Es braucht 39 Schritte zum Glück - Anna Undietz - E-Book

Es braucht 39 Schritte zum Glück E-Book

Anna Undietz

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Beschreibung

Wilma, eine junge Frau Anfang dreißig, Lehrerin, könnte eigentlich zufrieden sein mit ihrem Leben. Ein Sommerurlaub in Straßburg verändert alles. Sie lernt den klugen, ruhigen Karl aus Wien kennen. In den zwei unbeschwerten Ferienwochen entdeckt sie ihre Jugend wieder. Nach Straßburg reißt die Verbindung zu Karl nicht mehr ab. Getrieben von Lebenshunger wagt sie den Sprung und geht nach Wien. An ihrer Seite ist stets ihre treue Begleiterin, ihr Gewissen und ihre Panikmacherin, die ungeniert ihre heimlichen Träume anspricht und das sagt, wovor sie sich schämt. Das Abenteuer beginnt. Wilma lernt das Leben und sich selbst kennen.

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Inhaltsverzeichnis

Schritt 1

Schritt 2

Schritt 3

Schritt 4

Schritt 5

Schritt 6

Schritt 7

Schritt 8

Schritt 9

Schritt 10

Schritt 11

Schritt 12

Schritt 13

Schritt 14

Schritt 15

Schritt 16

Schritt 17

Schritt 18

Schritt 19

Schritt 20

Schritt 21

Schritt 22

Schritt 23

Schritt 24

Schritt 25

Schritt 26

Schritt 27

Schritt 28

Schritt 29

Schritt 30

Schritt 31

Schritt 32

Schritt 33

Schritt 34

Schritt 35

Schritt 36

Schritt 37

Schritt 38

Schritt 39

Schritt 1

Straßburg, 5. August 1995, Bahnhof. Das Thermometer zeigte um die 30 Grad, als ich am Nachmittag aus dem Zug stieg. Mein Gepäck war überschaubar: eine Handtasche und eine Sporttasche, die als Reisetasche fungierte. Da war alles drin, was ich in den nächsten vierzehn Tagen benötigen würde.

Eine Anzeige in einer Sprachzeitschrift hatte mich hierhergeführt: »Sprachpraxiskurs für Lehrer im Herzen Europas«. Meinem Französisch würde es guttun. Außerdem war ein Sprachkurs ein angemessener Zweck, um allein zu verreisen. Keiner stellte Fragen oder kam auf die Idee, mich begleiten zu wollen, auch nicht meine neugierige Kollegin. Sie hatte nur den Kopf darüber geschüttelt und beißende Witze darüber gerissen, wie beschränkt man sein müsse, um in den Ferien ans Lernen zu denken.

Konkrete Erwartungen hatte ich nicht, da ich die Stadt schon kannte. Sieben Jahre zuvor war ich bereits mit einer Reisegesellschaft in Straßburg gewesen: Besuch im Europaparlament, Besichtigung des Münsters, Schifffahrt auf der Ill und Abendessen in einem Gourmetlokal – touristisches Pauschalpaket mit einer Übernachtung im Hotel Sofitel. Einerseits finde ich Gruppenreisen entsetzlich anstrengend. Ich kann es schwer ertragen, wenn mich die Leute von allen Seiten zutexten und jedem im Bus die Bilder ihrer Enkel unter die Nase halten. Andererseits sind derartige Unternehmungen durchaus tauglich, um einen Ort kennenzulernen und abzuschätzen, ob man ihn noch einmal besuchen will oder nicht. – Und ich wollte auf jeden Fall. Straßburg war ein überschaubares Städtchen mit vielen kleinen Läden und Spazierwegen. Für mich ein idealer Ort, um zur Ruhe zu kommen. Zudem gab es eine äußerst gute Zugverbindung. Von Bamberg nach Straßburg waren es rund 400 Kilometer. Die Reise dauerte sechs oder sieben Stunden – mehr nicht – und schon befand ich mich auf französischem Boden.

Ich hatte ein Zimmer in einem Studentenwohnheim ergattert – im nördlichsten Viertel Straßburgs, am Rande der Stadt. Nun galt es zunächst, die richtige Straßenbahn zu finden. Auf dem Bahnhofsvorplatz hingen Fahrpläne in verglasten Schaukästen. Farbige Linien mit weißen Stationspunkten beschrieben die vielen Routen. Im ersten Moment musste ich an die physikalische Darstellung eines hochkomplexen Stromnetzwerkes denken. Ich atmete ein und aus und suchte auf diesem Kabellabyrinth die Verbindung, die zu meinem Ziel führte. Robertsau.

Ich stieg in die Straßenbahn, fuhr ein paar Stationen und wechselte dann in einen Linienbus, der direkt gegenüber dem Wohnheim hielt. Das war praktisch. Beim Anblick des Gebäudes kam mir der Ausdruck französischer Plattenbau in den Sinn – eine völlig hinreichende Beschreibung. In manchen Fenstern waren Leute zu sehen, aber nur für einen Augenblick. Hier gaffte niemand. Im Sommer waren die meisten Studenten ohnehin ausgeflogen und ihre Zimmer wurden günstig an Touristen vermietet.

Jedes Gebäude erzählt seine Geschichte. Dieses hier gab sich schnörkellos und verzichtete auf Dekor. In seinen Mauern klangen noch die Gespräche von Studenten nach, hitzige Debatten, wie sie nur Franzosen führen können. Aufbruch in ein vereintes Europa. Hier herrschte bewusster Verzicht auf überflüssigen Schmuck, um die Konzentration auf die Welt der Gedanken und Ideen zu fokussieren. Meine Studentenzeit lag sieben Jahre hinter mir. Obwohl ich sie selbst eher durchlitten als durchlebt hatte, hielt ich in meinem Herzen an der romantischen Idee einer Studentenkultur fest: Der typische Student las und schrieb außerhalb der Vorlesungen. Die Zeit gehörte dem Studieren, den Gesprächen mit Freunden, den Referaten, den Diskussionen in der Mensa und der Cafeteria.

Das Zimmer war spartanisch eingerichtet. Bett, Tisch und Schrank waren durch einen Stoffparavent von einem kleinen Handwaschbecken getrennt. Immerhin hing ein Spiegel darüber. Es gehörte zu meinen Angewohnheiten, mich ganz im Spiegel zu betrachten, bevor ich auf die Straße ging. Das war hier nun nicht so einfach möglich. Um meine untere Körperhälfte zu begutachten, musste ich mich auf einen Hocker stellen, den ich vor das Waschbecken schob. Nun gut, wo ein Wille, da ein Weg. Klo und Dusche befanden sich im Gang.

Ich fühlte mich sicher. In den nächsten zwei Wochen würde ich meine Ruhe haben. Keine Nervensägen, kein Zimmerservice und keine lästige Kollegin, die es angeblich gut mit mir meinte. Hier war ich ihrem Zugriff entzogen. Weder Anrufe noch Einladungen, keine belehrenden Worte einer Mittfünfzigerin, die alles besser wusste und mit Leidenschaft das Leben anderer plante. Zu allem Überdruss war diese Person auch noch meine Nachbarin. Immer wenn sie einen Vorschlag zur Freizeitgestaltung machte, willigte ich ein. Das tat ich weniger aus Interesse, sondern aus der Motivation heraus, sie nicht zu verärgern. Denn in meinen Augen war sie eine gefährliche Person. Ich fürchtete ihre Missgunst. Über jeden im Kollegium wusste sie eine Abscheulichkeit zu erzählen. Die Geschichten, die sie verbreitete, waren mit hämischer Bissigkeit gewürzt. Außenstehende mochten ihre Lästereien amüsant finden, aber für die Betroffenen selbst konnten sie vernichtend sein.

Hier und jetzt war ich frei. Meine Reisetasche war schnell ausgepackt. Es war Samstag und ich hatte nun alle Zeit, in Ruhe meine neue Umgebung zu erkunden.

Auf meiner Tour durch das Wohnheim stellte ich fest, dass es einen Frühstücksraum gab – und sogar eine Teeküche. Das Fernsehzimmer erweckte meine Aufmerksamkeit. Ich betrat den großen Raum, der mit gut fünfzig einfachen Holzstühlen bestückt war. Drei, vier Leute saßen dort wie regungslose Mumien; nur die Bilder im Fernseher flackerten. Gegen meinen ersten Impuls, sofort Reißaus zu nehmen, setzte ich mich, platzierte mich aber so, dass ich Ausgang und Bildschirm gleichzeitig im Blick hatte.

Es hielt mich nicht lang. Ich stand auf und wandte mich zum Gehen. Drei Reihen hinter mir erblickte ich einen Mann in Bermudashorts und weißem T-Shirt. Bartträger, grau melierte Schläfen mit jugendlichem Gesicht. Unsere Blicke trafen sich und ich glaubte ein leises, höfliches Lächeln wahrzunehmen.

Franzose war der nicht, das sah ich sofort. Also unbedingt Kontaktvermeidung! Schließlich war ich hierhergekommen, um meine französischen Sprachkenntnisse aufzupolieren. Ich verzog keine Miene und ging nach draußen.

Die Sonne brannte noch intensiver. Keine Ecke zum Verstecken, kein Baum, keine Bank. Ein gepflasterter Pfad führte direkt zu der breiten Straße mit der Bushaltestelle. Die Verbindung zum Zentrum gab mir Sicherheit. Trotzdem setzte ich meine Erkundungstour in entgegengesetzter Richtung fort. In die Stadt zog es mich jetzt nicht. Ich entschied mich, weiter stadtauswärts zu laufen, immer der Straße entlang.

Robertsau mit seiner Résidence universitaire war auf charmante Weise ländlich elsässisch. Fachwerkhäuser mit üppigen roten Geranienkästen, ein Friedhof, eine Tankstelle und ein kleiner Supermarkt bildeten das Zentrum dieses Stadtteils. Lebensmittelläden übten auf mich schon immer eine beruhigende Wirkung aus. Sie sicherten das Überleben nicht nur ernährungstechnisch. Nirgendwo konnte ich preisgünstiger und unmittelbarer meiner Seele etwas Gutes tun: Vor der Kasse, schön auf Augenhöhe platziert, fand sich immer ein Lippenstift oder ein Döschen Handcreme oder ein witziger Kugelschreiber – eine wahre Fundgrube des Glücks.

Zufrieden mit meinen Entdeckungen, die sozusagen die wesentlichen Koordinaten meiner kleinen Welt in den kommenden zwei Wochen darstellen sollten, ging ich zurück zum Heim. Ja, es war ein Heim – das Heim der einsamen Kinder, der fleißigen Studenten, die in schmucklosen Zellen und kargen Gemeinschaftsräumen ihre Bleibe fanden. Grund zur Wehklage? – Niemals. Die Kinder waren dankbar für diesen Ort. Sie waren frei von jedweder Sorge, einen repräsentativen Wohnstil pflegen zu müssen. Gegenseitige Besuche auf den Zimmern erübrigten sich. Man traf sich in der Küche oder im Fernsehzimmer. Die geordnete Langeweile schickte die Gefühle in eine Auszeit und der Kopf war frei fürs Studium. Nur die Treppe passte nicht so recht in das Gebäude. Von ihrer Dimension her war sie für den großen Auftritt angelegt, für den Solitär, der unter bewundernden Blicken in die Eingangshalle hinabstieg und sich von den Versammelten feiern ließ. Diese Showtreppe – in diesem Heim – war von irritierender Ästhetik.

»Tu es d’ici?«, hörte ich jemanden hinter mir fragen.

Ich drehte mich um und sah in das Gesicht, das mich bereits im Fernsehzimmer angelächelt hatte. Wache Augen blickten freundlich hinter einer Nickelbrille hervor. Sein Vollbart war bereits von einzelnen grauen Fäden durchzogen, aber älter als Mitte dreißig war dieser Mensch keinesfalls.

»Euh, je passe mes vacances ici, à Strasbourg«, sagte ich. Das schien mir als Antwort ausreichend.

»Moi aussi«, kam es zurück, »je vais suivre un cours de français pour profs.«

»Alors, tu n’es pas Français«, erwiderte ich in kurz angebundenem Ton. Erschrocken über meine indiskrete Äußerung spürte ich, wie ich langsam rot wurde.

Jetzt lachte er: »Je suis Autrichien, un autre chien.«

Blöder Witz, dachte ich, obwohl das Wortspiel gelungen war. Warum sprach mich hier ein Österreicher an? Wieso konnte er nicht Franzose sein? Das wäre ideal gewesen, um Wortschatz und Redepraxis zu verbessern. Würde ich den Typ jetzt öfters sehen? Hängte der sich an mich ran? Musste ich dann die ganze Zeit Deutsch sprechen? Ich fühlte meine ambitionierten Lernpläne dahinschwinden.

Enttäuscht, aber zu höflich, um es mir anmerken zu lassen, sagte ich: »Ich bin aus Bayern. Ich denke, wir sind im selben Kurs.«

Ich lachte, drehte mich um und ging auf mein Zimmer.

Mein Abendessen bestand aus zwei Äpfeln und drei Tomaten. Ich holte mir ein kleines, scharfes Messer und breitete ein Taschentuch auf meinen Knien aus. Dann begann ich, meinen Apfel zu verspeisen. Ich zelebrierte diesen Vorgang regelrecht. Beim Halbieren des Apfels merkte ich bereits, dass es sich um eine saftige, feste Sorte handelte. Eine mehlige hätte ich sofort entsorgt. Mit dem Messer schnitt ich die erste Spalte ab und trennte die Haut vom Fruchtfleisch. Ganz vorsichtig und konzentriert ging ich dabei vor. Unter der Haut saß das Beste des Apfels. Den ersten Schnitz schob ich gleich in den Mund. Einleitende Kostprobe. Den Streifen Schale legte ich auf das Taschentuch, das auf meinen Knien wie ein kleines Tischtuch ausgebreitet lag. Das Verspeisen von Äpfeln hatte für mich etwas Meditatives. Es half mir, mich zu sammeln und mit mir ins Reine zu kommen.

Natürlich meldete sich meine treue Begleiterin prompt.

»Ist immer wieder lustig, dir zuzusehen«, sagte sie trocken.

Ich seufzte. Nicht einmal in Straßburg war ich vor ihr sicher. Und sie legte direkt nach:

»Du hättest jetzt genauso mit dem Typen von vorhin essen gehen können.«

»Nö, bloß nicht! Bist du verrückt!«, fuhr ich sie an.

Mit ihr konnte ich so reden. Es machte ihr nichts aus. Beleidigt war sie nie. Wie eine Klette klebte sie an mir. Ich könnte ans Ende der Welt fahren, mich in einer Höhle im entlegensten Winkel der Erde verstecken, sie würde mich aufspüren. Ihr kritischer Blick verfolgte mich überallhin. In Umkleidekabinen gab sie ungefragt ihren Kommentar zu Po und Oberschenkeln von sich. Sie suchte mich vor dem Einschlafen heim, um mich zu ermahnen, in der Öffentlichkeit leiser zu lachen, mehr Sport zu treiben oder eine dezentere Lippenstiftfarbe zu wählen. Meine treue Nervensäge begleitete mich nun fast schon zwanzig Jahre. Zum ersten Mal hatte ich mich mit ihr unterhalten, als ich zu meinem ersten Date verabredet war. Sie hatte mir davon abgeraten, mich mit dem netten, harmlosen Jungen aus der Gemeindedisco zu treffen. Reine Zeitverschwendung sei das Rendezvous, hatte sie gesagt. Die Gefahr, von der Schule abgelenkt zu werden, gehe damit unweigerlich einher. Und Schule sei nun mal das Allerwichtigste im Leben und jede Abweichung vom Kurs sei ein unverzeihlicher Fehler. Schlechte Noten hätten den Abstieg in die soziale Katastrophe zur Folge, den Verlust der Lehrerliebe und der Liebe meiner Mutter. Einsam und dumm würde ich enden, hatte sie mir prophezeit. Ihre Schilderung des nahenden Unglücks war so drastisch, dass mir der Griff zum Telefonhörer leichtfiel. Die Absage fühlte sich erlösend und befreiend an. Sie – mein Gewissen, mein Bauchgefühl und meine schärfste Kritikerin – hatte gewonnen.

Im Falle meiner Treppenbekanntschaft schien sie jedoch weniger abgeneigt.

»Warum? Wäre doch ganz nett gewesen«, bohrte sie nach.

»Ich will heute nicht so viel essen. Mir reichen Äpfel und Tomaten. Ich bin völlig zufrieden. Sei jetzt still«, sagte ich.

Das zeigte Wirkung. Sie verschwand.

Schritt 2

Das Centre d’Etudes war in einem grauen Betonklotz im Bahnhofsviertel untergebracht. Es belegte vier Räume in der fünften Etage. Neben dem Eingang zum Sekretariat hingen Teilnehmerlisten zu den jeweiligen Kursen. Schnell fand ich meinen Namen und steuerte Raum A an.

Ich war eine der Ersten, aber der Dozent – vielleicht Anfang vierzig – saß bereits im Stuhlkreis. Er begrüßte mich mit einem melodischen und fröhlichen »Bonjour«.

Kurz ließ ich meine Augen über die Stühle schweifen. Ich wollte mich nicht direkt neben den Kursleiter setzen, es schien mir zu aufdringlich. Ein zu großer Abstand hätte wiederum abweisend gewirkt. Ausgehend von seinem Platz schätzte ich grob einen Winkel von 30 Grad ab und ließ mich nieder.

Nach und nach füllte sich der Raum. Eine dunkelhaarige Schönheit tanzte herein, hinter ihr folgte ein Mann mit melancholischen schwarzen Augen – bestimmt Spanier. Eine Frau mit üppiger Lockenmähne, wohl aus Italien, gesellte sich dazu.

Wir waren etwa zwölf Teilnehmer. Fast alle Plätze waren besetzt, als der Kurs begann.

Der Dozent strahlte in die Runde und läutete die übliche Vorstellungsrunde ein. Er hieß Philippe, hatte drei Kinder und kochte leidenschaftlich gerne. Er nickte aufmunternd einem jungen Mann zu, der neben ihm saß. Das war Wolfgang. Ein heiterer, blonder Sonnyboy. Er sprach flüssig, faselte irgendetwas von einer Firma in der Schweiz. Mein Puls wurde schneller. Noch eine etwas farblose Kursteilnehmerin mit dem Namen Gabi war vor mir dran. Ich hasste dieses Vorstellungskarussell. Ich holte noch einmal Luft und atmete aus. Ich stellte mich vor als Wilma aus Bamberg, 31, Lehrerin für Englisch und Französisch. Reisen und Lesen gab ich als meine Hobbys aus. War ja auch nicht gelogen, aber klang nach dem Blabla-Klassiker, den die Leute in derartigen Runden von sich geben. Die dunkelhaarige Schönheit neben mir hieß Gracia. Sie kam aus Las Palmas, hatte Wirtschaft studiert und arbeitete im Hotel ihrer Tante, was sie in einer phänomenalen Sprechgeschwindigkeit kundgab. Wie konnte jemand so holprig und gleichzeitig so schnell sprechen? Wörter, die ihr im Französischen nicht geläufig waren, ersetzte sie charmant durch spanische. Über grammatische Hürden galoppierte sie ungezügelt mit einem mitreißenden Lachen hinweg, wobei sie stets ihre weißen Zähne zeigte. Mit so einem makellosen Gebiss kann man alles rechtfertigen, dachte ich mir.

Gracia hatte gerade ihre Vorstellung hinter sich gebracht, als die Tür aufging. Der Mann aus dem Fernsehzimmer spazierte herein. Langsam schritt er durch den Raum, blickte mit freundlicher Wachsamkeit in die Runde und setzte sich auf den freien Platz, exakt mir gegenüber. Wir tauschten ein kurzes Lächeln.

Philippe wandte sich dem Neuankömmling zu. Mit einem aufmunternden Kopfnicken forderte er ihn auf, sich vorzustellen.

»Je m’appelle Karl et je suis d’Autriche«, seine Züge waren entspannt, während er redete. Unaufgeregt, in flüssigem Französisch schnürte er Informationen zu einem kompakten Päckchen: 34 Jahre, Frankreichliebhaber, reiselustig, Lehrer an einer französischen Schule in Wien.

Wieso ist der dann hier?, fragte ich mich. Ein besseres Umfeld, um täglich französisch zu sprechen, gab es doch gar nicht. Ich war erleichtert, dass ich mein Sprüchlein schon hinter mich gebracht hatte. Ein Fehler, eine ungeschickte Ausdrucksweise wären mir peinlich gewesen und hätten mich zwei Nächte lang verfolgt.

Ich holte erst einmal tief Luft. Mein Gott, in Wien lebte der. Da konnte ich nicht mithalten. Ich, Wilma, 31 Jahre, kam aus dem oberfränkischen Provinzstädtchen Hallstadt bei Bamberg und meine Schule war kein Lycée français, sondern eine Realschule. Überhaupt hatten alle irgendwas Beeindruckendes zu erzählen. Allein schon ihre Hobbys! Miguel interessierte sich für antike Vasenkunst und Gracia hatte natürlich ein Pferd. Passte zu ihr. Ich sah ihre lange schwarze Mähne im Wind wehen.

Als Karl zu Ende gesprochen hatte, wechselten wir ein zweites Mal Blicke. Wollte er meine Anerkennung? Suchte er nach Bestätigung? Ein »Gut gemacht« oder so etwas wie »War fehlerlos, dein Sprüchlein«? Ich lächelte in seine Richtung. Ein breites Grinsen flog zurück. Jetzt waren wir Komplizen.

In der Mittagspause schwirrten alle ins Freie. Ich trat auf den Gehsteig und blickte mich um. Die umliegenden Cafés, Bistros und Brasserien hatte ich am Morgen gar nicht bemerkt. Ihre bunten Sonnenschirme spannten sich jetzt über Trauben von Menschen und überall tönte Musik.

Zum Münster war es ein ganz schönes Stück zu laufen und eigentlich knurrte mein Magen. Also doch lieber irgendwo hinsetzen, gleich hier in der Nähe? Noch unentschlossen schaute ich abwechselnd auf meine Uhr und das kleine Bistro Le petit Gourmand. Beine vertreten oder hinsetzen? Da kam der Fernsehzimmermann in Begleitung eines anderen Kursteilnehmers auf mich zu. Kompakt war er, mittelgroß und auf eine Weise wirkte er unsportlich. Das schien mir angemessen für jemand, der gerne las und Karl hieß. Vielleser sind selten Sportler.

»Gehst du mit auf einen Kaffee?«, fragte er.

»Sehr gerne«, sagte ich schnell, erleichtert darüber, dass ich nicht mehr überlegen musste.

»Eine Sause in der Pause«, witzelte der andere Typ, der Wolfgang hieß, mit tiefer, voluminöser Stimme. Er war blond und etwa einen Kopf größer als Karl.

Ich genoss die Gesellschaft dieser zwei Herren. Eine Einzelbekanntschaft hat sehr schnell etwas Anstrengendes. In jedem Augenblick bist du im Visier deines Gegenübers. In Dreiergrüppchen hingegen plaudert es sich ungenierter. Niemand fühlt sich der Dauerspannung ausgesetzt, einen Dialog weiterführen zu müssen. Jeder kann auch mal einfach nur lauschen und überlegen.

Eine Heiterkeit – aus dem Nichts – hing wie ein zarter Schleier über unserer kleinen Runde. Das Alltagsleben lag ausgeblendet an irgendeinem anderen Ort. Jeder war frei, sich neu zu erfinden oder so zu sein, wie er sein wollte.

Jeder von uns hatte die Entscheidung getroffen, vierzehn Tage allein in Straßburg zu verbringen. Wir drei hatten uns bewusst entschieden, wieder in die Schülerrolle zu schlüpfen. Das verband uns. Mehr wussten wir nicht voneinander und fragten auch nicht nach.

Wir witzelten über die Belehrungen unseres Kursleiters. Wolfgang konnte seinen leicht moralisierenden Unterton gut nachmachen: »Et surtout les films, je vous propose d’aller au cinéma.« Philippe hatte uns mit Nachdruck ans Herz gelegt, ins Kino zu gehen. Natürlich sollten wir jeden Tag nach dem Kurs auch noch das Sprachlabor besuchen. Dieses bestand allerdings nur aus vier Computern, an denen jeweils ein Kopfhörer angestöpselt war.

Wolfgang war nicht nur ein talentierter Stimmenimitator, sondern entpuppte sich schnell als Kenner der kulinarischen Szene der Region. Er selbst kam aus dem Badischen und reiste als Grafiker viel herum. Essen war ihm wichtig.

»Ich kenne ein Lokal, in dem man hervorragende Choucroute bekommt. Normalerweise ist das eine Winterspeise, aber klar, für die Touris machen sie hier alles. Wirklich gut! Ich finde, wir sollten da hingehen und noch ein paar andere aus dem Kurs fragen, denn die machen das nur für Gruppen.«

»Choucroute«, Karl kaute das Wort und lächelte amüsiert.

»Klingt interessant! Warum nicht, meine Herren? Ich bin dabei!«, sagte ich. Diese Art der Küche war mir zwar eher fremd, aber bei dem Gedanken an die heitere Gesellschaft war ich bereit, alles zu essen.

»Miguel und Gracia kommen auch mit«, Wolfgang grinste und klatschte in die Hände.

Der Abend war lustig. Ich war auf Gracia gespannt. Gut möglich, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben Sauerkraut aß. Sie packte die Sauerkrautfäden an einem Ende mit Daumen und Zeigefinger, schenkte ihnen einen amüsierten Blick, legte den Kopf in den Nacken und schnappte mit ihrem weißen Gebiss danach. Karl und Wolfgang hingen an ihren Lippen.

Ihr Buben, es kann doch nur einer zum Zug kommen, hätte ich ihnen am liebsten gesagt. Männer im Balzgeschehen neigen zur Blindheit, zur Fehleinschätzung der Lage. Bewunderung für eine Frau zeigen sie offen. Das hat schon wieder etwas Rührendes.

Mit einer Mischung aus Schamgefühl und Amüsiertheit verfolgte ich den Tanz der beiden.

»Je travaille à l’hôtel de ma tante«, sagte Gracia.

»De ma tante«, wiederholte Karl, seine Äuglein blitzten auf. Ironisch spitzbübisch wollte er wirken.

»Tu travailles pendant que tous les touristes soient en vacances.« Wolfgangs Bemerkung sollte Verständnis signalisieren. »Ce n’est pas dur?«, schob er nach.

Glaubte Wolfgang wirklich, Gracia würde seine Frage verstehen? Inhaltlich meine ich, ganz abgesehen von pendant que plus Subjonctif?

Gracia warf ihre Haare in den Nacken.

Baby, die Nummer mit deinen Haaren kennen wir schon! Aber den Jungs hier scheint es zu gefallen. Ich erschrak leicht über meine beißende Ironie, drückte sie weg und beobachtete das Treiben am Tisch weiter.

»C’est normal. Ce n’est pas dur«, sagte Gracia, schüttelte ihren Kopf und lachte. Frauen ihres Typs flirteten mit jedem Mann, ohne ihr Herz zu verschenken. Sie hatten ein klares berufliches Ziel, nebenher gingen sie Hobbys wie Reiten und Volleyball nach. Ihren Hochzeitstermin hatten sie längst geplant und sparten sich für den einen auf.

Ganz schweigsam saß Miguel am anderen Ende des Tisches. Er redete kaum. Ernst und sorgenvoll wurde seine Miene, als plötzlich unter der ersten Choucroute-Lage Fleischteile auftauchten, die an Kassler Rippchen erinnerten.

Miguel schwieg und litt. Ich sah seinem Blick an, dass er sich wohl eher mit einer Paella hätte anfreunden können. Derartige Speisen waren seinem mediterranen Magen fremd. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. Der arme Kerl musste hier kulinarisches Neuland betreten und tat dies mit äußerster Skepsis. Schlachtplatte auf Elsässisch, das versuchte ich Miguel zu erklären. Chez nous, en Bavière, ça s’appelle »Schlachtschüssel« und grinsend fügte ich hinzu »Schlacht«, c’est le mot pour le porc abattu. »Das arme Schwein«, witzelte Karl und zwinkerte mir zu. Wolfgang strahlte und angelte sich mit seiner Gabel eine Wurst und ein Stück Schweinebauch auf seinen Teller. Gracia hob ihr Glas und rief heiter »Santé«. Alle hoben ihr Glas, lachten, selbst Miguel lächelte tapfer und biss mutig in eine Wurst.

In meinem Bett ließ ich die Bilder des Abends an mir vorbeiziehen. An Schlaf brauchte ich noch lange nicht zu denken, denn ich musste einiges mit meiner treuen Begleiterin bequatschen.

»Wir haben alle etwa dasselbe Alter, Anfang dreißig«, sagte ich. »Das ist schon noch jung. Und wir sind mit den gleichen Bands großgeworden.«

Der Hauch eines spöttischen Lächelns huschte über ihr Gesicht.

»Bitte, schau nicht so, du hast ja recht. Nirvana, REM und Pink Floyd, da konnte ich heute Abend überhaupt nicht mitreden. Bei dieser Musik bin ich draußen. Es ist mir ein Rätsel, wie jemand sich so etwas freiwillig anhören mag. Aber zumindest kannte ich die Namen.« Ich hielt kurz inne und setzte neu an: »Darum geht’s mir ja auch gar nicht. Weißt du, ich habe mich heute Abend sauwohl gefühlt. Wir sind alle ungefähr gleich alt, haben ein Studium hinter uns, arbeiten bereits im Lehrberuf, befinden uns aber noch in der Orientierungsphase, auch privat. Keiner ist verheiratet. Zumindest trägt keiner einen Ehering. Und einen gewissen Ehrgeiz teilen wir ebenfalls: Wir wollen unser Französisch perfektionieren. Weißt du, was ich mich frage?«

Sie schaute mich an und streckte mir stumm auffordernd ihr Kinn entgegen.

»Ob die zu Hause auch so glücklich sind wie hier? Haben sie Menschen um sich herum, mit denen sie ihr Lebensgefühl teilen können? Stell dir vor, ich habe heute gespürt, dass ich tatsächlich noch lebenshungrig bin, richtig neugierig und ein bisschen übermütig sogar. Das hat sich wahnsinnig toll angefühlt. Ich gehörte dazu. Mit Menschen zusammen zu sein und herumzublödeln ist befreiend. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich zuletzt so gelacht habe!«

Ich machte eine Pause und ließ ihr Zeit für einen Kommentar. Doch sie blieb stumm, so als wartete sie darauf, dass ich noch mehr erzählte.

»Wie findest du diese Gracia?« Diese Frage musste raus, sonst hätte ich in der Nacht daran gewürgt wie an einem Kloß im Hals.

»Hübsch, sehr hübsch«, sagte sie, »die Männer sind ja sichtlich auf sie abgefahren.«

»Findest du?«, fragte ich nach.

»Na klar! Karl und Wolfgang hingen geradezu an ihren Lippen, lachten bei jeder ihrer Bemerkungen, um sie darin zu bestätigen, wie witzig sie doch ist«, sagte sie in ihrer nüchternen Klarheit und schaute mir direkt ins Gesicht.

»Du meinst also, ich könne da nicht mithalten?«

»Habe ich nicht gesagt«, erwiderte sie.

»Aber gemeint!«

»Du bist vielleicht kompliziert«, sagte sie. »Wenn du dich mit Gracia unbedingt vergleichen willst, dann muss ich sagen: Tut mir leid, aber gegen die hast du keine Chance. Langes, dichtes schwarzes Haar, weiße, gerade Zähne – vergiss es.«

Ich schluckte ihren schonungslosen Kommentar. Er traf mich nicht. Im Gegenteil, er bestärkte mich in meiner Freiheit. Dieser Aufenthalt diente meinem beruflichen Fortkommen. Männergeschichten wären da nur störend.

Beruhigt schlief ich ein.

Schritt 3

Ich weiß nicht, wie sich Karl und Wolfgang fühlten. Ob sie aus Langeweile oder mangels besserer Gelegenheit mit mir durch Straßburg zogen? Fakt ist: Wir drei hingen zusammen. Wir besuchten das Münster in der Abendsonne, schlenderten durch die malerischen Gässchen und plauderten bei ein, zwei Gläschen Crémant d’Alsace über das Für und Wider, in Frankreich zu leben. Wolfgang fand Straßburg einen Tick zu kommerziell, zu touristisch zugeschminkt. Aber er konnte es sich gut vorstellen, in einem französischen Dorf zu wohnen.

»Ein helles Atelier in einem umgebauten Bauernhof, das wär’s«, schwärmte er, »und abends dann mit Freunden kochen und draußen sitzen.«

Karl gab dazu keinen Kommentar ab. Er schmunzelte, wirkte leicht amüsiert.

Wir hatten Spaß. Gracia spielte keine Rolle mehr.

Am Samstag hatten wir frei. Karl und ich hatten uns gegen 11 Uhr verabredet. Wir wollten einen richtig entspannten Tag verbringen, kein Programm, keine Sehenswürdigkeiten, stattdessen ein Picknick im Grünen. Gemeinsam machten wir uns zu dem kleinen Dorfladen in Robertsau auf. Zwei Croque-Monsieurs mit Schinken und Käse, eine Großpackung Walnusseis, Flan und Cola light wanderten in unsere Papiertüte. Mittag- und Abendessen in einem. Glücklicherweise hatte ich in dem Studentenwohnheim noch eine Decke aufgetrieben und so hatten wir alles, was wir brauchten, um einen Tag in der Sommerfrische zu genießen. Unser Ziel war das Ufer der Ill.

Ein paar Bäume, ein Fleckchen Rasen und Sonnenstrahlen, die im Wasser tanzten. Wir suchten uns ein schattiges Plätzchen und machten es uns gemütlich. Die große Papiertüte mit den Leckereien stellten wir ins Gras. Dem Eis in der Packung trauten wir zu, dass es der Wärme eine Weile trotzen würde.

Das Baguette duftete herrlich. Echtes Baguette gibt es nur in Frankreich. Innen ist es fluffig, außen knusprig, und es duftet nach Backstube. Vor dir erscheint der Bäcker in seiner weißen Schürze, die sein rundes Bäuchlein bedeckt, und seine Augen lachen verschmitzt, weil er weiß, sein Brot schmeckt einfach unglaublich gut und es macht süchtig.

Karl raschelte mit der Papiertüte und ertastete zuerst ihren Inhalt. Dann warf er einen Blick hinein und zog vorsichtig ein Croque-Monsieur hervor, um die Köstlichkeit zuerst mit den Augen und später mit dem Mund zu vertilgen.

Ein Croque-Monsieur ist ein Baguette-Sandwich, von dem man sich wünscht, es möge nie enden. »Sandwich« ist allerdings ein irreführender Begriff. Es handelt sich um ein etwa 30 Zentimeter langes Baguettestück, das großzügig mit Schinken, Käse und Ei belegt ist. Mehr braucht der Mensch nicht zu seinem Glück.

Karl nahm große Bissen. Er kaute, ohne zu schmatzen, und erzählte hauptsächlich vom Essen. Zu Hause in Wien ging er mittags gerne in ein Beisl – wie die Wiener ihre Esslokale nannten. Geboren war er im Waldviertel, zum Studium war er nach Wien gegangen und dort geblieben. Er hatte eine Wohnung im 9. Bezirk. Seine Oma machte sich immer Sorgen, dass er nicht ordentlich esse.

Wie ein Kind lauschte ich seinen Worten und sah zwei Enten zu, die sich lautlos von der leichten Strömung treiben ließen. Ich konnte mir seine Wohnung vorstellen: geschmackvoll modern eingerichtet, im Wohnzimmer und im Arbeitszimmer fast nur Bücherregale an den Wänden, vielleicht zwei oder drei Bilder, Tusche und Aquarell, Arbeiten eines Freundes. Und eine große Schallplattensammlung.

Den Literbecher Walnusseis platzierten wir schön mittig auf unserer Decke. Karl hatte vorsorglich daran gedacht, Plastiklöffel zu kaufen. Wir waren große Kinder, die selig ihr Eis schleckten und dabei über Schreibmethoden im Unterricht diskutierten. Heiß war es, ich bemerkte schwarze Farbe an meinem Zeigefinger. Meine Wimperntusche war im Begriff zu zerfließen. Ich trug es mit Gelassenheit, wischte die Farbe mit der Papierserviette ab und ließ mich ganz auf Karls Erzählung ein.

Er schrieb mit seinen Schülern gemeinsam an einer französischen Geschichte. Dabei gab er nur wenig vor: Gerne skizzierte er eine Persönlichkeit, meist im gleichen Alter wie seine Schüler. Die Kinder hauchten der Figur dann Leben ein, indem sie sich ausdachten, welche Vorlieben sie habe und wie Familie und Freunde wohl aussähen. Sie beschrieben das Haus oder die Wohnung und die kleinen Abenteuer in der Schule. Allmählich wuchs eine Stadt heran. Eine großartige Idee, auf diese Weise einen roten Faden zu spinnen, an den sich neue Wörter ganz natürlich knüpfen ließen.

Mein Atmen war langsam geworden. Karls Stimme wirkte beruhigend. Jedes Wort stand für sich, brauchte keine ausladenden Gesten, hatte gerundete Konturen, weiche Konsonanten. Unaufgeregt erzählte er und zog dabei ein paar Grashalme zwischen Zeige- und Mittelfinger glatt.

»Du liebst Musik? Was hörst du denn so?«, fragte er unvermittelt.

Ich zuckte leicht zusammen. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte gehofft, diese Frage würde nicht mehr aufkommen, sie sei gleichsam mit dem Choucroute gegessen und verdaut. Doch nun hatte er sie gestellt und ich musste antworten. Ich saß gewissermaßen in der Falle.

Die Frage nach dem Musikgeschmack ist der Versuch, eine Person näher kennenzulernen, in ihr Innerstes vorzudringen und dann zu bewerten, ob es sich um einen Feingeist oder um eine Dumpfbacke handelt. Für gewöhnlich fange ich solche Fragen immer ab, indem ich diejenige bin, die sie zuerst stellt. Ich gehe sozusagen in die Offensive. Dabei lässt der Ton meiner Frage keinen Zweifel an meiner Stilsicherheit aufkommen. Vielmehr suggeriert er, ich hätte eine gewisse Vorliebe erworben durch jahrelanges Hören anspruchsvoller Musik. Was das ist, anspruchsvolle Musik, ist mir bis heute ein Rätsel.

Was hörst du denn so? Diese Frage beschämt mich, weil ich keine Antwort weiß, die die Erwartungen meines Gegenübers erfüllt. Wenn ich ehrlich darauf antworte, dann gebe ich etwas von mir preis, das mein Innerstes berührt. Das kann doch schließlich keiner von mir erwarten, oder? Also bringe ich für gewöhnlich mein Gegenüber in die Situation, zuerst reagieren zu müssen. Ich gewinne Zeit, kann die Richtung meiner Antwort ausloten und sie mir in aller Ruhe zurechtlegen.

Aber jetzt war es zu spät. Karl war mir zuvorgekommen. Ich saß in der Falle. Er wartete auf eine Antwort und ich musste liefern.

Die Frage verunsicherte mich zutiefst. Ich kenne kaum Namen, Jahreszahlen von Aufnahmen sind mir fremd. Wenn ich Musik höre, nimmt sie mich an die Hand und führt mich zu einem Spiegel. Darin sehe ich mich auf einer Bergwiese, im Großstadtgewimmel, in einer Nachtbar, am Meer, ich bin schön, bin ruhig oder lebhaft, rede ohne Unterlass, bin komisch, bin begehrt, bin Single oder habe Familie mit drei Kindern. Musik ist meine ehrlichste Wegbegleiterin, sie macht mir meine Wünsche deutlich, lindert Schmerzen, macht mir Mut, bringt meinen Körper in Schwingung und lässt mich zum Wirbelwind in meinem Zimmer werden – das alles ist Musik für mich. Das Genre ist völlig egal: Oper, Chanson, Operette, Jazz, Schlager. Namen von Sängern merke ich mir selten. Bis auf einen: Luciano Pavarotti. Und das hat seinen Grund.

Nachts, wenn ich als kleines Kind schlecht geträumt hatte, trug mich Vati auf seinem Arm und sang mir leise etwas vor. Mit drei, vier Jahren speicherte ich Papas Singstimme im Ohr ab. Ein weicher Tenor wie Luciano Pavarotti. Das wusste ich damals natürlich noch nicht. Diese Entdeckung ist dem reinen Zufall geschuldet. Nach einer langen Zugfahrt von München nach Bamberg hatte ich mir für die Fahrt zu meiner Wohnung ein Taxi gegönnt. Aus dem Radio erklang das Sonntagswunschkonzert. Da hörte ich Papas Stimme. Luciano Pavarotti und mein Vater hörten sich völlig gleich an. Das alles kann ich natürlich niemandem erzählen. Karl würde mich auslachen und mich für leicht überzogen und plemplem halten.

Ich holte tief Luft und hörte mich dann laut sagen:

»Bitte lach nicht. Ich liebe Musik, ganz besonders Arien aus italienischen Opern, aber auch italienische Schlager aus den 50ern und 60ern. In Tosca kommt die Sternenarie vor, E lucevan le stelle. Dabei versinkt die Welt um mich herum und ich könnte vor Glück heulen. Und ganz besonders mag ich Pavarottis Stimme. Wenn ich ihn höre, dann singt er nur für mich.«

Karl sah mich von der Seite an. Er schwieg.

Ich schaute auf das Wasser, die beiden Enten drehten sich im Kreis. In meiner Hand fühlte ich drei Baguettebrocken, die sich in meiner heißen Faust zu Kügelchen geformt hatten. Ein schneller, gezielter Wurf – sie schnappten nach den Krumen und drehten sich weiter im Sonnenlicht.

Ich erinnere mich an meinen Tagebucheintrag an jenem Abend: Karl ist ein ruhiger Mensch mit einer stillen Energie, er ist das konzentrierte Wort. Ich bin mir selbst ganz fremd, dass ich so völlig ungeniert, verschwitzt, mit zerlaufener Schminke neben ihm sitzen konnte. Meine Gedanken zur Musik hat er nicht kommentiert, fand sie nicht lächerlich. Er hat einfach zugehört. Absatz, neuer Gedanke. In ein Beisl geht er mittags mit seinem Kollegen Olivier. Beisl – ich mag das Wort. Ganz beiläufig hat er es erwähnt. Jetzt habe ich es ständig im Ohr. Ein Wort, das keine Angst macht, das mag an dem angehängten L liegen, das wie eine Verniedlichung klingt. Beisl. Kommt bescheiden rüber, wienerisches Understatement. Es passt zu Karl. Den Tag zu unterbrechen und mittags etwas zu essen, unter Menschen zu sein und den Appetit auf Bilder und Gesichter zu stillen.

Essen ist für mich ein entscheidender Akt im Gesellschaftsdrama. Hier nährt sich die eigene Persönlichkeit, spiegelt sich in den Gesten der anderen oder grenzt sich klar davon ab. Die Art und Weise, wie ich Messer und Gabel halte, habe ich einst von einer Dame Anfang dreißig kopiert. Ihre Finger wirkten lang. Die Klinge des Messers war die natürliche Verlängerung ihrer rechten Hand. Stundenlang hätte ich ihr zusehen mögen, wie sie die Gabel zum Mund führte. Dezente Geräusche, Perlenring, fließende Bewegungen. Sie aß, wie es ein Mensch tut, der sein Leben im Griff hatte; sie bestimmte selbst, was geschah. Messer und Gabel waren in ihrer Hand Requisiten in einer Inszenierung ohne Worte. Schmale Hände, rote Fingernägel, Glitzerreif am Handgelenk setzten Akzente. Der Griff nach dem Wasserglas war die Kunstpause, um die Augen wandern zu lassen und die Spielregeln der Diskretion für einen Moment auszusetzen.

Auswärts zu essen ist für mich die Schule des Sehens, das Entdecken anderer Lebensformen. Innerhalb meiner Familie stieß meine Vorliebe auf wenig Verständnis. Meine Großmutter pflegte zu sagen: »Wozu soll ich in einem Wirtshaus essen? Wofür Geld ausgeben, was ich mir selber besser und günstiger mache?«

»Es geht doch nicht nur ums Essen, Oma!«, widersprach ich. »Weißt du, im Lokal sitzt du gemütlich, bist unter Menschen, wirst bedient.«

Oma schwieg kopfschüttelnd, griff nach der Zeitung und sagte leise, aber deutlich vernehmbar: »Bedient wollt ihr werden! Bedienen wollt ihr euch lassen!«

Mutter kam dazu: »Was soll ich dir sagen! Was du im Gasthaus zahlst, dafür koche ich eine ganze Woche, ich mache euch feine Sachen, aber das schätzt ihr ja nicht – auswärts wollt ihr essen gehen. Da zahlt ihr und esst schlecht.«

Ich kam gegen die mütterliche Phalanx nicht an. Jedweder Versuch, in einen Gedankenaustausch um des Austauschs willen zu treten, prallte ab an ihren Schutzschildern.

Ein lautes Lachen auf dem Gang, vergnügtes Plaudern – ich sah auf die Uhr. Es war nach Mitternacht. Ich legte mein Tagebuch weg und zog die dünne Bettdecke unter mein Kinn.

Das kleine Wort Beisl ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Es wirkte mit einer unerhörten Kraft auf meine Gedanken ein. Ganz taumelig war mir zumute. In meinem Bauch, in meinem Kopf flimmerte ein Gefühl. Ich spürte die Freiheit, die den anderen Menschen gehörte.

Ich musste an Hausmeister Steinhäuser und sein Kabäuschen in unserem Schulhaus denken. Erneut zog ich mein Tagebuch hervor, um ein Bild festzuhalten:

Geschickt holt er mit seiner Holzzange die knackig heißen Würste aus dem siedenden Stahltopf und balanciert sie auf ein Papiertellerchen. So lecker seine Wiener Würstchen auch sind, es ändert nichts an der Tatsache, dass sein Verkaufsstand im Schulgebäude steht. Die Raucher unter den Kollegen suchen sich wenigstens draußen ein heimliches Plätzchen oder gehen in der Mittagspause ins Café. Aber ich hocke in der Schule und verspeise den Imbiss im Lehrerzimmer, häufig in Gesellschaft des farblosen Religionslehrers, der eine Tupperdose vor sich aufzubauen pflegt und über die Zahnspange seiner Tochter und den geplanten Dachausbau plaudert.

Um ein Missverständnis auszuräumen: Ich bin alles andere als unzufrieden. Die Kollegen geben sich freundlich, aber ich finde nie einen Draht zu ihnen, zu unterschiedlich sind die Lebensentwürfe – nein, Entwürfe haben sie keine mehr, sie stecken in fertig festgelegten Leben, das trifft es besser. Ihr Ziel, ausreichend Geld zu haben, um in den Urlaub zu fahren, ein Haus zu bauen und Kinder in die Welt zu setzen, haben die meisten von ihnen bereits erreicht. Sie hinterfragen ihre Ziele nicht.

Und was will ich?

Manchmal wünsche ich mir heimlich, aus diesem System auszubrechen. Aber was kann ich denn überhaupt? Außer Schule? Welcher Betrieb stellt denn eine Lehrerin ein? Und dort sind auch wieder fertige Menschen. »Mein Kind, mein Haus, mein Garten«-Sprüche kann ich nicht mehr hören. Wenn ich ehrlich bin, dann möchte ich bei der Arbeit überhaupt niemanden um mich herum haben. Ich bin die klassische Freiberuflerin – ich arbeite hart und stundenlang, aber ich will meinen inneren Frieden. Auf die Gesellschaft dieser fetten Maden und Kleingeister kann ich herzlich gerne verzichten.

Für einen Moment hielt ich inne, drehte mich auf die andere Seite, weil mein linker Arm schon fast eingeschlafen war. Dann schrieb ich weiter.

Ich beneide Karl. Heute Nachmittag an der Ill saß er so selbstverständlich neben mir, ein Mensch, dessen Leben sich vor einer Kulisse abspielt, die mir in meinem Inneren vertraut und gleichzeitig unerreichbar scheint. Am liebsten möchte ich ganz laut schreien: »Endlich habe ich den Beweis. Es ist kein Hirngespinst. Es gibt diese Welt. Karl, du selbst lebst ja in dieser Welt, die mein Herz schon lange kennt!«

Schritt 4

Irgendjemand kochte Kaffee und aus einem der Zimmer drangen nordafrikanische Klänge. Sonnenstrahlen tanzten auf dem Linoleumboden. Ich huschte auf Zehenspitzen zu den Duschräumen. Kalte weiße Kacheln, Nasszellen wie im Schwimmbad eines verarmten Kinderheims.

»Du sollst dich hier nur waschen, mach schnell!« Meine treue Begleiterin feuerte mich an.

Der Duschstrahl war kräftig und kalt. Ich hielt die Luft an.

»Los jetzt!«, kommandierte sie. »Seifenreste auf dem Rücken nicht vergessen, halt es aus!«

Sonntag – was fange ich an mit diesem Tag? Vielleicht unternehme ich etwas mit Karl? Vielleicht will er aber lieber seine Ruhe haben? Mal sehen. Die Zeit gestern mit ihm an der Ill war schön. Ob er auch daran denkt? Ob er auch Tagebuch schreibt? Würde zu ihm passen. Gedanken unter der Dusche sind immer ungefiltert. Ich möchte sie festhalten. Immer wenn ich einen von ihnen greifen möchte, ihn exakt so auf Papier festhalten möchte, dann entzieht er sich, er verändert sich beim Schreiben und ist nicht mehr derselbe wie in meinem Kopf.

Ist es Zufall, wann wir wem begegnen? Es ist schön, dass mich Karl auf der Treppe angesprochen hat. Gesucht habe ich seine Bekanntschaft nicht. Wäre auch allein klargekommen. Im Grunde bin ich mir selbst genug. Das war schon immer so. Dennoch muss ich zugeben, dass ich gerne mit Karl rede. Verschlossen, nein, zurückhaltend ist er. Das exakte Gegenteil eines stürmischen Casanovas. Und das Schöne ist, dass es keine Anzeichen einer drohenden Urlaubsliebelei gibt. Denn erstens ist er nicht mein Typ und zweitens würde jeder Annäherungsversuch das unschuldig Unbeschwerte zwischen uns zerstören.

Ich drehte den Wasserhahn zu und spürte einen inneren Wärmestrahl, der sich in meinem Körper ausbreitete. Ich war zufrieden mit mir, trocknete mich schnell ab und schlüpfte in Jeans und T-Shirt. Rasch huschte ich in meine Zelle zurück und schrieb:

Jeder Mensch lebt mit seiner eigenen Geschwindigkeit. Das Tempo, mit dem wir neue Eindrücke wahrnehmen und verarbeiten, ist individuell verschieden. In der Begegnung mit Menschen spüren wir, ob die Zeiger der inneren Uhr im gleichen Takt schlagen. Ist dies der Fall, sind Äußerlichkeiten, Luxusgüter unbedeutend. In dem Augenblick, in dem zwei Menschen entdecken, dass ihre Lebensgeschwindigkeit gleich ist, kann zwischen ihnen Liebe entstehen.

»Das ging aber schnell, du redest schon von Liebe!« Sie blickte mich spöttisch an.

Ich wusste, sie zu ignorieren war zwecklos. Meiner treuen Begleiterin entkam ich nicht. Ich seufzte und sagte dann leicht genervt: »Ich habe geschrieben: kann entstehen – nicht, dass sie entstanden ist.«

Schritt 5

Julia Ormond, Richard Gere, Sean Connery – die Namen versprachen großes Kino. Lancelot stand auf dem Plakat.

Ich habe keine Erinnerung mehr an das Kinogebäude und auch das Genre fand ich eher langweilig. Die meisten Szenen in Abenteuerritterfilmen sind austauschbar. Die Handlung ist im Grunde völlig banal. Aber ich muss über den Kinobesuch schreiben, ohne diesen Nachmittag wäre Straßburg nicht komplett.

Die Idee, ins Kino zu gehen, war mittags auf dem Gang im Centre d’Études entstanden. Ich hing mit Wolfgang vor dem Kursraum herum, wir quatschten und blödelten. Karl gesellte sich dazu. Er schaute uns beide auffordernd an und sagte: »Surtout, allez au cinéma!« Karl konnte Philippes Stimme perfekt nachmachen.

Er wartete die Reaktion ab.

Wolfgang verdrehte die Augen und lachte. »Ich wollte Wilma gerade fragen, ob sie mich nach Mulhouse begleitet. Sehe mir dort eine Wohnung an«, meinte er.

Sofort wiegelte ich ab: »Muss Vokabeln lernen. Da bleibe ich lieber in Straßburg und gehe brav ins Kino«, erklärte ich lachend.

Lachen ist meine beste Ausrede, wenn ich nicht weiß, was ich sagen soll. War das ein Annäherungsversuch? Hätte er mich tatsächlich gerne bei seiner Wohnungsbesichtigung dabeigehabt?