen. Beim Verladen des Wracks ist einem der Feuerwehrleute der Zustand der Reifen aufgefallen. Er fährt selbst Motorrad und behauptet, der Reifen sei aufgeschlitzt worden.«

»Aufgeschlitzt?«

»Ja, er tippt auf so etwas wie eine Straßenkralle.«

»Shit! Aber es wurde nichts gefunden?«

Bei Olivia klingelte es wieder.

Ihr Finger hackte aufs Display. »Ja?«

Das Stakkato einer schnell sprechenden Frauenstimme schallte durch den Wagen. Die Silben klangen melodisch, auch wenn Anne nicht ein einziges Wort verstand. Verwandte aus Ungarn. Sie blätterte weiter und fand Levi Stapperts Ausweis. Er war dreiundvierzig Jahre alt geworden. Auch das wenig schmeichelhafte Passfoto konnte nicht verbergen, was für ein schöner Mann er gewesen war.

Die Anruferin redete, und Olivia antwortete knapp und offensichtlich gereizt.

Anne las den Polizeibericht. Die Kollegen vom Verkehrskommissariat waren erst nach Ersthelfern und Notarzt eingetroffen. Letzterer hatte den Tod festgestellt und Stappert, der Organspender war, auf dem schnellsten Weg ins nächste Krankenhaus bringen lassen.

Erst eine Dreiviertelstunde später bemerkte der Feuerwehrmann den Zustand des Reifens, und man begann nach einer Straßenkralle zu suchen. Als schließlich ein ausgebildeter Kriminaltechniker eintraf, um die Spurenlage zu sichten, war der Tatort bereits völlig zerstört gewesen. Bis auf ein paar Fotos, die der Kommissar selbst bei seinem Eintreffen geschossen hatte, hatten sie nichts.

Olivia schnitt ihrer Anruferin abrupt das Wort ab und legte auf.

»Entschuldigung! Das war meine Schwester.« Sie deutete auf die Fotos in der Mappe. »Was denkst du?«

Ein beschissener Fall, dachte Anne.

Kapitel 6

Freitagnachmittag, 14.06. – Dreislar – Sauerland

»Hrm. Hrm. Tut mir leid, mehr kann ich Ihnen nicht sagen.« Die Stimme des Postbeamten hörte sich kratzig an. »Es wurde keine Nachsendeanschrift hinterlassen. Und das Postfach ist aufgelöst.« Er hüstelte.

Elsbeth stand gebückt vor dem Drehscheibentelefon und hielt sich den Hörer ans Ohr. »Aber Sie müssen mir doch wenigstens den Vornamen nennen können, junger Mann. Sehen Sie noch mal in Ihrem Dingsda, in Ihrem Computer nach. Wohlfeil mit H.«

Die Stimme am Telefon klang gequält. »Aber das habe ich bereits. Und ich kann Ihnen leider nicht mehr sagen. Hrm. Hrm.«

»Es kann doch nicht sein, dass irgendjemand einfach so ein Postfach eröffnen kann, ohne seinen vollständigen Namen anzugeben. Der könnte ja sonst was damit machen!« Elsbeths Rücken schmerzte von der gebückten Haltung, und sie ärgerte sich darüber, dass sie sich keinen Stuhl geholt hatte. Demnächst würden sie sich ein schnurloses Telefon anschaffen oder eins von diesen Dingern mit Internetz, da konnte Wilhelm sagen, was er wollte. Auch wenn das alte noch ging, brauchte man doch heutzutage einfach dieses Internetz.

In der Leitung knackte es, und der Postbeamte hüstelte wieder.

»Nun nehmen Sie sich doch mal ein Lutschbonbon!«

»Entschuldigung! Hrm. Hrm. Frau Eberbach, wie ich schon sagte, kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Die Postfachnummer, die Sie mir genannt haben, wurde damals von einem Anwaltsbüro eingerichtet. Vielleicht fragen Sie dort einmal nach. Es ist der Rechtsanwalt Pötzel in Paderborn.«

Elsbeth biss sich auf die Zungenspitze, während sie in akkuraten Buchstaben die Adresse und Telefonnummer auf einer von Wilhelms alten Tageszeitungen notierte.

»So, so, da hat der feine Herr also einen Anwalt und lässt uns seit vierzig Jahren den Putzdienst erledigen.«

»Also, wenn das alles war …«

»Ist ja schön und gut, seine Miete im Voraus zu bezahlen, aber an die Nebenkosten hat wieder keiner gedacht!«

»… hoffe ich, dass ich Ihnen weiterhelfen konnte. Auf Wiederhörn!« Der Mann klang erschöpft.

»Ja, wiederhörn! Diese Erkältung sollten Sie besser auskurieren. Damit ist nicht zu spaßen. Das kann aufs Herz gehen, und zack, hat man mit fünfundvierzig den ersten Infarkt. Das ist dem Karl-Heinz aus der Nachbarschaft passiert.«

Elsbeth streckte den Rücken durch. Also würde sie noch mal telefonieren müssen, aber dieses Mal zog sie sich einen Stuhl heran. Die Drehscheibe surrte, und sie hielt den schweren Hörer ans Ohr. Andererseits hatte Willi schon recht. Die guten alten Telefone hatten eine ganz andere Qualität als diese flachen Dinger, die einem ständig aus der Hand fielen.

Eine Sekretärin meldete sich. Zuerst klang ihre Stimme freundlich, doch als Elsbeth ihr Anliegen vorgebracht hatte, änderte sich ihr Tonfall. »Der Name sagt mir nichts, und ich finde ihn auch nicht in der Mandantendatei. War das alles?«

»Das kann überhaupt nicht sein, mein Fräulein! Herr Wohlfeil ist Ihr Mandant so sicher wie das Amen in der Kirche. Das hat man mir postamtlich mitgeteilt. Nein, jetzt hören Sie mir mal zu! Ich bin vielleicht alt, aber nicht senil. Ich rufe in einer wichtigen Angelegenheit an. Es geht um den Fortbestand unseres Gefriervereins, nicht weniger. Jahrzehntealte Tradition. Das schreiben Sie sich mal hinter die Ohren. Nein, nicht Gewerbeverein!«

Elsbeth atmete tief durch. Was lernen diese jungen Leute eigentlich noch in der Schule?

»Ge-frier-ver-ein! Von unserem Gefriergemeinschaftshaus. Herr Wohlfeil ist langjähriges Mitglied unseres Vereins, aber leider ist der Kontakt zu ihm verloren gegangen, und da in Zukunft wichtige Entscheidungen anstehen … Das interessiert Sie nicht? Na, das werden wir doch mal sehen, ob Sie das interessiert. Ich möchte jetzt Ihren Chef sprechen!«

Elsbeth wurde weggedrückt und hörte Klaviermusik.

Die Wohnungstür öffnete sich, und Wilhelm sah herein. Er trug seine löchrige Arbeitshose und hielt einen Akkuschrauber in der Hand. »Man hört dich bis in den Keller. Was ist denn los?«

Elsbeth hielt die Hand vor die Sprechmuschel. »Fräulein Wichtig hier meint, die Alte vom Dorf raube ihre wertvolle Zeit. Aber ich lasse mich nicht abwimmeln. Ich finde Wohlfeil, und wenn ich persönlich nach Paderborn fahren muss!«

Willi machte den Mund auf, aber da meldete sich der Anwalt, und Elsbeth hob die Hand.

»Herr Pötzel, na endlich …«

»Hören Sie, gute Frau, wie Ihnen meine Mitarbeiterin bereits gesagt hat, ist der von Ihnen gesuchte Mann kein Mandant von uns und ist es auch nie gewesen. Nein, tut mir leid. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Einen schönen Tag noch!« Klick!

Elsbeth atmete aus und schüttelte entschlossen den Kopf.

»So lassen wir uns nicht behandeln, Wilhelm. Zieh dich um. Wir fahren!«

Kapitel 7

Freitagnachmittag, 14.06. – Brilon – Sauerland

Als Heiko nach der neunten Stunde das Schulgebäude verließ und in Richtung Lehrerparkplatz ging, spürte er das Vibrieren seines Smartphones in der Hosentasche. Ein Anruf.

Er blickte aufs Display und merkte, wie sein Puls sich beschleunigte. Den ganzen Vormittag hatte er überlegt, ob er Anne anrufen und ihr sagen sollte, dass sie den heutigen Abend zu dritt verbringen würden. Doch er hatte es nicht getan.

Wie sagte man seiner Freundin, dass der Bruder kam, den man nie erwähnt hatte? Dafür war eine längere Erklärung nötig. Das ging nicht am Telefon. Doch würde Heiko heute Abend überhaupt eine Chance haben, vorher allein mit ihr zu sprechen?

»Hey!« Annes Stimme klang belegt, und er wusste bereits, was sie sagen würde.

»Du kommst nicht.« Die Enttäuschung war ein Berg, der mit jeder neuen Absage wuchs. »Hast du wieder einen Fall?«

»Doch, ich komme.« Jetzt hörte er die Geräusche der Autobahn im Hintergrund. Anne stand offenbar im Freien, und Lkws donnerten vorbei.

»Aber es gibt tatsächlich einen Fall, deshalb werde ich nicht so viel Zeit haben, wie ich gehofft hatte. Das Gute ist, dass ich in deiner Nähe arbeite, und nächstes Wochenende krieg ich bestimmt frei. Das hat die Chefin mir versprochen.«

»In Ordnung. Ich freue mich, dass du kommst. Wieso Chefin? Ich dachte du arbeitest nur mit Thorsten oder Janitzki?«

»Olivia ist wieder da. Die Kollegin mit dem Brustkrebs.« Anne sprach lauter als gewöhnlich, um den Hintergrundlärm zu übertönen. »Ich erzähle es dir später. Eigentlich rufe ich nur an, um dir zu sagen, dass ich erst heute Abend komme. Also bis später!«

Als Heiko nach Hause kam, hielt er nach dem Motorrad seines Bruders Ausschau. Fuhr Mac immer noch eine Harley? In der Straße war keine Maschine zu sehen.

Die Wohnungstür war nicht abgeschlossen. Als er eintrat, wappnete er sich innerlich. Was wollte Markus von ihm? Brauchte er Geld? Dann würde er eine Enttäuschung erleben.

Hektisches Schwanzwedeln begrüßte ihn. Seine Hündin Stella war eine schwarz-braune Hovawart-Pinscher-Mischung, die von ihrer Mutter die spitzbübische Intelligenz und von ihrem Vater lange Schlappohren und einen freundlichen Charakter geerbt hatte. Er streichelte sie im Nacken, wo sie es gernhatte.

»Na, meine Gute. Alles in Ordnung? Du bist ein bisschen beunruhigt, nicht wahr? Ist jemand gekommen, den du nicht kennst?« Heiko kraulte sie hinter den Ohren. »Es ist alles gut. Markus ist mein Bruder. Du hast ihn doch reingelassen, oder?

Mac?« Es antwortete niemand, und Heiko ging ins Gästezimmer. Neben dem Bett stand ein ausgebleichter Wanderrucksack. Stella folgte ihm neugierig und schnupperte daran. »Hier ist er nicht.«

Im Esszimmer fand er jedoch einen Zettel auf dem Tisch. Heiko erkannte die Handschrift seines Bruders. Die Botschaft war knapp gehalten:

Ich habe noch etwas zu erledigen und komme erst nachts zurück. Warte nicht auf mich. Wenn du abschließt, leg den Schlüssel unter den Rhododendron, so wie früher.

Heiko schüttelte den Kopf. Er hatte sich umsonst Sorgen gemacht und würde heute Abend genug Zeit haben, um mit Anne über Markus zu reden.

Trotzdem ärgerte ihn das Verhalten seines Bruders. Erst ließ er sich jahrelang nicht blicken, dann benahm er sich wie in einem Hotel. Anscheinend hatte er kein Interesse daran, sich mit Heiko auszusprechen. Bedeutete ihm ihr Verhältnis so wenig?

Wütend ging Heiko zum Kühlschrank und holte die beiden Forellen heraus, die er für das Abendessen mit Anne gekauft hatte. Vielleicht würde er beim Kochen den Kopf freibekommen.